Um es gleich zu sagen, es gelang mir nicht, meinen Auftrag zu erfüllen. Als ich in Israel eintraf, verstand ich mich ein wenig als ein Bote, ja, ein Versöhner, eine Art Familiendiplomat. Mein Versuch, die beiden Zweige der B’chiris einander anzunähern, erlebte dasselbe unselige Schicksal wie die meisten in der Region initiierten Friedensprozesse. Es fehlte genau das, woran es den verfeindeten Völkern eines zu oft verheißenen Landes fehlt, nämlich Vertrauen. Im einen wie im anderen Falle wog die Streitsache viel zu schwer.

Die Bedeutung des Mandats, das mir anvertraut worden war, musste den örtlichen Behörden bekannt geworden sein, denn zu meiner großen Überraschung stellten sie mir eine Sondererlaubnis aus, um ins Land einzureisen. Dabei waren die Grenzen aus Pandemiegründen seit zehn Monaten für nicht residente Fremde geschlossen. An einem Januarabend landete ich auf dem Ben-Gurion-Flughafen. In einem halb verlassenen Terminal, das zum medizinischen Labor umgewandelt worden war, bot ich meine bereits ziemlich geweiteten Nasenlöcher einem x-ten Wattestäbchen dar. Diesmal musste ich mich mindestens zehn Tage isolieren. Ich hatte das Glück, jenen Quarantäneorten zu entgehen, die dem Heimatfront-Kommando unterstellt sind, mit anderen Worten: der Armee. Keine Website wie Trip-Advisor scheint diese Etablissements aufzuführen, die in der Presse »corona hotels« genannt wurden, aus denen die im Internet verfügbaren Videos aber nur Krawallszenen zeigten. Die Rezeptionisten trugen eine kakifarbene Uniform. Die Insassen wurden in ihrem Zimmer festgehalten, mit dem kategorischen Verbot, es zu verlassen. Wenn die Mahlzeiten ausgeteilt wurden, mussten sie warten, bis der Zimmerservice wieder gegangen war, bevor sie ihre Tür öffnen und die in einer Plastiktüte verpackte Nahrung in Empfang nehmen konnten.

Der Freund, bei dem ich in Jerusalem Aufnahme fand, legte mir weit weniger strenge Regeln auf. Wir aßen auf seiner Terrasse in der Sonne zu Mittag. Trotz der Jahreszeit war das Wetter fast frühlingshaft. Mein Zimmer überragte ein Gewirr von Häusern aus rosafarbenem Stein, umstanden von Zypressen und Eukalyptusbäumen. Auf der Gasse unterhalb des Hauses spielten Kinder. Ihre Lieblingsbeschäftigung bestand darin, mit einem Einkaufswagen die steile Straße hinunterzufahren. Als ich mich aus dem Fenster lehnte, sah ich links in der Ferne den Ölberg mit seinen marmornen Tasten. Ich kannte das Viertel, weil ich zwanzig Jahre zuvor dort gewohnt hatte, und fand dort, selbst eingesperrt zwischen vier Wänden, Erinnerungen und alte Empfindungen wieder. Geräusche, Gerüche und vor allem ein blendendes, kristallines Licht.

Nach einem weiteren Test nahm ich meine Nachforschungen wieder auf. Ich reiste mit Jérémy, einem brillanten Studenten der Neurobiologie, der sich bereit erklärt hatte, mir als Dolmetscher zu dienen. Einige Jahre zuvor war er ein Charedi gewesen, ein gottesfürchtiger Mensch, denn bei Jesaia steht geschrieben: »Höret des Herrn Wort, die ihr euch fürchtet vor seinem Wort«. Inzwischen fürchtete er niemanden mehr. Er hatte seinem Glauben abgeschworen, mit den Eltern und seinem Umfeld gebrochen, Kippa, Filzhut, schwarze Jacke und Zizit weggeworfen, wie man einen Orden verlässt. Nachdem er seinen Militärdienst in einer Kampfeinheit absolviert hatte, entdeckte er die Wissenschaft für sich. Seitdem schwor er nur noch auf Beweisführungen und Experimente. Ich führte ihn auf sehr viel unsichereres Gelände.

In Tunesien hatte Jacob nur Steine hinterlassen. Alle, mit denen er als Kind Kontakt gehabt hatte, waren fort und unter der Einwirkung einer unwiderstehlichen Strömung hier auf der anderen Seite des Mittelmeeres gelandet. Yoshua lebte in einem modernen, unpersönlichen Wohnviertel in der Umgebung von Tel Aviv. Trotz seiner langen grauen Haare hatte er ein erstaunlich junges Gesicht bewahrt, natürlich ein wenig dicker und faltiger. Vielleicht war er durch die Erinnerung an den Menschen, den er als seinen besten Freund betrachtete, bevor das Leben sie trennte, jünger geworden. »Für mich war es sehr schwer, ganz bei null anzufangen«, sagte er. Mühsam, als legte er ein Geständnis ab, fügte er hinzu: »Ich wäre gern auf Djerba geblieben.« Er war ehemaliger Luftfahrttechniker und nun im Ruhestand. Trotz einem scheinbar komfortablen Leben hatte er Heimweh — weniger nach dem Land, in dem er geboren wurde, als nach dem, was er hätte sein können, hätte er es nicht verlassen. Als Kind wollte er Rabbiner werden. Er sagte: »Ich habe die Thora studiert und nichts anderes.«

Jacob hatte ihn in alles andere eingeführt. »Er war unser Anführer. Wir folgten ihm zu mehreren. Er hat uns beigebracht, uns zu prügeln, Fußball zu spielen und zu rennen. Er machte uns bereit für Dinge, die wir nicht einmal ahnten.« Am Samstagnachmittag trainierte er sie in den Olivenhainen, und improvisierte mit quasi nichts, ihrer Mütze oder einem provisorischen Ball aus Altpapier, ein Spiel. Im Sommer führte er sie mit einem von einem Esel gezogenen Karren an den Strand. Er erzählte ihnen auch von Israel, so wie man die Ankunft des Messias preist.

Natürlich stach er von all den Jungen ab, die ihre Tage damit verbrachten, in einer Ecke der Synagoge auf dem Boden zu hocken und über eine Talmudpassage zu diskutieren. Er ging in die Grundschule, lernte weltliche Fächer, sprach Französisch, spielte Fußball und machte Leichtathletik, trug kurze Hosen und gehörte zu einer angesehenen Familie. Morgens machte er sich zu Fuß auf den Weg in eine Stadt, die in den Rang einer Kreisstadt erhoben worden war, obwohl sie kaum größer war als sein Weiler. Wenn er nicht mit seiner Clique spielte, schloss er sich zu Hause ein und las oder zeichnete. Die Wände seines Zimmers hingen voll mit seinen Skizzen. Er war Anführer und Einzelgänger. Hatte ein soziales und zugleich zurückgezogenes Wesen, und bereits ein wachsendes Geheimnis. Sein Jugendfreund hatte alle seine Briefe aufbewahrt, vielleicht in der Hoffnung, eine versteckte Botschaft darin zu finden. Er zog sie aus einer Klarsichthülle und begann sie zu lesen. »Er nannte mich seinen lieben Bruder!« Er hob den Kopf und sagte: »Er war schon speziell.« Beide waren sie im selben Jahr, 1963, auf unterschiedlichen Wegen ausgewandert. In Israel hatten sie weiterhin korrespondiert, sich aber nie wiedergesehen. Yoshua wusste nicht, warum.

Trotz der Beengtheit des Landes lebten die B’chiris weit voneinander entfernt. Von allen Geschwistern war Itzhak derjenige, der Jacob am besten kannte. Er wurde ein Jahr nach ihm geboren und hegte eine grenzenlose, von quasi jugendlicher Begeisterung erfüllte Bewunderung für ihn, die des Jüngeren für den Älteren. Von meinem ersten Tag in Israel an hatte er mich mit SMS überschüttet, die durch die Magie der automatischen Übersetzung alle mit »Mein Charmanter« statt mit »Mein Lieber« begannen. Er erwartete meine Ankunft unter einem Portal am Fuß einer Betontreppe. »Ich habe dich erwartet!«, rief er und nahm mich in die Arme, ohne sich um irgendwelche Abstandsregeln zu scheren. Ich wich wohl leicht zurück, denn er hielt es für angebracht, mich zu beruhigen: »Keine Sorge, ich bin geimpft.« Als wir das Haus betraten, deutete er auf den Raum, der ihm als Schutzraum für den Fall eines chemischen Angriffs oder einer Explosion diente, als wollte er die aktuelle Gefahr relativieren. Er wohnte ganz im Norden, in Kiryat Shmona, einer Stadt direkt an der Grenze zum Libanon, die regelmäßig Ziel von Raketenangriffen war.

Er forderte mich auf, am Tisch Platz zu nehmen, und schenkte mir ein Glas Granatapfelsaft ein, der mich an meinen Aufenthalt in Tunesien erinnerte. Ich zeigte ihm Fotos, die ich auf dem Friedhof in Hara Kebira gemacht hatte. »Ach, das erkenne ich … Und hier? Wer ist das?« Seine kleinen mandelförmigen Augen, die denen von Jacob ähnelten, blickten auf jedes der drei Gräber. Seine Stimme wurde ernst: »Schau dir an, wie absurd das Leben ist. Mein Vater hatte sich dafür eingesetzt, dass die Männer der Familie alle zusammen sind, und jetzt ist er allein.« Ich berichtete ihm von den Worten seines Cousins Maurice, von dessen Wunsch, »das Kapitel abzuschließen«, wie er es genannt hatte, und bei der Überführung dessen, was von Khamaïs, dem in Ungnade gefallenen Patriarchen, noch übrig war, nach Israel zu helfen. Das Angebot seines Cousins ließ ihn kalt.

»Ich weiß nicht«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Er ist ein sehr harter Mensch. Kennst du unsere Geschichte?«

»Ein bisschen«, stammelte ich.

»Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen. Mein Vater war Multimillionär.«

Seine Stimme wurde wehmütig, als er mir erzählte, wie Khamaïs mit nichts begonnen und dann ein Vermögen zusammengetragen hatte. Seine Strategie bestand in einer langsamen und unaufhaltsamen Vergrößerung der Angebotspalette. Zuerst die Reparaturwerkstatt, die Tankstelle, die Citroën-Konzession, dann die von Renault, gefolgt von dem Busunternehmen … Die einzelnen Bestandteile fügten sich zusammen wie in einem riesigen Legospiel. »Am Samstag kam ein Vertreter der Jewish Agency for Israel in die Große Synagoge, um die Gläubigen zu ermutigen, ihre Alija zu machen. Noch am selben Abend organisierten die Leute ihre Abreise. Sie gingen zu meinem Vater und baten ihn, ihre Wohnung oder ihr Geschäft zu übernehmen. Auf diese Weise hat er ein Imperium aufgebaut, obwohl er nicht einmal lesen und schreiben konnte«, sagte Itzhak.

Er hatte wenig Erinnerungen an diesen in allem erfolgreichen Vater, jedenfalls keine präzisen oder privaten. »Er war selten da. Unter der Woche widmete er sich seinen Geschäften und kam erst am Freitag nach Hause.« Er lachte: »So wurden wir gezeugt.« Seine Mutter reihte eine Schwangerschaft an die andere. In fünfzehn Jahren Ehe wurde sie sechzehnmal schwanger und zog schließlich zehn Kinder groß. Die anderen? Fehlgeburten oder Totgeburten, die ohne Kaddisch beerdigt wurden. Itzhak erklärte: »Ich war die Nummer sechs.« Jacob stand an fünfter Stelle. Genau in der Mitte. Vor ihnen waren Leah, Rivka, David und Benyamin gekommen. Danach Tamar, Judith, Rafael. Der letzte, Moshe, kam als Halbwaise zur Welt.

»Unser Vater ist in Tunis gestorben, nicht auf Djerba«, betonte Itzhak, als wäre dieses Detail besonders wichtig. Er hatte weder den Leichnam sehen noch an der Beerdigung teilnehmen können. Von der Zeremonie behielt er nur ein flüchtiges Bild einer Menschenmenge in Erinnerung, die er aus einem Taxi heraus gesehen hatte. »Ich war acht Jahre alt. Ich habe nicht verstanden, was vor sich ging. Deshalb war ich so gerührt, als ich deine Fotos sah.« Er erhob sich und setzte seine Sonnenbrille auf. »Gehen wir in mein Büro. Wenn wir hier bleiben, fange ich an zu weinen.«

Auf dem Weg machte er an einem Aussichtspunkt halt, von dem aus man das ganze Tal sah und auf der anderen Seite einen waldbedeckten Berg. Hinter der Kammlinie lag der Libanon. Bis Mitte der 1950er Jahren war Kiryat Shmona nur ein Durchgangslager. Die ersten Bewohner, die größtenteils aus Marokko oder Tunesien stammten, drängten sich in Wellblechhütten und Fertighäusern. 1975 wurde Itzhak als Lehrer dorthin geschickt. Er hatte gerade geheiratet. Die Stadt war im vollen Aufschwung. Sehr bald hatte er den Lehrerberuf aufgegeben und ein Maklerbüro eröffnet.

Er führte uns durch schattige Straßen zu einem einstöckigen würfelförmigen Gebäude. Vor dem Gebäude stand ein grünes Schild, darauf in großen Buchstaben der Name »Bashiri« mit einem »a«. Die Entscheidung, den Namen eher in lateinischen Buchstaben zu schreiben und nicht auf Hebräisch, entsprach sicher der Absicht, eine internationale Kundschaft anzuziehen, oder aber war Ausdruck des Vermissens einer längst vergangenen Zeit. Als wir hineingingen, stellte mir Itzhak seine Tochter und seine beiden Söhne vor, die mit ihm arbeiteten, dann ging er zu einem Wandschrank und holte eine Tasche heraus, in der es metallisch schepperte, und schwenkte sie wie eine Trophäe vor meiner Nase. »Ich besitze alle Schlüssel von Kiryat Shmona!« Er behauptete, er habe den Traum seines Vaters verwirklicht: »Auch ich habe ein Imperium geschaffen!« In seinem Elan schenkte er mir dutzende von Feuerzeugen, Stiften und Karten, auf die er »Bashiri« hatte drucken lassen. Und er hielt mir eine Schirmmütze mit seinem zugleich gepriesenen und streitig gemachten, erloschenen und wiederauferstandenen Familiennamen hin. Ich setzte sie auf. Er sah mich mit seinen Spaßvogelaugen an. »Wenn du jetzt so in Paris herumläufst, wird jeder von uns erfahren!«

Er schien von riesigem Stolz beseelt zu sein, von einem fröhlichen pantagruelischen Lebenshunger. Erst als er an seinen älteren Bruder dachte, den er weiterhin Zakine nannte, verdüsterte sich sein Gesicht. »Immer wenn ich etwas brauchte, half er mir. Er hat alles dafür getan, dass ich Erfolg hatte. Aber sein Leben war schrecklich. Er war sehr hart zu sich selbst.« Ich fragte ihn, warum ihre Mutter ihn so jung allein nach Israel geschickt hatte — beinahe hätte ich gesagt: verlassen hatte, von seiner Insel verbannt, anderen anvertraut, vielleicht in der Absicht, ihn aus dem Elend herauszuholen und einen Mann aus ihm zu machen, einen echten Mann, einen Pionier, einen neuen Löwen von Juda. Er protestierte: »Niemand hat ihn gezwungen! Er wollte es so!«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich erzähle das nicht gern. Djerba war ein einziger Balagan, ein großer Rummel! Wo es Geld gibt, ist immer Balagan. Alles klar?« Er wechselte zwischen Französisch und Hebräisch und ließ manchmal auch ein paar Worte Arabisch oder Jiddisch einfließen. Jérémy saß mir gegenüber und übersetzte murmelnd. »Unser Onkel Maklouf war Automechaniker. Als Papa starb, wurde er unser Vormund. Er ließ unsere Mutter etwas unterschreiben und hat alles genommen, das Gold, die Busse, die Werkstatt, die Geschäfte, die Schlüssel, absolut alles. Im Gegenzug musste er uns nur ernähren. Aber nicht mal das hat er gemacht. Wenn wir versuchten, mit ihm zu reden, wurde er wütend und peitschte uns mit einem Elektrokabel. Damals hatte eine Frau keinerlei Rechte. Sie konnte nicht einmal nach eigenem Willen ihre Wohnung verlassen. Mama zog in ein Haus im Dorf, das früher einem Scheich gehört hatte. Unser Vater besaß viele Häuser.« Itzhak lächelte: »Verstehst du jetzt, warum ich nicht an Maurice’ Vorschlag geglaubt habe?« Er redete ganz behutsam, als würde er mit einem Kind sprechen. Bestimmt machte er sich über meine Arglosigkeit lustig. Er fuhr fort: »Es ist eine traurige, schmerzhafte Geschichte. Ich habe nicht vergessen, aber verziehen. Und schau!« Mit einer großen Handbewegung deutete er um sich herum auf die Tische und Aktenstapel wie auch auf seine Sprösslinge, die vor Computerbildschirmen saßen. »Gott sei Dank fehlt es mir an nichts. Zakine gelang es nicht, einen Neuanfang zu machen. Ich sagte ihm: ›Es ist vorbei. Khalas!‹ Und er sagte immer wieder: ›Du hast keine Ahnung, was wir durchgemacht haben.‹«

Als er fünfzehn Jahre alt war, ging sein Bruder fort, so wie wenn man von zu Hause wegläuft. Aus Wut oder aus Angeberei, vielleicht aus beidem ergriff er die Flucht. Er verließ nicht die Familie oder Freunde, sondern einen Ort, der ihm keinerlei Zukunft bot. Ein durch Metonymie mit dem Haus, aus dem er vertrieben worden war, verbundenes Land, ein Symbol für Verrat und Ungerechtigkeit. Er beschloss, nur noch von sich selbst abhängig zu sein und sein Glück anderswo zu versuchen. Ich nehme an, dass er auch am Samstagabend dort in der Synagoge gewesen sein muss, inmitten all der Männer des Dorfes, um dem Sendboten zuzuhören, wie er mit biblischen Untertönen das neue Land beschrieb, das sie erwartete. Warum bleiben? Die Schule war für ihn vorbei, seit er seinen Volksschulabschluss erhalten hatte. In Djerba gab es kein Gymnasium. »Dort«, wie jeder vorsichtig sagte, in jenem phantasierten Anderswo, würde er seine Schulbildung fortsetzen können und eine Stellung haben, die den Erwartungen entsprechen würde, die sein Vater in ihn setzte. Bevor er aufbrach, hatte er Itzhak ein Versprechen gegeben: Er würde sie nie im Stich lassen. Er würde ihnen als Kundschafter dienen, und eines Tages würde er sie alle zu sich holen.

Wahrscheinlich war er ergriffen, als er an Bord eines unter der Flagge mit dem Davidstern fahrenden Schiffes ging. Bis dahin kannte er sicher nicht viele jüdische Seeleute, abgesehen von denen, die auf der Fähre zwischen Ajim und Jorf arbeiteten. Nach vier Tagen Überfahrt legte er im Hafen von Haifa an. Er bahnte sich einen Weg durch eine Menge von Menschen, die sich in den Armen lagen und ganz von der Freude über das Wiedersehen und die Erfüllung eines tausendjährigen Traums erfüllt waren. Auf ihn wartete niemand am Kai, abgesehen vielleicht von einem Beamten, einem Haver, einem Genossen, wie man ihn damals nannte, der ihn zu einer fast ausschließlich aus Jungen bestehenden Gruppe brachte, die alle eines gemeinsam hatten: Sie stammten wie er aus Nordafrika.

Entgegen dem, was Shirley und David glaubten und vielleicht auch er selbst erwartet hatte, brachten seine Begleiter ihn und die anderen nicht in einen Kibbuz. Alyat Ha’Noar, der Verein, der die Aufnahme von einzelnen Minderjährigen in Israel organisierte, hatte verfügt, dass abends zum Klang eines Akkordeons angestimmte Revolutionslieder, verrauchte Generalversammlungen, hitzige Diskussionen, Abstimmungen per Handzeichen, am 1. Mai geschwenkte rote Fahnen, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Geschlechtergleichheit — zumindest die öffentlich zur Schau getragene, wenn auch nicht tatsächliche — und ganz generell eine säkulare und sozialistische Erziehung jungen Menschen aus arabischen Ländern nicht angemessen waren. Unabhängig von ihren Glaubensvorstellungen oder Wünschen war man der Ansicht, man müsse sie unter strenger Beobachtung halten. Jacob wurde einem religiösen Internat anvertraut.

Das »Jugenddorf von Kfar Blatt«, das früher mitten auf dem Land lag, war heute ebenfalls zu einem Vorort geworden. Es lag am Rande von Petah Tikva, einer alterslosen, einheitlich grauen Industriesiedlung, und war auf der einen Seite von Wohnblocks umgeben und auf der anderen Seite von Feldern. In der Ferne erkannte man, verborgen von leichtem Dunst, die ersten Ausläufer des Westjordanlandes. Eine Bambuspalisade umgab das ehemalige Waisenhaus. Durch das Gitter des Tores konnte man mit Sykomoren bepflanzte Rasenflächen, verputzte Wohnungen und ältere Gebäude mit roten Dächern erkennen, aber keinen einzigen Schüler. Der Direktor kam, um uns zu öffnen. Er schien erfreut über Besuch, wahrscheinlich der erste seit Monaten. Seine Assistentin bot uns Datteln an, während er in Verzeichnissen blätterte. »Wie sagten Sie doch gleich? Chéri? Chiri?« Er las jeden Namen vor, als befände er sich beim Appell auf einem imaginären Schulhof. »Kaufman, Cohen, Bittan …« Er stieß einen Schrei aus: »Zakine! Zakine B’chiri!« Er schlug mit dem Handgelenk auf den Tisch. »Wah, wah, wah!« Er las den handschriftlichen Eintrag: »Er wurde 1963 hergebracht, gleich nach seiner Ankunft in Israel.«

Damals forderte jede politische Gruppierung ihren Anteil an Einwanderern. Das »Dorf« gehörte zu der Bewegung HaPo’el haMizrachi, die Arbeiter aus dem Osten, eine Vorläuferin der Nationalreligiösen Partei. Es verfügte über Schlafsäle, eine Landwirtschaftsschule, eine Jeschiwa und einen achtzig Hektar großen Bauernhof. Die 400 Schüler im Alter zwischen zwölf und siebzehn Jahren mussten eine Kippa tragen sowie einen Tallit unter dem Hemd, dreimal täglich in der Synagoge beten und vor jeder Mahlzeit einen Segen sprechen. Sie waren in Sechserzimmern untergebracht. Der Vormittag war dem Unterricht, der Nachmittag der Arbeit auf dem Feld gewidmet. Sie mussten eggen, zwischen den Kartoffelpflanzen jäten, die Maschinen warten, die Kühe melken, die Milch entrahmen, den Hühnerstall saubermachen und einige Hausarbeiten erledigen. Es mangelte nicht an Dienstpflichten.

Der Direktor zog ein Klassenfoto aus seiner Mappe, das im Schatten eines knorrigen Baumes aufgenommen worden war. Etwa dreißig Jungen und Mädchen, alle in makellos weißen Hemden, wie zum Versöhnungsfest, standen um eine ältere Frau herum, die wohl ihre Lehrerin war. Ich erkannte Jacob, der in der Mitte der dritten Reihe stand, mit hoher Stirn, ernster Miene und schiefem Gesicht. War er glücklich, hier zu sein? In seiner autobiographischen Erzählung The Immigrant beschreibt der israelische Journalist Daniel Ben Simon eine ähnliche Erfahrung. Seinen plötzlichen Weggang aus Casablanca, etwa im selben Alter, erlebt er als Trennung. Von einem Tag auf den anderen muss er seine Schule verlassen, die Koffer packen und sich von den Eltern verabschieden — erst Jahre später wird er sie wiedersehen. Er geht nicht aus eigenem Antrieb. Niemand hat ihn nach seiner Meinung gefragt. Seine Mutter hat einfach nur seinen Namen auf ein Formular geschrieben. Zu seinem eigenen Wohl, um ihn in Sicherheit zu bringen. Kaum in Israel angekommen, schickt man auch ihn in ein religiöses Internat. Am Anfang ist er von allem abgeschreckt. Die Disziplin, die Härte der Sitten, das Gemeinschaftsleben. Er spricht kein Hebräisch, hat noch nie eine Kalotte getragen und noch seltener mit einem Spaten gearbeitet. Sein Traum war es, Schriftsteller zu werden. Nun ist er Landwirtschaftsschüler.

Auch Jacob leidet unter der Trennung, dem Exil, dem Verlust von allem, was ihm wichtig war. »Vermisst du nicht das Purimfest in Djerba? Das war so schlicht und so schön«, schreibt er seinem Freund Yoshua. Im Internat hat er niemanden, dem er sich anvertrauen kann. Niemand, mit dem er sich, die Füße im Sand, stundenlang unterhalten kann. Die Menschen, die ihn betreuen, wissen nichts über die Welt, aus der er kommt. Eine Mauer von Unverständnis trennt sie voneinander. Sein Direktor ist ein Jekke, ein deutscher Jude, der den Holocaust überlebt hat. Ein schweigsamer Mann von strengem Temperament, zugleich unnachgiebig und anspruchsvoll. »Das war eine andere Generation«, seufzt später sein ferner Nachfolger.

Der Junge beklagt sich vor allem darüber, dass er seine Verwandten nicht sieht. Er baut seine Identität um einen Abgrund herum auf. Der Tod des Vaters, die Abwesenheit der Mutter, die Trennung von den Geschwistern, der Verlust der Freunde. Er ist allein. An Feiertagen sucht er Trost bei einer Tante väterlicherseits, die in der Negev-Wüste wohnt, aber die Wunde klafft weiter. Also schreibt er. Unaufhörlich. Allen. Zumindest denen, die fähig sind, ihn zu lesen. Jacob ist ein unermüdlicher Briefschreiber. Er überschwemmt seine Umgebung mit langen Briefen, in denen er nicht viel sagt, aber in denen er sich nach der ganzen Welt erkundigt. »Wie geht es Yossef?«, »Und Pinhas?«, »Und Haddad?«, »Gibt es gute Nachrichten?« Seine Briefe bezeugen ein dringendes Bedürfnis, Verbindungen neu zu knüpfen, eine Leere mit Worten zu füllen.

Als seine Mutter schließlich entscheidet, sich ihm mit einem Teil der Kinder anzuschließen, ist Jacob schon fast erwachsen. Er bereitet sich auf ein landwirtschaftliches Abitur vor und steht kurz vor dem Militärdienst. Er hat an Selbstbewusstsein gewonnen. Nach der Armee will er sich an der Universität einschreiben. Seltsamerweise nimmt das Wiedersehen, auf das er sich so lange gefreut hat, feindselige Züge an. Weit davon entfernt, die Seinen zu beglückwünschen, beschimpft er sie. Er kann es nicht ertragen, dass sie einfach so auftauchen, ohne Geld, nur mit Pappkoffern. Tunesien auf diese Weise zu verlassen, ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Khamaïs’ Erbe. Er wirft ihnen vor, sie hätten nie etwas unternommen, um wiederzuerlangen, was ihnen zusteht. An ihrer Stelle hätte er bis zum Ende gekämpft.

Ein weiterer Wutanfall, ein mörderischer Ausbruch wird ihn packen und bis ans Ende seines Lebens verzehren. Im September 1966 beginnt er seine Ausbildung bei den Golani, einer Infanteriebrigade, die im Norden des Landes stationiert ist. In den Briefen an seinen Freund Yoshua redet er kaum von seinem Leben als Wehrpflichtiger, außer in lapidaren Sätzen wie: »Es ist sehr hart, sehr anstrengend, aber irgendwann gewöhnt man sich daran.« Sobald es um ihn geht, schweigt er, vielleicht hat er auch Angst, irgendein Geheimnis preiszugeben. Und dann schreibt er eines Tages: »Gott sei Dank geht es mir besser. Das Wichtigste ist, den Frieden wiederzufinden.«

Zwischen den beiden Nachrichten liegt ein Datum: der 9. Juni 1967. Jacob erlebt seine Feuertaufe am fünften Tag eines Krieges, der nur sechs Tage dauern sollte und als der überwältigendste und schnellste Sieg Israels in die Geschichte eingehen wird. Die Heldentat, an der er teilhat, ist auch eine der blutigsten. Um die Mittagszeit bricht sein Bataillon zum Angriff auf die Golanhöhen auf, eine zerklüftete, mit schwarzem Gestein bedeckte Hochebene, die von zahlreichen Vulkankegeln überzogen und bis zu zweitausend Meter hoch ist. Der von Panzern unterstützte Angriff findet am nördlichen Rand dieser natürlichen Festung statt, dort, wo der Steilhang am extremsten ist, also dort, wo der Feind ihn am wenigsten erwartet. Ganz oben verfügt die syrische Armee über Kasematten, die durch Stollen miteinander verbunden sind, von denen aus sie regelmäßig die darunterliegenden Kibbuzim bombardiert. Minenfelder und Stacheldrahtreihen machen die Stellungen noch schwerer einnehmbar. Die Angreifer fallen unter dem Beschuss durch Kugeln und Mörsergranaten. Einer ihrer Panzer nach dem anderen wird zerstört. Die Kämpfe enden im Nahkampf in den Büschen, Schützengräben und im Inneren der Bunker. Als die Sonne untergeht, haben die Golani gesiegt, beklagen aber etwa dreißig Tote, die Syrer zählen doppelt so viele. Jacob wird sich nie davon erholen.

Danach litt er unter verschiedenen Beschwerden, denen man zu jener Zeit keine große Beachtung schenkte oder die man tendenziell eher losgelöst voneinander betrachtete, ohne ihre Merkmale und ihren gemeinsamen Ursprung zu erkennen. Zu dieser Zeit lebte seine Familie in einer bescheidenen Unterkunft in Ra’anana, in der Nähe der Küste. »Als er zu uns zurückkam, war er ganz schwarz und staubbedeckt. Wir konnten ihn nicht ansehen. Er wandte sich ab und weinte. Wir fragten ihn: ›Was ist denn passiert?‹ Und er antwortete nicht«, erzählte mir Itzhak später. »Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Er seufzte die ganze Zeit, keuchte, stieß immer wieder solche ›Aahs!‹ aus. Wir wussten nicht, woran es lag.« Er hatte ihnen nicht von seiner Verletzung an der Lippe erzählt. Übrigens hatte er niemandem irgendetwas gesagt.

Ein Jahr nach seiner Rückkehr ins Zivilleben brach er nach Europa auf. Sein jüngerer Bruder bedauert das bis heute: »Wenn er hiergeblieben wäre, hätte er vielleicht als Abgeordneter in die Knesset gewählt werden können«, sagte er. Tief im Inneren blieben Itzhak und seine engsten Freunde davon überzeugt, dass Jacob sein Land verlassen hatte, um ihm besser zu dienen, berufen zu einer Mission von höchster Wichtigkeit, die natürlich geheim gehalten wurde und über die sie nur Vermutungen anstellen konnten, womit sie seine Legende vervollständigten.