zugehört hatte, rief er aus: »Das ist ja unglaublich!« Seine bis dahin ruhige, gesetzte Stimme am Telefon klang auf einmal abgehackt. Als ich meine Tirade wieder aufnehmen wollte, unterbrach er mich mit einem »OK!«, als stoppe er ein Spiel. Er versuchte, sich wieder zu sammeln. »Darf ich Sie fragen, wie das Album in Ihre Hände gelangt ist?« Ich dachte, das hätte ich ihm gesagt. Ich wiederholte es, langsam. Wieder brauchte er einige Zeit. »Ich … Ich bin ein klein bisschen aufgeregt«, sagte er schließlich. Seine Untertreibung rührte mich.
Er war durcheinander, natürlich. Durcheinander, plötzlich jemanden von seinem Vater sprechen zu hören. »Es ist selten, dass seiner gedacht wird«, sagte er bedauernd. Seine Verblüffung rührte auch von etwas anderem her. Dass dies genau in diesem Moment des Jahres geschah. »Es ist bald fünf Jahre her, dass er gestorben ist.« Bald war der 24. Mai, das Datum, das in Ermangelung des genauen Todestages auf dem Totenschein stand. »Zu der Zeit begeben meine Schwester und ich uns gewöhnlich an sein Grab in Beer-Sheva. Aber diesmal wird das schwierig sein.« Ich spürte, dass diese Koinzidenz, an die ich nicht gedacht hatte, für ihn keine war. Er sah ein Zeichen darin. Ein Vorzeichen. Wir beschlossen, uns am übernächsten Tag mit seiner Schwester Shirley zusammen zu treffen. Dann äußerte er die sibyllinischen Worte: »Ich will nicht geheimnisvoll erscheinen, aber Sie sind auf ein Museumsstück gestoßen. Das Leben meines Vaters ist ziemlich museumsreif. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen alles erzählen kann, denn ich bin nicht sicher, dass ich alles weiß.«
Ich habe nie verstanden, warum man auf Passfotos den Mund geschlossen halten soll. Die von allen offiziellen Instanzen wiederholte Regel gilt seit den ersten Fotoreihen von Alphonse Bertillon, dem Begründer der Kriminalanthropometrie, jener Pseudowissenschaft, die einen Verdächtigen in eine Kartei aufnimmt, ihn anhand seiner physischen Züge demaskiert, entlarvt und sogar seine Gefährlichkeit feststellt, als ob ein bestimmter Ausdruck, ob neutral, streng oder abwesend, die Gesichtserkennung und, mehr noch, das Verstehen eines Individuums erleichtern würde, während es das meiner Meinung nach gerade nicht tut.
Ich erkannte David an dem direkten, ansteckenden, heiteren und zugleich ausgeglichenen Lächeln, das dem seines Vaters glich und das auch er nie abzulegen schien. Er hatte sich nach Feierabend in einem Café in der Nähe seines Büros gegenüber der Église de la Trinité mit mir verabredet. Ich fand ihn an einem Einzeltisch unweit des Tresens. Um die dreißig, sorgfältig gestutzter Bart, lebhafte, leuchtende Augen. Er arbeitete für eine große Beratungsfirma im Bereich Digitalisierung. Er bot mir sofort das Du an.
Ich war neugierig. Er auch. Ich kam mit meinen Fragen. Er hatte seine. Als ich ihm reichte, was er sein »Museumsstück« nannte, stoppte er mich mit einer Handbewegung. Er wollte noch auf seine Schwester warten. »Shirley wird gleich kommen. Sie wohnt nicht weit.« Ich legte die voluminöse Reliquie mit dem vertrockneten, von winzigen Fältchen überzogenen Einband vor ihn auf den Tisch. Sie war noch schwerer als sonst. Er betrachtete sie zum ersten Mal. Er wusste nicht einmal, dass sein Vater sich für Fotografie interessiert hatte. Es war, als entdeckte er ein ganzes Stück seiner Existenz. »Nur zur Information, ich habe keine Porträtaufnahme von ihm aus der Zeit vor meiner Geburt.« Ich spürte, dass seine Erwartung sich mit Sorge mischte. Er schien sich davor zu fürchten, was er in diesem aus dem Jenseits aufgetauchten Gegenstand finden würde.
»Ich glaube nicht an den Zufall!«, sagte er und zeigte mir seinerseits ein dickes Heft mit Moleskin-Einband. Vor meinen Augen ließ er Seite um Seite voller fünfunddreißig mal fünfundvierzig Millimeter großer schwarz-weißer Rechtecke defilieren. Passfotos. Von ihm. Von seiner Lebensgefährtin, die er ein paar Monate später heiraten würde. Von ihren beiden kleinen Kindern. David erzählte, dass sein Vater sich für die Psycho-Genealogie begeistert hatte, eine Theorie, der zufolge unsere merkwürdigen oder unerklärlichen Verhaltensweisen, unsere häufigen Missgeschicke oder Krankheiten Reflexe von Traumata sind, die unsere Vorfahren erlebt und zumeist unbewusst an die folgenden Generationen weitergegeben haben. »Er hatte vielleicht nicht unrecht damit!«, sagte er. Und ich war nicht weit entfernt, dasselbe zu denken.
Shirley erschien, außer Atem. Lockiges Haar, aschblond, in einer marineblauen Latzhose mit vielen Taschen, ein warmherziges, ausdrucksstarkes Gesicht. Sie entschuldigte sich für ihre Verspätung. Ihre drei Kinder waren noch klein und sie hatte auf die Babysitterin warten müssen. Sie schlug vorsichtig das Album auf, hob den Umschlag mit den Fingerspitzen an.
»Kein Zweifel, das ist seine Schrift«, rief sie, als sie die Etiketten sah.
David betrachtete die rechte Seite und blieb an einem der ersten Bilder hängen, dem eines bärtigen jungen Mannes mit dichtem Haar, dessen Gesicht vor Vitalität und innerer Freude strahlte.
»Auf jeden Fall ähnelt er mir!«
»Das ist er in deinem Alter.«
Seine Schwester warf David einen zärtlichen Blick zu. Er blätterte zurück, entzifferte Adressen, zählte einige Namen auf.
»Gisèle, Danny, die leben noch! Nissim, das sagt mir was.«
Die Leute um uns herum hatten begonnen, lauter zu reden. Es war Apéro-Zeit. Gläserklirren, Gelächter, Gesprächsfetzen überdeckten unsere Stimmen und zwangen uns, näher zusammenzurücken. Shirley stieß einen Schrei aus:
»Er raucht! Mich hat er dafür bekriegt und behauptet, er hätte nie eine Zigarette angerührt.«
Sie schluchzte leise in ihre Serviette.
»Natürlich hat er geraucht«, versicherte ihr Bruder und wischte sich seinerseits eine Träne ab.
Er legte ihr einen Arm um die Schulter und blätterte weiter.
»Die Krawatte hab ich noch! Den Mantel auch …«
Nach und nach gewann David die Fassung wieder. Wie ein Kletterer, der auf Vertiefungen und Vorsprünge angewiesen ist, um nicht abzustürzen, suchte er nach Halt. In diesen modischen Details fand er Nichtigkeiten, die ihm halfen, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden, dort, wo Unbekanntes herrschte, Vertrautes einzubringen.
»Den Ring habe ich irgendwo gesehen.«
Hatte Jacob diesen Schwarz-Weiß-Dialog vorausgesehen? Es wirkte, als spräche er seine Kinder mittels der Bilder an. Es war, als versuchte er, ihnen etwas zu sagen, was er zu Lebzeiten nicht hatte ausdrücken können.
»Er war sehr zurückhaltend«, flüsterte seine Tochter. Sie betrachtete eines der letzten Fotos, auf dem er, gleich dem Spiel der ineinandergeschachtelten russischen Puppen, mit dem sepiafarbenen Porträt einer orientalisch gekleideten älteren Person in der Hand posierte. »Das ist sein eigener Vater! Das ist Khamaïs!« Der Mann, dessen Tod im Alter von fünfzig Jahren das Schicksal einer ganzen Familie besiegelt hatte.
In ein paar Sätzen schilderten Bruder und Schwester das Unglück der B’chiris. »Wir kennen die Einzelheiten nicht«, sagte Shirley. »Alles, was wir wissen, haben wir von unseren Cousins.« Ihr lakonischer, fragmentarischer Bericht voller Zweifel und Zögern ließ sich in einem Wort zusammenfassen: Verlust. Ein Trauerfall, Deklassierung, dann das Exil und die entsprechende Leere. Jacob war ein Waisenkind, seinem Land entrissen, weit von den Seinen aufgewachsen. David musste sich wieder fangen: »Seine Geschichte ist die Geschichte einer Entwurzelung.«
Um den Schock zu ermessen, den Jacob erleben wird, muss man sich vorstellen, woher er kommt. Von einer palmen- und olivenbaumbestandenen, von zephyrischen Winden gestreichelten Sandbank. Djerba la douce, das liebliche Djerba, wie es in den Tourismusprospekten immer wieder heißt, ein flaches Land, frei von jeder Erhebung, das, aus der Luft betrachtet, einer Hand ähnelt, die die Finger zum Kontinent ausstreckt. Eine glücksbringende Hand. In diesem von Untiefen umgebenen Refugium leben Juden seit Jahrhunderten friedlich mit ihren muslimischen Nachbarn zusammen. Zu dem Zeitpunkt, als unsere Geschichte beginnt, erreicht ihre Anzahl den Höhepunkt. In den folgenden Jahrzehnten wird sie nur noch abnehmen, abhängig von den israelisch-arabischen Kriegen und den Schüben von Hass und Gewalt, die sie auslösen.
Ende der 1940er Jahre leben auf Djerba, zusammengeschweißt um ihre jeweiligen Rabbiner, fast 4500 Juden in zwei wenige Kilometer voneinander entfernten Orten im Inselinneren: in Hara Sghira und Hara Kebira, im großen und im kleinen »Viertel«, ein Begriff, der im tunesischen Dialekt dem Ghetto entspricht, jedoch ungeeignet ist. Besser man spräche von Shtetl, wollte man die beiden Flecken mit den gewundenen Gassen beschreiben, zwei zugleich rivalisierende und miteinander verschränkte Welten. Jedes Dorf zählt mehrere Synagogen, ein Gemeindebad, große Friedhöfe und Cheder, in denen den Jungen — Mädchen sind davon ausgeschlossen — Hebräisch und die Thora beigebracht wird. Und dann gibt es da Brick- und Krapfenverkäufer, den Ofen, der die Mahlzeiten für den Sabbat warm hält, den Beschneider und den Spezialisten für die rituelle Schlachtung, wobei die beiden Funktionen bisweilen von ein und derselben Person ausgeübt werden. Dazu kommen noch Schmiede, Schneider, Schuster, Juweliere … Fromme Leute, oft bettelarm, die noch Weste, Pluderhose und Chechia tragen, während ihre Glaubensbrüder in Tunis seit langem die westliche Kleidung übernommen haben. All das erfuhr ich später aus Büchern oder Zeitschriften.
Jacob kommt in einem Kokon zur Welt, einem geschlossenen, schützenden Raum, nicht nur auf einer Insel, sondern innerhalb einer sich abkapselnden Gemeinschaft, einer Insel innerhalb der Insel. Sein Vater heißt mit Vornamen Khamaïs, wörtlich »Die Fünf«, die Zahl der Finger einer Hand. Er hat in vorgerücktem Alter jemanden sehr viel Jüngeres zur Frau genommen, Miziana. »Sie war 13, als er sie heiratete«, hatte Shirley empört gerufen. Auf Djerba verlassen die Frauen nicht den abgeschlossenen Bereich des Hauses, und die Geburten reihen sich pausenlos aneinander, Jahr für Jahr. Bald haben sie fünf Mädchen und vier Jungen. Glücklicherweise leben sie in relativem Wohlstand. Khamaïs besitzt eine Autowerkstatt und sein Geschäft läuft gut. In dieser traditionellen Gesellschaft verkörpert er die Moderne: Autos, Straßen, Geschwindigkeit, alles Symbole, die von der Kolonialmacht gepriesen werden. Trotz seiner Ehe mit einem jungen Mädchen, das gerade einmal in der Pubertät ist, zeigt er eine gewisse Offenheit und zögert nicht, sich den Geistlichen zu widersetzen, die eine weltliche Erziehung verteufeln. Sein dritter Sohn, Jacob, gehört zu den wenigen jüdischen Kindern, die die französische Schule in Houmt Souk, der Inselhauptstadt, besuchen. Zu der Zeit heißt er nicht Jacob, auch nicht Jacques, sondern Zakine, auf Arabisch »der Alte«, ein weiterer Spitzname, der das Neugeborene vor dem bösen Blick schützen und ihm ein langes Leben voraussagen soll. Am Ende wird er mehrere Leben haben, jedes unter einem anderen Vornamen.
Sein erstes Leben endet mit neun Jahren. Am 17. Mai 1957 stirbt Khamaïs unerwartet. An einem Herzinfarkt, sagen einige. Bei einem Autounfall auf einer Ausflugsfahrt mit Freunden, sagen andere. Die letzte Version sorgt bis heute für Kontroversen, denn das Drama ereignet sich mitten während Lag baOmer, einem Fest zum Gedenken an den großen Mystiker Schimon bar Jochai, den Verfasser des Zohar, dem Buch des Glanzes. Ein großes Ereignis auf Djerba, das Anlass zur Pilgerreise zu La Ghriba ist, einer der ältesten und heiligsten Synagogen Nordafrikas. An einem solchen Tag setzt man sich nicht ans Steuer, schon gar nicht, um mit Freunden zum Kartenspielen zu fahren.
Zu der Zeit erwartet Miziana ihr zehntes Kind. In ein paar Monaten wird sie ihren letzten Sohn, Moshe, zur Welt bringen. Sie ist noch schwanger, als sie das Haus der Familie verlässt. Von einem Tag auf den anderen steht sie enterbt und ihres Besitzes beraubt da. Durch wen? Aus welchem Grund? Wie? »Wir wissen es nicht genau«, erklärte Shirley. »Unsere Großmutter war Analphabetin, es war einfach, sie vor die Tür zu setzen.« In einem Tunesien, das gerade seine Unabhängigkeit erlangt hat, fängt die junge Witwe bei null an. Diese politische Umwälzung, die voll von Hoffnung ist, aber für die jüdische Bevölkerung auch voll bleierner Ungewissheit, wird ihre Verzweiflung noch verstärkt haben. Die junge Mutter ist unfähig, ihre große Nachkommenschaft allein großzuziehen, und beschließt, Jacob nach Israel zu schicken. Sie vertraut ihn der Agentur an, die die Auswanderung der Diaspora-Juden organisiert. Warum er? Weil er auf diese Weise hoffen kann, seine Schulbildung fortzusetzen? Im Märchen ist es häufig der dritte Sohn, der das Abenteuer sucht und die Ozeane überquert. Wie alt ist er? David wusste es nicht. »Elf, zwölf«, vermutete seine Schwester.
Kein Foto verewigt seine lange Reise. Ich kann mir nur vorstellen, wie er sich auf der Fähre, die Djerba mit dem Festland verbindet, auf die Reling stützt, während er zusieht, wie seine Welt zu einem einfachen grauen Strich auf der Wasseroberfläche wird, und wie er dann hinten auf einem Lastwagen sitzt, auf dem Weg nach Norden, staubbedeckt, und die Kilometersteine zählt, um sich die Zeit zu vertreiben oder um die Entfernung zu ermessen, die ihn von den Seinen trennt. Von Tunis aus schifft er sich zwangsläufig nach Marseille ein, nimmt ein weiteres Schiff nach Israel und erreicht schließlich einen Ort, der mit nichts vergleichbar ist, was er bisher hat kennenlernen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach eine große, von Zäunen umgebene Farm. Niedrige Gebäude mit roten Dächern, ein Wachturm, ein Wasserturm, Traktoren und Scheibenpflüge, die unter einem Dach abgestellt sind, Schuppen voller Düngersäcke und Ölfässer. Ich vermute, am stärksten ziehen die Jungen und Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich. Sonnengebräunte, sportliche Jugendliche beiderlei Geschlechts in Stiefeln und knappen Shorts, die miteinander verkehren, ohne die Miene zu verziehen, als wäre das alles ganz selbstverständlich.
Er wurde von einem »Kibbuz« aufgenommen, erklärte Shirley mir. Dort würde er seine Jugend verbringen. In dem Moment war sie nicht in der Lage, mir zu sagen, wie die verlief, auch nicht, wie ihr Vater einen solchen Umsturz erlebt hatte. Die Feldarbeit, der Gemeinschaftsessraum, der Schlafsaal, das Gefühl der Einsamkeit, wenn die anderen Kinder abends nach dem Duschen zu ihren Eltern zurückkehren, die stürmischen Versammlungen und die immer wieder eingehämmerten Aufforderungen, mit der Vergangenheit Tabula rasa zu machen, die eigene Kultur, Tradition, Sprache zu vergessen, vor allem, wenn diese der des Feindes gleicht, und zu einem neuen Menschen zu werden, einem Ackerbauer-Soldaten, einem Pionier mit einer neuen Identität, einem neuen Vornamen: Jacob, oder besser gesagt Yaaqov. Nein, ganz offenbar hatte ihr Vater ihnen auch von all dem nichts erzählt.
»Und als er die Uniform trägt — in welchem Jahr sind wir da?«, habe ich gefragt.
»1967«, antworteten beide im Chor.
Anders als ich dachte, ist er kein einfacher Wehrpflichtiger. Seinen Dienst leistet er in der Golani-Brigade. Als ich Shirley den Namen einer der berühmtesten Brigaden Israels aussprechen hörte, war ich verblüfft. Ich hatte ihn mir nicht in einer Kampfeinheit und schon gar nicht in einem Korps vorgestellt, das noch heute als Talentschmiede für die Spezialeinheiten dient. Jacob ist Infanterist. Er nimmt am Sechstagekrieg teil und sicherlich auch an dem geheimeren, untergründigeren Kampf, der gleich anschließend gegen die palästinensischen Fedajin geführt wurde. Sein Schmiss an der Unterlippe stammt von einem Granatsplitter. Bei der Explosion hat er zwei Backenzähne verloren. Lange Zeit wird er eine Zahnspange tragen. Die schlimmsten Folgen bleiben unsichtbar. Seine Kinder waren fest davon überzeugt: Er litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Symptome davon hatte er alle: seine Ängste, sein Schweigen, seine Abkapselung.
»Lange Zeit hat er kein Blut sehen können«, betonte seine Tochter.
Und doch möchte er nach seinem dreijährigen Militärdienst in der Armee bleiben. Er träumt davon, Jagdflieger zu werden. Seine Versuche scheitern. Trotz dem abgeleisteten Dienst erfüllt er nicht die erforderlichen Voraussetzungen. Er ist sehr verbittert darüber und führt die Ablehnung seiner Bewerbung auf seine Herkunft, seinen arabisch klingenden Familiennamen, seine dunkle Haut zurück. Ob begründet oder nicht, seine Wut spiegelt die vieler junger Sepharden wider, die zu jener Zeit in Israel nicht mehr als Bürger zweiter Klasse behandelt werden wollen und die Ausgrenzung anprangern, die sie durch das aschkenasische Establishment erfahren. Nach der Entlassung aus der Armee studiert Jacob an der Hebräischen Universität in Jerusalem und beschließt sehr bald, woanders hinzugehen.
1970 landet er in Marseille und beginnt ein Studium der Bildenden Künste, bevor er nach Paris zieht und zur Architektur wechselt. Parallel dazu arbeitet er — wenn schon nicht Pilot — beim Bodenpersonal der Gesellschaft El-Al, was er nutzt, um in der ganzen Welt herumzureisen. Der Rest passt in wenige Worte. Seine Heirat mit Rosine Fishman. »Eine Aschkenasin und ein Sepharde! Wir sind das Produkt einer perfekten Mischung«, verkündete Shirley. Dann ihre Scheidung. Eine schwierige Trennung, gespickt mit gegenseitigen Vorwürfen. Und zwischen den beiden Ereignissen, die ein Vierteljahrhundert trennt, ein verzehrender Beruf, der allen Raum einnimmt und an Besessenheit grenzt. Noch ein Rätsel. Jacob hätte Architekt sein sollen. Doch als er sein Examen in der Tasche hat, ändert er zum x-ten Mal den Kurs. Er will sich für seine Gemeinde einsetzen. Nachdem er Hebräisch unterrichtet und sich sozial engagiert hat, übernimmt er die Leitung der Chewra Kadischa, der Beerdigungsgesellschaft.
»Es war ein heiliges Amt. Die Toten haben uns unseren Vater gestohlen«, erklärte David. Ein ständig klingelndes Telefon, kein Wochenende, geopferte Ferien, freudlose Tage und schlaflose Nächte. »Am Ende war er sogar über Kreuz mit den Leuten vom Gemeindevorstand. Deshalb bin ich erstaunt, dass die Sie an uns verwiesen haben.«
»Die letzten zehn Jahre seines Lebens waren ziemlich düster«, bekannte seine Schwester. »Dabei hatte er, das sehen Sie ja auf seinen Fotos, etwas Strahlendes, Sonniges, von Grund auf Gutes.«
Ich fragte mich, ob auch er früher dieses Café besuchte. Seiner Einsamkeit überlassen, war er ein paar Schritte von hier eingezogen. In einen ehemaligen Laden, der nach seinem Tod leergeräumt werden musste, wie immer in solchen Fällen. Seine Kinder entdeckten ein Chaos, ein unzugängliches Durcheinander, eine Ansammlung verschiedenartigster Gegenstände, Zeitungsstapel aus allen Epochen, die bis zur Decke reichten.
»Wir mussten Berge von Büchern und Papierkram wegschieben, um reinzukommen«, erinnerte sich David. Am Ende litt er am Diogenes-Syndrom. Er warf nichts weg. »Er sagte: ›Eines Tages mach ich daraus noch was.‹ Nachdem wir Dutzende von Containern gefüllt hatten, haben wir mit dem Sortieren aufgehört und die Müllabfuhr gerufen.« Shirley fügte abschließend hinzu: »Irgendwann konnten wir nicht mehr und das hat uns daran gehindert zu trauern.«
Mit allem anderen wurde auch das Album weggeschafft. Warum hatte Jacob ihnen dessen Existenz verschwiegen? Und was hatte es mit seinen zahllosen Adressen, seinen unaufhörlichen Wohnungswechseln auf sich? Was tat er in Rom, Lyon, Genf, Sankt Gallen oder Basel? »Ja, es gibt ein Geheimnis«, räumte Shirley ein. »Sein Leben barg viele Geheimnisse, die selbst unsere Mutter nicht erhellen kann«, gestand David, bevor wir uns trennten. Sein Vater war um die ganze Welt gereist, aber niemals wieder nach Tunesien zurückgekehrt.
Sichtlich verärgert empfing die Produzentin mich in ihrem Büro. Es brachte sie in Rage, dass sie das erste Treffen mit den Kindern Jacobs nicht hatte filmen können. Die Idee dazu war am Tag vor meinem Treffen Gegenstand einer Nachricht mit dem Betreff »Nachtgedanke« gewesen. Getäuscht vom Betreff, hatte ich geglaubt, es handelte sich bloß um einen Vorschlag. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich das für verfrüht hielte. Wenn bei Ihnen überraschend ein Fremder auftauchen und Ihnen auf einem Flohmarkt gefundene Fotos Ihres Vaters zeigen würde, Jugendfotos, von deren Existenz Sie nichts wüssten, und er dabei eine Kamera und ein Mikrophon auf Sie richten würde, um Ihre Reaktionen und zwangsläufig gemischten Gefühle aufzuzeichnen, mit der Absicht, die Bilder im Fernsehen auszustrahlen, möglichst zur besten Sendezeit — wie würden Sie da reagieren? Für mich persönlich weiß ich das: eher schlecht. Sie hatte mir nicht geantwortet.
Zwei Wochen später setzte sie meinen Diensten ein Ende. »Der Regisseur muss sich die Geschichte neu zu eigen machen«, erklärte sie. »In diesem Stadium ist es das Wichtigste, dass er die Kinder trifft. Wenn wir später einen Ermittler brauchen, dann kommen wir vielleicht auf dich zurück.« Sie bat mich, ihr das Album zurückzugeben und die Kontaktdaten von David zu nennen. Auf meine literarischen Bestrebungen sollte ich verzichten. Sie hatte den »Stoff« verkauft oder stand kurz davor. »Der Sender zwingt uns eine Vertraulichkeitsklausel auf.« Ich gab ihr Jacobs Buch zurück, das erneut unter einem Mantel des Schweigens verschwand.