mir eines Tages von seiner Begegnung mit dem Tod. Als junger Mann hatte er sich entschieden, Jesuit zu werden. Er absolvierte gerade sein Noviziat in einem Kolleg in Kairo, als sein geistlicher Vater krank wurde. Er lief in die Apotheke, um ihm Medikamente zu kaufen. Als er zurückkam, fand er eine geschlossene Tür. Er dachte, sein geistlicher Vater schliefe, und wartete im Flur auf sein Erwachen. Nach drei Stunden betrat er das Zimmer und fand ihn leblos auf seiner Matratze. Aus Achtung und Verbundenheit mit dem Meister erklärte er sich bereit, sich um dessen »Übergang« zu kümmern, wie er es nannte.
Er hatte keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet. Zusammen mit anderen legte er den Verstorbenen auf den einzigen Tisch in der Zelle und begann, ihn mit reichlich Wasser zu waschen, ohne ihn je vollständig zu entkleiden oder den Intimbereich zu berühren, dann zog er ihm seine Soutane wieder an und legte ihn in einen Sarg. Er blieb die ganze Nacht an seiner Seite. Am nächsten Tag trat mit dem Erschlaffen der Muskeln eine rote Flüssigkeit aus dem Körper. Zu Heilungszwecken hatte jemand dem Priester empfohlen, literweise Hibiskussaft zu trinken, dem die Ägypter unzählige positive Wirkungen zuschreiben. Man musste ihm den Darm entleeren, die Körperöffnungen wieder verschließen, ihn erneut waschen. Sein Schüler bat ihn mehrmals um Verzeihung. »Ich fühlte mich nicht wohl. Ich habe etwas überschritten. Ein Leichnam ist das Abstoßende par excellence«, erklärte er mir.
Wer gerade gestorben ist, ist ein Hybridwesen, weder Subjekt noch Objekt, niemand in der doppelten Bedeutung dieses Wortes. Eine zugleich abwesende wie schrecklich anwesende Entität, entfernt und nah, die sich entzieht und nichts verbirgt. Ein Dazwischen, das abstößt und fasziniert und auf ein unerreichbares Anderswo und unsere banalste Intimität verweist. Auf das Höchste und das Tiefste.
Dem Novizen gelang es, sein Unbehagen zu überwinden. »Damals war ich gläubig. Das gab dieser Leere, dieser Stille eine Bedeutung.« Er beteiligte sich an weiteren Totenwaschungen, legte aber nie die Gelübde ab und verließ schließlich die Gesellschaft Jesu. Danach ist er Philosoph geworden. Der Tod ist eines seiner wesentlichen Forschungsthemen.
Jacob oder, genauer gesagt, Jacques machte daraus seinen Beruf. In den frühen 1990er Jahren trat er einem Spezialkorps bei, einer Kaste, der Chewra Kadischa, der heiligen Gesellschaft. Als ich nach dem Grund dafür fragte, gaben seine Kinder, ohne sich abzusprechen, einer nach dem anderen dieselbe Antwort: »Das war ein Aufstieg!« Das Ende einer erfolgreichen Karriere. Ein logischer Abschluss, könnte man sagen. Im Vorstand der jüdischen Gemeinde von Paris war er bis dahin für Geburten und Eheschließungen zuständig gewesen. Nachdem er mit den ersten beiden Etappen des Lebens betraut war, dem Anfang und der Mitte, wurde ihm das Ende übertragen. Er führte den Titel eines Direktors, verfügte über ein geräumiges Büro, eine Assistentin und ein erfahrenes Team. Er wurde in seiner Gemeinde zu einer bekannten und geachteten Persönlichkeit. Der Mann, der sein ganzes Leben lang blank gewesen war, erhielt zum ersten Mal ein gutes Gehalt, das seiner großen Verantwortung angemessen war.
Er erfüllte eine besonders ehrenvolle Aufgabe. Im Judentum war diese Tätigkeit lange Zeit einer Elite vorbehalten, einigen wenigen, sorgfältig ausgewählten Notabeln. Die größte aller Mizwot, eines der wichtigsten Gebote der Thora, konnte nur von außerordentlichen und angesehenen Persönlichkeiten erfüllt werden. Nach und nach wurde die Rekrutierung demokratisiert. Heutzutage muss man fromm, demütig, zurückhaltend und ausgeglichen sein, um in der Bruderschaft zu dienen. Ihre Mitglieder begnügen sich nicht damit, eine gute Tat zu vollbringen. Sie rühren an etwas, das dem Menschen eigen ist, an eine wesentliche anthropologische Eigenschaft. Wir sind die einzigen Tiere, die ihre sterbliche Hülle vergraben. Die Menschheit beginnt, so heißt es, mit der ersten Beerdigung, der ersten Handvoll Erde, die auf einen geliebten Menschen geworfen wird.
Jacob machte sich an eine uralte Aufgabe, gegen die seine Mitmenschen Abneigung empfinden. Sein Engagement bei der Chewra Kadischa bleibt für seine Freunde und Verwandten rätselhaft. Die meisten von ihnen erfuhren erst Jahre später von seinem neuen Beruf und nicht durch ihn. Wie üblich sprach er mit niemandem darüber. Sein Bruder Itzhak wundert sich noch heute: »Jeden Tag siehst du Tote. Ich verstehe nicht, warum er das getan hat.«
Reagierte er auf einen Ruf, einen Befehl von oben, dem er nicht widerstehen konnte? In einer Berufung gibt es immer auch etwas Unerklärliches. Das Heilige war ein Teil von ihm. Er kam aus einer zutiefst frommen, von Gebeten und Festen geprägten Welt. In seinem Internat in Israel hatte er eine religiöse Ausbildung erhalten. Trotz seiner aufeinanderfolgenden Exilaufenthalte und dem Bruch mit der Tradition seiner Väter, glaubte er weiter an Gott. »Auf seine Weise«, wie einer seiner alten Freunde sagte, den ich zu Beginn der Pandemie hatte am Telefon erreichen können. Er hatte nichts von einem Rigoristen. Er trug keine Kippa, hielt sich nur sehr locker an den Sabbat und hätte nicht koscher gegessen, wenn seine Tochter Shirley es bei ihrer Bat-Mitzwa, ihrer Kommunion, nicht verlangt hätte. Hingegen las er viel. Er interessierte sich für die Kabbala, die Gemara und die jüdische Philosophie. Ein Gläubiger mit variabler Geometrie, aber gelehrt, neugierig, diskussionsfreudig, den in ihren Gewissheiten eingemauerten Ultra-Orthodoxen in schwarzen Kaftanen ebenso zugewandt wie den liberalen Befürwortern der Frauenordination.
Weder Prestige noch Geld, nicht einmal der Glaube reichen aus, seine Entscheidung zu erklären. Also eine Frage des Temperaments? Eine Todesneigung? Eine tiefe Traurigkeit, die ihn in die Welt des Makabren geführt hat? In seiner Umgebung hinterließ er ein gegenteiliges Bild, das Bild eines »jovialen Mannes« mit »ansteckender Freude«, entsprechend den Automatenfotos seiner Jugend. Zum Beispiel liebte er Kleinkunst. Wenn er einen Witz hörte, konnte er in einen so dröhnenden Lachkrampf verfallen, dass er dem Witzerzähler damit die Schau stahl. Doch sein Frohsinn verbarg einen gequälten Geist. Hinter seinen Freudenausbrüchen lauerten alte Schatten, die seine neue Arbeit nur verschlimmern konnte. Es bleibt eine Hypothese, die ich für die wahrscheinlichste halte: Jacob B’chiri war genau zu diesem Zweck in die Chewra Kadischa eingetreten — um sich mit alten Bekannten zu messen. Bevor er seine Odyssee vollendete, musste er noch das Reich des Hades besichtigen und die Rechnung mit seinen Geistern begleichen. Er wollte seine Vergangenheit bereinigen.
Sicherlich hoffte er, dort Frieden zu finden. In dem Punkt scheiterte er. Gewissenhaft erfüllte er seinen Auftrag mit äußerster Gründlichkeit bis zur Erschöpfung. Ihm opferte er fast alles. Seine Frau, seine Kinder, seine Gesundheit, sein Leben und das, was er noch an Fröhlichkeit und Leichtigkeit bewahrte. Er wurde überwältigt. Er war in der gesamten Region Île-de-France tätig, manchmal auch darüber hinaus und betreute im Durchschnitt etwa zehn Todesfälle pro Tag, also zehn absolute Dramen, zehn Familien, die es zu trösten und denen es zu helfen galt. Daneben gab es ebenso viele Probleme zu lösen. Tonnenweise Formulare ausfüllen, Ämter anrufen, um einen Friedhof am Sonntag öffnen zu lassen, einen freien Platz in den »Grabfeldern« finden, die bereits überfüllt sind, die Zustimmung eines Rabbiners einholen, um einen Selbstmörder aufzunehmen, zwei Menschen, die sich liebten, unter derselben Steinplatte zu vereinen, all das unter Zeitdruck, in Trauer und unter Einhaltung der Rituale.
Der Tod macht keine Pause. Jacob auch nicht. Seine verschiedenen Telefone läuten zu jeder Tages- und Nachtzeit die Totenglocke. Er wird sogar zu Hause auf dem Festnetzanschluss angerufen. Shirley macht sich immer noch Vorwürfe beim Gedanken an die von ihr aus Überdruss abgewiesene, in Tränen aufgelösten Person, die um 3 Uhr morgens nach ihrem Vater fragte. Er geht immer ran. Er nimmt sich Zeit zuzuhören, zu reden, zu trösten, einfach da zu sein, aufmerksam und wohlwollend. Seine Kinder sehen ihn nicht mehr. Er arbeitet sogar am Wochenende. Er verschwindet, ohne Bescheid zu sagen, kampiert in seinem neonbeleuchteten Büro und kehrt im Morgengrauen erschöpft zurück, um sich die Vorhaltungen seiner Frau anzuhören, die verrückt vor Sorge alle Pariser Krankenhäuser angerufen hat.
Theoretisch führt er die Totenwaschung nicht selbst durch. Das überlässt er seinen Mitarbeitern. Seine Gruppen bestehen aus Freiwilligen, die Haverim genannt werden. Das sind »Gefährten«, »Genossen« — der Begriff wird ihn an den Kibbuz oder die Armee erinnert haben. Wenn einer von ihnen aus irgendeinem Grund mal nicht da ist, muss er irgendwie ersetzt werden. Die Zeit drängt. Der Zeitpunkt der Beisetzung rückt näher. Und Jacob ist ein Haver wie die anderen. Schon ist er auf dem Weg. Folgen wir ihm. Im Krankenhaus weiß wie üblich niemand, wo sich das Totenzimmer befindet. Die Dame am Empfang sucht auf ihrem Plan und lotst ihn in den Keller. Am Ende eines Flurs befindet sich ein winziger, heruntergekommener Raum. Bedienstete in Kitteln arbeiten vor einer mit Kühlfächern bestückten Wand. Brummen eines Elektromotors, das Klappern eines Karrens, herzlicher Empfang und launige Worte, vielleicht ein Medizinerwitz, man muss sich ja bei Laune halten. In einem kleinen, rechteckigen Raum ohne Fenster findet er einen seiner Freiwilligen, der bereits seiner Arbeit nachgeht, und in der Mitte, auf einer Stahlfläche, eine menschliche Gestalt, die in ein weißes Laken gehüllt ist.
Ohne miteinander zu reden, vollführen die beiden Männer eine perfekt synchronisierte Choreographie. Das nach und nach über jeden Teil des Körpers vom Scheitel bis zu den Zehen gegossene Wasser, das unter den Fingernägeln entlanggeführte Stäbchen, die Seife, mit der durch die Haare, unter die Achseln, zwischen die Schenkel, über den Unterbauch gefahren wird. Während sie langsame, fast zärtliche Gesten vollziehen, psalmodiert einer von ihnen — ist er es? — Gebete und entschuldigt sich leise für die Verletzungen und die Fehler, die er womöglich begeht.
Diese Szene kann ich mir nur ausmalen, sie anhand von Gesprächen mit Beteiligten rekonstruieren. Ich wollte es sehen, nein, das wäre gelogen, eher: Ich fühlte mich verpflichtet, dem Ritual beizuwohnen, um es zu verstehen und so präzise wie möglich zu sein. »Bist du verrückt? Nicht mal im Traum!«, warnte mich eine Freundin, die sich als Wissenschaftlerin auf die Geschichte des Judentums spezialisiert hat. »In dem Pakt, der uns an den Toten bindet, dürfen wir keine Einzelheiten nennen. Niemand wird Ihnen erzählen, was während der Waschung geschehen ist«, bestätigte mir Serge Benhaïm, der Vorsitzende der Chewra Kadischa in Paris, der dafür aber nicht mit Erklärungen geizte. Über das Ritual. Über seine Bedeutung. Die Reinigung, die Tahara auf Hebräisch, entfernt nicht nur den Schmutz, die Absonderungen, den Rückfluss, sondern auch das, was die Seele des Verstorbenen befleckt, bevor dieser vor seinen Richtern erscheint.
Niemand weiß, was Jacob beim ersten Mal empfand. Sicherlich Schrecken. Ein Abscheu, Widerwillen, gepaart mit Faszination, und der Scham, derartige Gefühle zu empfinden. Leichen hatte er schon gesehen. Wie könnte man ihnen entkommen, wenn man an einem Krieg teilnimmt? Auf Bahren liegende oder in die Erde versenkte Tote, mit Schrott und Pulver vermengt, aufgebläht und aufgedunsen unter ihrer Uniform, aber nie in einer solchen Schmucklosigkeit. Nichts bereitet einen auf den Anblick eines leblosen, nackten, steinernen Körpers vor, der zugleich schwer und gebrechlich ist und auf einem Metalltisch liegt, auf seine Hülle, die bereits nicht mehr die eigene ist, eine kalte, bleiche, durchsichtige, hart gewordene Haut, hier und da von bläulich-roten Flecken überzogen, auf die schreckliche Mechanik der menschlichen Flüssigkeiten und auf den stechenden, beißenden, ebenfalls schweren Geruch, den man nie ganz loswird. Üble Gerüche, die einem die Nase erfüllen, einem an der Haut kleben, den Haaren, der Kleidung und einen bis nach Hause begleiten.
Möglich ist es wiederum, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem Jacob am heftigsten mit dieser körperlichen Dimension des Todes konfrontiert wurde, mit jenem Nahkampf mit seinem Nach-Mir.
Am 1. August 2003 kündigte der Wetterbericht eine bevorstehende Hitzewelle aus dem Süden an. Die x-te weitere Hitzewelle nach einem bereits glühend heißen Juli. Auf den Satellitenbildern sieht man Gewitterzellen entlang der Alpen, einige Dunstgebiete über England und in Nordeuropa. Über Frankreich nichts. Nicht eine einzige Wolke. Ein Teppich aus trockener, heißer Luft bedeckt ganz Frankreich und bewegt sich nicht mehr. In Paris zeigt das Thermometer an neun aufeinanderfolgenden Tagen Werte von über 35° C an. Nachts sinkt die Temperatur kaum noch ab. Es ist unmöglich, sich zu erholen, Kraft zu schöpfen, um sich dem Glutofen des nächsten Tages zu stellen. Die Notrufe häufen sich. Oft sind es die Nachbarn, die wegen des abscheulichen Gestanks Alarm schlagen. Auf der Fußmatte finden die Feuerwehrleute einen Stapel nicht angerührter Essenslieferungen und hinter der Tür einen verwesenden Körper. Sehr schnell sind die Leichenhallen voll, die Bestattungsunternehmen kommen nicht mehr hinterher, Särge sind ausverkauft. Die Hitzewelle wird fast fünfzehntausend Todesopfer fordern. In den meisten Fällen sind es alte Menschen, die allein leben.
Unsichtbare, verborgene Todesfälle. Das Land macht seine erste große Gesundheitskrise des Jahrhunderts in fast allgemeiner Gleichgültigkeit durch. Da gibt es das Frankreich der Strände und das der Schwitzkästen. Das eine lebt auf, nutzt den wohlverdienten Urlaub, das andere leidet. Die Minister sind ausgeschwärmt. Wer innerhalb des Staatsapparats die Stellung hält, verschweigt lieber die Wahrheit als die Sommerfrischler in Panik zu versetzen.
Schon gleich zu Beginn des Monats August begriff Jacob B’chiri, was vor sich ging. Seine Abteilung verzeichnete dreimal so viele Todesfälle wie üblich. Bis zu dreißig pro Tag. So etwas hatte er noch nie gesehen. Also gab er einem Journalisten der ehrwürdigen Jewish Telegraphic Agency ein Interview, vielleicht das erste und einzige seines Lebens. Darin beschrieb er andeutungsweise alptraumhafte Szenen: »Im Krankenhaus werden die Leichen so gestapelt, dass wir nicht immer an sie herankommen. Manchmal bleiben sie dort tagelang, bevor sie beerdigt werden, und wir können nichts tun.« Aus seinen Worten hört man große Verzweiflung und auch Wut. »Die Rabbiner sind alle im Urlaub und haben nicht für Vertretung gesorgt. Außerhalb von Paris, in Orléans oder Tours, ist es noch schlimmer.« Trotz dem Mangel an Personal behauptete er, er sei in der Lage, die Totenwäsche zu gewährleisten. »Aber es ist niemand da, um das Schma Jisrael zu sprechen und die Kerzen anzuzünden. Was kann man tun, wenn die Verwaltung der Gemeinde praktisch den ganzen Sommer über geschlossen ist?«
Drei Wochen lang folgte für ihn eine schlaflose Nacht auf die nächste, und er war ständig auf den Beinen. Manchmal musste er die sterblichen Überreste in Rungis abholen, in einem Kühllager, das zu einer riesigen Leichenhalle umfunktioniert worden war, Einblick in die Register nehmen, durch Reihen von Feldbetten irren, die Plastikhüllen inspizieren und die Namen auf den Armbändern überprüfen, während er vor Kälte zitterte und immer wieder auf die Uhr sah. Jede Minute zählt. Eine Leiche unbegraben zu lassen, ist der größte Affront, eine Beleidigung Gottes und seiner Schöpfung. »Du sollst ihn am selben Tag begraben«, lautet die biblische Aufforderung. Zwischen dem Dahinscheiden und der Beerdigung, so heißt es, erfährt die Seele großes Leid. Wer einen Toten — und seien es nur vierundzwanzig Stunden — der frischen Luft aussetzt, verstößt gegen eines der größten Verbote des Judentums.
Wie jedes Jahr hatte Jacob geplant, mit der Familie in Urlaub zu fahren. Am Vorabend der Abreise verkündete er seiner Frau, dass er sein Amt in einem solchen Moment nicht ruhen lassen könne. Sie hatten einen heftigen Streit. Rosine warf ihm vor, wieder einmal sei ihm die Arbeit wichtiger als die Familie. Sie packte ihren Koffer und überließ ihn seinem Totenzug. Fiel der Entschluss, sich scheiden zu lassen, bei ihrer Rückkehr? Einige Monate später wurde das Urteil verkündet. Er überließ ihr die Wohnung in der Rue Clauzel und zog auf die andere Straßenseite, in ein leerstehendes Ladenlokal, das bald bis zur Decke mit seinen bunt zusammengewürfelten Sachen gefüllt war. Seine Exfrau hatte verlangt, dass er mit all seinem Krempel auszog, der die Ursache für so viele Klagen war.
In jenem Jahr erlebte er einen weiteren Schock. Die Thora verbietet jede Form der Verstümmelung. Sobald eine Autopsie angeordnet wird, interveniert Jacob bei der Staatsanwaltschaft, um sie zu verhindern oder wenigstens zu erreichen, dass der Eingriff so gering wie möglich ist. Das ist Teil seiner Arbeit. Wenn das Gesetz es verlangt — bei Verdacht auf ein Tötungsdelikt oder bei erwiesener Tötung —, ist er bei der Obduktion anwesend, um sicherzustellen, dass jedes Organ und jedes Gewebe, das zu Untersuchungszwecken entnommen wurde, auch wirklich wieder an seinen Platz kommt. Er muss alles tun, um die körperliche Unversehrtheit des Verstorbenen zu bewahren. Lange Zeit glaubten die Rabbiner, die Menschen würden in dem Zustand wiederauferstehen, in dem sie begraben werden. Regelmäßig begibt er sich ins Rechtsmedizinische Institut am Quai de la Rapée. Er zieht einen Kittel an und sieht zu, wie der Gerichtsmediziner mit dem Skalpell den Brustkorb öffnet und dann mit der Säge die Schädeldecke von dem zerlegt, was manchmal nur wenige Stunden zuvor noch ein lebendiger Mensch war, ein lustiger, nachdenklicher, zärtlicher oder gewalttätiger.
Ende November 2003 — das genaue Datum kenne ich nicht —, hieß der Junge, der da vor ihm lag, Sébastien Selam. Der talentierte dreiundzwanzigjährige DJ, der unter dem Alias LamC im »Bains Douches« und im »Queen« auflegte, war gerade im Keller seines Wohnblocks in der Rue Louis-Blanc in Paris gefoltert und ermordet worden. Ein Gemetzel. Mit Küchenmesser und Gabeln. Ein antisemitisch motivierter Mord. Der erste einer langen Reihe, den die Justiz damals jedoch als solchen anzuerkennen sich weigerte. Der Mörder war ein Nachbar und Jugendfreund. »Ich habe einen Juden getötet. Ich komme ins Paradies«, hatte er der Mutter des Opfers zugerufen, bevor er verhaftet wurde. Das Gutachten kam zu dem Schluss, die Tat sei im Zustand geistiger Umnachtung begangen worden, und das Gericht erklärte ihn für unzurechnungsfähig.
Drei Jahre später war Jacob, diesmal im Krankenhaus von Évry, auch bei der Autopsie von Ilan Halimi anwesend, der kurz zuvor an den Gleisen der Schnellbahnlinie RER C gefunden wurde. Ein weiteres Opfer von absolutem Hass. Ein weiterer gemarterter Körper, fast vollständig verbrannt, voller Hämatome und mit einem Teppichmesser zugefügter Schnittwunden, das Gesicht zerschunden, der Hals bis aufs Blut geritzt. Unerträgliche Bilder. Der Leiter der Chewra Kadischa konnte sie mit niemandem teilen. Sie brannten sich ein, fügten sich anderen hinzu. Es ging ihm bereits schlecht. Der Fall Halimi stürzte ihn noch tiefer in etwas, was sehr nach einer Depression aussah. Alles vermischte sich. Privat- und Berufsleben brachen gleichzeitig zusammen. Kaum war er von seiner Frau getrennt, verlor er seine Arbeit.
Jahre nach der Hitzewelle beschuldigte der Gemeindevorstand ihn plötzlich, in einem Fall das Ritual nicht eingehalten zu haben. Im Chaos des Sommers 2003 sei ein Toter nicht ordnungsgemäß gewaschen worden. Er bestritt das heftig und beklagte, es gehe um eine Abrechnung, einen Vorwand, ihn aus dem Weg zu räumen und seinen Platz neu zu besetzen. Er wurde wegen schweren Fehlverhaltens entlassen. Er zerrte seine ehemaligen Arbeitgeber sofort vor das Arbeitsgericht, nicht um eine Entschädigung zu erhalten, sondern um seine Ehre wiederherzustellen. Er? Seine Pflichten vernachlässigen? Gegen ein biblisches Gebot verstoßen? Der Gedanke daran machte ihn krank. »Alles, was ich verlange, sind Entschuldigungen«, sagte er immer wieder. Ein Dutzend angesehene Rabbiner erklärten sich bereit, für ihn auszusagen. Er gewann den Prozess.
Welche Erinnerung hinterließ er in seiner Abteilung? Erfüllte er seine Aufgaben ordnungsgemäß? War er überhaupt dafür geeignet? Ich beschloss, Serge Benhaïm zu befragen, da ich wusste, dass es ihm schwerfallen würde, sich gegen die Position seiner eigenen Institution zu stellen. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war er seit fünf Jahren Vorsitzender der Chewra Kadischa. Er galt weltweit als Experte für Waschung und Beisetzung. Seine Antwort war kategorisch: »Monsieur B’chiri erfüllte alle Voraussetzungen eines Haver. Er war verfügbar und respektvoll.«
Jacob, der bis zu seiner Kündigung nicht eine Minute für sich gehabt hatte, stand plötzlich untätig da. Seine Tage folgten gleich und eintönig aufeinander. Er mochte zwar rehabilitiert sein, trotzdem empfand er sicher wie viele Arbeitslose. Ein Gefühl der Scham. Etwas, das an Trauer erinnert. Gerade hatte er verloren, woran er am stärksten hing. Sein Zuhause, seinen Platz in seiner Gemeinschaft, seinen sozialen Wert. Mit achtundfünfzig Jahren kehrte er allem den Rücken. Den Toten wie den Lebenden.
Nach der plötzlichen Trennung von seiner Frau verschlechterte sich nach und nach die Beziehung zu seinen Kindern. Im Zuge der Scheidung erwartete er ihren Beistand und wurde verletzt von ihrer Weigerung, Partei zu ergreifen. Von besonderen Anlässen abgesehen, sah er sie nicht mehr. Auf einem seiner letzten Fotos assistiert er dem Mohel bei der Beschneidung seines Enkels Saul. Er sitzt auf einem goldenen Stuhl, hält das Neugeborene auf dem Schoß und hat die Augen geschlossen. Seine Gesichtszüge sind angespannt. Er trägt eine Krawatte. Graues Haar umrahmt sein breites Gesicht. Ein Gebetsschal bedeckt die leicht gebeugten Schultern. Rechts neben ihm steht David und lächelt.
An der Beisetzung seiner Mutter Miziana auf dem großen Friedhof von Beer-Sheva hingegen nahm er nicht teil. Er erklärte, der Arzt habe ihm verboten zu fliegen, weil er an Herzinsuffizienz litt. Amos, sein Lieblingsneffe, begann sich Sorgen zu machen. In regelmäßigen Abständen erkundigte er sich telefonisch nach ihm. Jedes Mal sagte sein Onkel, von den gesundheitlichen Problemen abgesehen sei alles bestens. Seine Arbeit als Architekt. Die Beziehung mit Rosine. Ja, wirklich, es geht gut, danke, Gott sei gepriesen. Keine Probleme!
Er hatte ihm zu keinem Zeitpunkt etwas erzählt.
Kein Wort über seine verhinderten Ambitionen, über das dunkle Reich, in dem er wirkte, über seine zerstörte Ehe, die Entlassung, die Einsamkeit. All die Jahre über hatte er die Illusion einer perfekten Liebe, eines makellosen Erfolgs aufrechterhalten. Des von Jacob erträumten Lebens.
Nach und nach schottete er sich von der Welt ab. Er schrieb keine Briefe mehr, ging nicht mehr ans Telefon. Er verschwand oder besser gesagt, er vergrub sich. Unter einem Haufen von Büchern, alten Zeitungen, von Nippes, ausgedienten Geräten, Technikwracks, von allem, was ihm in die Hände fiel. Mit der Arbeitslosigkeit hatte sich sein Bedürfnis, alles zu horten, noch verstärkt. Er warf nichts mehr weg. Die Angst vor der Leere behandelte er mit Überfülle. In der Mitte des Raumes stand ein Himmelbett. Um es zu erreichen, musste er sich zwischen Papierstapeln, Bergen von Kleidungsstücken und einem ganzen Sammelsurium hindurchschlängeln, das einzustürzen drohte. Irgendwann wurde seine Ali-Baba-Höhle unbewohnbar.
Als ihm, wie ich vermute, ein weiterer Karton voller Klamotten keinen Platz mehr ließ, kehrte er zu seinen alten Gewohnheiten zurück. Er kampierte hier und da. Ein Rabbiner nahm ihn in seiner Synagoge in Sartrouville auf. Eine Freundin, die einen Teil des Jahres in Israel lebte, stellte ihm ihre Wohnung zur Verfügung. Sie wohnte in einem Gebäude aus beigefarbenen Backsteinen, eingezwängt zwischen einen asiatischen Feinkostladen und ein Lebensmittelgeschäft in der Rue de Patay im 13. Arrondissement von Paris. Bevor sie ins Flugzeug stieg, rief sie seine Kinder an. Der Zustand von deren Vater machte ihr Sorgen. »Er ist nicht gut beieinander«, sagte sie ihnen. Shirley hatte ihn bei ihrer letzten Begegnung ebenfalls sehr abgemagert gefunden. Es gelang ihr und David, ihn zu erreichen, aber er weigerte sich, sie zu sehen.
Am Freitag, den 23. Mai, rief Jacobs Freundin sie von ihrem Urlaubsort in Israel an. Diesmal sehr besorgt. Ihre Nachbarn in der Rue de Patay hatten sie gerade kontaktiert, um sich über den Lärm zu beschweren. Der Fernseher war die ganze Nacht über gelaufen. Noch am Morgen konnte man trotz des Straßenlärms hören, wie er deutlich seine Dezibel ausspuckte. Erneut versuchte David, seinen Vater ans Telefon zu bekommen und erreichte nur die Mailbox. Er alarmierte sofort die Polizei. Erst spät am Abend erschien eine Streife vor Ort. Ein Ordnungshüter oder ein Feuerwehrmann, nehme ich an, drückte auf die Klingel, klopfte immer lauter, schlug mit der Faust, erhob die Stimme und brach dann, aller Wahrscheinlichkeit nach, die Tür mit einem hydraulischen Türöffner auf. Beim Betreten der Wohnung wurde sein Blick wahrscheinlich zuerst vom Fernseher angezogen, von dessen Millionen von Lichtpunkten, dem unermüdlichen Bilderfluss, einer betörenden Kraft, einer seltsamen, fast erschreckenden Macht in dieser gespenstischen Wohnung, als wäre das Gerät von eigenem Leben beseelt. Er selbst oder einer seiner Kollegen erkannte dann im Halbdunkel den Körper eines Mannes, der auf dem Boden lag. Für ihren Bericht mussten sie weder Puls noch Atmung kontrollieren. Der Tod war schon vor einer Weile eingetreten.