ein Mensch. Ein Anonymus mit vielfältigen Namen, mit einem riesigen und winzigen Leben. Ein gewöhnlicher Held von absoluter Einzigartigkeit, mit einem Schicksal, das Millionen von Menschen teilen. Du wirfst uns auf unser Menschsein zurück, auf unsere Einsamkeit, unsere Verletzlichkeit, unsere unerfüllten Sehnsüchte, auf unser Streben nach Anerkennung, auf unsere Lebenstollheit. Du bist ein Kind aus Djerba, ein Einwanderer aus Petah Tikva, ein Soldat der Tsahal, ein Weltreisender, ein Student aus Marseille, ein Wahlpariser. Zugleich französisch, jüdisch, israelisch, tunesisch, in dieser Reihenfolge und, vielleicht, auch in einer ganz anderen.
Du heißt Jacob oder auch Yaaqov. Als Vornamen trägst du ein im Futur konjugiertes Verb. Im Hebräischen bedeutet es »Er wird folgen«. In der Genesis benannte Rebekka so ihren Lieblingssohn, der zugleich auch der mickrigste, verletzlichste war, um ihm eine Zukunft zu ermöglichen. Obwohl er, verglichen mit seinem Zwillingsbruder Esau (eine Naturgewalt, der zudem noch die Gunst ihres Vaters Isaak genoss), zwar nicht gerade dem Untergang geweiht, aber doch in einer schlechten Ausgangssituation schien, sollte es mit Yaaqov weitergehen. Gewiss, ein bewegtes Leben, mit Höhen und Tiefen, aber er würde alles daransetzen, seinem Lauf eine andere Richtung zu geben.
Der biblische Yaaqov hat nie Frieden gekannt. Seine Geschichte ist eine einzige Abfolge von Prüfungen. Dennoch war er der Akteur seines Schicksals. Mit List und Tücke raubte er seinem Bruder das Erbe, eignete sich dessen Identität an, um den Segen des erblindeten Isaak zu erhalten, und musste sich — um der Rache des einen und dem Zorn des anderen zu entgehen — für fast zwei Jahrzehnte ins Exil nach Mesopotamien begeben. Bei seiner Rückkehr fürchtete er, sich Esau und seiner Armee stellen zu müssen. Stattdessen kämpfte er eine ganze Nacht lang mit einem Engel, der vielleicht sein Doppelgänger war. Er ging aus dem Kampf hinkend, mit einer ausgekugelten Hüfte hervor, aber sein geheimnisvoller Gegner gab ihm zur Belohnung einen neuen Namen: Israel, wörtlich »Gottesstreiter«.
Wie er kämpfst du in Vermächtnis-, Eifersuchts- und Abstammungsangelegenheiten, und auch du bist in einem ständigen Prozess des Werdens. Du wechselst die Existenz, den Namen, das Land. Du sammelst dich an. Du häufst dich an. Das ist eine Manie von dir. Du sammelst Identitäten, wie andere Menschen Briefmarken oder Orangenpapiere sammeln. Du bist viele, so viele, dass man Mühe hat, dir zu folgen. Welchen Weg unter all deinen Spuren wählen? Die einen nennen dich Zakine oder Zakino, die anderen Jacob, Yaaqov, Jacky oder Jacques … Und du? Wie bezeichnest du dich selbst? Bist du überhaupt der, der deinen Namen trägt?
Auch in deiner Maschine setzt du dich fort. Du reproduzierst dich ins Unendliche. Bevor du deine Passfotos in kleine Rechtecke zerschneidest, erinnern sie, eines hinter dem anderen auf einem Streifen Fotopapier, mit ihren vier klaren Zwischenlinien an Leitern. Gerade so wie die von Yaaqov, dem Patriarchen. Seine Trittleiter, so heißt es, ermöglicht den Zugang zum Himmel. Wohin deine führt, weißt du nicht. Du kletterst sie mit großen Schritten hinauf, manchmal noch schneller hinunter, denn gelegentlich kämpfst du auch gegen dich selbst, doch du bleibst niemals stehen.
Bei besonderen Anlässen, wenn du dein Glas auf das Wohl deiner Gäste erhebst, musst du die rituellen Worte »Leh’ayim!« aussprechen, was nicht, wie so oft übersetzt, »Auf das Leben« bedeutet, sondern »Auf die Leben!«
Mit zunehmendem Alter kommt man immer häufiger auf Friedhöfe. Bei mehreren Gelegenheiten konnte ich der Rabbinerin Delphine Horvilleur bei Grabreden auf geliebte Freunde oder ehemalige Arbeitskollegen zuhören. Sie hat die schwere Aufgabe, das disparate Material, das sie über den Verstorbenen hat zusammentragen können, in eine Erzählung zu verwandeln. Wenn sie das Wort ergreift, versäumt sie es nie, daran zu erinnern, dass das Leben im Hebräischen nicht im Singular existiert.
In deiner Sprache steht das Wort immer im Plural. Weil wir unvermeidlich mehrere Leben haben, aufeinanderfolgende oder sogar parallele, aber zweifellos auch, weil es unmöglich ist, das Leben eines beliebigen anderen zu erfassen. Von den anderen, selbst von jenen, denen man sich sehr nahe fühlt, kennt man im besten Falle nur eine oder zwei Facetten.
Ich vermute, dass über dich wohl alles zu sagen bleibt. Deine Geschichte scheint voller Lücken. Sie fügt Stück für Stück disparate Teile zusammen, ohne sich um Kohärenz zu kümmern, wechselt zwischen Überfluss und extremer Kargheit ab, zwischen Engagement und Rückzug, Krieg und Frieden, Schatten und Licht. Selbst das, was ihr als Ausgangspunkt dient, oder zumindest für mich der Auslöser war, wurde immer noch nicht erhellt. Zur Zeit der Römischen Republik bezeichnete das Wort »album« eine »weiße Tafel«, auf der man die Namen von bedeutenden Persönlichkeiten verzeichnete. Richter, Senatoren, Konsuln. Ungeachtet meiner vielen Bemühungen bleibt dein Meisterwerk undurchdringlich. Ein unbescholtenes Blatt, auf das man alles Mögliche schreiben kann.
Du hast es sicher so gewollt, um über den Tod hinaus einen Dialog mit den Lebenden zu führen. Du sprichst durch deine hunderte von Brustbildern zu uns, die nicht ausschöpfen können, was du bist. Am unteren Rand deines Buches hast du mit deinem Vornamen unterschrieben, der so viel bedeutet wie: »Es geht weiter«.