Das Zimmer, das man dir überlässt, dient dir als Werkstatt. Deine Bilder erfordern weder Palette noch Staffelei. Ein Eckchen vom Tisch genügt dir. Du brauchst auch keine Schere. Um deine Papierstreifen zu zertrennen, faltest du sie und zerreißt sie mit einer raschen Handbewegung oder mit Hilfe eines Lineals. Bei deiner Arbeit ziehst du wie auch sonst die Unmittelbarkeit, ja Blitzartigkeit vor. Du trennst die Bilder, ohne dich groß um deren Konturen zu kümmern. Manchmal reißt du sogar das nächste ein. Dann mischst du sie wie die Teile eines Puzzles und ordnest sie in gewollter Unordnung auf einem leeren Blatt an, wobei du auf die Abwechslung von Epochen, Frisuren, Moden und Haltungen achtest.

Du bist dein eigenes Modell. Du platzierst dich immer in der Mitte deines Werks. Wenn du jemanden neben dir zulässt, räumst du ihm nur eine Statistenrolle ein. Du stellst dein Gesicht aus, deinen Oberkörper, manchmal auch deine Hände, große, kräftige und ungeduldige Pranken. Warum anderswo suchen? Ein Mensch ist so gut wie ein anderer, und du bist zumindest schon mal da, verfügbar auf Gedeih und Verderb. Allein gegenüber deinem Spiegelbild versuchst du nicht, dich schöner oder großartiger zu machen. Auch wenn du deine dunkle Brille aufsetzt, deine Pilotenmütze, deine Wollmütze oder deine Militäruniform trägst, du zeigst dich, wie du bist.

Du lächelst? Weil das heiterer ist, ganz einfach! Die Stimmung ist bestens, vor allem dort, wo du jetzt deine Tage verbringst. Du bist Student an einer Universität irgendwo in Europa. Ob auf einem Campus aus Beton oder in einem alten Palast voller Statuen, du hast dir den richtigen Moment ausgesucht. Du gehörst zu den Helden des Tages, jenen, die herumstolzieren und die Menge mitreißen. Du befindest dich auf einer gigantischen, lustigen und chaotischen Kirmes. Um dich herum herrscht ein unendliches Verlangen, etwas zu erschaffen, die Welt zu verändern und die bestehende Ordnung umzustürzen. Die Phantasie ist an der Macht. Die Schönheit wird auf der Straße ausgestellt. Die Kunst gehört allen und alle berufen sich darauf. Du genau wie die anderen.

Du interessierst dich für alles Mögliche. Für Fotografie natürlich, auch für Malerei, Bildhauerei, Zeichnen. Du erfindest Formen, du spielst gern mit Raum und Licht. Angesichts deiner Vorlieben könntest du ebenso gut für Architektur wie für Bildende Kunst eingeschrieben sein. Wahrscheinlich zögerst du. Wie du dich auch entscheidest, du bist mit Leib und Seele dabei. Du reproduzierst auf deine Art das Rimbaud’sche Modell des verfemten Künstlers. Eines Königs ohne Königreich, eines einsamen und tunlichst unverstandenen Genies. Du führst das Leben eines Bohemien, ohne dich um das Morgen zu kümmern. Einen Tag hier, den nächsten dort. Keine feste Adresse, keine Familie in der Nähe. Dein ganzer Besitz passt in einen Koffer. Keinerlei Bindung. Du bist frei.

Und doch, in deiner Kunst bewegst du nichts, du wirst bewegt. Du siehst nicht, du wirst gesehen. Jede Woche überlässt du dich einer Anordnung von Bolzen und Stangen, Zylindern, Klappen und einem Haufen chemischer Substanzen. Du hast dich für eine Fotografie ohne Fotografen entschieden, ein Werk ohne Autor. Du sagst es vielleicht nicht so, zumindest nicht in diesen Worten, und wahrscheinlich hast du noch nichts von Andy Warhol gehört, dessen Spur du folgst, denn Ideen liegen in der Luft wie Pollen, aber wie er willst du eine Maschine sein, willst du dich von jeder körperlichen Aktion lösen, dich von der schönen Geste, vom akademischen Know-how emanzipieren. Du strebst danach, nur noch ein auf einer Platte fixierter Photonenfluss zu sein. Der Werbeslogan der Firma Kodak passt perfekt zu dir: »Du drückst auf den Auslöser, wir machen den Rest.« Du weißt es seit deinem Aufenthalt in Rom: Eine einfache Berührung mit dem Finger kann einen Lebensfunken schenken.

Du betrachtest dich als eine Maschine, die an eine andere Maschine gekoppelt ist. Dem stets trügenden menschlichen Auge ziehst du eine Technik ohne Intervention von außen vor. Du schätzt deren Nüchternheit, die an Askese grenzt, und vor allem ihre Blindheit, ihre kalte Neutralität. Man ahnt, dass du dich anders, manchmal sogar abgelehnt fühlst. Wie alle Menschen, die ein wenig abseits stehen, leidest du unter dem Blick der anderen. Doch dieses Auge hier urteilt nicht über dich, es ist nicht überheblich, auch nicht verächtlich. Es schenkt dir einen intimen Raum, in dem du dich ausdrücken kannst, ein autarkes und schützendes Universum. Ihm gegenüber kannst du tun, was du willst, dich deinen melancholischen Gedanken wie deinen Possen überlassen. Was bedeutet da schon die schlechte Qualität des Papiers, der grobe Abzug, die erwartbare Bildeinstellung, dein Roboter gibt zumindest ein ziemlich treues Bild von dir wieder. Das ist es vielleicht, was dich verführt hat: diese Banalität, die man als Kitsch bezeichnen könnte, die anonyme und vertraute Eintönigkeit.

Du hast ein Instrument der Massenkultur zweckentfremdet, das für jedermann vierundzwanzig Stunden täglich verfügbar ist. Wo du auch wohnst, es gibt immer eines an der nächsten Ecke. Auch ein letzter, praktischer Aspekt darf nicht vergessen werden: Angesichts der Dürftigkeit deiner Garderobe und deiner ständigen Umzüge versteht man, dass du nicht im Geld schwimmst. Die Silberprint-Kabine ist eine Möglichkeit, für wenig Geld und schnell ein Porträt zu bekommen. Du bist eine lebendige Skulptur, die nur vier Francs kostet und in drei Minuten fertig ist. In dieser Geschwindigkeit und zu diesem Preis kannst du ein Massenprodukt werden. Bald wirst du in hunderte von Exemplaren vervielfältigt. Und paradoxerweise wird jedes dieser Fotos einzigartig bleiben, wie das Gemälde eines großen Meisters. Dein Apparat gibt kein Negativ frei. Nur Positive.

Es ist sicher kein Zufall, dass deine Begeisterung für Fotoautomaten in die des Aufschwungs der Body Art fällt. Wie so viele Künstler benutzt du deinen Körper als Material, als Fläche, als zu eroberndes oder zu befreiendes Territorium. Gleich einer Emulsion, in der alles fixiert wird, zeichnet dein Fleisch die vergehende Zeit auf. In deinen Augen ziehen die Orte vorüber, die du besuchst, und die Leute, denen du begegnest. Deine Wunden an der Unterlippe und am Unterleib erzählen von den Traumata, die du erlitten hast. Du führst ein Tagebuch. Ein Körpernotizbuch. Du kehrst ständig vor deinen Spiegel zurück und schaust dir beim Altern zu wie ein Rembrandt. Da du es stets auf die Rückseite deiner Fotos schreibst, sagen es diese immer wieder: »Das bin ich!« Ich als junger Mann, ich als Soldat. Ich als Reisender, Student oder bildender Künstler.

Warum also dieses Versteckspiel? Warum entziehst du dich ständig? Je mehr du dich ausstellst, desto weniger offenbarst du dich. Du bist jedes Mal weder vollkommen derselbe noch vollkommen ein anderer. Du bist es und du bist es nicht. Es könnte irgend jemand sein. Ewige Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit. Du reihst nur Archetypen aneinander, schlüpfst in Klischees. Du scheinst Filmstars zu imitieren, Leute aus dem Fernsehen oder aus Zeitungen. Dein Heft könnte fast als Atlas der männlichen Spezies der 1970er Jahre dienen.

Du bist ein Vorläufer. Du kündigst unsere Selfies an. Ein »ipse fecit«. Damals wusstest du zumindest, wo du warst und was du tatest. Von vorn, im Profil oder Dreiviertelprofil vor leerem Hintergrund zeugst du von einer gewöhnlichen menschlichen Einsamkeit.

Du begnügst dich nicht damit, die Omnipräsenz des Bildes in unserer Konsumgesellschaft zu befragen, sondern erkundest auch den Begriff der Identität. Das Selbstporträt führt unweigerlich zur Introspektion, zur Suche nach einer zugleich universellen und einzigartigen Wahrheit.

Um das Bedürfnis zu haben, eine Serie mit deinen Abbildern anzuhäufen, musst du dir selbst beraubt worden sein. Definitionsgemäß sammelt man nur, was man nicht hat. Du nimmst uns mit auf eine ontologische Suche. Wie jeder willst du wissen, wer du bist und woher du kommst. Du hoffst, etwas in dir aufzustöbern, von dem du nichts weißt, ein mit bloßem Auge nicht sichtbares Spektrum, das nur durch den Zauber einer Daguerreotypie wahrnehmbar wäre. Wie jene Ufologen, die mit ihrer Kamera den Himmel beobachten, jagst du dein inneres UFO.

Andere versuchen zu verschwinden, indem sie sich vervielfältigen. Du dagegen versuchst, dich zu rekonstruieren, dich aus der Unendlichkeit deines zerstückelten Bildes wieder zusammenzusetzen. Blitzlicht auf Blitzlicht wirst du, in eine neue Schale gehüllt, wiedergeboren. Jedes deiner aufeinanderfolgenden Gesichter drückt eine Möglichkeit aus, die du in dir trägst.

Hast du dein imaginäres Museum je ausgestellt? Alles spricht dafür, dass du es nicht getan hast. Wer außer deiner Familie, deiner Mutter, deinen Geschwistern hat dein Album aufmerksam lesen und untersuchen können — oder sollte ich sagen, deine Installation, dieses seltsame Objekt, das Bilder, unterschiedliche Materialien und Texte mischt? Wahrscheinlich niemand. Weil du das Handelssystem ablehnst oder weil du eine Art Scham empfindest? Du hast es vergraben oder auch nur hinten im Bücherregal verstaut, verborgen zwischen anderen Büchern, nach dem Prinzip, das Edgar Allen Poe in der Erzählung »Der entwendete Brief« aufgestellt hat — das beste Versteck ist das, das einem in die Augen springt —, damit es eines Tages ausgegraben wird und bezeugt, dass du einst auf dieser Erde gelebt hast. Du wusstest oder ahntest, dass ein eventueller Erfolg nur ein paar Sekunden dauern würde, wie das Blitzlicht, das in deinem Metallautomaten deinen Oberkörper überflutete. Du hast es lieber irgendwo eingeschlossen, in einer Zeitkapsel, auf die Art eines, noch einmal, Andy Warhols. Ein Schatz wird am Ende immer wiederentdeckt.