Auf den Stelen und Steinplatten zogen Namen in hebräischen, kyrillischen, lateinischen Buchstaben vorbei, auch in amharischen — aber seiner war nicht darunter. Jérémy schritt eine Reihe ab, ich die andere. Wir waren verloren in einem Labyrinth der Stille. Wir hätten früher kommen müssen. Der Tag neigte sich und es war bereits niemand mehr da. Ein einfaches Mäuerchen markierte das Ende des Friedhofs. Jenseits davon erstreckte sich eine kahle, ockerfarbene Wüste mit vereinzelten staubigen Büschen. Uns blieb nichts anderes übrig, als umzukehren. Von einem noch nicht genutzten Stück des Friedhofs erklang das Geräusch einer Spitzhacke. Etwas weiter wurde unter den Blicken einer mageren Ansammlung von Besuchern ein in ein Leichentuch gehüllter Körper in sein Sandloch gelassen.
Am selben Morgen waren wir in Beer-Sheva angekommen, um einen der besten Freunde von Jacob und eine seiner Cousinen zu treffen. Jedes Mal bekamen wir unterschiedliche Berichte zu hören, was nicht weiter verwunderlich ist, aber es ärgerte meinen Dolmetscher, der seit seiner Abkehr vom ultra-orthodoxen Judentum Ungenauigkeit nicht mehr ertrug. »Wie willst du mit all diesen verschiedenen Versionen ein Buch schreiben?«, fragte er mich immer wieder und fügte wie zu sich selbst hinzu: »Das einzig Wahre ist die Wissenschaft!«
Es war natürlich unmöglich, die Zeremonie zu stören. Jérémy befragte einen Nachzügler, der uns keinerlei Hilfe war. Wir hatten nur die Nummer des Feldes, auf dem es mehrere hundert Gräber gab. Ich nahm die Suche wieder auf und begann mit dem am weitesten entfernten Teil des Vierecks. An diesem zur Unendlichkeit hin geöffneten Ort war das kleinste Stück Fläche umkämpft. Man konnte kaum einen Fuß zwischen zwei Gräber setzen. Ich lief balancierend herum, als ich die drei hebräischen Buchstaben erkannte, die ich unzählige Male entziffert hatte. Jérémy kam zu mir. Er las: »Miziana B’chiri. Eine bescheidene und gerechte Frau. Wir werden uns deiner immer erinnern, Mama.«
Auf dem Weg dorthin hatten wir uns das Wohngebäude angesehen, in das sie in den 1980er Jahren zog, nachdem sie aus ihrem Haus in Ra’anana vertrieben worden war. Sie wohnte in einer Zweizimmerwohnung in einem kleinen verputzten Wohnblock mit vergitterten Fenstern in der Talmud-Straße, mitten im Dalet-Viertel. Aus dem Treppenhaus drang Geschrei. Auf der Straße spielten Kinder Fußball. Sie war 2011 im Alter von neunundachtzig Jahren gestorben. Das Grab ihres Sohnes konnte nicht weit entfernt sein.
Nachdem er fast sein ganzes Leben lang von seiner Mutter getrennt gewesen war, hatte er darum gebeten, in diesem Fleckchen Erde an ihrer Seite begraben zu werden. Dafür hatte die Überführung seiner sterblichen Überreste nach Israel organisiert werden müssen, das Zusammenstellen aller Papiere, das Einholen einer Genehmigung des Konsulats, der Kauf einer Grabstätte, und bevor es so weit war, hatte man Familie und Freunde benachrichtigen und zugleich beim gerichtsmedizinischen Institut und den französischen Behörden intervenieren müssen, um das Verfahren zu beschleunigen. Eine Verfolgungsjagd in Panik und unter Tränen. Im Verlauf dieser wenigen, alptraumhaften Tage hatten Shirley und David, wie sie sagten, endlich begriffen, wie der Alltag ihres Vaters ausgesehen hatte.
»Yaakov Zakine B’chiri« lag drei Reihen weiter. In einer zwangsläufig erschütternden Verkürzung war das, was er gewesen war und wonach er gestrebt hatte, in den Marmor gemeißelt: »Direktor der Chewra Kadischa, Architekt und Künstler«. Die Grabinschrift würdigte sein »großes Herz«, seine »wunderbare Seele« und sein »gewaltiges Lächeln«.
Die Beerdigung hatte Ende Mai 2014 stattgefunden, am frühen Nachmittag, bei strahlender Sonne und in Anwesenheit des fast vollständigen B’chiri-Clans. Die Freunde aus der Kindheit, Yoshua, Rafael, Yosef, Gérard, waren ebenfalls da. Insgesamt werden es etwa dreißig Personen gewesen sein, die sich schweigend um das Grab versammelten. Manche waren aus Frankreich gekommen, andere aus allen Teilen Israels. Viele von ihnen begegneten sich zum ersten Mal.
Bevor der Leichnam in die Erde gelassen wurde, erlitt Amos einen Schock. Als der Körper bewegt wurde, hatte sich das Tuch, das ihn einhüllte, einen Spalt breit geöffnet. Jacobs Gesicht war vollständig von weißen Haaren bedeckt. »Er hatte einen Rabbi-Bart«, erzählte mir sein Neffe bei unserer Begegnung erstaunt. Ob das an der Zeit lag, die seit dem Tod verstrichen war? Selbst nach dem Tod wachsen Haare weiter, leben sie weiter, so heißt es, wie aus Trotz, so wie ein Blumenstrauß, der sich öffnet. Das Sich-Zusammen-Ziehen der Epidermis bewirkt ein Hinausdrängen der Haare. Oder war Jacob am Ende all seiner Leben vielleicht ein Charedi geworden, ein Gottesfürchtiger?
Nach der Grabrede, dem Lesen der Psalmen und dem von den Angehörigen vorgetragenen Kaddisch versammelten sich alle in einem großen Nebenraum. Abseits vom Verstorbenen durften die Trauernden sich endlich ihren ergriffenen Begrüßungen, den herzlichen Umarmungen hingeben. Jeder drängelte sich vor, um die Kinder zu umarmen, und nannte Namen, Wohnort und Verwandtschaftsgrad. Shirley und David empfingen diese Empathiebekundungen wohl in einem Zustand der Verwirrung und Verlegenheit, ohne je so recht zu verstehen, von wem sie kamen. Sie schüttelten Hände, erwiderten mechanisch Küsse und äußerten ihre Dankbarkeit in stammelndem Hebräisch.
Eine alte Dame in einer Djellaba, die sie vielleicht bis dahin noch gar nicht bemerkt hatten, kam auf sie zu. »Ich habe Ihren Vater gut gekannt, als er ein Kind war«, sagte sie. Sie stellte sich als eine entfernte Verwandte vor. Sie war in den 1950er Jahren nach Israel ausgewandert. Wenn es Jacob gelang, seinem Internat zu entfliehen, verbrachte er das Wochenende bei ihr. Sie war für ihn mehr als eine Freundin, fast eine zweite Mutter. Sie hieß Shirli.
Jacobs Tochter war sprachlos. Endlich verstand sie, warum sie nicht den Vornamen trug, auf den sich ihre Eltern vor ihrer Geburt geeinigt hatten. Ursprünglich sollte er Deborah lauten. So hatte es ihre Mutter entschieden, und Jacob hatte sich ihrem Willen gebeugt. Als er vom Standesamt zurückkam, sagte er ihr, er habe sich schließlich für Shirley entschieden. Rosine war wütend geworden. Um sich zu rechtfertigen, hatte er erklärt, »Shirli« bedeute auf Hebräisch »Mein Lied«. Das sei poetisch. Ihm wurde verziehen. Den wahren Grund hatte er nicht genannt. Denn der verwies ein weiteres Mal auf seine Vergangenheit. Auf ein fehlendes Glied in seiner Kette, das er immer wieder durch Fadenstücke zu ersetzen versucht hatte.