Er rauchte nur, wenn er unterwegs war und nach ihr suchte.
Lelle sah sie jedes Mal neben sich auf dem Beifahrersitz sitzen, wenn er sich eine neue ansteckte. Sie schnitt eine Grimasse und sah ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille durchdringend an.
»Ich dachte, du hast aufgehört zu rauchen.«
»Ich habe
aufgehört. Das ist nur eine Ausnahme.«
Er sah, wie sie den Kopf schüttelte und ihre spitzen Eckzähne zeigte. Die sie nicht leiden konnte. Am deutlichsten sah er sie, wenn er nachts durch die Gegend fuhr und das Licht nicht verschwinden wollte. Ihr Haar wirkte in der Mitternachtssonne fast weiß, auf der Nase hatte sie dunkle Sommersprossen, die sie seit ein paar Jahren mit Schminke abdeckte, und ihre Augen sahen alles, obwohl sie immer so tat, als würde sie nicht hingucken. Sie sah Anette viel ähnlicher als ihm, was ein großes Glück war, denn er hatte keine Schönheitsgene zu vergeben. Sie war hübsch, und das fand er nicht nur, weil sie seine Tochter war. Die Leute hatten sich schon immer nach Lina umgedreht, schon als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie war ein Kind, das auch dem unglücklichsten Menschen ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Aber jetzt sah ihr niemand mehr hinterher. Seit drei Jahren hatte sie niemand gesehen, zumindest niemand, der sich zu erkennen geben wollte
.
Die Schachtel Zigaretten war leer, bevor er in Jörn ankam. Lina saß nicht mehr neben ihm. Der Wagen war leer und still, und er hatte fast vergessen, wo er war. Er hielt die Augen auf die Straße gerichtet, aber er sah sie nicht. Er war diese Straße, die im Volksmund Silvervägen, die Silberstraße genannt wurde, schon so oft entlanggefahren, dass er sie in- und auswendig kannte. Jede Kurve und jede Öffnung im Wildzaun, wo die Elche und Rentiere die Straße überquerten, waren ihm vertraut. Er wusste, wo sich der Regen sammelte und wo der Nebel über dem Asphalt aufstieg und die Welt verzerrte. Die Straße war das Echo einer untergegangenen Zeit, als noch Silber vom Nasafjäll bis nach Bottenviken transportiert wurde. Sie wand sich wie ein Fluss durch die Berge bis hinunter zur Küste und verband Glimmersträsk mit den anderen kleinen Ortschaften auf ihrem Weg. Sosehr er es auch verabscheute, wie die Straße durch den dichten Wald führte, er würde das Fahren niemals aufgeben. Denn hier war sie verschwunden, diese Straße hatte seine Tochter verschlungen.
Niemand wusste, dass er nachts die Straße abfuhr und nach Lina suchte. Niemand wusste, dass er im Auto Kette rauchte, seinen Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes legte und sich mit seiner Tochter unterhielt, als würde sie neben ihm sitzen, als wäre sie nie verschwunden. Er konnte es auch niemandem erzählen. Nicht, seit Anette ihn verlassen hatte. Sie hatte ihm von Anfang an die Schuld gegeben. Er hatte Lina an diesem Morgen zur Bushaltestelle gebracht. Er war dafür verantwortlich.
Gegen drei Uhr morgens kam er in Skellefteå an und hielt bei der Tankstelle, um vollzutanken und seine
Thermoskanne mit Kaffee aufzufüllen. Trotz der Uhrzeit hatte der junge Mann hinter der Kasse wache Augen und war ganz aufgekratzt, seine rötlichen Haare trennte ein Seitenscheitel. Er war jung, nicht älter als neunzehn, zwanzig Jahre. So alt, wie Lina jetzt wäre. Obwohl es ihm schwerfiel, sich seine Tochter als Erwachsene vorzustellen. Er kaufte sich noch eine Schachtel Zigaretten, obwohl ihn das schlechte Gewissen quälte. Sein Blick fiel auf einen Karton mit Mückenspray, der an der Kasse stand. Umständlich holte er seine EC-Karte aus dem Portemonnaie. Alles erinnerte an Lina. Sie hatte sich an ihrem letzten Morgen mit viel zu viel Mückenspray eingesprüht. Das war das Einzige, an das er sich erinnern konnte. Er hatte alle Fenster im Wagen heruntergelassen, um zu lüften, als sie an der Bushaltestelle ausgestiegen war. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, worüber sie geredet hatten, ob sie fröhlich oder niedergeschlagen gewesen war, was sie gefrühstückt hatten. Was danach passiert war, hatte alles andere verdrängt, und er erinnerte sich nur noch an den Geruch von Mückenspray. Und Anette hatte ihn angesehen wie einen Fremden, wie jemanden, für den sie sich schämte. Das wusste er auch noch.
Er riss die neue Schachtel auf und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, wartete, bis er wieder auf der Straße Richtung Norden war. Der Rückweg nach Hause fühlte sich immer kürzer an, mutloser. Linas silberner Herzanhänger hing an einer Kette am Rückspiegel und reflektierte das Sonnenlicht. Sie saß wieder neben ihm, das weißblonde Haar hing ihr wie eine Gardine vorm Gesicht.
»Papa, weißt du eigentlich, dass du einundzwanzig Zigaretten hintereinander geraucht hast?
«
Lelle schnippte die Asche aus dem Fenster und blies den Rauch hinterher. »Sind es wirklich so viele gewesen?«
Lina legte den Kopf in den Nacken, als wollte sie höhere Mächte anrufen. »Weißt du, dass du pro Zigarette neun Minuten kürzer lebst? Heute Nacht hast du dein Leben also um einhundertneunundachtzig Minuten verkürzt.«
»Oha«, sagte Lelle. »Aber was habe ich bitte noch für einen Grund zu leben?«
Ihre Augen waren ganz vorwurfsdunkel, als sie ihn ansah. »Du musst mich finden. Nur du kannst mich finden.«
*
Meja hatte ihre Hände auf den Bauch gelegt und versuchte, die Geräusche zu ignorieren. Den Hunger, der unter ihren Fingern knurrte, und die anderen, ekligen Laute, die von unten durch den Holzfußboden drangen. Siljes Stöhnen und das von dem Mann, dem neuen Typen. Das Quietschen des Bettgestells. Dann fing der Hund an zu bellen. Sie hörte, wie der Mann ihn anbrüllte, still zu sein und sich hinzulegen.
Es war mitten in der Nacht, aber die Sonne schien unerbittlich durch das kleine Fenster. In goldenen, warmen Streifen fiel es auf die grauen Wände. Sie kniete sich vor das Fenster und entfernte die Spinnweben. Draußen schimmerten ein strahlend blauer Nachthimmel und ein bläulicher Wald, so weit das Auge reichte. Wenn sie den Hals reckte, konnte sie eine Ecke des Sees erkennen, schwarz und still und lockend. Sie fühlte sich wie eine entführte Prinzessin, wie in einem Märchen. Eingesperrt in einem kargen Turm, umgeben von tiefem, dunklem Wald
und dazu verdammt, den widerlichen Sexspielen ihrer Stiefmutter zuzuhören. Mit dem Unterschied, dass Silje nicht ihre Stiefmutter, sondern ihre richtige Mutter war.
Sie waren vorher noch nie in Norrland gewesen. Im Laufe der stundenlangen Zugfahrt hatte sie beide ein schrecklicher Zweifel beschlichen, und sie hatten gestritten und geweint und schweigend im Abteil gesessen, während der Wald draußen immer dichter und die Abstände zwischen den Bahnhöfen immer größer wurden. Silje hatte ihr versprochen, dass es ihr letzter Umzug werden würde. Der Mann, den sie übers Internet kennengelernt hatte, hieß Torbjörn und lebte auf seinem Hof in einem Ort namens Glimmersträsk. Sie hatten stundenlang miteinander telefoniert. Meja hatte seine Stimme und seinen starken norrländischen Dialekt gehört und Fotos von einem stiernackigen Mann gesehen mit Schnurrbart und Augen, die zu schmalen Schlitzen wurden, wenn er lachte. Auf einem der Fotos hielt er ein Akkordeon in den Händen, auf einem anderen saß er vor einem Eisloch und hielt einen Fisch mit roten Schuppen in die Luft. Torbjörn war ein richtiger Mann
, hatte Silje gesagt, einer, der auch die schwierigsten Situationen zu meistern wusste und auf sie aufpassen konnte.
Die Haltestelle, an der sie ausstiegen, bestand nur aus einer Holzhütte im Wald, und als sie die Türklinke des Stationshäuschens herunterdrückten, war diese verschlossen. Es war sonst niemand ausgestiegen, und als der Zug zwischen den Bäumen verschwand, blieben sie ratlos auf dem Bahnhof stehen. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte und dröhnte noch lange nach. Silje zündete sich eine
Zigarette an und zerrte ihren Koffer über den heruntergekommenen Bahnsteig hinter sich her. Meja blieb stehen und lauschte dem Rauschen der Bäume und dem Surren der Millionen frisch geschlüpften Mücken. Sie spürte, wie sich tief in ihrem Inneren ein Schrei formierte. Sie wollte Silje nicht folgen. Auf der anderen Seite des Bahnhofs erhob sich der Wald wie ein dunkelgrüner, dichter Vorhang, in dem sie Tausende dunkler Schatten ahnte. Sie konnte kein einziges Tier sehen, fühlte sich aber so beobachtet, als würde sie auf einem vollen Marktplatz stehen. Hunderte von Augenpaaren krabbelten über ihre Haut.
Silje hatte ihren Koffer schon bis zum Parkplatz geschleppt, auf dem ein verrosteter Ford stand. Ein Mann, dessen Gesicht vom Schirm seiner Kappe verdeckt wurde, lehnte sich gegen die Motorhaube. Er stellte sich aufrecht hin, als er sie kommen sah, und lächelte sie mit Kautabak im Mund an. Torbjörn sah live noch viel breiter aus als auf den Fotos, irgendwie kräftiger. Seine Bewegungen hatten etwas Linkisches und Friedfertiges, als wäre er sich seiner Erscheinung und Größe nicht bewusst. Silje ließ ihren Koffer los und umarmte ihn, als wäre er eine Boje mitten in diesem Meer aus Wald. Meja stellte sich daneben und starrte auf die Risse im Asphalt, aus denen Löwenzahn wuchs. Sie hörte, wie die beiden sich küssten, wie sich ihre Zungen tief in den Mund des anderen gruben.
»Das ist meine Tochter Meja.«
Silje wischte sich den Mund ab und zeigte auf Meja. Torbjörn musterte sie unter dem Schirm seiner Mütze und hieß sie herzlich willkommen. Sie aber hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet, um unmissverständlich klar zu machen, dass all das hier gegen ihren Willen geschah
.
Sein Auto roch nach feuchtem Hund, und auf dem Rücksitz lag ein kratziges, graues Fell. Die Rückenlehne war an mehreren Stellen aufgeplatzt, und die Füllung quoll hervor. Meja setzte sich so weit an den Rand wie möglich und atmete durch den Mund. Silje hatte gesagt, dass Torbjörn wohlhabend sei, aber dem Auto nach zu urteilen war das eine maßlose Übertreibung gewesen. Auf dem Weg zu seinem Hof sah sie nichts außer dem dunklen Wald, der von Kahlschlagflächen unterbrochen wurde, und kleinen, einsamen Seen, die wie Tränen zwischen den Bäumen hindurchschimmerten.
Als sie in Glimmersträsk ankamen, hatte Meja einen dicken, brennenden Kloß im Hals. Torbjörn hatte eine Hand auf Siljes Oberschenkel gelegt, die er nur wegnahm, um ihnen vermeintlich wichtige Details zu zeigen – einen Supermarkt, eine Schule, eine Pizzeria, die Post und die Bank. Er schien wahnsinnig stolz darauf zu sein. Die Häuser waren alle groß und lagen weit verstreut. Je länger sie fuhren, desto größer wurden die Abstände zwischen ihnen. Und es schoben sich immer mehr Wald, Äcker und Weiden dazwischen. Ab und zu hörte man das Bellen eines Hundes. Das Rot auf Siljes Wangen wurde zunehmend dunkler.
»Sieh doch, Meja, wie schön es hier ist. Wie in einem Märchen!«
Torbjörn sagte, sie solle sich beruhigen, denn er wohne auf der anderen Seite des Sees. Meja fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Die Straße wurde immer schmaler, der Wald kam immer näher, und es legte sich eine schwere Stille über die Passagiere des Wagens. Meja hatte beim Anblick der hohen Tannen, die vorbeiflogen, Schwierigkeiten zu atmen
.
Torbjörns Haus stand auf einer Lichtung, einsam und verlassen. Ein zweistöckiges Haus, das früher einmal ganz stattlich ausgesehen haben mochte, sich aber langsam häutete – die rote Farbe blätterte ab, und es schien, als wäre es im Begriff, im Boden zu versinken. Ein strubbeliger Hund zerrte an seiner Kette und bellte, als sie ausstiegen. Bis auf den Wind, der an den Baumwipfeln riss, war es still. Mejas Knie wurden ganz weich, als sie sich umsah.
»Ja, also, das ist es«, sagte Torbjörn und warf die Arme in die Luft.
»Wie still und friedlich es hier ist«, sagte Silje, aber ihre Begeisterung war verschwunden.
Torbjörn trug ihr Gepäck ins Haus und stellte es auf den Boden, der schwarz vor Dreck war. Es stank nach ungelüftetem Zimmer, Qualm und altem Bratfett. Abgewetzte Polstermöbel aus einem längst vergangenen Jahrzehnt starrten ihr entgegen. An den braungestreiften Tapeten hingen Geweihe und Messer in gebogenen Scheiden. So viele Messer hatte Meja noch nie auf einmal gesehen. Sie versuchte, mit Silje Augenkontakt aufzunehmen. Aber die hatte ihr ganz bestimmtes Lächeln aufgesetzt, und das bedeutete, sie war bereit, nahezu alles zu ertragen, und weit davon entfernt, sich einen Fehler einzugestehen.
Das Stöhnen aus dem Erdgeschoss war endlich verstummt und hatte dem Gesang der Vögel Platz gemacht. Sie hatte so ein Vogelgezwitscher noch nie gehört, es klang total hysterisch, unangenehm, überhaupt nicht fröhlich. Das Dach in ihrem Zimmer lief spitz zu, es war voller Astlöcher, die sie anstarrten. Torbjörn hatte es das Dreieckszimmer genannt, als er die Treppe hochzeigte und sagte,
sie würde dort oben wohnen. Ein eigenes Zimmer oben unterm Dach. Es war lange her, dass sie ein eigenes Zimmer gehabt hatte. Meistens hatte sie nur ihre Hände gehabt, hinter denen sie sich hatte verstecken können. Vor den widerlichen Geräuschen der Erwachsenen, vor ihrer Verzweiflung und den Körpern, die ineinanderdrangen. Wohin sie auch zogen, diese Geräusche folgten ihnen.
*
Lelle bemerkte seine Müdigkeit erst, als er fast von der Straße abkam und die Reifen auf dem Fahrbahnrand ein lautes Brummen erzeugten. Er bremste, öffnete das Fenster und ohrfeigte sich, bis die Haut brannte. Der Beifahrersitz war leer, Lina war verschwunden. Sie würde es nicht gutheißen, dass er nachts durch die Gegend fuhr. Er zündete sich eine Zigarette an, um wach zu bleiben.
Seine Wangen brannten, als er in Glimmersträsk ankam. Er hielt bei der Bushaltestelle an. Misstrauisch musterte er das kleine Glashäuschen, das mit Graffiti und Vogelkacke verziert war. Es war früh am Morgen, und der erste Bus war noch nicht gefahren. Lelle stieg aus und lief zu der zerkratzten Holzbank. Bonbonpapier und Kaugummireste klebten auf dem Boden. Die Mitternachtssonne spiegelte sich in den Pfützen. Lelle konnte sich nicht daran erinnern, dass es geregnet hatte. Er lief ein paarmal um das Wartehäuschen herum und stellte sich dann wie immer an die Stelle, an der Lina gestanden hatte. Lehnte sich gegen das schmutzige Glas, so wie sie es getan hatte. Ein bisschen gelangweilt, als wollte sie unterstreichen, dass es kein großes Ding war. Der erste große Ferienjob.
Bäume pflanzen oben in Arjeplog. Gutes Geld verdienen, bevor die Schule wieder anfing. Das war ja wohl nichts Besonderes.
Es war seine Schuld gewesen, dass sie so früh dran gewesen waren. Er hatte Angst gehabt, dass sie den Bus verpassen und an ihrem ersten Arbeitstag zu spät kommen würde. Lina hatte sich nicht beschwert. An diesem Morgen im Juni war es herrlich warm gewesen, und die Vögel zwitscherten. Er hatte sie dort zurückgelassen, ganz allein mit seiner alten Pilotenbrille, um die sie ihn angebettelt hatte, obwohl sie ihr viel zu groß war und die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Vielleicht hatte sie ihm zum Abschied gewunken, vielleicht hatte sie ihm sogar eine Kusshand zugeworfen. Das hatte sie manchmal getan.
Der junge Polizist hatte dieselbe Brille aufgehabt. Er hatte sie sich in die Stirn geschoben, als sie ins Haus gekommen waren, und Lelle und Anette fest in die Augen gesehen.
»Eure Tochter ist heute Morgen nicht mit dem Bus gefahren.«
»Das kann nicht sein«, hatte Lelle gesagt, »ich habe sie an der Bushaltestelle rausgelassen!«
Der Polizist hatte den Kopf geschüttelt, dabei war ihm die Sonnenbrille von der Stirn gerutscht. »Eure Tochter war nicht in dem Bus, wir haben den Busfahrer und die anderen Passagiere befragt. Niemand hat sie gesehen.«
Schon damals hatten sie ihn merkwürdig angesehen. Das hatte er genau gespürt. Sowohl der Polizist als auch Anette. Ihre Vorwürfe hatten ihn durchbohrt, bis alle Kraft aus ihm herausgesickert war. Er hatte sie als Letzter gesehen, er hatte sie gefahren, er hatte die Verantwortung
gehabt. Sie stellten ihm immer wieder dieselben Fragen, wollten alles bis auf die Minute genau wissen, wollten wissen, in welcher Verfassung und Stimmung Lina gewesen war. Hatte sie sich zu Hause wohl gefühlt? Hatten sie vorher Streit gehabt?
Am Ende war er durchgedreht, hatte einen Küchenstuhl genommen und ihn auf einen der Polizisten, einen behaarten Idioten, geworfen. Der war sofort rausgerannt und hatte Verstärkung angefordert. Lelle spürte noch die Holzplanken an seiner Wange, nachdem sie ihn zu Boden geworfen und ihm Handschellen angelegt hatten. Er erinnerte sich auch an Anettes Tränen, als sie ihn aus dem Haus schleppten. Sie hatte ihn nicht verteidigt, weder damals noch heute. Ihr einziges Kind war verschwunden, und sie hatte niemanden, dem sie sonst die Schuld dafür geben konnte.
Lelle startete den Motor, fuhr los und ließ die verlassene Bushaltestelle hinter sich. Drei Jahre war es her, dass sie ihm hinterhergesehen und gelächelt hatte. Drei Jahre war es her, und er war auch heute noch der Letzte, der sie lebend gesehen hatte.
*
Meja wäre am liebsten für immer in ihrem Dreieckszimmer geblieben, wenn sie nicht so einen schrecklichen Hunger gehabt hätte. Diesen Hunger wurde sie nie los, ganz egal, wohin sie zogen. Sie drückte sich eine Hand auf den Bauch, damit man das Knurren nicht hören konnte, als sie die Tür einen Spalt aufschob. Die Treppenstufen waren so schmal, dass sie auf Zehenspitzen laufen musste. Immer
wieder knarrte und knackte eine unter ihrem Gewicht und machte das Schleichen eigentlich überflüssig. In der Küche war es dunkel, die Tür zu Torbjörns Schlafzimmer war verschlossen. Der Hund lag ausgestreckt im Flur und beobachtete sie wachsam, als sie an ihm vorbeischlich. Als sie die Haustür öffnete, sprang er auf und schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch nach draußen, bevor sie reagieren konnte. Er hob das Bein an einem der Johannisbeersträucher und drehte mehrere Runden mit der Schnauze dicht über dem Boden.
»Warum hast du den Hund rausgelassen?«
Meja hatte sie nicht gesehen, Silje saß in einem Liegestuhl an der Hauswand. Sie rauchte und trug ein Flanellhemd, das Meja noch nie gesehen hatte. Ihre Haare sahen aus wie eine Löwenmähne, und ihre Augen verrieten, dass sie nicht geschlafen hatte.
»Das wollte ich nicht, er ist einfach rausgerannt.«
»Das ist eine Hündin, und sie heißt Jolly.«
»Jolly?«
»Hm.«
Die Hündin reagierte auf ihren Namen und kam zu ihnen zurückgelaufen. Sie legte sich auf die dunklen Holzplanken und sah sie an, die Zunge hing wie eine Krawatte aus ihrem Maul. Silje hielt die Zigarettenpackung hoch, dabei sah Meja die roten Flecken an ihrem Hals.
»Was hast du da gemacht?«
Silje verzog das Gesicht. »Frag nicht so dumm.«
Meja nahm eine Zigarette, obwohl sie eigentlich nur hungrig war. Sie hoffte, dass Silje sie mit Einzelheiten verschonen würde. Sie sah hinüber zum Wald. Da bewegte sich etwas. Niemals würde sie dorthin gehen. Sie zog an
der Zigarette und hatte wieder dieses Erstickungsgefühl, als wäre sie eingesperrt, gefangen.
»Müssen wir wirklich hier wohnen?«
Silje legte ihr Bein über die Stuhllehne und wippte mit dem Fuß. Meja konnte ihre schwarze Unterhose sehen.
»Wir müssen ihm doch eine Chance geben.«
»Warum?«
»Weil wir keine andere Wahl haben.«
Silje sah sie nicht an. Die Euphorie vom Tag der Anreise war verflogen, der Glanz in ihren Augen hatte nachgelassen, aber ihre Stimme klang entschlossen.
»Torbjörn hat Geld. Er hat einen Hof und eine Festanstellung. Wir werden hier ein gutes Leben führen können und müssen uns keine Sorgen um die nächste Monatsmiete machen.«
»In einer Bruchbude am Arsch der Welt zu wohnen würde ich jetzt nicht gerade ein gutes Leben führen
nennen.«
Siljes Hals wurde ganz rot, sie legte eine Hand auf ihr Schlüsselbein, um die inneren Flammen zu ersticken. »Ich habe keine Kraft mehr. Ich habe keine Lust mehr, arm und mittellos zu sein. Ich brauche einen Typen, der sich um uns kümmert, und Torbjörn hat Lust dazu.«
»Bist du dir da sicher?«
»Wie meinst du das?«
»Ob er wirklich Lust dazu hat?«
Silje verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich werde schon dafür sorgen, dass er Lust dazu hat, mach dir darüber mal keine Gedanken.«
Meja trat die Zigarette mit ihrer Schuhsohle aus. »Gibt es hier was zu essen?
«
Silje nahm einen tiefen Zug. »In dieser Bruchbude gibt es mehr Essen, als du jemals in deinem Leben gesehen hast.«
*
Lelle wachte vom Vibrieren seines Handys in der Jackentasche auf. Er saß im Liegestuhl neben dem Fliederbusch. Sein ganzer Körper schmerzte, als er sich das Handy ans Ohr hielt.
»Lelle, hast du geschlafen, habe ich dich geweckt?«
»Nein, natürlich nicht«, log er. »Ich bin im Garten.«
»Sind die Erdbeeren schon so weit?«
Lelle hob den Kopf und musterte die zugewucherten Erdbeersträucher. »Nein, aber es dauert nicht mehr lange.«
Er hörte Anettes Atem am anderen Ende der Leitung, als würde sie sich zusammenreißen. »Ich habe die Details wegen der Totenwache am Sonntag auf Facebook gepostet.«
»Totenwache?«
»Zum Dreijahrestag? Hast du das etwa vergessen?«
Der Liegestuhl unter ihm knackte, als er aufstand. Ihn packte der Schwindel, und er streckte den Arm Richtung Verandadach. »Natürlich habe ich das nicht vergessen, verdammt nochmal!«
»Thomas und ich haben Kerzen gekauft, und Mamas Nähclub hat T-Shirts bedruckt. Wir wollten an der Kirche starten und dann zur Bushaltestelle laufen. Du kannst ja ein paar Worte vorbereiten, wenn du was sagen willst.«
»Ich muss nichts vorbereiten. Alles, was ich sagen will, ist schon in meinem Kopf.
«
Als Anette darauf antwortete, klang ihre Stimme müde. »Ich fände es am besten, wenn wir eine Einheit bilden würden«, sagte sie. »Für Lina.«
Lelle rieb sich die Schläfe. »Sollen wir auch Händchen halten – du, ich und Thomas?«
Er hörte ein lautes Seufzen. »Wir sehen uns Sonntag. Und, Lelle?«
»Ja?«
»Du fährst doch nachts nicht mehr durch die Gegend, oder?«
Er verdrehte die Augen und sah in den Himmel, wo die Sonne hinter den Wolken wartete. »Bis Sonntag«, sagte er und legte auf.
Es war halb zwölf, er hatte nach seiner nächtlichen Tour also vier Stunden im Liegestuhl geschlafen. Mehr als sonst. Es juckte am Hinterkopf, und als er Blut unter seinen Nägeln entdeckte, wusste er, dass er sich einen Mückenstich aufgekratzt hatte. Er setzte Kaffee auf, wusch sich das Gesicht über der Spüle und trocknete es mit dem Geschirrhandtuch ab. Er konnte Anettes Proteste förmlich hören. Geschirrhandtücher waren für Porzellan und andere glatte Oberflächen gedacht, und nicht für raue Haut. Und nach Lina sollte die Polizei suchen, und nicht der von Angst zerfressene Vater.
Anette hatte ihm mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen und ihn angeschrien, dass es seine Schuld war, dass er hätte warten müssen, bis sie in den Bus eingestiegen war, dass er ihr die Tochter weggenommen hätte. Sie hatte ihn geschlagen und gekratzt, bis er ihre Arme zu packen bekam und sie ganz lange ganz fest umarmte, bis er spürte, dass sich ihre Muskeln entspannten und sie in
seinen Armen weich wurde. Der Tag von Linas Verschwinden war auch der Tag, an dem sie sich das letzte Mal berührt hatten.
Anette ging mit ihrer Trauer nach außen, sie sprach mit Psychologen, Freunden und Journalisten. Und mit dem Therapeuten Thomas, der sie mit offenen Armen und einer großen Erektion empfing. Ein Mann, der bereit war, sich ihre Probleme und Sorgen anzuhören und sie wegzuvögeln. Anette nahm Schlaf- und Beruhigungstabletten, die ihren Blick verstellten. Sie redete zu viel. Sie richtete auf Facebook eine Seite für Lina ein, organisierte Treffen und gab Interviews, in denen sie Sachen preisgab, bei denen sich ihm die Haare auf den Armen aufstellten. Details aus ihrem Privatleben. Details über Lina, die er schützen wollte.
Er selbst hatte mit niemandem gesprochen. Er hatte keine Zeit dafür. Er musste Lina finden. Die Suche nach ihr war das Einzige, was ihn noch interessierte. Mit den Fahrten über den Silvervägen begann er im Sommer ihres Verschwindens. Er hielt an jeder Mülltonne, grub sich mit bloßen Händen durch die Container am Wegesrand, durchkämmte stillgelegte Minen und sumpfige Moore. Er saß stundenlang am Computer und las die langen Berichte von Fremden, die Theorien über das Verschwinden seiner Tochter posteten. Eine lange furchtbare Kette von Möglichkeiten: Sie war abgehauen, ermordet, entführt, zerstückelt worden, sie hatte Selbstmord begangen, war ertrunken, überfahren oder zur Prostitution gezwungen worden, und noch weitere Albtraumszenarien, die er kaum aushalten konnte, aber trotzdem las. Fast täglich hatte er bei der Polizei angerufen und die Beamten angebrüllt, dass sie
gefälligst ihren Job machen sollten. Er schlief nicht mehr und aß nichts mehr. Er kam nach langen Tagen der erfolglosen Suche mit verdreckten Klamotten und Schnitten im Gesicht nach Hause, die er nicht erklären konnte. Anette hörte auf, Fragen zu stellen. Wahrscheinlich war er sogar dankbar, als sie ihn schließlich verließ und zu Thomas zog, weil er sich danach ganz der Suche widmen konnte. Die Suche nach Lina war alles, was er noch hatte.
Lelle setzte sich mit seinem Kaffeebecher vor den Rechner. Lina lächelte ihn vom Bildschirmschoner an. Die Luft im Zimmer war stickig. Die Jalousien waren heruntergelassen, der Staub wirbelte in dem wenigen Licht, das durch die Ritzen fiel. Auf dem Fensterbrett starb schweigend eine Topfpflanze. Überall gab es traurige Zeugen seines Verfalls. Er loggte sich bei Facebook ein und las die Einladung zu Linas Totenwache. Einhundertdrei Personen hatten die Veranstaltung geliked und vierundsechzig hatten sich angemeldet. Lina, wir vermissen dich und geben die Hoffnung niemals auf
, hatte einer ihrer Freunde geschrieben und den Satz mit mehreren Ausrufezeichen und weinenden Smileys versehen. Dreiundfünfzig Personen hatten das geliked. Anette Gustafsson war eine von ihnen. Lelle fragte sich, ob sie jemals ihren Nachnamen ändern würde. Er scrollte weiter, vorbei an Gedichten und Fotos und wütenden Einträgen. Irgendjemand weiß, was mit Lina passiert ist. Es ist Zeit, dass du dich endlich zu erkennen gibst und die Wahrheit sagst!
Wütende, rotköpfige Smileys. Dreiundneunzig Likes. Zwanzig Kommentare. Er loggte sich wieder aus. Facebook deprimierte ihn nur.
»Warum bist du nicht in den sozialen Medien aktiv?«, hatte Anette ihn genervt
.
»Wobei soll ich aktiv sein? Bei diesem virtuellen Heulkonzert?«
»Es geht da um Lina.«
»Ich weiß nicht, ob du das begriffen hast, aber ich bin aktiv bei der Suche
nach Lina, nicht bei der Trauer um sie.«
Lelle nippte an seinem Kaffee und loggte sich im Flashback-Forum ein. Keine neuen Einträge über Linas Verschwinden. Der letzte Post war vom vergangenen Dezember von jemandem, der sich »Wahrheitssucher« nannte:
Die Polizei sollte ausfindig machen, welche Fernlaster an diesem Morgen auf dem Silvervägen unterwegs waren. Alle wissen doch, dass die meisten Serienmörder Fernfahrer sind, seht euch doch mal in den USA und Kanada um. Dort drüben verschwinden jeden Tag Leute auf den Highways.
Von den tausendvierundzwanzig Einträgen auf Flashback schienen sich die anonymen Mitglieder auf fast rührende Weise darüber einig zu sein, dass Lina von jemandem ins Auto gelockt und entführt worden war, bevor der Bus die Haltestelle erreicht hatte. Das entsprach der Theorie der Polizei, nur mit anderen Worten. Lelle hatte alle möglichen Speditionsfirmen angerufen und nachgefragt, welche Fahrer zu diesem Zeitpunkt auf der Strecke unterwegs gewesen waren und Glimmersträsk passiert hatten. Er hatte sogar mit einigen von ihnen Kaffee getrunken, ihre Wagen durchsucht und den Ermittlern einige Namen weitergeleitet. Aber keiner von ihnen schien verdächtig oder hatte etwas gesehen. Den Polizisten gefiel seine Hartnäckigkeit überhaupt nicht. Das hier sei Norrland und nicht Nordamerika, sagten sie. Der Silvervägen
sei kein Highway, und hier gäbe es auch keine Serienmörder.
Er stand auf und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, es stank nach Zigarettenrauch. Dann stellte er sich vor die Karte von Västerbotten und Norrland und betrachtete die Anhäufungen von Stecknadelköpfen, die das Landesinnere zierten. Er nahm eine weitere Nadel aus seiner Schreibtischschublade und steckte sie an die Stelle, die er in der Nacht abgefahren hatte. Er würde nicht aufhören. Bevor nicht jeder Millimeter auf der Karte bedeckt war, bevor er nicht jede Sackgasse, jeden Wendehammer und jeden noch so zerfallenen Verschlag durchsucht hatte. Mit blutigem Nagel strich er über die Karte, auf der Suche nach dem nächsten entlegenen Nest, das er überprüfen würde. Er notierte sich die Koordinaten im Handy und griff nach den Autoschlüsseln. Er hatte schon genug Zeit verplempert.
*
Siljes Augen hatten wieder diesen etwas verrückten Glanz. Als wäre alles möglich, als könnte auch eine alte Bruchbude mitten im Wald die Erfüllung ihrer Träume sein. Ihre Stimme war um einige Oktaven höher als sonst, sie klang klar und melodisch. Die Worte stolperten förmlich übereinander, wenn sie sprach. Als hätte sie nicht genug Zeit, um alles sagen zu können. Torbjörn schien es zu genießen. Er schwieg zufrieden vor sich hin, während Silje zwitscherte und schnatterte und flötete, wie sehr sie das alles liebte, ihn und seinen Hof, den gemusterten Linoleumfußboden und die geblümten Gardinen. Ganz zu
schweigen von dieser Natur, von der sie umgeben waren, genau wie in ihren Träumen. Sie machte ein großes Gewese daraus, ihre Staffelei aufzubauen und die Farben und Pinsel auszupacken. Und sie schwor, dass sie hier, in diesem seltsamen Licht nachts ihr bestes Bild malen würde. Hier draußen würde ihre Seele endlich Luft zum Atmen haben, hier würde sie zu ihrer Schaffenskraft finden. Die Begeisterung machte sie distanzlos und aufdringlich. Jede Ausführung wurde mit Küssen, Streicheleinheiten und ausgiebigen Umarmungen hervorgehoben. Die ungewohnte Energie machte Meja Angst, denn sie wusste, dass sie der Vorbote für eine neue Hölle war.
Bereits am zweiten Abend landeten die Tabletten im Mülleimer. Halbvolle Packungen starrten Meja zwischen Kartoffelschalen und benutzten Kaffeefiltern an. Starke Tabletten in harmlosen Pastellfarben. Kleine chemische Wunderwerke, die dem Wahnsinn und der Dunkelheit die Stirn bieten konnten. Die einen Menschen am Leben halten konnten.
»Warum hast du die Tabletten weggeworfen?«
»Weil ich sie nicht mehr brauche.«
»Wer sagt, dass du sie nicht mehr brauchst? Hast du mit einem Arzt darüber gesprochen?«
»Ich muss mit keinem Arzt reden. Ich kann spüren, dass ich sie nicht mehr brauche. Hier draußen bin ich in meinem Element. Hier kann ich endlich die sein, die ich bin. Die Dunkelheit kann mich hier nicht erreichen.«
»Hörst du selbst, wie das klingt?«
Silje lachte ihr Violinenlachen. »Dass du dir immer so viele Gedanken machen musst. Du musst dich mal entspannen, Meja.
«
In den unendlich langen, hellen Nächten lag Meja wach und betrachtete den Rucksack, in dem sie ihre Sachen aufbewahrte. Sie könnte ein bisschen Geld klauen und wieder nach Süden fahren. Bei Freunden schlafen und sich einen Job suchen. Und wenn es nicht anders ging, würde sie Sozialhilfe beantragen. Die wussten ja, wie Silje war, wie destruktiv sie sein konnte. Aber Meja wusste auch, dass sie es nicht durchziehen würde. Sie musste auf Silje aufpassen, die nur noch Plattitüden von sich gab. »Ich habe noch nie in meinem Leben so frische Luft eingeatmet! Ist diese Stille nicht einfach wunderbar?«
Für Meja war es alles andere als still. Im Gegenteil, der Wald war so voller Geräusche, die ihre Gedanken übertönten. Nachts war es am schlimmsten, das Summen der Mücken, das Zwitschern der Vögel, und der Wind, der an den Bäumen zerrte und sie zwang, sich zu krümmen. Dazu kamen die Geräusche aus dem Zimmer unter ihr. Die Schreie, das Keuchen und die unnatürlichen Laute. Am lautesten hörte sie natürlich Silje, Torbjörn gehörte eher zu der stillen Sorte. Erst nachdem sie endlich verstummt waren und nur noch Torbjörns Schnarchen ertönte, wagte sie sich in die Küche. Dann trank sie die Weinreste aus, die Silje stehen gelassen hatte. Wein war das Einzige, was gegen die Geräusche half.
*
Lelle schlief in den Sommernächten nicht. Nicht mehr. Er gab dem Licht die Schuld, der Sonne, die niemals unterging und sich durch den schwarzen Stoff der Gardinen zwängte. Er gab den Vögeln die Schuld, die nachts lärmten,
und dem Summen der Mücken, die seinen Kopf umkreisten, sobald er ihn aufs Kissen legte. Er gab allem die Schuld, außer der einzigen Sache, die ihn tatsächlich wachhielt.
Die Nachbarn saßen auf ihren Terrassen, lachten und klimperten mit dem Besteck. Lelle duckte sich, wenn er zu seinem Wagen ging, damit sie ihn nicht sehen konnten. Er rollte so weit wie möglich die Auffahrt hinunter, ehe er den Motor startete. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass die Nachbarn wussten, dass er nachts durch die Gegend fuhr, dass sie seinen Volvo über den Kies fahren hörten, sobald die Nacht hereinbrach.
Es war ruhig im Ort, die Häuser leuchteten in der Abendsonne. Als er sich der Bushaltestelle näherte, begann sein Herz zu pochen. In ihm lebte ein kleiner Teufel namens Hoffnung, der jedes Mal erwartete, Lina dort stehen zu sehen, mit vor der Brust verschränkten Armen, so wie er sie dort zurückgelassen hatte. Drei Jahre war das jetzt her, aber diese verdammte Bushaltestelle schaffte es immer wieder, ihm den Atem zu rauben.
Die Polizei hatte die Theorie verfolgt, dass jemand auf seiner Fahrt über den Silvervägen an der Bushaltestelle angehalten und sie mitgenommen hatte. Entweder hatte diese Person ihr angeboten, sie mitzunehmen, oder sie mit Gewalt gezwungen einzusteigen. Es gab keine Zeugen, die diese Theorie bestätigen konnten, aber es war die einzige Erklärung dafür, wie sie so schnell und spurlos hatte verschwinden können. Lelle hatte Lina gegen zehn vor sechs an der Bushaltestelle abgesetzt. Der Bus war dem Fahrer zufolge fünfzehn Minuten später eingetroffen, aber da war Lina nicht mehr da gewesen. Es handelte sich also um
ein Zeitfenster von fünfzehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger.
Sie hatten Glimmersträsk durchkämmt. Alle Einwohner hatten mitgemacht. Sie hatten alle Flussläufe abgesucht, hatten Menschenketten gebildet und waren kilometerweit in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt. Hunde, Hubschrauber und Freiwillige aus der ganzen Gemeinde hatten sich an der Suche beteiligt. Aber Lina hatten sie nicht gefunden. Keine Lina weit und breit. Bis heute nicht.
Er weigerte sich zu glauben, dass sie tot sein könnte. Für ihn war sie so sehr am Leben wie an dem besagten Morgen. Es kam vor, dass ihm aasfressende Journalisten oder taktlose Fremde diese Frage stellten.
»Glauben Sie, dass Ihre Tochter noch am Leben ist?«
»Ja, das glaube ich.«
Lelle schaffte es, auf der Strecke bis Arvidsjaur sechs Zigaretten zu rauchen. In der Tankstelle dort war nichts los. Kippen, der Tankwart, stand mit dem Rücken zum Eingang und wischte den Boden. Seine Glatze glänzte im Licht der Neonröhre. Lelle tippelte auf Zehenspitzen zur Kaffeemaschine und goss sich einen Pappbecher bis zum Rand voll.
»Ich habe mich gerade gefragt, wo du bleibst.« Kippen stützte seinen schweren Körper auf den Schaft des Wischmopps. »Ich habe den Kaffee frisch gemacht, nur für dich.«
»Herzlichen Dank«, sagte Lelle, »wie läuft es?«
»Na ja, man soll ja nicht klagen. Wie ist es bei dir?«
»Ich lebe.«
Kippen stellte Lelle nur die Zigaretten in Rechnung.
Der Kaffee war umsonst, und dazu gab es noch eine Zimtschnecke vom Vortag. Lelle brach ein Stück vom trockenen Rand ab und tauchte es in den Kaffee, während Kippen sich wieder dem Wischen widmete.
»Du bist also heute Nacht unterwegs.«
»Ja, heute Nacht bin ich unterwegs.«
Kippen nickte und sah ihn traurig an. »Der Jahrestag nähert sich.«
Lelle senkte den Kopf, sah auf den nassen Boden. »Drei Jahre. Manchmal fühlt es sich an, als wäre es gestern gewesen, und manchmal fühlt es sich an, als wäre ein ganzes Leben an mir vorbeigezogen.«
»Und was macht die Polizei?«
»Das weiß der Teufel.«
»Aber du hast doch nicht aufgegeben, oder?«
»Viel Neues passiert nicht, aber ich bleibe dran.«
»Gut so. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich findest.«
Kippen tauchte den Wischmopp in den Eimer und wrang ihn aus. Lelle steckte die Zigaretten in die Jackentasche und legte die Zimtschnecke auf den To-go-Becher. Auf dem Weg nach draußen klopfte er Kippen mit der freien Hand auf die Schulter.
Er war von Anfang an für ihn da gewesen. Er hatte nach Linas Verschwinden ganze Tage damit zugebracht, alle Kameraaufzeichnungen der Tankstelle nach Spuren durchzusehen, die zu ihr führen konnten. Wenn sie jemand mitgenommen oder sogar entführt hatte, bestand wenigstens die Möglichkeit, dass er an der Tankstelle angehalten hatte. Sie hatten nichts entdeckt, aber Lelle hatte das sichere Gefühl, dass Kippen niemals aufhören würde,
Ausschau zu halten. Und solche Leute musste man sich warmhalten.
Lelle stieg ins Auto, tunkte das letzte Stück der Zimtschnecke in den Kaffeebecher und betrachtete die trostlosen Tanksäulen, während er aß. Er hatte ausgerechnet, wie weit Linas Entführer mit einem vollen Tank von Glimmersträsk hätten kommen können. Mit einem großen Tank hätten sie es weit in die Fjälls schaffen können, über die norwegische Grenze in die Berge. Natürlich nur, wenn sie den Silvervägen weitergefahren waren. Sie hätten auch jederzeit auf kleinere, unbekannte Seitenstraßen abbiegen können, wo es weder Verkehr noch Häuser gab. Erst am Abend war Linas Verschwinden aufgefallen, zwölf Stunden später. Damit hatten die Entführer, wenn es denn mehrere waren, einen großen Vorsprung.
Lelle wischte sich die Hand an seiner Jeans ab, zündete sich eine Zigarette an und startete den Motor. Er ließ Arvidsjaur hinter sich und tauchte ein in die Einsamkeit der Straße und des Waldes. Das Fenster ließ er einen Spalt offen, damit er den Duft der Tannennadeln riechen konnte. Wenn Bäume doch nur sprechen könnten, dann hätte er Tausende von Zeugen.
Der Silvervägen war die Hauptschlagader, die Lelle mit einem verzweigten System aus kleineren Gefäßen und Kapillaren verband, die ihre Spuren durch das Land zogen. Es gab zugewachsene Holzfällerwege, Pfade für Scooter und Stege, die sich zwischen verlassenen Orten und geschrumpften Siedlungen hindurchwanden. Es gab Seen und Flüsse, kleine, reißende Bäche, die überirdisch und unterirdisch flossen. Dazwischen lagen dampfende Moore, die sich wie offene Wunden oder tiefschwarze, bodenlose
Teiche über die Landschaft legten. Einen Menschen zu finden, der in dieser Gegend verschwand, war eine Lebensaufgabe.
Die Abstände zwischen den einzelnen Gebäuden waren groß sowie auch die Abstände zwischen den einzelnen Menschen, die sich auf dieser Straße bewegten. Jedes Mal, wenn ihm ein Wagen entgegenkam, spürte er wie sein Herz raste, als würde er erwarten, Lina auf dem Rücksitz zu sehen. Er hielt an verlassenen Rastplätzen, durchsuchte die Mülltonnen, wie schon so oft zuvor, immer noch mit pochendem Herzen, als wäre es das erste Mal. Es würde sich niemals ändern.
Kurz vor Arjeplog bog er auf eines der kleineren Kapillargefäße ab, der Weg war nicht viel breiter als sein Wagen. Lelle rauchte, ohne die Hände vom Steuer zu nehmen. Die Nebelschwaden huschten wie Gestalten zwischen den Tannen umher. Er starrte durch die Windschutzscheibe, um den Weg vor sich besser sehen zu können. Es war unmöglich, hier zu wenden, er würde rückwärts wieder rausfahren müssen. Aber so einer war Lelle nicht, nicht mehr. Der Volvo musste sich über den holprigen und knorrigen Boden kämpfen, während die Asche unbemerkt auf seinem Hemd landete. Er wurde erst langsamer, als er zwischen den Baumstämmen ein Haus sah. Ein verfallener Hof, der bis zu den Fensterrahmen zugewachsen war, Türen und Fenster stellten nur noch gähnende Löcher dar. Auf dem Weg folgten noch zwei weitere Holzskelette, die im Begriff waren, vom Wald verschluckt zu werden. Verwilderte Höfe, in denen seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte.
Lelle hielt an. Umgeben von Einsamkeit saß er eine
Weile still da, dann holte er tief Luft und nahm seine Beretta aus dem Handschuhfach.
*
Meja hatte gelernt, sich von Siljes Männern fernzuhalten. Sie vermied es immer, allein mit ihnen zu sein, denn sie wusste, dass sie selten nur etwas von Silje wollten. Immer wieder war es geschehen, dass sie sich an sie drückten, ihren Hintern tätschelten oder ihren Busen berührten, sogar bevor sie überhaupt einen gehabt hatte.
Torbjörn aber würde sie niemals anfassen, das wurde ihr schon am dritten Abend in der Bruchbude klar. Sie war nach unten gegangen, um draußen auf der Terrasse eine Zigarette zu rauchen. Er hatte in der Küche gesessen und seinen Kaffee geschlürft, und sie war so leise wie möglich an ihm vorbeigeschlichen, hatte so getan, als hätte sie ihn nicht gesehen. Sie hatte sich gerade die Zigarette angezündet, als er ebenfalls hinauskam und fragte, ob sie Lust auf Abendbrot hätte. Sie sah die Falten in seinem Gesicht, er war älter, als sie zunächst gedacht hatte, auch viel älter als Silje. Er könnte ihr Großvater sein.
Dann verschwand er wieder im Haus, sie hörte ihn pfeifen. Sie rauchte und behielt die ganze Zeit den Wald im Auge, aus Sicherheitsgründen. Es war ihr unbegreiflich, wie man hier freiwillig leben konnte. Es raschelte im Unterholz, darüber tanzten die Baumwipfel. Plötzlich stieg ihr ein übler Geruch in die Nase. Dann hörte sie die Krallen des Hundes auf dem Holz kratzen, er lief über die grauen Holzplanken und legte sich auf ihre Füße, sie spürte sein Fell an den Zehen. Ab und zu hob Jolly den
Kopf und sah hinüber in den Wald, als hätte sie etwas in der tiefen Dunkelheit gehört. Jedes Mal zog sich alles in Meja zusammen, und ihr Herz fing an zu rasen. Am Ende hielt sie es nicht mehr aus. Der fremde Typ in der Küche war besser als all das, was sie hier draußen nicht sehen konnte.
Torbjörn hatte den Tisch gedeckt und Becher, Brot und Aufschnitt hingestellt.
»Ich habe leider nichts Süßes da.«
Meja stand in der Tür und zögerte noch. Ihr Blick wanderte von der geschlossenen Schlafzimmertür, hinter der sich Silje versteckte, zu dem gedeckten Tisch.
»Abendbrot ist prima.«
Sie setzte sich an den Tisch, den Blick gesenkt und auf die zerkratzte Oberfläche geheftet. Er goss Kaffee ein, der so heiß war, dass der Dampf wie ein Schleier zwischen ihnen stand.
»Du trinkst doch Kaffee?«
Meja nickte. Sie hatte Kaffee getrunken, seit sie denken konnte. Entweder Kaffee oder Alkohol, aber das würde sie niemals offen zugeben. Das Brot war weiß, weich und schmolz auf ihrer Zunge. Sie strich sich eine Scheibe nach der anderen, ihr Hunger war so groß, sie konnte einfach nicht aufhören. Torbjörn schien das nicht zu merken oder zu stören, er sah aus dem Fenster, zeigte nach draußen und redete. Er wies in den Wald und erzählte von den Wegen, die durch ihn hindurchführten. Er deutete auf den kleinen Schuppen an der Ecke, in dem sich Fahrräder, Angelruten und noch anderes Zeug befanden, mit dem sie vielleicht etwas anfangen könnte.
»Du darfst alles benutzen, was du hier auf dem Hof
findest. Das ist dein neues Zuhause. Ich will, dass du das weißt.«
Meja kaute weiter, während sie ihm zuhörte, auf einmal hatte sie Schwierigkeiten zu schlucken. »Ich war noch nie angeln.«
»Kein Problem, das bringe ich dir ganz schnell bei.«
Sie mochte seine Lachfalten und die abgehackte Melodie seiner Worte. Er sah sie immer nur kurz an, als wollte er auf keinen Fall aufdringlich wirken. Meja entspannte sich, sie fühlte sich so sicher, dass sie es sogar wagte, nach der Kaffeekanne zu greifen, obwohl sie sich dafür über den Tisch lehnen musste. Eigentlich sollte sie so spät keinen Kaffee mehr trinken, aber die Sonne schien, und sie würde sowieso nicht schlafen können.
»Ach so, hier sitzt ihr also und macht es euch gemütlich.«
Silje stand nur in Unterhose in der Tür, ihre Brüste waren schlaff und bleich in dem kalten Licht. Meja wandte den Kopf ab.
»Komm und setz dich zu uns, bevor deine Tochter das ganze Polarbrot aufgegessen hat.«
»Meja frisst dir die Haare vom Kopf, wenn du sie lässt.«
Siljes Stimme war scharf und schneidend, und Mejas Magen zog sich zusammen. Ihre Mutter schlurfte ins Zimmer, stellte sich unter den Ventilator, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen so tiefen Zug, als würde sie ihn hinunter zu den Zehen schicken wollen. Meja sah sie wie durch eine Lupe, den Glanz in ihren Augen, die Schlüsselbeine, die sich angestrengt hoben und senkten. Hatte sie schon erste Entzugserscheinungen? Meja wollte sie das nicht vor Torbjörn fragen. Darum hob sie die Kaffeekanne hoch und sah Silje fragend an
.
»Ich habe gerade zu Meja gesagt, dass sie sich gerne auf dem Hof umsehen darf, ich habe Fahrräder da, falls sie runter zum See oder in den Ort fahren will.«
»Hast du das gehört, Meja? Warum gehst du dich nicht ein bisschen umsehen?«
»Morgen vielleicht.«
»Du hast doch nichts anderes vor, oder? Fahr mit dem Rad in den Ort, vielleicht triffst du ein paar Gleichaltrige. Es ist schließlich Sommer, du kannst nicht die ganze Zeit deprimiert hier herumsitzen und Däumchen drehen.« Silje drückte ihre Zigarette aus und griff nach ihrem Portemonnaie, holte einen Schein heraus und reichte ihn Meja. »Kauf dir ein Eis oder irgendetwas.«
»Um diese Uhrzeit ist da alles zu«, sagte Torbjörn. »Aber die jungen Leute treffen sich trotzdem im Ort. Die freuen sich bestimmt über einen Neuzugang.«
Unwillig stand Meja auf und nahm das Geld. Silje begleitete sie nach draußen.
»Torbjörn und ich brauchen ein bisschen Zweisamkeit«, flüsterte sie. »Du kannst dich doch mal ein paar Stunden selbst beschäftigen? Zieh los und hab Spaß!«
Sie drückte ihre Lippen auf Mejas Wange und steckte ihr noch zwei Zigaretten zu, bevor sie die Tür zuzog und abschloss. Meja blieb wie erstarrt vor der verschlossenen Tür stehen. Hinter ihr raschelten die Bäume, als würden sie sie auslachen. Langsam drehte sie sich um. Jetzt waren es nur noch sie und der Wald. Genau das, wovor sie am allermeisten Angst gehabt hatte.
*
Ihn interessierten vor allem die verlassenen Gegenden. Verfallene Höfe und zugewachsene Wege. Eine Weissagerin aus Kemi hatte gesagt, dass er dort seine Tochter finden würde. »Im dichten Wald und bei den Holzruinen, die von Menschen zurückgelassen wurden.«
Lelle hielt nicht so viel von Weissagerinnen, aber er musste nehmen, was da war, und weigerte sich nicht mehr, nach jedem Strohhalm zu greifen.
Er war dankbar für das Mittsommerlicht, das ihn begleitete, wenn er nachts in Häuser einstieg, sich an Türen vorbeischob, die schief in den verrosteten Scharnieren hingen. Wenn er über knarrende Böden lief, die Zeit und Feuchtigkeit ganz fleckig gemacht hatten. Wenn er seinen Blick über verschlissene Möbel, Holzöfen und Lampenschirme wandern ließ, die von Spinnweben und Staub überzogen waren. Einige Häuser waren ganz leer geräumt und hallten, andere schienen übereilt verlassen worden zu sein, das Geschirr stand noch in den Regalen, und an den Wänden hingen gestickte, gerahmte Weisheiten:
Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.
Kleines kann große Freuden bringen, zu Großes kann den Frieden niederringen!
Das Glück lacht, wenn du die Freude auch im Herzen trägst.
Kein Wunder, dass die abgehauen waren. Er stellte sich die apfelbackigen Frauen vor, die in den dunklen Winternächten mit Nadel und Faden neben der Petroleumlampe gesessen hatten. Und er fragte sich, ob ihnen die einfachen Zeilen und Reime in ihrem kargen Alltag hatten Trost
spenden können. Ob nur er allein das Problem war, weil er sie schnöde und banal fand.
Die Mitternachtssonne schien durch die Fenster und zeichnete Muster in den Schmutz auf den Böden, in den sich Mäuse- und Hasenkot gemischt hatte. Er schlich durch die Zimmer, sah unter die Betten und in die Kleiderschränke. Er lief so schnell, wie er es auf den losen Bodenbrettern wagte.
Als er den letzten Hof am Ende des Weges betrat, hatte das überhastete Pochen seines Herzens aufgehört. Gleich hatte er es geschafft, gleich würde er wieder in seinem Wagen sitzen. Der letzte Hof in der Reihe schien in einem besseren Zustand zu sein, die Fenster hatten Scheiben, und die Dachziegel lagen an Ort und Stelle. Die Haustür ließ sich nicht sofort öffnen, er musste mit seinem ganzen Gewicht daran ziehen und zerren, bis sie ohne Vorwarnung plötzlich nachgab und er rücklings zu Boden fiel. Er fluchte laut und spürte sofort die Feuchtigkeit, die durch seine Jeans drang, und den brennenden Schmerz am Steißbein. Ein kurzer Blick über die Schulter, ob nicht zufällig jemand hinter ihm stand und ihn auslachte, beruhigte ihn.
Er hatte seinen Fuß noch nicht auf die Türschwelle gesetzt, als ihm der Gestank entgegenschlug. Der erstickende Geruch von Tod und Verwesung. Er zuckte so heftig zusammen, dass er beinahe wieder gestürzt wäre. Seine Hand griff nach der Pistole, die in seinem Hosenbund steckte, und er entsicherte sie. Sein Wagen stand nur fünfzig Meter entfernt, zur Hälfte verdeckt vom Unterholz. Er könnte einfach einsteigen und das alles hier vergessen, die bescheuerte Weissagerin aus Kemi und die unheimliche Dunkelheit in den verlassenen und vergessenen alten Höfen
.
Stattdessen hielt er sich die Hand vor den Mund und betrat das Haus mit der Waffe im Anschlag. Er sah, wie sie zitterte. Im Haus war der Gestank unerträglich. Die Übelkeit packte ihn und drückte ihm den Hals zu, während er sich vorwärtstastete und plötzlich in Gesichter sah, die ihn von der Wand anlächelten. Auf der feuchten Tapete hingen Schwarzweißfotos. Kleine weißhaarige Kinder mit zahnlosem Lächeln, daneben eine Frau in einem schwarzen Kleid und mit schwarzen Augen. Lelle sah sich im Zimmer um. Ein verrußter Kamin, dreibeinige Stühle und ein Esstisch mit einer geblümten Plastikdecke. Unter dem Tisch lag ein kleines aufgequollenes Bündel.
Es war eine Wühlmaus. Tot und aufgedunsen, steif. Lelle senkte die Waffe und zog sich zurück, hastete an den lächelnden Gesichtern vorbei, raus ins Freie. Er rannte zum Wagen, stützte die Hände auf die Knie und sog die frische Waldluft in die Lunge. Der Gestank von Verwesung hatte sich auf seine Nasenschleimhäute gelegt, er folgte ihm bis in den Wagen und zurück auf die Straße. Als würde er aus seinem Inneren aufsteigen.
*
Meja trug nur Sandalen. Die Tannenzapfen und Wurzeln drückten durch die dünnen Sohlen. Ihre Tränen hatten sie in den Wald hineingetrieben, damit Silje sie nicht sehen konnte. Das erste Stück rannte sie, musste dann aber stehen bleiben, damit sich ihr Atem wieder beruhigen konnte. Die Bäume bewegten sich, neben und über ihr, sie schwankten und rauschten und kratzten an ihren Armen, als würden sie nach ihr greifen. Der Hund war ihr gefolgt,
verschwand aber ständig im Unterholz, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte. Sie hätte zu gerne eine Leine gehabt, um ihn in ihrer Nähe zu haben. Ihr Herz machte ein furchtbares Theater, obwohl sie gar nicht wusste, wovor sie am meisten Angst hatte, vor den Schatten zwischen den Bäumen oder vor den wilden Tieren im Wald oder vielleicht einfach vor der Einsamkeit. Sie war noch nie in ihrem Leben in so einem Wald gewesen, hier könnte sie so laut schreien, wie sie wollte, niemand würde sie hören. Man sah den Bäumen an, dass sie alt waren, dass sie ungestört hatten wachsen dürfen. Die Kiefern hatten dicke, graue, mit Flechten überzogene Stämme, die fast wie ein Bärenfell aussahen. Als sie hoch zu den Wipfeln sah, wurde ihr ganz schwindelig. Das war ein Ort, an dem man verschwinden konnte.
Sie kam an den See, den sie hier Sumpf nannten, und sah, dass er wesentlich größer war, als er vom Autofenster aus gewirkt hatte. Sie lief am Ufer entlang, wo der Boden ganz weich und matschig war und die Zweige der kleinen, krummen Birken tief herabhingen und über die Wasseroberfläche schabten. Der Hund brach aus dem Unterholz, stellte sich ans Ufer und schlabberte Wasser.
Meja setzte sich auf einen Felsen, streifte die Sandalen ab und steckte die Zehen ins Wasser, zog sie aber sofort wieder heraus. Der Felsen war mit schwarzen Flechten bedeckt, die wie geronnenes Blut aussahen. Der Hund verschwand aufs Neue, und sie schlüpfte schnell wieder in ihre Sandalen und ging ihm hinterher. Ein kleiner, kaum sichtbarer Pfad lief parallel zum Ufer und wich nur umgestürzten Bäumen und kleinen, sprudelnden Bächen aus. Langsam wurde sie müde, fragte sich, wie lange sie wohl
schon unterwegs war, ob sie wieder zurückkehren durfte, ohne den beiden im Weg zu sein. Sie nahm eine der Zigaretten, die Silje ihr gegeben hatte, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.
Sie rauchte noch, als sie die Stimmen hörte. Der Hund war vorgestürmt und bellte jetzt wütend und laut. Sie rannte den Pfad hinunter, versuchte, zwischen den Zweigen hindurchzusehen, und sah schließlich ein paar Leute unten am Wasser sitzen. Sie hatten ein Feuer gemacht, eine dünne Rauchsäule stieg auf. Sie hörte an ihrem Lachen, dass es Männer waren. Liebevoll begrüßten sie den Hund und drehten sich zu ihr um. Die Zigarette fiel ihr aus dem Mundwinkel und auf den Boden. Meja bückte sich, hob sie schnell auf und nahm einen Zug, als wäre nichts geschehen. Sie spürte, wie ihr Gesicht ganz heiß wurde.
Es waren junge Männer mit verpickelten Gesichtern und spitzen Adamsäpfeln, die hoch- und runterhüpften, wenn sie redeten. Einer von ihnen stand auf und kam auf sie zu. Er hatte lange Arme, die hin und her schwangen, und einen Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten war. Sein Blick wanderte an ihr hinauf und wieder hinunter. Er kam so nah an sie heran, dass sie einen Schritt nach hinten machte. Da streckte er seine Hand vor, als würde er ihre zum Gruß ergreifen wollen, stattdessen aber schnappte er sich ihre Zigarette und warf sie hinter sich in den See, ohne sie dabei eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
»Was zum Teufel machst du da?«
»Hübsche Mädchen sollten nicht rauchen.«
»Sagt wer?«
»Sage ich.«
Gelächter am Lagerfeuer
.
»Und wer bist du?«
Seine hellen Augen glitzerten, und er grinste verschmitzt. Meja wusste, dass er sich über sie lustig machte.
»Ich bin Carl-Johan.«
Er wischte sich die Hand an seiner Jeans ab und streckte sie ihr erneut hin. Seine Haut war rau, voller Hornhaut.
»Meja«, erwiderte sie.
Er deutete mit dem Kopf auf die beiden anderen am Lagerfeuer. »Und das da sind Göran und Pär, und die sind nicht so gefährlich, wie sie aussehen.«
Die beiden Jungs nickten ihr zu. Wirkten auf einmal ganz verlegen. Alle drei hatten dunkelblondes Haar und trugen identische Jeans und T-Shirts.
»Seid ihr Brüder?«, fragte sie.
»Alle glauben immer, dass ich der Älteste von uns bin«, sagte Carl-Johan, »obwohl es genau andersherum ist.«
Er zog das Messer, das in einem Futteral an seinem Gürtel hing, und zeigte damit zum Feuer.
»Komm und setz dich zu uns. Wir wollten gerade anfangen zu grillen.«
Meja zögerte. Der Hund hatte bereits neben den anderen beiden Platz genommen und hatte nur noch Augen für die Fische, die vor ihnen lagen. Sie warf einen Blick über die Schulter, sah den Pfad, der zurück zu Torbjörns Haus führte. Die Mitternachtssonne wärmte das Moos, und auf einmal fühlte sich der Wald nicht mehr ganz so bedrohlich an.
*
Nördlich von Aborrträsk machte er trotz Linas Protesten einen weiteren Abstecher
.
»Das reicht doch für heute Nacht.«
»Nur noch den einen.«
Der Kies knirschte unter den Reifen. Auf beiden Seiten des Weges erstreckte sich die Moorlandschaft. Nebel stieg aus dem Moos, als würde die Erde darunter atmen. In einiger Entfernung sah er einen schwarzen Teich, der auf beiden Seiten gesäumt war von zwei verfallenen Höfen.
Die Zigarette im Mundwinkel, die Pistole in beiden Händen. Der Lauf zeigte zu Boden, der unter ihm schwankte. Er wusste nicht, warum er bewaffnet war, denn er konnte sich nicht vorstellen, einen anderen Menschen zu erschießen. Aber er wollte auch nicht vollkommen schutzlos sein.
Den ersten Hof umgab dieser besondere Geruch von morschem Holz und Einsamkeit. Spinnweben hingen wie lange Fäden von einer Wand zur anderen und kitzelten ihn an der Stirn, als er durch die dunklen Räume ging. Im Schlafzimmer kniete er sich hin und sah unter die schmale Pritsche. Dort entdeckte er in einer grünen Plastikwanne die Haken und schimmernden Köder einer Angelausrüstung. Im Wohnzimmer öffnete er die Klappe des Kamins und stocherte in den grauen verkohlten Resten herum. Ein braun gesprenkelter Teppich lag wie eine Schmutzkante auf dem Boden und reichte bis zum Korb für das Feuerholz. Auch der war leer. Auf dem fransigen Läufer sah er erdige Fußabdrücke. Lelle berührte die Spuren mit dem Finger. Sie waren kalt und feucht. Jemand musste vor Kurzem im Haus gewesen sein.
Lelle stellte sich mit dem Rücken zum Kamin und hob die Pistole. Sah durch die zerkratzten Scheiben nach draußen auf die im Wind schwankenden Bäume. So blieb er
stehen, bis er sich wieder beruhigt hatte und einen klaren Gedanken fassen konnte. Es gab auch andere Menschen, die sich in diesen Wäldern aufhielten und die die verlassenen Höfe betraten, um sich dort aufzuwärmen, sie auszukundschaften oder vor dem Wetter Zuflucht zu suchen. Aber nicht mehr als das.
Er ging nach draußen und an den Teich, auf dessen schwarzer Oberfläche Seerosen schwammen. Lelle fragte sich, wie tief das Wasser wohl war, ob der Teich so abgrundtief war, wie er aussah. Ob man mit einem Anker an den Boden kommen würde. Er schnippte die Zigarette ins Wasser und bereute, dass er hierhergefahren war. Der Boden war morastig und weich und wie gemacht dafür, darin zu versinken. Das aufdringliche Surren der Mücken hatte zugenommen, und er zündete sich eine weitere Zigarette an, um sie zu verscheuchen.
Der zweite Hof war in einem wesentlich besseren Zustand. Die Außenwände trugen noch Reste von gelber Farbe, und die Haustür ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Er trat ein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Aber weiter kam er nicht, denn plötzlich spürte er die Mündung eines Gewehrs in seinem Nacken.
Er hob die Hände mit der Waffe in die Luft. Blieb ganz still stehen, spürte wie der Raum erbebte. Er hörte seinen Herzschlag und den Atem des Mannes hinter ihm.
»Wer bist du?«, fragte der Mann. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Ich heiße Lennart Gustafsson. Bitte nicht schießen.«
Die Mündung drückte auf die Haut, und Lelle hatte den Geschmack von Galle im Mund. Die Beretta glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Er hörte, wie der Mann einen
Fuß ausstreckte und sie wegtrat. Dann drückte er das Gewehr noch fester in Lelles Nacken. Lelle schloss die Augen und sah Lina vor sich, ihre schönen blauen Augen, die ihm zublinzelten. Er hörte den Vorwurf in ihrer Stimme. Was habe ich dir gesagt?
*
Sie hatten die Flussbarsche ausgenommen und die leblosen Körper auf Stöcken übers Feuer gehängt.
Die dunklen Fischschuppen schimmerten im Sonnenlicht. Die Eingeweide hatten sie, zur Begeisterung des Hundes, hinter einen Stein geworfen und ihre blutigen Hände im See gewaschen. Sie aßen die Fische, wie sie waren, nur mit Salz und Pfeffer, und Meja war ganz erstaunt, wie gut es schmeckte. Die drei Jungs redeten nicht viel, musterten sie dafür umso eingehender. Ihre Blicke machten sie verlegen. Auf einmal war sie sich jeder Bewegung bewusst, so wie der ihrer Hände, die durch ihre Haare fuhren, weil sie nicht wusste, wohin damit.
Wenn sich ihre und Carl-Johans Blicke trafen, lächelte er jedes Mal. Er hatte schöne Zähne und ein Lachgrübchen auf einer Seite. Es fiel ihr schwer zu essen, wenn er ihr dabei zusah, es fiel ihr eigentlich alles schwer. Er war eindeutig der Anführer, und auch der Wortführer; die anderen hatten nur die Funktion von Stützrädern, sie nickten, prusteten oder plusterten sich auf, je nach Bedarf. Er war größer als seine Brüder, aber nicht der kräftigste von ihnen. Seine Gesichtszüge waren so glatt und harmlos wie die eines kleinen Jungen. Er drängte ihr einen zweiten Fisch auf und fragte, ob sie Stockholmisch spreche
.
»Ich habe überall und nirgends gewohnt«, sagte Meja und fühlte sich ganz weltgewandt. »Ich habe keinen bestimmten Dialekt.«
»Und wie bist du hier gelandet? Ausgerechnet in Glimmersträsk?«
»Meine Mutter wollte unbedingt hierherziehen.«
»Und warum?«
»Sie hat einen Typen im Internet kennengelernt. Er hat einen Hof. Und meine Mutter hat schon immer von so was geträumt, eben von einem einfachen Leben im Wald und so.« Meja spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie hasste es, von Silje zu reden. Im Augenwinkel sah sie, wie Carl-Johan sie anstrahlte, mit Augen und Zähnen.
»Du scheinst eine sehr kluge Mutter zu haben.«
»Findest du?«
»Ja, das finde ich. In dieser Welt, wie sie heute ist, sollten sich alle für ein einfacheres Leben entscheiden.«
Er saß dicht neben ihr, war so nahe, dass sich ihre Schultern und Knie berührten. Sie fühlte sich ganz winzig neben ihm. Aber seine Stimme war weich, fast melodisch. Berauschte sie. Außerdem fühlte sie sich von ihm gesehen, er sah sie wirklich.
»Seid ihr immer nachts unterwegs?«, fragte sie.
»Da beißen sie am besten.«
Carl-Johan zeigte auf das Wasser, in dessen Oberfläche sich der Himmel spiegelte.
»Und du?«, fragte er. »Was machst du so spät noch draußen?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Schlafen kann man, wenn man tot ist«, erwiderte er. »Jetzt gehen wir schwimmen, finde ich.
«
Carl-Johan zog sich das T-Shirt über den Kopf und entblößte sehr braungebrannte Haut. Wie auf Kommando rissen sich auch die anderen beiden die Kleidung vom Körper und folgten ihm. Nur Meja blieb am Grillplatz zurück. Carl-Johan aber stand im Wasser und versuchte sie mit seiner singenden Stimme zu überreden, bis sie schließlich nachgab. Sie behielt ihr T-Shirt an und watete mutig in das eiskalte Wasser, sie tauchte sogar unter, obwohl es so kalt war, dass sie dachte, ihr Herz würde stehenbleiben. Hinterher trockneten sie sich auf ein paar Felsen am Ufer. Der Hund hielt sich dicht an Carl-Johan, als würde auch er spüren, wer das Sagen hatte. Meja erinnerte sich an etwas, was Silje gesagt hatte, als sie bei dem Bauern in Laholm gewohnt hatten: »Ein Typ, der mit Tieren umgehen kann, auf den kann man sich verlassen.«
»Wohnt ihr im Ort?«, fragte sie, als sie nebeneinander, in Handtücher eingewickelt, auf den Felsen lagen.
»Nee, wir wohnen nicht in Glimmers. Wir kommen von Svartsjö.«
»Wo ist das denn?«
»Etwa zehn Kilometer von hier.«
Göran, der älteste Bruder, hatte unreine Haut voller Aknenarben und Pickel, an denen er ständig herumpulte. Meja vermied es, ihn anzusehen.
»Das ganze Land geht unter«, sagte er. »Svartsjö ist unser Zufluchtsort.«
»Aber Zuflucht vor was?«
»Vor allem.«
Seine Worte klangen fast feierlich in der Stille. Der mittlere Bruder, Pär, hatte sich die Kappe ins Gesicht gezogen und sagte gar nichts. Meja sah zu Carl-Johan, der lächelte
.
»Du musst uns mal besuchen kommen, dann wirst du es sehen«, sagte er. »Bring deine Mutter mit. Wenn ihr das einfache Leben sucht, dann werdet ihr Svartsjö lieben.«
Meja drehte die letzte Zigarette in der Hand, zündete sie aber nicht an.
»Ihr seid komisch. Verdammt komisch.«
Darüber lachten sie.
Carl-Johan bestand darauf, sie durch den Wald zu begleiten, und sie war dankbar, nicht wieder alleine und nur von Baumstämmen umgeben zu sein. Der Pfad war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten, und sie spürte seinen Blick in ihrem Nacken brennen. Der Hund ging vor und peitschte die Preiselbeersträucher mit seinem Schwanz. Sie lief in der Mitte und suchte verzweifelt nach Worten. In der Regel hatten Jungs kein Interesse an ihr, kein wirkliches. Sie war viel zu schweigsam und schüchtern. Die wollten lieber Mädchen haben, mit denen sie sich rangeln konnten, und die laut über ihre Witze lachten. Sie konnte beides nicht besonders gut. Weder rangeln noch laut lachen. Es klang nur falsch, wenn sie es versuchte. Sie hatte an ihren Blicken gesehen, dass es nicht gut ankam.
Aber Carl-Johan versuchte erst gar nicht, doofe Witze zu machen. Er lief hinter ihr her und erzählte von den Tieren, die sie auf ihrem Hof hatten – Kühe, Ziegen und Hunde. »Auf Svartsjö haben wir alles«
, sagte er mehrmals, mit einer Stimme, die vor Stolz zitterte. Und wenn sie sich zu ihm umdrehte, sah sie in zwei sehr ernste Augen, was ihn viel erwachsener wirken ließ. Sie rätselte, wie alt er wohl war, kam aber nicht dazu, ihn danach zu fragen.
Er fühlte sich wohl in seiner Haut, das konnte man spüren. So ganz anders als sie.
Sie dachte an Silje, daran, dass sie um diese Uhrzeit eigentlich längst schlafen müsste, dass man aber bei ihr nie sicher sein konnte. Sie konnte genauso gut splitterfasernackt durchs Haus laufen, nicht mehr nüchtern und im Begriff, die schlimmsten Sachen von sich zu geben.
Meja blieb weit vorm Waldrand stehen. Von dort aus konnte man das Dach des Hofes und das kleine Fenster ihres Dreieckszimmers sehen.
»Meiner Mutter geht es nicht so gut, darum weiß ich nicht, ob du mit reinkommen kannst.«
Er stand dicht bei ihr, sie roch die Mischung aus Seewasser und Fischblut, das in hellroten Flecken auf seinem Pullover getrocknet war. Es tat fast ein bisschen weh im Bauch, als er sie ansah. Die dünne Haut über dem Schlüsselbein zitterte von seinem Herzschlag.
»Ich melde mich«, sagte er.
Sie musste den Hund am Halsband festhalten, damit er nicht hinter ihm herlief. Er wimmerte traurig, als Carl-Johan zwischen den Bäumen verschwand. Da hatte auch sie Lust zu weinen.
*
»Dreh dich um, damit ich dich sehen kann.«
Lelle hielt den Atem an. Langsam, ganz langsam drehte er sich um, bis die Gewehrmündung auf sein Brustbein zeigte.
Der Mann hinter der Waffe nahm im Schatten des Hauses allmählich Form an. Sein Haar hing ihm in zotteligen
Strähnen über die Schultern und vereinte sich dort mit dem Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Dreckverschmierte Wangen, wachsamer Blick. Seine Kleidung schlabberte und löste sich an den Säumen auf. Unter einem langen Riss im Pullover konnte man bleiche Haut sehen. Er strömte einen stechenden Geruch nach Wald, Schweiß und Feuer aus. Ohne Lelle aus den Augen zu lassen, ließ er das Gewehr sinken.
»Was tun Sie hier?«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte Lelle. »Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt. Ich suche meine Tochter.«
»Ihre Tochter
?«, wiederholte der Mann, als wäre es ein Fremdwort.
»Ja.«
Lelle schob seine linke Hand in die Jackentasche und holte ein Foto von Lina hervor.
»Sie heißt Lina und wird bald zwanzig. Sie ist vor drei Jahren verschwunden.«
Der haarige Mann beugte sich vor und musterte das Foto eingehend. Lelles ausgestreckter Arm zitterte in der Luft. Sein Blick hing an dem Gewehr, das der Mann sich über die Schulter gehängt hatte.
»Die habe ich noch nie gesehen«, sagte der Mann schließlich. »Ist sie denn hier in der Gegend verschwunden?«
»Nein, von einer Bushaltestelle außerhalb von Glimmersträsk.«
»Wir sind ganz schön weit weg von Glimmersträsk.«
»Ich weiß, aber meine Suche hat mich bis hierher geführt.
«
»Hier ist sie nicht. Das kann ich dir versichern.« Das Weiß seiner Augen leuchtete im Dunkeln.
Lelle steckte das Foto von Lina wieder ein. Vielleicht lag es an der Anspannung, auf jeden Fall merkte er, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er musste sich räuspern, um sie zu verscheuchen.
»Ich bitte um Verzeihung, dass ich hier eingedrungen bin, ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt.«
Er ging auf die Tür zu, wollte hinaus in die helle Nacht. Aber er hatte seinen Fuß noch nicht auf die Schwelle gesetzt, als er die heisere Stimme hinter sich hörte.
»Willst du nicht noch einen Kaffee trinken?«
Lelle setzte sich auf einen wackeligen Stuhl, während der bärtige Mann mit seinen dreckigen Händen den Kaffee zubereitete. Er hatte sein Gewehr an die Wand gelehnt. Die Fenster waren mit einer dunklen Plane verhängt, eine einsame Petroleumlampe stand auf dem Tisch und spendete bescheidenes Licht. Der Mann war jünger, als er auf den ersten Blick aussah, das erkannte Lelle an seinen Bewegungen, an der Spannung seiner Muskeln unter dem zerrissenen Pullover.
»Entschuldige bitte, dass ich auf dich gezielt habe«, sagte er. »Aber du hast mir Angst eingejagt.«
Lelle hatte seine Pistole vom Boden aufgehoben und sie griffbereit neben sich gelegt.
»Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt. Wie heißt du?«
»Patrick«, antwortete der Mann nach einem kurzen Zögern. »Aber alle nennen mich Patte.«
»Wohnst du hier draußen?
«
»Manchmal, wenn mich mein Weg hier vorbeiführt.«
»Es führen nicht so viele Wege hierher.«
Patte lächelte, seine Zähne leuchteten im dämmrigen Licht der Petroleumlampe. Er goss Kaffee in zwei Becher und reichte Lelle den einen. Das Gebräu war so dickflüssig wie Teer, duftete aber himmlisch in dem ansonsten eher muffigen Raum.
»Wie bist du denn hierhergeraten?«, fragte Patte.
»Eher durch Zufall. Ich fahre den Silvervägen seit drei Jahren ab und sehe mir jeden Waldweg und jede noch so unbedeutende Seitenstraße an.«
»Auf der Suche nach deiner Tochter?«
Lelle nickte.
»Hilft dir denn die Polizei nicht dabei?«
Lelle zog seine Zigarettenschachtel aus der Tasche, steckte sich eine zwischen die Lippen und bot Patte die Schachtel an.
»Die Polizei ist nutzlos.«
Patte nickte, als würde er verstehen. Sie rauchten und überließen es dem Kaffee und dem Tabak, die Stille zu füllen. Lelle beobachtete den jungen Mann, wie er den Rauch tief in die Lunge sog und ihn dort verweilen ließ, wie bei einem Joint. Die Haut an seinen Nasenflügeln war wund, und sie zuckten, aber ansonsten wirkte er ganz entspannt.
»Und was führt dich hierher?«
Patte starrte ihn durch die Rauchschwaden hindurch an.
»Ich schätze mal, dass ich auch jemanden suche.«
»Und wen suchst du?«
Er stand auf und ging in den angrenzenden Raum. Lelle
ließ das Gewehr an der Wand nicht aus den Augen. Patte kam mit dem abgegriffenen Foto eines jungen Mannes zurück, in sandfarbener Kleidung mit kurz geschorenen Haaren und ernstem Gesichtsausdruck sowie einem Maschinengewehr über der Schulter. Er stand vor einem grauen Gebäude mit zersprungenen Scheiben und von Schusslöchern übersäten Wänden.
»Das war ich. Bevor mich der Krieg zerstört hat.«
Lelle betrachtete das Foto eingehender, verglich den bärtigen Typen vor sich mit dem aufgeräumten, reinlichen Jüngling. Er sah keinerlei Ähnlichkeit, außer vielleicht die Augen.
»Krieg? Welcher Krieg?«
»Afghanistan.« Patte schnitt eine Grimasse, als er das sagte.
»Dann warst du UN-Soldat?«
Patte nickte.
»Es war die Hölle.«
Lelle lehnte sich zurück und nippte an seinem Kaffeesud. Die Sonne hatte sich wie ein Goldrand um die schwarze Plane gelegt, und er hörte die Vögel draußen zwitschern. Wie eine Erinnerung daran, dass es auch noch Leichtigkeit auf der Welt gab. Patte hatte ein Jagdmesser hervorgezogen und säuberte sich damit die Nägel.
»Willst du mich gar nicht fragen, ob ich jemanden getötet habe?«
»Schwedische UN-Soldaten sind doch in der Regel nicht in Kampfeinsätze verwickelt.«
Patte stieß ein freudloses Lachen aus, das in Husten überging. »Ja, das glaubt ihr. Die Wahrheit aber ist viel mieser.« Er hob sieben Finger. Seine Handflächen waren
verbrannt, und die Haut löste sich ab. »Ich habe sieben Menschen getötet. Und habe noch viel mehr sterben sehen.« Patte klopfte mit dem Messer gegen seine Stirn. »Ihre Schreie verstummen niemals. Ich höre sie immer.«
Lelle öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Die Luft war stickig. »Das klingt fürchterlich.«
»Das Schlimmste ist, wenn sie nicht sofort tot sind. Wenn ihnen die Gliedmaßen abgerissen werden und sie noch weiterleben. Sodass man hingehen und sie erlösen muss. Auge in Auge. Dann erst wird es real. Wenn man sieht, wie das Lebenslicht erlischt.« Er zeigte mit der Messerspitze auf Lelle. »Das Töten kriecht einem unter die Haut, da passiert was im Inneren. Niemand hat uns vorher gewarnt. Keiner hat uns erklärt, was mit einem passiert, wenn man mit dem Tod Bekanntschaft geschlossen hat – wenn man ihm ins Auge gesehen hat. Wie er sich in einem festbeißt, zu einem Teil von dir wird.«
»Wärst du zu Hause geblieben, wenn du es vorher gewusst hättest?«
Patte senkte den Blick. Sein Gesicht führte ein eigenständiges Leben, zuckte und zitterte. »Ich bin ein neugieriger Draufgänger«, sagte er nach einer Weile. »Und wir müssen alle früher oder später einmal dem Tod begegnen. Davor können wir nicht die Augen verschließen.«
Lelle schob den Kaffeebecher von sich. Der Sauerstoffmangel in dem kleinen Raum machte ihn ganz schläfrig. Und er hatte keine Lust, weiter über Krieg und Tod zu sprechen, solange er mit seiner Sache beschäftigt war. Seine Beine taten ihm weh, als er aufstand. »Vielen Dank für den Kaffee, aber ich muss langsam los.«
»Hier draußen in den Wäldern gibt es viele Menschen
wie mich, die sich selbst verloren haben und mit der Welt dort draußen nicht mehr zurechtkommen. Vielleicht gehört deine Tochter auch dazu. Vielleicht brauchte sie einfach nur eine Pause von allem?«
»Lina kam prima zurecht in dieser Welt.«
»Glaubst du denn, dass ihr jemand etwas angetan hat?«
»Sie hätte uns niemals freiwillig verlassen. Das weiß ich.«
Patte begleitete Lelle zur Tür, es wirkte so, als wolle er ihn noch nicht gehen lassen.
»Ich werde nach deiner Tochter Ausschau halten.«
»Danke. Das weiß ich sehr zu schätzen.«
»Meiner Erfahrung nach muss man sich vor allem vor den lächelnden Menschen in Acht nehmen.«
»Wie meinst du das?«
»Menschen, die ohne Grund lächeln und ihre Zähne entblößen, locken andere damit an. Sie aber sind das Böse.«
»Ich werde das im Hinterkopf behalten.«
Lelle stieß die Tür auf, Patte hob eine Hand vor die Augen, um sie vor der Mitternachtssonne zu schützen. »Ich würde dir ja bei der Suche helfen«, sagte er, »aber ich kann das Licht nicht ertragen.«
»Das verstehe ich. Das ist auch ganz schön anstrengend.«
Ohne ein weiteres Wort gaben sie sich die Hand, sahen sich in stummem Einvernehmen an, dann fiel die Tür wieder zu. Draußen wartete der schwarze Teich auf ihn, wie eine Ölpfütze lag er zwischen den Höfen. Lelle ging so schnell wie möglich über den federnden Boden, bloß weg von diesem Ort.
*
Am Wochenende tranken beide. Torbjörn wurde laut und rot im Gesicht und begann, über die stillgelegte Grube zu lamentieren, die ihm seine Karriere verbaut hatte. Silje machte Schweinekoteletts und Kartoffelgratin, und gegessen wurde von dem feinen Porzellan von Torbjörns Mutter. Torbjörn aß so, dass ihm alles im Bart hängenblieb, Silje saß am Ende des Tisches und rauchte Kette. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und beklagte sich, dass sie bei der Wärme einfach keinen Appetit hätte. Es gab immer neue Ausreden. Ihre mageren Schultern erinnerten Meja an ein frisch geschlüpftes Vogeljunges. Die Träger ihres BHs rutschten ihr auf die Oberarme.
»Du solltest was essen. Du siehst aus wie ein Skelett.«
»Es können ja nicht alle so gefräßig sein wie du, Meja.«
Silje tat sich schwer mit der Wahrheit. Die Appetitlosigkeit war relativ neu, und am Anfang hatte sie es mit den Nebenwirkungen der Tabletten erklärt, durch die das Essen in ihrem Mund aufquellen würde. Aber die hatte sie ja mittlerweile abgesetzt. Es machte sie wütend, wenn Meja betonte, dass man sich nicht von Rotwein allein ernähren konnte.
Meja zog sich in ihr Zimmer unterm Dach zurück. Legte sich auf das schmale Bett und betrachtete den Dachstuhl von unten, wo die Balken aufeinander zuliefen. Feine Spinnweben zierten den Mittelbalken. Sie konnte die vertrockneten Mücken und Fliegen sehen, die dort, in einem Netz, das ein anderes Tier gesponnen hatte, ihr Schicksal ereilt hatte. Obwohl es nur ekliges Insektengetier war, stiegen ihr die Tränen in die Augen
.
Kurz darauf hörte sie Siljes Keuchen von unten, zuerst nur ein Stöhnen, das aber immer schriller wurde. Torbjörn brüllte, und das Bett knirschte und schabte über den Holzfußboden. Es klang fast so, als würde er sie umbringen. Meja presste sich die Handflächen auf die Ohren und sah aus dem Fenster auf die Tannenwipfel, die sich im Wind hin und her wiegten. So allein, meldeten sich die inneren Stimmen wieder zu Wort. Die verächtlichen, höhnischen.
Stimmt es, dass deine Mutter Geld dafür bekommt?
Du weißt schon, was das bedeutet?
Ihr Handy war ausgeschaltet und lag schweigend auf dem Nachttisch. Niemand hatte angerufen, seit sie sich in den Zug nach Norrland gesetzt hatte. Es gab niemanden, der sie vermisste, niemanden, der sich fragte, wo sie gelandet war. Und das, obwohl sie die anderen am Wochenende mit Zigaretten und Tabletten versorgt hatte. Sie hatte erwartet, dass sie wenigstens die Tabletten vermissten, wenn schon nicht sie.
Sie war gerade eingeschlafen, als sie den ersten Schlag hörte. Sie sprang auf und sah zur Tür. Sie hatte den Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke geschoben, damit sich niemand ins Zimmer schleichen konnte, während sie schlief. Obwohl sich Torbjörn überhaupt nicht an sie ranmachte, fühlte es sich besser an, sich vor dem Schlafengehen zu verbarrikadieren. Als sie einen zweiten Schlag hörte, wusste sie sofort, dass das Geräusch vom Fenster kam. Sie kniete sich hinter die Gardine und sah hinaus in die helle Nacht. Sie entdeckte einen Schatten neben der Terrasse. Die Kette des Hundes rasselte, als er sich schüttelte, und sie sah, wie der dunkle Schatten sich zu ihm
hinunterbeugte und ihm das Fell klopfte und streichelte. Als er das Gesicht hob, erkannte sie Carl-Johan.
Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. »Was machst du da?«
»Ich wollte schwimmen gehen. Willst du mit?«
»Jetzt?«, flüsterte sie. »Mitten in der Nacht?«
»Schlafen kann man, wenn man tot ist.«
Meja sah erneut zur Tür, lauschte, ob Torbjörn und Silje noch Geräusche machten, aber sie hörte nur das Seufzen des alten Hauses. Ihr Handy zeigte die Uhrzeit an, es war halb zwei. Sie steckte den Kopf wieder aus dem Fenster und lächelte ihm zu. »Gib mir zehn Minuten und versteck dich, damit dich niemand sieht!«
Sie bürstete sich die Zähne und sprühte sich Deo unter die Achseln. Die Haare ließ sie offen, dafür legte sie Lippgloss auf. Für mehr war keine Zeit. Aus alter Gewohnheit steckte sie die Zigarettenschachtel in die Hosentasche ihrer Jeans, nahm sie aber gleich wieder raus. Carl-Johan stand nicht auf Mädchen, die rauchten, das hatte er relativ deutlich gemacht. Schnell warf sie die Schachtel in den Papierkorb. Vergrub sie unter dem anderen Müll, damit man sie nicht mehr sehen konnte.
Dann schlich sie die Treppen hinunter und vermied es, die letzten drei Stufen zu berühren, die wie eine Katze jaulten, wenn man sie betrat. Torbjörn saß auf dem Sofa und schlief. Sein Kopf hing in einem merkwürdigen Winkel auf seine Brust, sein schlaffer Penis lag, überdacht von Schamhaaren, unter seinem dicken Bauch. Aus dem Badezimmer im Flur hörte sie schluchzende Würgegeräusche, die ihr den Hals zuschnürten. Meja hatte ihre Füße gerade in ihre Converse gesteckt, doch weiter kam sie nicht.
Silje trank zu viel, nahm irgendwelche selbstverordneten Tabletten und steckte sich den Finger in den Hals. Das war nichts Neues, trotzdem spürte sie diese beschissene Angst, dass ihrer Mutter doch eines Tages etwas passieren würde. Sie blieb lange mit der Hand auf der Klinke stehen. Zögerte, bis schließlich das Schluchzen verstummte. Dann öffnete sie die Eingangstür und rannte hinaus.
Der Nebel war aus dem Wald gekrochen und hatte sich wie Rauchschwaden über die Wiese gelegt. Carl-Johan wartete am Waldrand. Er roch streng, nach Scheune und Tieren, als er sie in den Arm nahm und an sich drückte.
»Wo sind deine Brüder?«
»Die durften mal zu Hause bleiben.«
Carl-Johan nahm ihre Hand und zog sie mit sich in den Wald. Ganz selbstverständlich. Der Hund wimmerte traurig hinter ihnen her. Der Boden schmatzte unter ihren Füßen, und der Tau zeichnete dunkle Streifen auf ihre Jeans. Der Weg war nur kurz als Streifen zu erkennen, bevor er wieder im Nebel verschwand. Mejas Blick hing in Carl-Johans Nacken, wo sich die Haare lockten, und sie spürte wieder so ein Ziehen im Bauch, als wäre dort etwas aus seinem Schlaf erwacht. Etwas Neues und Fremdes.
Der Nebel lag auch über dem Sumpf, wand sich gespensterhaft um die bläulichen Fichten. Carl-Johan hielt ihre Hand, bis sie die Feuerstelle erreicht hatten, erst dann ließ er sie los, um Feuer zu machen. Er brach Zweige von den umstehenden Bäumen und baute einen Turm aus Holz, holte ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete erst etwas Reisig an, um damit die Glut zu entfachen. Vorsichtig blies er in die Flammen. Kurz darauf loderte das Feuer. Sein Gesicht sah schön aus in diesem Licht, fein geschnitten
und lebendig. Meja konzentrierte sich auf das Feuer, spürte aber, wie sich jeder Muskel in ihr anspannte, als er sich neben sie stellte. Die Nervosität löste den Wunsch nach einer Zigarette aus. Sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, darum streckte sie sie übers Feuer. Suchte krampfhaft nach Worten. Hörte, wie das Wasser glucksend gegen die Steine schwappte.
»Erzähl mal was von dir«, bat Carl-Johan.
»Was soll ich denn erzählen?«
»Ein Geheimnis. Etwas, das du noch niemandem erzählt hast.«
Meja sah ihn an. Die Flammen spiegelten sich tanzend in seinen Augen. Sie zögerte, das Glucksen des Wassers klang plötzlich wie höhnisches Lachen. Ihr Blick wanderte wieder zurück zum Feuer. »Ich bin mit fünf zum ersten Mal besoffen gewesen.«
»Du machst Scherze!?«
»Nein. Silje hat ihren Wein früher Erwachsenensaft genannt. Ich habe sie immer genervt, wollte ihn unbedingt probieren, aber sie sagte, er sei nur für Erwachsene. Kinder würden sofort sterben, wenn sie einen einzigen Tropfen davon trinken.«
Meja prustete.
»Das hat mich natürlich nur noch neugieriger gemacht, und eines Abends, sie lag auf dem Sofa und schlief, habe ich es ausprobiert. Es muss mir wohl geschmeckt haben, denn am nächsten Morgen bin ich im Krankenhaus aufgewacht. Sie mussten mir den Magen auspumpen. Ich wäre tatsächlich fast gestorben.«
Carl-Johan sah ganz betroffen aus.
»Und du warst erst fünf?
«
»Laut Krankenblatt. Silje behauptet, dass ich älter gewesen sei. Aber sie erinnert sich sowieso nur an das, an das sie sich erinnern will.«
Die Hitze des Feuers brannte auf dem Gesicht, Meja wandte den Kopf ab. Bereute, dass sie ihm davon erzählt hatte. Begriff, dass er eine ganz andere Sorte von Geheimnis erwartet hatte. Der altbekannte Schamklumpen schnürte ihr wieder den Hals zu, sie konnte kaum schlucken. Carl-Johan nahm sie in den Arm und zog sie an sich. Legte seine Wange an ihre Stirn.
»Ich bin so froh, dass du überlebt hast und ich dich kennenlernen konnte.« Sein Kinn war rau. Ein staunender Jubel stieg in ihr auf, sie spürte die Vibrationen seines Brustkorbs, als er weiterredete. »Willst du auch ein Geheimnis von mir erfahren?«
Sie nickte.
»Aber versprich mir, dass du nicht lachen wirst.«
»Ich verspreche es.«
»Ich bin noch nie in meinem Leben besoffen gewesen. Ich habe noch nie etwas getrunken, keinen einzigen Schluck.«
»Nein, ist das wahr?«
»Die hundertprozentige Wahrheit.«
Meja sah hoch zu ihm.
»Findest du jetzt, dass ich der totale Langweiler bin?«, fragte er.
»Ich finde dich total mutig. Dass du deinen eigenen Weg gehst.«
Die Sonne war aufgegangen und schien über die Baumwipfel. Es stach in den Augen, aber sie sah, wie er lächelte.
*
Lelle zog den Korken aus der Flasche Laphroaig, hielt sich die Öffnung unter die Nase und atmete den Geruch des torfigen Whiskys tief ein. Eine strenge Mischung aus Maifeuer und salziger Meeresluft, die in den Nebenhöhlen brannte. Der Durst kitzelte in seinem Kehlkopf. Die Sehnsucht danach, sein Blut mit Alkohol zu beruhigen, war so groß, dass er zu zittern begann. Er sehnte sich danach, den Kopf auszuschalten und ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Sich betäubt aufs Sofa sinken zu lassen war seine tiefste Sehnsucht. Aber die Sonne schien grell durch die Gardinen, außerdem stand Lina auf der Türschwelle. Eine kleine Lina im Pyjama und mit zerzausten Haaren, den einäugigen Teddybären unterm Arm und mit Augen wie zwei glitzernde Waldseen. Das kleine Mädchen, das ihn niemals betrunken erlebt hatte. Das hatte er ihr bei der Geburt versprochen. Und dass sie eine richtige, schöne Kindheit haben würde.
Seine Finger zitterten wie Espenlaub, als er den Korken wieder in die Flasche drückte. Kalter Schweiß sammelte sich unter seinen Achseln, er fröstelte, als er in den Flur ging. Draußen nahm der Sommer seine ersten richtig tiefen Atemzüge, es leuchtete und polterte förmlich, und der Duft von Gegrilltem und frisch gemähtem Rasen schlug ihm wie eine Ohrfeige entgegen. Er hätte nie gedacht, dass er den Sommer jemals so hassen würde. Denn er erinnerte ihn jetzt nur noch an all das Glück, das er verloren hatte.
Er setzte sich ins Auto. Rauchte mit geschlossenen Fenstern und achtete sehr darauf, nicht zu den Nachbarn hinüberzusehen. Er war im Laufe der Jahre sehr gut darin
geworden, sich gegen alle Idyllen zu wappnen, die ihn umgaben. Vorne an der Storgatan bog er nach links ab, in den Ortskern. Es pochte hinter den Schläfen, und er bereute, dass er keinen Schluck genommen hatte. Nur für die Nerven.
Von den Männern in ihrem unmittelbaren Umfeld wäre die größte Gefahr ausgegangen. Lelle hatte sich mit den Statistiken beschäftigt. Wenn jemand Lina etwas angetan haben sollte, dann war das mit großer Wahrscheinlichkeit ein Mann, den Lina gekannt, vielleicht sogar geliebt hatte. Ihr Freund.
Zerbrechlich aussehende Birken streckten ihre Äste nach ihm aus, als er auf einen kleineren Schotterweg abbog. Am Ende thronte der Västerbottenhof auf einem begrünten Hügel. Die roten Holzwände glühten in der Sonne, und die Fenster wurden zu blendenden Spiegeln. Lelle parkte am Ende der Birkenallee, drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. Dann kurbelte er das Fenster herunter, blieb aber sitzen. Er ließ den Motor laufen für den Fall, dass sie ihn mit Gegenständen bewarfen, was alles schon vorgekommen war.
Dann holte er das Fernglas aus dem Handschuhfach und ließ seinen Blick über die Hausfassade wandern. Der Sonnenstand wirkte wie ein Schild und schützte vor jedem Einblick ins Haus. Ein paar weiße Gartenmöbel lehnten zusammengeklappt an der Außenwand, aus großen Tontöpfen lächelten ihn frisch gesetzte Blumen an. Es gab keinerlei Anzeichen für irgendetwas, trotzdem spürte er, wie die Wut in ihm kribbelte. Denn natürlich war es ein Leichtes, einfach so weiterzumachen wie zuvor, sich nichts anmerken zu lassen
.
Ein lautes Heulen war zu hören, als sich plötzlich die Tür öffnete und eine Gestalt aus dem Haus trat. Ein großer, dünner Mann mit Kappe auf dem Kopf und in einem T-Shirt, unter dem man jede Rippe sehen konnte. Er sah zu Lelle und schlenderte auf ihn zu, etwas unbeholfen, wie ein Kalb, das durchs Gras stolperte. Eine Bierdose einer billigen Marke in seiner rechten Hand. Lelle spürte, wie aus der Wut Hass wurde. Seine Hand glitt vom Steuer, ballte sich zu einer Faust.
Der junge Mann blieb etwa zehn Meter vom Wagen entfernt stehen und warf die Arme auffordernd in die Luft. Die Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht, aber er fing sich schnell wieder. Musterte Lelle unter schweren Augenlidern und mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Es sah zunächst aus, als würde er etwas brüllen wollen, aber stattdessen hob er seine freie Hand und formte damit eine Pistole, mit der er auf Lelle zielte. Er blinzelte mit dem einen Auge, warf die Hand vom Rückstoß in die Luft, hielt den Zeigefinger vor seine Lippen und blies, ohne den Blick von Lelle zu nehmen.
Der sah zum Handschuhfach, wo seine Pistole lag. Spielte in Gedanken durch, wie er sich danach strecken und dem gespielten Schuss einen richtigen folgen lassen würde. Mit einer Kugel, direkt in die Stirn. Dann wäre alles vorbei. Aber er hörte Linas Proteste neben sich und legte stattdessen den Rückwärtsgang ein. Riss mit den Reifen einen Halbkreis in den Kies, dass der nur so spritzte, und fuhr mit Vollgas durch die Birkenallee zurück, während er im Rückspiegel sah, wie der Mann im Staub verschwand.
Auf dem Beifahrersitz saß Lina und hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben
.
»Mikael würde mir niemals was antun, Papa.«
»Du hast doch gesehen, wie der sich benommen hat.«
»Er ist wütend, weil du nicht aufhörst, ihn zu verdächtigen. Du weißt doch am besten, wie sich das anfühlt.«
Lina hatte Mikael Wolf ein Jahr vor ihrem Verschwinden kennengelernt. Er war der Sohn einer der wohlhabenden Familien des Ortes. Seine Eltern waren beliebt und respektiert, höfliche Enthusiasten, die sich in den Ortsvereinen engagierten, an den Jagden teilnahmen und großzügig alle möglichen Projekte finanzierten, die Leben in die Gegend brachten. Leider war ihr Sohn ein verwöhnter Bengel, der schon früh angefangen hatte, alle zu terrorisieren. Zuerst mit unschuldigem Unfug, dann mit zunehmend ernster werdenden Straftaten wie unbefugtem Autofahren und Diebstählen. Ihm war es mit seinem Charme dennoch gelungen, Anette im Laufe des Jahres für sich zu gewinnen. Mikael Wolf, der von Freunden und Feinden nur »Der Wolf« genannt wurde, hatte Talent zum Reden und war ein zukünftiger Erbe großer Ländereien. Der Traum einer jeden Schwiegermutter in traditioneller Hinsicht. Seine Vergehen hatte Anette als jugendlichen Leichtsinn abgetan. Das würde mit der Zeit alles verblassen.
Die Polizei hatte ihn nach Linas Verschwinden verhört. Der Wolf hielt an seiner Version fest, dass er an jenem Morgen geschlafen hatte, als Lina den Bus nehmen wollte, und selbstverständlich hatten die Eltern seine Behauptung bestätigt. Obwohl sie natürlich kaum in den frühen Morgenstunden neben seinem Bett gestanden und seinen Schlaf überwacht hatten. Aber das Alibi genügte der Polizei, vor allem weil es keine weiteren belastenden Anhaltspunkte
gegeben hatte. Keine Anzeichen eines Verbrechens. Keine Leiche.
Lelle hingegen hatte es nicht genügt. Er würde diesen Mikael Wolf im Auge behalten bis zu dem Tag, an dem er seine Lina zurückbekam. Mehrmals in der Woche fuhr er die bescheuerte Birkenallee hinunter, nur um dem Jungen zu zeigen, dass er ihn nach wie vor beobachtete, auch wenn alle anderen ihre Blicke in eine ganz andere Richtung gewandt hatten. Die Irritation der Familie Wolf darüber, dass er ihnen an den Fersen klebte, störte ihn überhaupt nicht. Die sollten so viel drohen und schreien und ihn mit dem Finger abschießen, wie sie wollten. Gute Nachbarschaft und Zusammenhalt in der Gemeinde interessierte ihn einen Scheiß. Er wollte nur die Wahrheit ans Licht bringen.
*
In der nächsten Nacht wurde sie mit dem Auto abgeholt. Meja lag angezogen auf dem Bett und wartete, als der erste Stein gegen ihr Fenster prallte. Der Fernseher im Wohnzimmer lief, aber die Schlafzimmertür von Torbjörn und Silje war zu, sein Schnarchen rieb wie Sandpapier über die Wände.
Carl-Johan kauerte sehr gut sichtbar hinter Torbjörns Auto. Es kribbelte unter der Haut, als sie ihn sah. Er nahm ihre Hand und zeigte den Weg hinunter.
»Das Brüderchen wartet hinter dem Hügel.«
Sie war enttäuscht, dass er nicht allein kam, ließ es sich aber nicht anmerken. Statt den Pfad hinunter zum See zu nehmen, rannten sie den Weg entlang, der in den Ort
führte. Neben dem Graben stand ein roter Volvo 240 mit Standlicht und wartete. Göran saß hinter dem Steuer. Er hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen, wahrscheinlich, um seine verpickelte Haut zu verbergen. Als Meja sich ins Auto setzte, wandte er sich ihr zu und grinste sie an.
»Am besten schnallst du dich an. Jetzt geht es so was von los!«
Er machte einen scharfen U-Turn, sodass Meja ganz schwindelig wurde und sie sich am Vordersitz festhalten musste. Carl-Johan drehte sich zu ihr um.
»Was hast du heute so gemacht?«, fragte er.
»Nichts. Ich habe versucht, nicht vor Langeweile zu sterben.«
»Langeweile?«, lachte er. »Dem können wir Abhilfe schaffen.«
Sie fuhren durch den Ort, wo alles still und verschlafen wirkte. Als sie eine asphaltierte Straße erreichten, erhöhte Göran die Geschwindigkeit, und das mit nur zwei Fingern am Steuer. Sie ließ sich tief in den abgewetzten Sitz sinken und sah die Bäume vorbeifliegen. Sie fragte nicht, wohin sie fuhren, war nur froh, unterwegs zu sein. Weg von Silje.
»Was habt ihr denn heute gemacht?«, fragte sie.
»Gearbeitet«, antworteten sie im Chor.
»Und was für eine Arbeit?«
»Ein bisschen von allem«, sagte Carl-Johan, »alles, was mit Tieren und Landwirtschaft zu tun hat.«
»Dann seid ihr Bauern?«
Sie lachten laut. Meja lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne und sah hinaus auf die leere Landstraße vor ihnen. Es kamen keine anderen Autos entgegen, und der
Abstand war groß zwischen den kleinen Dörfern, die nur aus ein paar Häusern bestanden, die sich zwischen die Bäume drängten. Es war kein Mensch zu sehen. Als wären sie die letzten Überlebenden in einer völlig ausgestorben wirkenden Welt. Das hätte ihr ziemlich sicher Angst gemacht, wenn Carl-Johan nicht dabei gewesen wäre. Seine Hände trommelten auf seinen Oberschenkeln, und sie musste seine Lippen gar nicht sehen, sie wusste auch so, dass er lächelte.
Das erste Fahrzeug, das sie sahen, war ein Streifenwagen. Er stand auf einem Parkplatz. Meja spürte, wie Göran sofort vom Gaspedal ging.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße
!«
»Immer mit der Ruhe!«, sagte Carl-Johan. »Der schläft.«
Göran fluchte weiter, während sie an dem Wagen vorbeifuhren. Meja versuchte, durch die Fenster zu sehen, konnte aber nicht erkennen, ob sich jemand dahinter versteckte. Als niemand Anstalten machte, ihnen zu folgen, schlug Göran mit der Faust aufs Steuer und stieß einen Siegesschrei aus.
»Was macht die Polizei denn hier draußen in der Einöde?«, fragte Meja, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Gute Frage«, sagte Göran. »Korrupte Schweine alle.«
Carl-Johan zwinkerte ihr zu.
»Ich sollte dich vielleicht darüber in Kenntnis setzen, dass keiner von uns einen Führerschein hat, darum wird es immer etwas heiß, wenn wir einen Bullen sehen.«
»Und warum habt ihr keinen Führerschein?«
Göran zog sich die Kapuze vom Kopf und entblößte seine wunden Wangen. Dann justierte er den Rückspiegel so, dass er sie ansehen konnte
.
»Ich fahre schon mein halbes Leben lang«, sagte er. »Warum soll ich dem Staat einen Haufen Geld zahlen, nur damit sie mir die Fahrerlaubnis geben?«
Meja sank auf die Rückbank. »Wir haben nie ein Auto gehabt.«
Die Sonne stieg am Himmel auf, sie näherten sich einer größeren Stadt, im Tal sah man den Kirchturm und die Dachfirste der Häuser. Ein breiter Fluss durchschnitt den Ort. Sie fuhren an einer Reihe eingeschossiger Häuser vorbei, und Göran hätte fast eine Katze überfahren, die über die Straße schlich. Meja fragte immer noch nicht, wohin sie fuhren, das spielte auch keine Rolle. Ein Teil von ihr hoffte, dass sie niemals zurückfahren würden.
Göran fuhr auf eine Tankstelle, die rund um die Uhr geöffnet hatte, und parkte an einer der Zapfsäulen. Carl-Johan fragte, ob sie ein Eis haben wollte. Als sie ausstiegen, legte er eine Hand um ihre Taille. Sie waren die Einzigen außer der Angestellten, einem jungen, hübschen Mädchen, das sein Haar in einem dicken geflochtenen Zopf über der Schulter trug. Göran zog die Kapuze über den Kopf und kämmte sich die Haare in die Stirn. Nachdem sie sich ihr Eis ausgesucht hatten, sagte er, er würde sie einladen. Meja hörte, wie er mit dem Mädchen sprach, das ihn anlächelte. Aber es war kein echtes Lächeln.
Carl-Johan setzte sich zu Meja auf die Rückbank. Dann beugte er sich vor und klopfte Göran auf die Schulter.
»Und, wie lief es? Hast du sie nach ihrer Nummer gefragt?«
»Nee.«
»Worauf wartest du denn?«
»Sie wollte mir ihre Nummer nicht geben.
«
»Woher weißt du das, wenn du nie fragst?«
Göran schob sich sein Eis in den Mund und startete den Motor.
»Ich habe doch Augen im Kopf. Solche Mädchen kann ich mir abschminken.«
Auf dem Rückweg hatte Carl-Johan die ganze Zeit seinen Arm um Meja gelegt. Sie schloss ihre Augen, denn die Sonne blendete sie, und ließ sich in den Schlaf wiegen. Göran hinter dem Steuer war unter seiner Kapuze verstummt.
*
Lelle hielt bei der Marakläppen, versicherte sich aber, dass er alleine an der Schlucht war, bevor er ausstieg. Mit federnden Schritten ging er an den gewaltigen Abgrund und stellte sich so nah an den Rand, dass seine Zehen über die Kante ragten. Der Boden war vom Regen ganz aufgeweicht, und feuchter Sand tropfte wie Wasser hinunter in die Tiefe. Der Ort hatte in grauer Vorzeit als Ältestengrube gedient, ein geweihter Ort, wo man jene Alten und Wertlosen entsorgt hatte, die nichts mehr zur Gemeinschaft beitragen konnten.
Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich vor, bis ihm ganz schwindelig wurde. Er mochte dieses Gefühl, es war der Beweis, dass noch Blut durch seine Adern floss. Obwohl er sich eher tot als lebendig fühlte. Auch der Gedanke, jederzeit springen zu können, hatte etwas Befreiendes. Dass er die Wahl hatte, auch wenn er genau wusste, dass das nur Wunschdenken war. Er würde seinem Leben niemals ein Ende setzen können, bevor er nicht wusste,
was mit Lina passiert war. Sonst hätte er das schon längst getan.
Er hörte einen anderen Wagen, der hinter ihm auf den Parkplatz fuhr und anhielt. Eine Autotür wurde geöffnet, und er hörte das ferne Rauschen des Polizeifunks. Dann folgten schwere Schritte und das Klimpern von Schlüsseln. Lelle hob eine Hand zum Gruß, ohne sich umzudrehen. Er wusste, wer da auf ihn zukam.
»Verdammt, Lelle, musst du immer so nah am Abgrund stehen?«
Lelle drehte sich zu dem Polizeibeamten um. »Das ist die Gelegenheit, mich loszuwerden. Ein kleiner Stoß, und ich bin nicht mehr als eine schlechte Erinnerung.«
»Ich kann nicht leugnen, dass mir dieser Gedanke schon einmal gekommen ist.«
Hassan war für ihn ein Freund, so viel Freund, wie Lelle im Moment ertragen konnte, und das, obwohl er ein Polizist war. Eine ungewöhnliche Freundschaft war da seit Linas Verschwinden entstanden.
Hassan hielt ein paar Meter Abstand zum Abgrund. Hatte die Daumen in seinen Gürtel gesteckt und genoss die Aussicht. Lelle warf seine Zigarette in die Tiefe und sah ans andere Ende der Schlucht. Dort erstreckte sich kilometerweit schwarzer Wald. Nur Flussläufe und Kahlschläge zeichneten ein fleckiges Muster in die Landschaft. Und auf einem vereinzelten Hügel thronten Windräder wie ein Andenken an den Fortschritt der Menschheit. Ein Andenken daran, dass nichts unberührt bleiben darf.
»Und schon ist er wieder da, der Sommer«, sagte Hassan.
»Ja, verdammt.
«
»Was machst du hier eigentlich, so mitten in der Nacht?«
»Ich suche Lina.«
»Du weißt, was ich davon halte?«
Lelle lächelte und drehte dem Abgrund den Rücken zu. Er ging zu Hassan und klopfte ihm auf die Schulter. Der dunkle Stoff seiner Uniform war von der Sonne ganz warm geworden.
»Auch auf die Gefahr hin, respektlos zu klingen, aber es interessiert mich einen Scheiß, was du davon hältst.«
Hassan grinste und strich sich mit der Hand durch die lockigen Haare, was seine Muskeln am Hals in Bewegung setzte. Er war von der gutgebauten Sorte, breit und beeindruckend. Lelle fühlte sich neben ihm ganz zerbrechlich und klein. Verbraucht.
»Ich nehme an, dass es keine Neuigkeiten gibt?«
»Zurzeit nicht, aber wir haben große Hoffnung, dass sich jemand anlässlich des dritten Jahrestages aus der Deckung wagt.«
Lelle sah auf ihre Schuhspitzen. Hassans waren sauber und glänzten, seine versteckten sich unter einer dicken Schmutzschicht.
»Anette hat einen Fackelzug durch den Ort organisiert.«
»Ja, davon habe ich gehört. Das ist gut. Die Leute dürfen es nicht vergessen.«
»Die Leute interessieren mich nicht mehr.«
Die Sonne verschwand hinter den Wolken, und die Luft wurde schlagartig kühler.
»Apropos Leute«, sagte Hassan, »erinnerst du dich noch an Torbjörn Fors?«
»Der an dem Morgen mit demselben Bus wie Lina fahren wollte? Wie könnte ich den Deppen vergessen?
«
»Ich habe ihn neulich beim Einkaufen bei ICA gesehen. Mit einer Frau.«
Lelle bekam einen Hustenanfall. Schlug sich mit der Faust auf die Brust und sah Hassan skeptisch an.
»Hat Torbjörn wirklich nach all den Jahren eine Frau kennengelernt? Das ist ja kaum zu glauben.«
»Ich erzähle nur, was ich gesehen habe.«
»Sag mir jetzt nicht, dass er so ein armes Ding aus Thailand importiert hat?«
»Nein, sie ist aus Südschweden, außerdem viel jünger als er. Sie sah ein bisschen fertig aus, ist aber bestimmt nicht älter als vierzig.«
»Das gibt es ja wohl nicht. Wie hat der alte Sack das bloß geschafft?«
»Keine Ahnung. Sie ist übrigens nicht allein.«
»Wie meinst du das?«
Hassans Kiefer arbeiteten.
»Sie hatte eine Tochter dabei. Einen Teenager.«
»Du machst Scherze?«
»Ich wünschte, es wäre so.«
*
Silje klang mit ihrer brüchigen Stimme wie jemand, der sehr alt oder sehr krank war. Meja musterte sie durch schmale Augenschlitze, wie sie sich mit zitternder Hand Wein nachschenkte. Es war nicht das erste Glas, ihre Augenlider waren schon schwer und die Sprache schleppend. Torbjörn ließ sich nichts anmerken, zumindest nicht solange Meja mit am Tisch saß. Er sah sie nur mit diesem milden, warmen Blick an
.
»Du bist viel draußen unterwegs, Meja. Hast du schon Leute kennengelernt?«
Silje streichelte ihr mit der Hand über die Haare.
»Meja ist wahnsinnig unabhängig, sie hat es nicht so mit Freunden.«
»Ich habe jemanden kennengelernt. Einen Typen.«
Es funkelte in Siljes Augen. »Nee, und wer ist das?«
»Er heißt Carl-Johan. Wir haben uns unten am Sumpf kennengelernt.«
»Der heißt wirklich Carl-Johan
?«
Meja ignorierte sie und sah zu Torbjörn, der mit dem Zeigefinger den Kautabak aus dem Mund holte und ihn auf einen Teller fallen ließ.
»Der Name kommt mir nicht bekannt vor«, sagte er. »Wo kommt er denn her?«
»Von Svartsjö.«
»Svartsjö!« Gelbbraune Spucke regnete auf den Teller. »Du machst Witze!? Ist das womöglich einer von Birger Brandts Jungs?«
Meja spürte, wie ihr Herz zu rasen anfing.
»Ja.«
»Eigentlich sollte ich bei so etwas den Mund halten, da die Leute mich ja auch als Dorftrottel bezeichnen. Aber Birger und seine Frau sind auf jeden Fall zwei Originale.«
»Inwiefern?«
Torbjörns Atem fiepte, als er Luft holte.
»Die haben so eine Art Kollektiv dort drüben. Die leben wie im 19. Jahrhundert. Halten nichts von moderner Technologie. Birger wollte nicht, dass seine Söhne auf eine normale, staatliche Schule gehen. Das gab einen Riesenärger,
soweit ich mich erinnere. Er wollte sie zu Hause unterrichten, aber das wollte die Gemeinde nicht zulassen.«
»Sind die denn religiös?«
»Das weiß der Teufel. Aber es würde mich nicht wundern.«
Silje leerte ihr Glas und zeigte damit auf Meja.
»Kannst du ihn nicht mal zu uns nach Hause einladen, damit wir wissen, wie er aussieht?«
»Das kannst du knicken.«
»Jetzt komm schon, lad ihn doch mal ein.«
Meja sah aus dem Fenster, wo die Sonne den Wald beleuchtete, sie sah Säulen aus Mücken und Pollen. Sie sah die Lichtung, auf der sie gestanden hatten, nachdem Göran sie rausgelassen hatte. Und ihr wurde fast wieder so schwindelig wie vorhin, als seine Lippen ihre berührt hatten.
*
Lelle fuhr den Silvervägen nach Süden, vorbei an Jörn und Boliden, während sich die Sonne hinter den Bäumen versteckte. Er ging schon weit vor der Radarfalle vom Gas. In Skellefteå hielt er bei der Tankstelle an, um bei einem traurig aussehenden Angestellten, der auf seinem Handy herumtippte, zu tanken und neue Zigaretten zu kaufen. Ein Lkw-Fahrer mit tief in die Stirn gezogener Kappe und dem Mund voller Kautabak stand am Kaffeeautomaten und füllte zwei große Becher. Ohne die grelle Helligkeit der Neonröhren war die Nacht in blaues Licht gehüllt, und seine Gedanken wanderten automatisch zum Meer. Lelle setzte sich wieder ans Steuer, rauchte eine Zigarette und versuchte, an etwas anderes zu denken als ans Meer.
Als er aber den Motor anließ, wusste er, dass es zu spät war. An der nächsten Kreuzung bog er nach links ab, fuhr an den Ort der Erinnerung. Unbeholfen aschte er aus dem Fenster, fuhr vorbei an verlassenen Höfen, Paddocks und schwarzen Waldstreifen. Die Luft wurde immer salziger. Er fuhr so lange, bis Horizont und Wasser vor ihm eine Linie bildeten. Der Himmel schimmerte golden, als die Sonne durch die Wolkendecke brach. Er parkte und lief den steinigen Sund entlang, bis er den zugewachsenen Sandstreifen erreichte, auf dem das Haus gestanden hatte. Kein einziges Brett war mehr davon übrig, aber im Unterholz konnte er die Fundamente noch ausmachen. Er stapfte mit seinen Stiefeln durch das Dickicht und kümmerte sich nicht darum, die Asche seiner Zigarette abzuklopfen. Er spürte, wie sein Atem holperte und sein Herz sich gegen die Erinnerung stemmte.
Dort hatte sein Elternhaus gestanden. Dort hatte sich sein Vater totgesoffen, und dort hatte Lelle die Abende allein verbracht, wenn seine Mutter arbeiten musste. Er war erst sieben oder acht Jahre alt gewesen, als er anfing, die Flachmänner auszutrinken, die sein Vater nicht geleert hatte. Er lernte schnell, starken und leichten Sprit am Geschmack zu erkennen, das galt auch für Selbstgebrannten und echten Wodka. Er war nicht besonders alt gewesen, als er zum ersten Mal besoffen gewesen und morgens mit Erbrochenem neben dem Bett aufgewacht war. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er sich übergeben hatte. Obwohl seine Mutter seine Fahne roch, erzählte sie nichts seinem Vater, und sie sprach ihn auch nicht darauf an. Denn die oberste Regel lautete, Alkohol durfte man keine Beachtung schenken
.
Lina hatte ihn nie mit einer Flasche gesehen, und dafür war er dankbar. Das war ein Teil von ihm, den er dort am Meer begraben hatte. Lina hatte sein Elternhaus nie besucht und auch ihre Großeltern niemals kennengelernt. Sein Vater war schon tot, als sie geboren wurde, und Lelle hatte gelogen und behauptet, dass auch seine Mutter schon gestorben sei. Als Lina älter wurde, kamen zwar die Fragen, zu seiner Kindheit und seinen Eltern, aber er hatte immer ausweichend geantwortet. Eins hatte er sich geschworen: Sein Kind würde niemals alleingelassen werden. Sie sollte niemals nur an zweiter Stelle kommen, hinter dem Alkohol oder irgendetwas anderem. Das hatte er sich hoch und heilig geschworen und war dennoch gescheitert. Er war überwältigend gescheitert.
Lelle lief hinunter an den Strand, der ihnen damals gehört hatte, sammelte Steine, die flachen und glatten. Dann ließ er die Steine mit geübter Hand übers Wasser springen. Er warf mit so großer Wucht, als wäre er böse auf das Meer. Dabei stimmte das gar nicht mehr, nur der salzige Geruch erzeugte heute noch Übelkeit in ihm. Er verfolgte ihn bis ins Auto. Dort blieb er lange sitzen und rauchte und betrachtete das Unkraut, das sich wie eine dicke Schicht über die Erinnerungen gelegt hatte. Der alte Durst meldete sich in der Kehle, aber die Hände ließen das Steuer nicht los, und er machte sich auf den Rückweg.
Er war fast zu Hause, als ein wütender Regen wie aus dem Nichts vom Himmel stürzte und ihn zwang, am Straßenrand anzuhalten, weil die Scheibenwischer nicht hinterherkamen. Er rauchte und lauschte dem Wasser, das aufs Autodach trommelte. Lina trug am Tag ihres Verschwindens eine blaue Jeans und einen langärmeligen
weißen Pullover. Keine Kleidung, die so einem Wetter standhalten konnte. Diese Sorge hatte ihn im ersten Sommer beherrscht, dass sie falsch angezogen sein, nass werden oder frieren könnte oder dass sie von Mücken zerstochen werden würde. Die Naturelemente machten ihm zu schaffen, an den menschlichen Faktor wagte er nicht zu denken.
Hinter ihm fuhr ein Wagen auf den Parkplatz. Der Nebelscheinwerfer drang durch den Regen, aber er konnte bei all dem Geprassel den Fahrer des Wagens nicht sehen. Wahrscheinlich galt dasselbe für den anderen auch. Der Regen fiel sehr dicht und drückte die Bäume gegen den Wildzaun. Lelle dachte noch, wie dankbar er war, dass er in seiner Blechschüssel saß, als es gegen seine Scheibe klopfte. Er zuckte zusammen, die Zigarette fiel auf den Boden und brannte ein weiteres Loch in die Fußmatte. Der Mann hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, sein Gesicht war nicht zu erkennen. Als Lelle das Fenster herunterkurbelte, sah er, dass der Unbekannte schon älter war, mit eingesunkenen Wangen. Nervös suchte Lelle in der Tasche nach der Zigarettenschachtel. Im Wageninneren breitete sich der Geruch nach verbranntem Plastik aus.
»Ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen«, sagte der Mann, »aber könnte ich eventuell Ihr Handy benutzen? Mein Akku hat den Geist aufgegeben.«
Graue Haarsträhnen klebten auf seiner Haut, der Regen strömte ihm über die Augenbrauen, Nasenflügel und Oberlippe. Lelle warf einen Blick auf sein Handy, das in der Becherhalterung steckte.
»Kommen Sie, Sie können hier im Auto sitzen und telefonieren«, sagte er und zeigte auf den Beifahrersitz. »Ich will nicht, dass mein Handy nass wird.
«
Der Mann rannte um den Wagen herum und stieg ein.
»Vielen, vielen Dank«, sagte er.
Während der Mann eine Nummer eintippte, stieg Lelle aus. Seine Beine waren von der vielen Fahrerei ganz steif geworden, und er drehte eine kleine Runde, um sich zu dehnen und zu strecken. Dann drehte er eine zweite Runde um den Volvo des Mannes und versuchte dabei, so unauffällig wie möglich ins Wageninnere zu linsen. Der Mann hatte die Scheibenwischer angelassen, und sie zogen unermüdlich über die nasse Scheibe. Auch die Innenbeleuchtung war noch eingeschaltet. Lelle konnte einen Kaffeebecher in einer Halterung sehen. Der Rücksitz war zum Teil mit einer schwarzen Plane bedeckt, daneben lag allerlei Zeug, Bonbonpapier, Angelschnüre, leere Bierdosen, eine Handsäge und eine Rolle Isolierband. Auf dem Beifahrersitz lag ein weißes Stück Stoff, auf dem er die Umrisse von Linas Gesicht erkennen konnte. Hast du mich gesehen? Ruf 112 an.
Es war eins von den vielen T-Shirts, die Anette im Laufe der Jahre hatte bedrucken lassen. Wer war dieser Typ? Kam er auch aus Glimmersträsk?
Sein Kopf pochte, als er sich wieder ins Auto setzte. Der Mann gab ihm das Handy zurück.
»Vielen Dank. Aber ich wollte Sie nicht aus Ihrem eigenen Wagen vertreiben.«
»Ich musste mich sowieso mal strecken.«
Der Mann hatte einen kaputten Schneidezahn, und seine Zunge schob sich in die Lücke, wenn er lächelte.
»Was für ein Scheißwetter«, sagte er. »Ich musste meine Alte anrufen und ihr sagen, wo ich bin. Sonst dreht die durch.«
»Haben Sie es weit bis nach Hause?
«
»Ich wohne in Hedberg, also noch ein gutes Stück.«
»Dann fahren Sie bloß vorsichtig«, sagte Lelle und wischte sich das Gesicht am Jackenärmel ab.
»Gleichfalls.«
Der Mann stieg aus und rannte zu seinem Wagen. Lelle verschloss die Tür hinter ihm. Dann holte er seine Pistole aus dem Handschuhfach und notierte sich in seinem Handy das Kfz-Kennzeichen und eine kurze Personenbeschreibung. Männlich, 50–60 J., 1,75–1,80 m, normalgewichtig, kaputter Schneidezahn. Hedberg?
Die roten Zeiger der Uhr im Auto standen auf 4:30. War die Frau dieses Mannes zu dieser unchristlichen Zeit wirklich noch wach und wartete zu Hause auf ihn? Lelle fand das mehr als unglaubwürdig. Der Regen hatte für einen kurzen Moment nachgelassen, und er sah in den Rückspiegel. Der Mann hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt. Man konnte nichts Genaueres erkennen, aber seine Reglosigkeit deutete daraufhin, dass er das Ende des Regens abwarten würde, der dichte Vorhänge aus Wasser um die beiden Fahrzeuge bildete. Lelle wählte eine Nummer. Hassan ging schon beim zweiten Klingelton an den Apparat, trotz dieser Uhrzeit.
»Was gibt es denn?«
»Ich habe ein Kennzeichen, das du vielleicht mal überprüfen solltest.«
*
Torbjörn bestand darauf, ihr jeden Morgen Frühstück zu machen. Sobald sie die Treppe herunterkam, strahlte er übers ganze Gesicht. Sie sollte sich an den zerkratzten
Tisch setzen, während er am Herd stand und im Hintergrund das Radio lief. Am Anfang hatte er versucht, Silje dazu zu bringen, ihnen Gesellschaft zu leisten, aber nach ein paar erfolglosen Versuchen hatte er es aufgegeben. Silje war noch nie ein Morgenmensch gewesen. Meja konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals gemeinsam gefrühstückt hatten.
Torbjörn machte Kaffee in einem Kupferkessel und tischte mehr auf, als jemals gegessen werden konnte: Dickmilch, Haferflocken, weichgekochte Eier, Brot, zwei Sorten Käse, gekochten Schinken und dunkles Fleisch, das Meja nicht anrührte, das Torbjörn ihr jedoch immer wieder nahezu aufdrängte.
»Das musst du unbedingt mal probieren! Das ist geräuchertes Rentierfleisch, so feine Sachen gibt es bei euch im Süden gar nicht.«
Sie riss sich ein winziges Stück ab und schob es sich in den Mund. Versuchte, nicht daran zu denken, was sie da gerade aß. Ein salziger, wilder und fremder Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Sie sah Torbjörn begeistert an.
Der lachte herzlich. Er hatte ein paar Zahnlücken, und das Essen blieb in seinem Schnurrbart hängen. Aber eigentlich fand sie ihn nicht schlimm. Vielleicht lag das auch an seiner Art, sie anzusehen, als würde er sie betrachten, ohne sie anstarren zu wollen. Als hätte er etwas auf dem Herzen.
»Deine Mutter schläft ganz gerne.«
»Die kann den ganzen Tag im Bett liegen.«
»Wie schade, dass sie das Frühstück verpasst. Das ist die beste Mahlzeit am Tag, finde ich.
«
Er trug ein dunkelgraues Shirt, und sie roch seinen ungewaschenen Körper, wenn er sich bewegte. Meja fragte sich, ob Silje die Luft anhielt, wenn sie neben ihm lag. Ob sie die Augen schloss und an den Wald dachte.
Torbjörn wischte sich die Hände an der Hose ab, dann fuhr er mit dem Handrücken über seinen mit Krümeln bestückten Bart.
»Meine Mutter liegt in ihrem Grab und grinst, Meja. Das kann ich dir versprechen.«
»Und warum?«
»Weil du hier sitzt. Sie hat mir immer in den Ohren gelegen, dass ich unbedingt Kinder haben muss. Das war für sie wichtiger, als eine Frau an meiner Seite zu sehen. Man braucht jemanden, der sich um Land und Hof kümmert, wenn man es selbst nicht mehr schafft.«
Meja wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, darum griff sie nach einem weiteren Stück Rentierfleisch, legte es sich auf eine Scheibe Brot und biss ab. Hoffte, dass ihn das froh machte. Und tatsächlich, er lächelte.
Torbjörn goss den restlichen Kaffee in eine Thermoskanne und setzte sich seinen Gehörschutz auf. Meja wusste gar nicht, was er beruflich machte, nur dass er tagsüber im Wald war. Er trug eine grüne Jacke mit Lederflicken an den Ellenbogen und eine orangene Weste, die lose über seinem Bauch hing.
»Und vergiss nicht die Fahrräder im Schuppen, wenn du keine Lust hast, hier den ganzen Tag herumzusitzen.«
Nachdem Torbjörn das Haus verlassen hatte, schlich Meja zum Schlafzimmer und spähte durch den Türspalt. Ein säuerlicher Geruch von Aschenbecher und Rotwein schlug ihr entgegen. Silje lag auf dem Rücken, mit
ausgestreckten Armen, den Kopf zu einer Seite geneigt, wie Jesus am Kreuz. Für die Welt gestorben. Ihre Brustwarzen stachen wie blaue Flecken von ihrer ansonsten fast blutleeren Haut. Meja sah, wie sich die Rippen hoben und senkten, wenn sie atmete. Sie musste sich immer versichern, dass sie noch atmete.
»Bist du wach?«
Meja schlich auf Zehenspitzen ans Bett. Schob ihre Hände unter Siljes Rücken, stemmte sich gegen die Matratze und drehte sie auf die Seite. Silje gab kein Geräusch von sich, keine Anzeichen, dass sie bei Bewusstsein war und jederzeit aufwachen konnte. Meja zog Siljes Beine hoch an ihren Bauch und schob dann den ganzen Körper über das zerknitterte Bettlaken, bis ihr Kopf an der Kante lag. Stabile Seitenlage, das war am sichersten. Falls sich Silje im Schlaf übergeben musste.
*
Das Telefon schrillte, der Kaffee schwappte über, und sein Herz raste. Lelle würde sich niemals an dieses Geräusch gewöhnen. Das kalte, schneidende Klingeln, das bedeuten konnte, dass es vorbei war, dass sein Leben ausgerechnet an diesem Tag enden würde.
»Ich habe den Typen überprüft, den du letztens mitten in der Nacht getroffen hast, den aus Hedberg«, sagte Hassan.
»Und?«
»Du scheinst einen guten Instinkt für Schweine zu haben. Er heißt Roger Renlund und wurde fünfundsiebzig wegen Vergewaltigung verurteilt und später in den End
achtzigern nochmal wegen Körpermisshandlung von Frauen in mehreren Fällen. Er bezieht mittlerweile Erwerbsminderungsrente. Offenbar hat er den Hof seiner Eltern in Hedberg geerbt und lebt dort seit 2011, allein.«
»Allein? Bist du dir sicher?«
»Zumindest ist er der einzige Bewohner im Melderegister.«
»Er hat mein Handy benutzt, angeblich um seine Frau anzurufen. Ich habe die Nummer überprüft, es war ein Seniorenheim in Arvidsjaur.«
»Vielleicht arbeitet sie dort. Oder er steht auf ältere Frauen.«
Hassan hatte den Mund voll, während er sprach. Lelle warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war fünf nach zwölf. Mittagszeit für normale Leute.
»Und, wirst du ihn verhören?«
»Aus welchem Grund? Weil er ein T-Shirt hat, auf dem Lina drauf ist? Halb Norrland besitzt mittlerweile so eins.«
Lelles Finger, mit denen er das Handy umklammerte, taten ihm weh.
»Okay«, sagte er zugeknöpft. »Verstehe.«
»Lelle«, ermahnte Hassan ihn, »mach keine Dummheiten.«
Lelle hatte die Rollläden heruntergelassen und studierte die Satellitenaufnahmen von Roger Renlunds Hof. Der lag ziemlich abgeschieden, umgeben von einem dichten Wald im Rücken und einer wilden Wiese auf der Vorderseite. Leere Weiden ohne eine Spur von Kühen oder Pferden. Dort standen eine Scheune, drei kleinere Schuppen und ein Hühnerhaus. Eventuell befand sich im hinteren
Bereich des Grundstücks noch ein Erdkeller, aber das ließ sich so nicht erkennen. Auf jeden Fall herrschte kein Mangel an Verstecken. Der Nachbarhof war fast fünf Kilometer entfernt, und außer den Satelliten hoch oben im Weltall hatte niemand sonst Einsicht auf Roger Renlunds Anwesen. Hervorragend geeignet, um Dinge vor der Welt zu verbergen.
Lelle wollte sich nicht mit solchen Gedanken aufhalten, gleichzeitig waren sie sein einziger Trost. Denn er weigerte sich, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Lina tot war. Das hatte er Anette gleich am Anfang gesagt. Jemand dort draußen hatte ihr Mädchen, jemand auf dieser Erde wusste, wo sie war, und er würde diesen Jemand ausfindig machen, und wenn es das Letzte war, was er tun würde. Im ersten Sommer nach ihrem Verschwinden hatte er an jeder Tür geklopft, bei jedem Dorftrottel und Alleinstehenden, den er kannte, und hatte sie gebeten, in ihren Kellern und auf ihren Dachböden nachsehen zu dürfen. Ihm war dabei alles Mögliche passiert, von wütenden Flüchen bis hin zu frischem Kaffee. Das Einzige, was er dabei entdeckte, war die Einsamkeit. Die Erkenntnis, wie viel Einsamkeit es überall gab. Sie breitete sich aus und fraß sich an den Außenrändern der Gemeinden immer tiefer ins Land, wie eine Krankheit, die unter jenen grassierte, die zurückgeblieben sind, nachdem alle anderen weggezogen waren. Und jetzt gehörte er auch dazu, zu den Einsamen.
*
»Kennst du einen Ort namens Hedberg?«
»Klar, habe ich schon mal gehört.
«
»Und Roger Renlund, kennst du den auch?«
Kippen sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und schürzte die Lippen, blieb mit dem Blick am Zigarettenregal hängen, als würde die Antwort dort geschrieben stehen.
»Der Name kommt mir nicht bekannt vor, warum?«
»Ich dachte mir, dass er vielleicht mal einen unangekündigten Besuch bekommt.«
»Willst du dort hinfahren und nachsehen?«
Lelle nickte und riss die Plastikverpackung von der Zigarettenschachtel.
»Wenn ich nicht zurückkomme, weißt du, was zu tun ist.«
Die weiche, schlappe Haut an Kippens Hals bewegte sich, als er sich schüttelte, aber er sagte nichts, stieß nur einen leisen Pfiff aus. In diesem Moment kamen ein paar Jugendliche in die Tankstelle. Lelle steckte sich eine Zigarette in den Mund und zwinkerte Kippen zu, bevor er den Shop verließ.
Er parkte bei einem zugewucherten Wendehammer, den er auf den Satellitenaufnahmen gesehen hatte. Von dort wollte er dem Verlauf eines kleinen Flüsschens oder Baches folgen, der sich durch Renlunds Anwesen zog. Das Unterholz reichte ihm bis unter die Achseln. Dunkle Insektenschwärme stiegen vor ihm auf, als er sich durch die Wildblumen schob. Roger Renlunds Hof war wie eine mittelalterliche Festung, umgeben von verwilderten Wiesen und Feldern und zugewachsenen Wäldern. Der Weg würde die Hölle werden.
Lelle schob die Hose in die Stiefel und zog sich, zum Schutz gegen die Mücken, die Kapuze über den Kopf. Am
Waldrand brach er einen Ast ab, mit dem er um sich schlagen konnte. Das Surren senkte sich über ihn im Gleichtakt mit einem tiefen Unbehagen. Der Boden war nass und matschig, und die Nachtsonne zeichnete Lichtsäulen zwischen die Bäume, in denen die Stechmücken hektisch herumflogen. Er spürte, dass sie ihn trotz Kapuze und Astpeitsche stachen. Kleine böse Stiche in die Kopfhaut, wo das Haar vom Schweiß klebte. Seine Pistole steckte im Gürtel, und er roch seine Angst, die aus allen Poren drang. Vielleicht zog auch dieser Geruch diese kleinen Teufel an.
Er war sich nicht ganz sicher, wovor er mehr Angst hatte. War es die Tatsache, dass er auf fremdem Grund herumstapfte und dabei entdeckt werden konnte, oder hatte er Angst vor dem, was er unter Umständen finden oder eben nicht finden würde? Aber das spielte alles sowieso keine Rolle. Er musste seine Tochter suchen, mit allen Mitteln, legalen oder illegalen. Vielleicht hatte er auch Angst, den Verstand zu verlieren. Wegen seiner Überzeugung, dass jeder einsame Typ ein potenzieller Täter war. Niemand sah das so wie er, und niemand zog dieselben Schlüsse daraus. Lelle war ganz allein mit dieser Auffassung, und das wusste er. Vielleicht sollte er doch lieber Schlaf- und Beruhigungsmittel knabbern und seine Abende damit verbringen, in den sozialen Medien um seine Tochter zu trauern. Das schien bei Anette ganz gut zu funktionieren. Sie verstieß nicht gegen Gesetze. Sie rannte nicht bewaffnet über fremde Grundstücke – und das mitten in der Nacht. Sie fuhr auch nicht in verlassene Ortschaften, um in den Ruinen nach ihrer Tochter zu suchen. Er tat so etwas, nur er
.
Als sich der Wald öffnete, klebte sein T-Shirt an der Haut, er hörte auch die Mücken nicht mehr, sondern nur noch sein Blut, das in den Ohren rauschte. Vor ihm lag eine Wiese, auf der schon lange nicht mehr gegrast worden war. Er duckte sich und sah hinüber zum Hof. Zwei Stockwerke, die von Wind und Wetter gezeichnet waren. Der Himmel spiegelte sich in den düsteren Fenstern. Es gab kein Zeichen von Lebewesen, weder tierischer noch menschlicher Natur. Lelle schlich an der Wiese vorbei. Roger Renlunds Volvo stand an der Hofseite. Unter einer Plane entdeckte er noch einen Scooter und ein Motorrad. Er schlich weiter, vorbei an einer verrosteten Schubkarre voll dunkler Erde und einem umgegrabenen Kartoffelacker, auf dem die ersten Keime sprossen. Der Boden war nass und kalt. Sein Ziel war der Holzschuppen, ganz in der Nähe. Er lauschte ein letztes Mal, ob er Hundegebell hörte. Dann richtete er sich auf und rannte los. Aber er kam nicht weit und musste sich sofort flach auf den Boden werfen, denn plötzlich wurde die Stille vom Quietschen einer Tür durchschnitten, dem ein trockener Husten folgte. Lelle versuchte sich nicht zu bewegen, aber sein Herz und seine Lunge taten es. Feuchtes Gras durchnässte seine Kleidung, die Kälte erinnerte ihn an das Eisloch, in das er als Kind gefallen war. An die Hände, die er sich an den Bruchrändern blutig geschürft hatte, und an den Vater, der sofort stocknüchtern geworden war und ihm zugerufen hatte, dass er sich am Seil festhalten sollte. »Halt dich fest, Junge!«
Zwischen den Grashalmen hindurch sah er eine Gestalt auf der Treppe zur Eingangstür. Renlund trug nur eine Unterhose, die war grün. Sein Bauch hing über den
Gummizug. Er steckte die Finger in den Mund und pfiff. Sofort kam ein grauer Hund aus dem Wald angestürmt. Lelle presste seine Wange auf den Boden und schloss die Augen. Hörte, wie Renlund mit dem Hund sprach, und dann endlich das Knarren der Tür, als die beiden wieder ins Haus gingen. Lelle blieb noch eine ganze Weile reglos liegen, bis die kalte Feuchtigkeit seine Knochen erreicht hatte, und alle Körperteile und sein Kiefer zitterten und klapperten. Er robbte auf den Holzschuppen zu, behielt dabei unentwegt den Hof und die Fenster im Auge, in denen sich der Himmel glühend reflektierte. Erst als er außer Sichtweite war, sprang er auf und rannte los. Die Tür zum Schuppen war nur angelehnt, seitlich schlüpfte er hinein. Es roch nach trockenem Holz, das in meterhohen Stapeln an den Wänden aufgetürmt worden war. Das würde für drei Winter reichen. Renlund war vielleicht ein mieses Schwein, aber nichts deutete darauf hin, dass er faul war.
Lelle schlich zum nächsten Gebäude, der Scheune. Dort gab es nichts außer dem Gestank von verrottetem Heu. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Pferdeboxen, stach mit der Heugabel in dicke Strohhaufen, um sicherzugehen, dass sich darunter nichts verbarg. An den Boxenwänden klebten Spinnweben und Vogelkot und unterstrichen, dass hier schon lange kein Tier mehr gestanden hatte. Er kam an einem leeren Hundezwinger vorbei, die Futterschalen waren gefüllt mit Wasser und Erde. Direkt daneben stand eine kleine Jagdhütte mit schiefen Wänden. An der Tür hingen zwei Hasen, die darauf warteten, gehäutet zu werden. Lelle sah durch das zerkratzte Fenster. Die Hütte war voll mit Werkzeug, Angelruten und Messern. An der einen Seite des Raumes stand eine Schlachtbank.
Am liebsten hätte er sich auch im Haus umgesehen. Ziemlich groß für einen alleinstehenden Mann. Viele Räume, die nicht benutzt wurden.
Er hatte nicht einmal die Hälfte des Hofes überquert, als der Schuss fiel. Eine Gewehrsalve, die auch die Baumwipfel über ihm erschütterte. Lelle duckte sich und rannte los. Über die Schulter sah er Renlund auf der obersten Treppenstufe stehen. Nach wie vor in Unterhose, aber jetzt mit einem Gewehr in den Händen. Er schrie Lelle etwas hinterher, aber der hörte ihn nicht. Dann folgte ein zweiter Schuss. Dieses Mal spürte er den Windzug, als die Kugel an ihm vorbeiflog, und er warf sich auf den Boden und krabbelte auf allen vieren weiter. Kurz darauf hörte er das Bellen des Hundes, das sich bedrohlich näherte. Der Boden unter ihm schwankte, und als die Hundepfoten auf seinem Rücken landeten, fiel er auf den Bauch und legte seine Hände schützend über den Kopf. Der Hund markierte mit seinem Bellen eine erlegte Beute. Lelle rührte sich nicht, und kurz darauf hörte er schwere Schritte. Eine heisere Stimme befahl dem Hund zu schweigen. Lelle machte Anstalten aufzustehen, aber der Mann drückte ihm seinen Stiefel zwischen die Schulterblätter und zwang ihn, unten zu bleiben.
*
Meja saß auf der Veranda und starrte hinüber zum Wald. Die helle Nacht lag wie ein Meer über den Baumwipfeln, aber die Dämmerung war in den Wald gedrungen, und jetzt sah er dunkel und nicht besonders einladend aus. Alles war still, außer Torbjörns Schnarchen, das seinen
Weg durch jede Wand fand. Der Tag hatte sich unendlich lang angefühlt, mit dem Warten auf Carl-Johan, der ja nur nachts vorbeikam. Wenn überhaupt. Meja lauschte, wartete auf das Geräusch von Autoreifen auf dem Kies und gedämpften Stimmen, dabei ließ sie den Waldrand nicht aus den Augen, als würde sie ihn herbeisehnen können. Plötzlich tauchte die Zigarettenpackung vor ihrem inneren Auge auf, die sie in den Papierkorb geworfen hatte. Eine Zigarette würde ja wohl nicht schaden. Aber sie wollte auch nicht nach Rauch stinken, falls er plötzlich zwischen den Bäumen auftauchen würde.
Zum Schluss trieb sie ihre Rastlosigkeit von der Veranda. Die Luft war feucht und kalt. Sie wagte es nicht, allein in den Wald zu gehen, aber der Hund, der ihr zuerst auf den Fersen folgte, ließ sie bald stehen, um den Gerüchen hinterherzujagen. Mit wedelndem Schwanz verschwand er im Gebüsch und wurde eins mit den Schatten. Meja rief nach ihm, fand aber den Klang ihrer Stimme unerträglich. Der Wind bog die Äste, die nach ihr griffen. Sie bekam eine Gänsehaut, und ihre Angst legte sich wie eine Decke über die Schultern. Sie suchte Unterschlupf im Schuppen.
Die Tür war schwer und klemmte. Das Gebäude war groß, die Decke hoch. Unter dunklen Planen schlummerten diverse Fahrzeuge, und eine der Wände zierten die verschiedensten Werkzeuge. Torbjörn schien eine Vorliebe für Äxte zu haben, mindestens ein Dutzend davon hing dort aufgereiht. Die blank geschliffenen Schneiden steckten in Lederholstern. Meja strich mit den Fingern über die Holzschäfte und hätte gerne gewusst, wie es sich anfühlte, so eine Axt über die Schulter zu schwingen. Aber sie traute sich nicht. Vielleicht könnte ihr Torbjörn das beibringen
.
In einer Ecke lehnten zwei Fahrräder, beide ziemlich alt und ohne Gangschaltung, aber mit richtig stabilen Gepäckträgern. Meja schlich weiter in den angrenzenden Raum, dessen Wände mit aufgespannten Tierhäuten behängt waren. Von der Decke baumelte ein massiver Eisenhaken. In der Mitte des Raumes thronte eine Werkbank aus Holz, deren Oberfläche mit dunklen Flecken übersät war. Hier hatte Torbjörn offenbar alle Tiere geschlachtet, die jetzt in seinen Tiefkühlboxen im Keller lagen. Diese Erkenntnis ließ sie erschauern.
Der Hund bellte, und Meja wollte gerade zu ihm nach draußen gehen, als ihr Blick auf eine weitere Tür fiel. Sie hing etwas schief in den Angeln, aber durch den Türschlitz drang Licht. Sie drückte vorsichtig die Klinke hinunter, die augenblicklich nachgab. Die Tür schwang mit einem jaulenden Geräusch auf. Dahinter befand sich ein kleiner Raum, nicht viel größer als eine Nische. Durch ein schmutziges Fenster fiel Licht. An den Wänden hingen kleine Regale, auf denen sorgfältig geschnitzte Holzfiguren nebeneinander aufgereiht standen. Alles von Kaninchen, Eichhörnchen bis hin zu Cowboys und vollbusigen Frauen. Der Boden war übersät mit Sägespänen, und darauf standen alte Getränkekisten voller Zeitschriften.
Sie sah sofort, um was für eine Sorte von Zeitschriften es sich handelte. Nahaufnahmen von gespreizten Beinen. Fotos, die widerlich und faszinierend zugleich waren. Sie stellte sich Torbjörn vor, wie er hier abends in seinem Schuppen saß, Holzfiguren schnitzte und dabei die Pornoheftchen durchblätterte. Der Gedanke machte sie eher traurig, als dass er sie belustigte oder empörte. Sie blätterte wahllos durch ein paar Hefte, bis sie auf einen Stapel
Amateurfotos stieß. Sie fielen wie ein Lesezeichen aus einem der Hefte. Es waren Aufnahmen von badenden Frauen. Junge Frauen in bunten Bikinis, die von Felsen sprangen und sich mit dem Handtuch abtrockneten. Ganz offensichtlich hatten sie nicht bemerkt, dass sie dabei fotografiert wurden. Meja kniff die Augen zu, um ihre Gesichter erkennen zu können. Spürte, wie das alles eine große Beklommenheit in ihr auslöste. Als der Hund erneut anfing zu bellen, steckte sie hektisch die Fotos zurück in das Heft, schob die Kisten zurück an ihren Platz und verteilte die Sägespäne wieder gleichmäßig.
So schnell es ging verließ sie den Schuppen, vorbei an der Schlachtbank und den Äxten. Endlich fiel die schwere Tür hinter ihr zu. Sie rannte zurück zum Haus und kettete den Hund wieder an, der auf der Veranda saß und auf sie wartete. Ihre Beine zitterten. Sie ging hoch in ihr Dreieckszimmer, verbarrikadierte ihre Tür und legte sich aufs Bett, die geballten Fäuste auf ihrem klopfenden Herzen. Die Nacht war bald vorbei, er würde nicht mehr kommen. Nichts hatte sich verändert. Sie war allein und konnte sich einfach auf niemanden verlassen.
*
Roger Renlund kochte seinen Kaffee noch auf die altmodische Art und Weise, auf einem Eisenherd. Lelle hatte ganz vorne auf dem Stuhl Platz genommen und fingerte an der braungestreiften Wachsdecke, die dort wahrscheinlich schon seit den Sechzigern lag. Der Jämthund lag ausgestreckt vor der Tür und wachte schläfrig über ihn. Renlund spuckte seinen Kautabak in die Spüle und goss den
Kaffee in grüne Plastikbecher. Der Kaffee war stark und schwarz und dampfte im Morgenlicht.
»Ich bitte um Entschuldigung für den Warnschuss«, sagte er. »Aber ich habe nie direkt auf Sie gezielt. Ich hatte in den letzten Jahren immer wieder Probleme mit Benzindieben, und ich dachte, jetzt müsste ich denen mal zeigen, wo der Hammer hängt.«
Lelles Hand zitterte noch, als er den Kaffeebecher anhob.
»So was passiert eben«, sagte Lelle. »Ich hätte ja auch nicht mitten in der Nacht über Ihr Grundstück rennen müssen.«
»Wir müssen also nicht die Polizei rufen?«
»Nein, auf keinen Fall.«
Schweigend tranken sie ihren Kaffee, und Lelle sah sich um. Es war unverkennbar, dass der Hof mit seinem Mobiliar, dem Erbe aus mehreren Generationen, das Elternhaus von Renlund war. Eine Küchenbank mit zierlicher Rückenlehne und gelbem Polster. An der Wand hing eine Pendeluhr, die tickend die Sekunden zählte. Hölzerne Wandpaneele und gestreifte Tapeten, die mit Jagdmessern und Bündeln aus Katzenpfötchen verziert waren.
Renlund knetete Tabak zwischen den Fingern und musterte Lelle.
»Ich kenne Sie doch«, sagte er. »Wir sind uns doch kürzlich im Regen begegnet. Ich durfte Ihr Handy ausleihen, um meine Alte anzurufen!«
»Das stimmt.«
»Das gibt es doch nicht.«
Renlund kniff die Augenbrauen zusammen und sah auf
das Foto von Lina, das zwischen ihnen auf der Wachsdecke lag.
»Dann ist sie Ihre Tochter?«
»Sie hatten ein T-Shirt mit ihrem Foto drauf im Wagen.«
»Ja. Wir haben uns von Anfang an bei der Suche nach ihr beteiligt. Meine Alte und ich. Wir haben in den vergangenen Jahren auch an mehreren Suchketten teilgenommen.«
»Wo ist denn Ihre Frau?«, fragte Lelle.
»Sie wohnt in Baktsjaur, wir wohnen nicht zusammen.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich mein Elternhaus nicht verkaufen will und sie ihres nicht.«
»Aha. Und sie arbeitet in einem Seniorenheim?«
Renlund sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie das?«
»Da haben Sie doch in der Nacht angerufen.«
»Ja, sie will immer die Nachtschichten haben. Weil die Alten nachts sterben, und sie will nicht, dass sie allein sterben müssen.«
Sie schwiegen eine Weile, während Lelle darüber nachdachte. Nur Renlunds Schlürfen war zu hören, und ab und zu spuckte er Tabak in eine Schüssel auf dem Boden. Der Hund hatte sich mittlerweile auf den Rücken gerollt und zeigte sein weißes Bauchfell.
»Ich verstehe aber nach wie vor nicht, was Ihre Tochter mit meinem Hof zu tun haben sollte, ausgerechnet hier bei mir?«, sagte Renlund.
Lelle holte tief Luft.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass sie vor drei Jahren verschwunden ist und dass es meine Aufgabe ist, sie zu
finden. Ich weiß über Ihre Vergangenheit Bescheid, und ehrlich gesagt ist jeder Mann in meinen Augen ein potenzieller Täter. Bevor ich nicht weiß, was mit Lina passiert ist, werde ich sogar den König schief ansehen. Also bitte nehmen Sie das nicht persönlich.«
Renlund schürzte seine Lippen und schien darüber nachzudenken.
»Na ja, das verstehe ich schon. Hätte ich eigene Kinder, würde ich wahrscheinlich dasselbe machen. Und auf die Sachen, die ich in meiner Jugend getan habe, bin ich kein bisschen stolz, das müssen Sie mir glauben. Aber ich kann Ihnen schwören, dass ich nichts mit dem Verschwinden Ihrer Tochter zu tun habe.«
Es war helllichter Tag, als Lelle die Treppe hinunterging und sich auf den Weg in den Wald zurück zu seinem Wagen machte. Renlunds Blick kitzelte ihn im Nacken, und ehe er im Wald zwischen den Bäumen verschwand, drehte er sich um und hob die Hand. Der Mann erwiderte den Gruß. Er hatte das Gewehr gegen die abblätternde Hauswand gelehnt und lächelte, neben ihm saß der Hund. Lelle duckte sich und schob sich in das Unterholz. Kaum war er außer Sichtweite, begann er zu rennen.
*
»Du siehst schrecklich aus!« Anette rümpfte die Nase. »Und stinken tust du auch.«
»Vielen Dank für deine lieben Worte.«
Sie sah ihn mit feuchten Augen an. Er entdeckte neue Falten in ihrem Gesicht, an die er sich nicht erinnerte. Sie
sah älter aus, erschöpfter. Aber im Unterschied zu ihr sagte er nichts dazu. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, sich umzuziehen oder sich hübsch zu machen. Er fühlte sich noch ganz gerädert von der Nacht in Hedberg.
Anette zog ein Taschentuch aus der Jacke und tupfte sich die Augenwinkel.
»Drei Jahre«, sagte sie. »Drei Jahre ohne unser Mädchen.«
Lelle konnte nur nicken. Er wusste, dass seine Stimme brechen würde. Stattdessen streckte er Thomas die Hand hin, der sich etwas abseits hielt. Eine ganze Menge Leute hatten sich versammelt, aber Lelle sah nur die Umrisse dieser grauen Menschenmasse. Er spürte ihre Blicke, sah aber ihre Gesichter nicht. Er hatte keine Kraft dafür.
Sie zündeten die Fackeln an und verteilten sie. Die Menschenmenge erwachte zum Leben, die Flammen der Fackeln hatten etwas Abschirmendes. Lelles Schultern entspannten sich etwas, sein Brustkorb fühlte sich weiter an. Anette stellte sich auf die Brücke, die zur alten Schule führte, und sagte ein paar Worte mit ihrer hellen Stimme. Lelle hörte ihre Worte nicht, aber ihm gefiel das Vertraute im Klang ihrer Stimme.
Andere Stimmen folgten. Der Ortspolizist Åke Ståål sprach über die Ermittlungen, die noch nicht eingestellt waren, und über die Suche, die niemals aufgegeben werden würde. Dann las eine von Linas Freundinnen ein Gedicht vor. Eine andere sang etwas. Lelle hatte seinen Blick fest auf den Boden geheftet und wünschte sich fort von diesem Ort. Am liebsten hätte er sich ins Auto gesetzt und wäre den Silvervägen auf und ab gefahren, um nach seiner Tochter zu suchen
.
»Lelle?« Anettes Stimme unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Willst du auch ein paar Worte sagen?«
Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, er spürte, dass sein Gesicht wie Feuer brannte. Die Fackel in seiner Hand prasselte, trotzdem konnte er die Schluchzer in der Menge hören. Er räusperte sich, befeuchtete Zunge und Lippen.
»Ich will euch nur allen danken, dass ihr heute gekommen seid. Die drei Jahre ohne Lina sind die schlimmsten meines Lebens gewesen. Und es wird nicht besser. Es wird Zeit, dass wir sie wieder zurückbekommen. Ich brauche meine Tochter.«
Seine Stimme brach, und er senkte wieder den Kopf. Mehr konnte er nicht sagen, mehr gab es nicht zu sagen. Jemand klopfte ihm auf den Rücken, so wie man einem Pferd zur Belohnung den Hals klopft. Lelle sah auf die Schuhe, die neben seinen standen, und erkannte Stååls, diesen alten Taugenichts.
Sie machten sich auf den Weg, in einem langen Zug mit brennenden Fackeln liefen sie zu der Bushaltestelle, an der Lina zum letzten Mal gesehen worden war. Ein Reporter von der Regionalzeitung Norran
war da und machte Fotos. Lelle hielt den Kopf weiterhin gesenkt und hatte seinen Kragen hochgeschlagen. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit und Fliedergeruch. Weiter vorne ging Anette, Thomas hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Alle anderen Teilnehmer nahm er als flach und zweidimensional wahr. Als wären sie nicht wirklich lebendig.
Langsam erreichten sie die kleine Anhöhe, die Bushaltestelle wurde sichtbar, und Lelle spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Ihm wurde schwindlig, er musste sich darauf konzentrieren, die Füße anzuheben und Luft in
seine Lunge zu lassen. Die Hoffnung, dass Lina dort stehen und auf ihn warten würde, meldete sich wie immer und brannte auf seiner Haut.
Er fühlte sich nicht wohl, die Dorfbewohner irritierten ihn. Lelle spürte es am ganzen Körper, konnte es aber nicht in Worte fassen. Er war so wütend. Wie ein Fieber hatte ihn die Wut gepackt, er konnte ihnen nicht in die Augen sehen. Linas Freunde und deren Eltern, Lehrer und Bekannte, Nachbarn und die Nachbarn der Nachbarn. All diese Menschen, die etwas gesehen haben mussten, die etwas wissen mussten. Die unter Umständen sogar etwas damit zu tun hatten. Ganz Glimmersträsk stand unter Verdacht. Bis zu dem Tag, an dem er Lina zurückbekam, würde er jedem Bewohner misstrauen.
Als sie die Bushaltestelle erreicht hatten, war die Wut so groß geworden, dass er die Fackel nicht mehr ruhig halten konnte. Er stellte sich vor, wie er damit über den Köpfen der Neugierigen direkt vor sich hin und her schwang und ihre Gesichter mit dem Feuer versengte. Er konnte ihre Schreie hören. Er senkte den Kopf, sah auf den nassen Asphalt und zählte die Risse darin. Von irgendwo hörte er Anettes Stimme und war erstaunt, wie klar und ruhig sie klang.
Als er es wieder wagte, den Kopf zu heben, sah er, dass sie angefangen hatten, die T-Shirts auszuteilen. So eines hatte auch in Renlunds Wagen gelegen, mit Lina drauf. In dicken, schwarzen Buchstaben stand unter ihrem lächelnden Gesicht: Hast du mich gesehen? Ruf 112 an.
Die graue, gesichtslose Masse griff nach dem weißen Stoff, und kurz darauf lächelte ihn Lina von allen Seiten an. Überall Linas Gesicht, hundertfach. Sie spiegelte sich im rissigen
Glas der Bushaltestelle. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und der schwoll zu. Lelle senkte wieder den Blick. Betrachtete die Schuhe, die sich um ihn drängten. Halbschuhe mit flachen Sohlen, Wanderschuhe, Sneaker in Neonfarben. Was wohl Lina für Schuhe getragen hätte, wenn sie dabei gewesen wäre?
Die Menschenmenge sang und weinte im Chor. Überall hörte er Stimmen, Anettes Gesicht glänzte vor Tränen, aber er sah auch ein Funkeln, eine Art Freude darüber, dass so viele gekommen waren, Freude über die Gemeinschaft. Als Lelle das sah, hatte er sofort einen schlechten Geschmack im Mund, und das Gefühl, dass sie alle nur ihre Zeit verschwendeten. So ging es ihm auch, wenn er sich die Facebook-Einträge durchlas, die gehaltlosen Kommentare, die zu nichts führten. Er konnte nicht anders, er schwenkte die Fackel hoch über den Köpfen der anderen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Es tut gut zu sehen, dass wir so viele sind, die Lina zurückhaben wollen«, sagte er und räusperte sich. »Aber es ist wichtig, dass wir nicht nur zu Hause sitzen und trauern, sondern aktiv draußen nach ihr suchen. Fragen stellen. Antworten finden. Jeden Stein umdrehen und genau nachsehen. Und der Polizei Druck machen, wenn die da nicht ihren Job erledigt.«
Er sah hinüber zu Åke Ståål, dann in die graue Menge, die sehr still geworden war. Die Sonne stand hoch über den Baumwipfeln und brannte, er musste blinzeln, die Augen zukneifen.
»Da draußen ist jemand
, der etwas weiß. Es ist Zeit, sich endlich zu zeigen. Anette und ich haben lange genug gewartet. Wir wollen unsere Lina zurück. Und euch, die
nichts wissen, will ich nur dies eine sagen: Hört auf zu trauern und fangt an zu suchen
.«
Er hielt seine Fackel in eine Pfütze. Sie erlosch mit einem wütenden Zischen. Dann drehte er sich um und ging.
*
Meja trat in die Pedale so fest sie konnte. Sie wollte so schnell wie möglich weg. Torbjörn hatte zwar wieder Frühstück gemacht, aber sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, ohne an die Heftchen im Holzschuppen zu denken. Sein trauriger Gesichtsausdruck bedrückte sie, und sie hatte in der engen Küche kaum Luft bekommen. Stattdessen hatte sie sich eins von den uralten Fahrrädern geschnappt und war gegangen, ohne ein Wort zu sagen.
Die Sonne schien, ohne zu wärmen, sie presste beim Fahren die Lippen aufeinander. Wegen der Mücken. Und war dem Wind dankbar, dass er die kleinen Viecher daran hinderte, sich ihr zu nähern. Es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an, bis sie endlich die ersten Häuser sah. Aber dann wurde die Bebauung dichter, rot bemalte Holzhäuser mit großzügigen Rasengrundstücken und dem Wald im Rücken. Die Hunde bellten ihr aus den Zwingern hinterher, auf grünen Wiesen standen Pferde und verjagten die Fliegen mit ihren peitschenden Schweifen. Der Geruch von Dünger und frischem Laub lag wie eine dünne Decke über allem. Diese ersten Anzeichen von Mitmenschen beruhigten sie ein wenig, und sie wurde langsamer, aber nur ein bisschen. Silje und sie hatten im Laufe der Jahre schon an den unterschiedlichsten Orten gewohnt, aber nichts hatte sich so fremd und anders angefühlt wie alles hier
.
Sie kam auf eine breitere Straße, die an einer Kirche mit angeschlossenem Friedhof vorbeiführte. Die Grabsteine standen im Schatten riesiger Hängebirken. Ein alter, glatzköpfiger Mann harkte die Grünfläche und hob eine Hand zum Gruß, als sie an ihm vorbeiradelte. Ansonsten war alles menschenleer. Die Höfe schlummerten in der Sonne. Kein einziges Auto fuhr vorbei. Glimmersträsk wirkte wie ein Geisterort.
Aber dann hörte sie Stimmen. Ein Gemurmel, das immer lauter wurde, sie hörte Füße, die über den Asphalt schlurften. Meja schob ihr Rad an den Straßenrand, in den Schutz der Bäume. Es sah aus wie eine Demonstration. Die Teilnehmer trugen Fackeln, von denen dünner schwarzer Rauch aufstieg. Es roch nach Feuer. Sie konnte die Wärme spüren, als sie vorbeiliefen. Ohne sich zu rühren, blieb sie zwischen den Bäumen stehen, als wäre sie eins mit ihnen geworden. Das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, brannte auf den Wangen, sie wollte auf keinen Fall entdeckt werden. Die Menschen waren alt und jung, Männer und Frauen, und sie sahen alle sehr ernst aus. Da herrschte keine Partystimmung. Ganz im Gegenteil, einige von ihnen weinten und stützten einander. Meja hielt den Atem an.
»So wie die sich aufführen, könnte man meinen, dass sie ein Rockstar war oder so.«
Meja zuckte zusammen und ließ das Rad los. Es fiel mit einem leisen Scheppern zu Boden.
Sie sah ein Mädchen, das mit dem Rücken gegen einen großen Stein gelehnt im Gebüsch saß. Sie war in ihrem Alter, hatte rosa gefärbtes Haar und große Holzsplitter als Ohrringe. Sie rauchte eine lieblos gerollte Zigarette und sah Meja aus Augen mit dunklen Make-up-Rändern an
.
»Um wen geht es denn?«
»Lina Gustafsson. Ihretwegen machen sie diesen Aufmarsch.«
Meja sah dem Fackelzug hinterher. Dann hob sie ihr Fahrrad wieder auf.
»Ist sie tot, oder wie?«
»Wahrscheinlich, aber das weiß niemand so genau.« Das Mädchen spuckte auf den Boden. »Um in diesem Scheißloch heiliggesprochen zu werden, muss man nur spurlos verschwinden. Dann flippen alle aus, und sie streiten, wer dich am meisten geliebt hat.«
Meja wischte die Tannennadeln vom Sattel. Wie ein brennender Wurm schob sich die Menge den kleinen Hügel hinauf. Wo der Zug wohl enden würde?
»Wie heißt du?«, fragte das Mädchen, nachdem sie einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette genommen hatte.
»Meja, und du?«
»Ich werde Krähe genannt.«
»Krähe?«
»Hm.«
Ein Lächeln umspielte für einen kurzen Moment ihre Lippen, verweilte aber nicht. Krähe hielt Meja ihre Zigarette hin.
»Willst du mal ziehen?«
»Ich habe aufgehört.«
Krähe neigte den Kopf zur Seite. Ihre Augen leuchteten mit dem Himmel um die Wette.
»Du kommst aus Südschweden.«
»Hm.«
»Und was machst du hier?«
»Ich bin gerade mit meiner Mutter hierhergezogen.
«
»Und warum das?«
Meja zögerte, spürte wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
»Ihr Typ lebt hier.«
»Und wie heißt dieser Typ?«
»Torbjörn. Torbjörn Fors.«
Krähe lachte schallend und gab den Blick auf eine durchsichtige Zahnspange frei.
»Machst du Witze? Deine Mutter ist mit Pornobjörn zusammen?«
»Pornobjörn?«
»Ja, so wird er genannt, weil er die größte Pornosammlung von ganz Norrland besitzt. Er macht praktisch nichts anderes. Alle Jungs aus dem Ort stehen vor seinem Fenster und spannen.«
Meja umklammerte das Lenkrad, ihre Hände taten weh. Sie spürte, wie ihr die Scham den Hals zuschnürte. Krähe grinste triumphierend.
»Bist du sicher, dass du nicht mal ziehen willst? Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«
Meja schüttelte sich, sodass ihr die Haare ins Gesicht fielen. Sie konnte das Klicken eines Feuerzeugs hören. Als es nicht funktionierte, warf Krähe es hinter sich ins Gebüsch und fluchte, was in der Stille komisch klang. Meja schluckte den Klumpen im Hals hinunter.
»Warum bist du beim Fackelzug nicht dabei?«, fragte sie.
»Weil ich nicht so ein scheißverlogener Mensch bin. Ich habe nicht vor, so zu tun, als würde ich jemanden vermissen, den ich nie leiden konnte. Ich konnte Lina nicht leiden, bevor sie verschwunden ist, warum sollte ich also jetzt damit anfangen?
«
»Und warum konntest du sie nicht leiden?«
Krähe starrte ihre Nägel an. Sie waren kurzgeschnitten und schwarz lackiert, zwischen den Knöcheln hatte sie kleine tätowierte Symbole. Meja stand zu weit weg, um sie genauer erkennen zu können.
»Lina hatte kein Problem damit, sich das zu nehmen, was ihr nicht gehörte. Wenn du verstehst, was ich meine …«
Meja nickte, als hätte sie verstanden. Dann schob sie ihr Rad aus dem Schutz der Birken zurück auf die Straße. Der Fackelzug war hinter der Anhöhe verschwunden, nur die Stimmen und der Geruch von Feuer hingen noch in der Luft.
»Ich muss los. War nett, dich kennenzulernen.«
Krähe salutierte und machte einen Schmollmund.
»Grüß Pornobjörn von mir!«, rief sie Meja hinterher.
*
Das Schlimmste war, dass er sich nicht mehr an alles erinnern konnte. Die Zeit unmittelbar nach Linas Verschwinden bestand nur aus Fragmenten: die Polizisten, die bei ihnen im Flur gestanden hatten und ihre Jacken nicht ausziehen wollten, Anettes verzerrtes Gesicht, das Klingeln des Telefons, das jedes Mal sein Herz zum Stillstand gebracht hatte. Die vielen nichtssagenden Gesichter, die ihm hinterherstarrten.
Er war sofort aufgebrochen. War die Straße bis nach Arjeplog hochgefahren. Bei einem Holzschlag hatten etwa zwanzig Jugendliche gestanden, die sich in der Morgendämmerung zum Anpflanzen eines neuen Waldes versammelt
hatten. Sie standen im Kreis mit kleinen Pflanzen und Pflanzrohren in den Händen. Er war auf sie zugestürmt, hatte sich in die Mitte des Kreises gestellt und sich einmal um die eigene Achse gedreht und jeden Einzelnen genau gemustert, um sich zu vergewissern, dass sie nicht darunter war.
»Ich suche meine Tochter, sie wollte mit euch zusammen den Wald aufforsten.«
Es roch nach Mückenmittel und Wald, er konnte sich nicht erinnern, ob einer von ihnen etwas gesagt hatte, nur daran, dass er sich in einen schwarzen Jeep setzen sollte und einen Becher Kaffee aus einer Thermoskanne bekam. Der Leiter der Aufforstungsaktion hatte darauf bestanden, dass er sich kurz ausruhte. Er sprach Finnlandschwedisch und ließ Lelle sogar im Auto rauchen.
»Sie können doch den Jugendlichen nicht so eine Angst einjagen. Sonst wollen sie nicht mehr wiederkommen und hier mithelfen.«
Er hatte ihm versprochen, sich sofort zu melden, wenn sie auftauchen sollte. Falls sie auftauchte.
Der erste Sommer war nur Chaos. Im Flur stapelten sich die dreckigen, waldigen Schuhe. Die ungeöffnete Post. Im ersten Stock lag Anette neben ihren Tablettenpackungen und schlief so tief, dass man sie nicht wecken konnte. Dafür war er eigentlich dankbar, denn so entkam er ihren Vorwürfen und Tränen. Aber es machte ihm auch Angst, dass sie so lange ausgeschaltet war. Die Tabletten stellten sich wie eine undurchdringliche Wand zwischen sie. Er soff. Bekam eine Durchwahl zur Dienststelle der Polizei und wählte sie sehr regelmäßig. Er ertrug seine zitternde Stimme im lokalen Radiosender, mit der er die
Bevölkerung um Hinweise und Hilfe bat. Und es hatte Hinweise gegeben, von allen Seiten. Die Leute behaupteten, Lina in anderen Autos und am Wegesrand gesehen zu haben, auf einer Fähre nach Dänemark und an einem Strand in Phuket. Sie wurde überall gesehen. Und doch war sie nirgends zu finden.
Lelle nahm die Abkürzung durch den Wald. Die Fackel hielt er dicht an seinen Körper gepresst. Er hatte keinen sicheren Tritt auf dem moosigen Untergrund. Der Boden unter ihm war feucht, als würde er ihn einsaugen wollen. Sein Handy vibrierte in der Brusttasche, aber er ließ es vibrieren. Ihm war nicht danach, sich Anettes Enttäuschung anzuhören. Er hatte mit seiner eigenen genug zu tun. Der Durst brannte in seiner Kehle, und er dachte an seinen Laphroaig. Gleich würde er sich zwei Schlucke Whisky gönnen, zwei richtig amtliche Schlucke, damit er diesen bescheuerten Fackelzug hinter sich lassen und einen neuen Anlauf machen konnte. Er spürte die Blicke der anderen Dorfbewohner im Nacken, während er durchs Dickicht stapfte, spürte, wie ihre stummen Schuldzuweisungen ihn nur weiter anstachelten.
Seine dreckigen Schuhe ließ er einfach an und trampelte direkt ins Wohnzimmer. Dort holte er die Whiskyflasche und nahm einen großen Schluck, der ihm fast den Magen umdrehte. Er presste sich den Handrücken gegen den Mund und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Als hätte seine Kehle Feuer gefangen, als würde er von innen verbrennen. Er stellte die Flasche weg und fluchte laut. Nicht einmal der Alkohol war noch auf seiner Seite.
Ein dumpfes Geräusch aus dem ersten Stock ließ ihn
zusammenfahren. Er legte den Kopf in den Nacken und sah hoch an die rissige Decke. Hielt den Atem an und lauschte mit dem ganzen Körper, bis es in jedem Muskel wehtat. Da war es wieder. Wie Schritte. Es kam aus Linas Zimmer.
Er sprang die Treppe hoch, drei Stufen auf einmal, stolperte aber auf dem Treppenabsatz, stürzte, fing sich mit den Armen auf, spürte Blutgeschmack im Mund. Auf allen vieren krabbelte er weiter zu Linas Zimmer und stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Der Wind zerrte an den Gardinen und riss an Linas Postern. Der Schockzustand hielt ein paar Sekunden an. Dieses Fenster war seit drei Jahren nicht geöffnet worden. Er hatte eine große Sache daraus gemacht, nicht zu lüften. Um seine Tochter länger bei sich behalten zu können.
Er lehnte sich über das Fensterbrett und sah hinunter auf das Verandadach. Man konnte bis zur Regenrinne rutschen und mit einem einfachen Sprung im Fliederbusch landen. Er hatte Lina mehr als einmal auf frischer Tat ertappt, als sie sich nachts aus dem Haus schleichen wollte. Sein Blick wanderte über den Garten, in dem der Apfelbaum bis auf Kniehöhe im versumpften Rasen versunken war. Rechts davon die Hecke, die ihm die Nachbarn vom Leib halten sollte, und am hinteren Ende des Grundstücks der zugewucherte Waldrand. Der Wind zerrte und rupfte an allen Pflanzen, es sah aus, als würde sich alles bewegen. Vielleicht entdeckte er es deshalb. Ein regloses Bündel, dass sich in der Fliederlaube versteckte.
Ohne nachzudenken schwang Lelle erst das eine Bein über das Fensterbrett, dann das zweite. Rutschte unbeholfen über die rauen Dachschindeln, bis seine Füße die
Regenrinne berührten. Dort verweilte er ein paar schwindelerregende Atemzüge lang, bevor er losließ und sprang. Es knackte und knirschte ungesund in den Knöcheln, als er landete, aber er konnte alles problemlos bewegen, als er auf die Laube zulief.
Das Bündel war aufgesprungen und losgerannt. Das dunkle Haar flog in den grauen Himmel, die langen, dünnen Beine stolperten durch das hohe Gras. Lelles Herz raste, als er hinterherhetzte.
»Du kannst stehen bleiben, ich habe dich doch schon gesehen!«
Der junge Mann hatte sich verletzt und schaffte es nur bis zum Waldrand, bevor er hinfiel und liegenblieb. Sekunden später war Lelle bei ihm. Er packte ihn von hinten an den verschwitzten Haaren und drehte das blasse Gesicht zu sich um.
»Was zum Teufel tust du hier?«
Mikael Wolf wimmerte. Sein verzerrtes Gesicht war von Tränen gezeichnet.
»Lass mich los, Lelle bitte.«
*
Als Meja auf den Hof zurückkam, hatte Silje ihre Staffelei vor dem Wald aufgebaut. Sie trug keinen Faden am Körper und stand so, dass man sie vom Küchenfenster aus problemlos sehen konnte. Die blassen Pobacken leuchteten in der Sonne. Meja sah, wie stark Torbjörn in seinem Shirt schwitzte.
»Deine Mutter sieht aus wie eine von diesen griechischen Statuen.
«
Meja versteckte ihr Gesicht hinter den Händen. Sie pustete kleine Wellen auf den Kaffee und ignorierte Silje einfach.
»Ich bin heute früh mit dem Rad ins Dorf gefahren.«
»Aha?«
»Da war ein Haufen Leute, die haben so einen Fackelzug für ein verschwundenes Mädchen veranstaltet.«
Torbjörn holte eine Bierdose aus dem Kühlschrank und drückte sie sich gegen Wangen und Hals.
»Dann weißt du jetzt über das größte Mysterium unserer Dorfgemeinschaft Bescheid. Es ist schon mehrere Jahre her, aber die Leute haben sich davon bis heute nicht erholt. Niemand hat sie vergessen.«
»Was ist ihr denn passiert, was glaubst du?«
»Keine Ahnung.«
Torbjörn öffnete das Bier. Drehte sich um und suchte ein sauberes Glas. Das schmutzige Geschirr stapelte sich in der Spüle. Siljes Lippenstift grinste sie von allen Weingläsern an. Sie hatte die Hausfrauenscharade schon längst aufgegeben. Aber Torbjörn sollte keinen Grund zur Klage haben, nicht solange sie nackt herumrannte.
Er gab seine Suche auf und trank aus der Dose, als wäre es Wasser. Unterdrückte auch den Rülpser nicht.
»Sie sagen, dass sie an dem Morgen mit dem Bus fahren wollte und dass sie verschwand, während sie auf ihn wartete. Aber das stimmt nicht.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich da war! Ich hatte zu dem Zeitpunkt einen Volvo, der immer Ärger gemacht hat, ich musste an dem Tag den Bus nehmen. Das war die Hölle. Und dann war die Polizei hinter mir her und hat mich ewig verhört. Die
haben meinen ganzen Hof auf den Kopf gestellt, obwohl ich das arme Ding nicht einmal gesehen hatte. Auch der Busfahrer nicht. Ich glaube ja, dass sie überhaupt nicht da war.«
Er trank sein Bier aus, zerdrückte die Dose in der Hand und warf sie dann weg. Meja bekam eine Gänsehaut, obwohl es so warm war.
»Dann haben Sie dich
verdächtigt?«
»Die haben das gesamte Dorf verdächtigt! Ich war da keine Ausnahme. Aber es wird leider nicht besser, obwohl es schon so lange her ist.«
Silje hatte angefangen zu singen, forderte ungeteilte Aufmerksamkeit ein. Meja sah durch den Gardinenstoff, wie sie sich verführerisch bückte, um nach der Weinflasche zu greifen. Sie füllte das Glas bis zum Rand und legte den Pinsel auf die Schulter, während sie trank. Torbjörn bekam ganz glänzende Augen. Meja musste an die Fotos im Schuppen denken und fragte sich, ob er sie gemacht hatte.
»Glaubst du, dass sie abgehauen ist?«, fragte sie. »Oder hat sie jemand umgebracht?«
»Mich würde es nicht wundern, wenn ihr Vater was damit zu tun hätte. Alle wissen, dass Lelle Gustafsson eine kurze Lunte hat. Er wurde aus der Jagdgruppe rausgeschmissen, weil er immer Streit angefangen hat. Vielleicht ist er ja sauer auf die Kleine gewesen. Und hat die Kontrolle über sich verloren. Und später, als er wieder zu sich gekommen ist, hat er versucht, alles zu vertuschen. Das glaube ich.«
Torbjörn zog sich das Shirt aus und trocknete sich mit dem grauen Stoff die Achseln
.
»Ich finde, wir sollten zu deiner Mutter nach draußen in die Sonne gehen. Es führt zu nichts, hier drinzusitzen und zu grübeln.«
*
Mikael Wolf saß in Lelles Küche und schwitzte. Seinen verletzten Fuß hatte er auf einen Stuhl gelegt. Sein gräuliches Gesicht zuckte unkontrolliert. Lelle konnte nicht sehen, ob er getrunken oder Drogen genommen hatte, aber er stolperte über seine Worte, und die Pupillen waren klein und schmal wie bei einem Raubtier.
»Warum bist du in mein Haus eingebrochen?«
»Ich bin nicht eingebrochen. Die Tür stand offen.«
»Was hast du in Linas Zimmer gemacht?«
Der Wolf kaute auf seinem Nagel. Sein Blick flackerte unruhig hin und her.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«
Lelle schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. So fest, dass das Geschirr im Küchenschrank klimperte.
»Du solltest endlich reden, denn ich werde dich nirgendwohin gehen lassen, bis das hier nicht geklärt ist.«
Mikke Wolf verzog das Gesicht. »Mein Fuß tut tierisch weh.«
»Das ist mir scheißegal. Wenn du mein Haus lebend verlassen willst, fängst du am besten an zu reden. Was hast du in Linas Zimmer gemacht?«
»Ich wollte ihr nah sein.«
»Du wolltest ihr nah sein, indem du in mein Haus einbrichst?
«
Stumme Tränen liefen über seine schmutzigen Wangen, aber der Wolf wischte sie nicht weg.
»Du bist nicht der Einzige, der sie vermisst. Ich denke jede Minute an Lina. Ich wusste, dass du bei dem bescheuerten Fackelzug mitmachst, das war meine Chance, ihr nah zu sein. Ich wollte nur in ihrem Zimmer sein, an ihrer Kleidung riechen.«
Lelle hielt eine Hand in die Luft.
»Nur damit ich das hier richtig verstehe: Für deine verschwundene Freundin wird ein Fackelzug organisiert und du entscheidest dich dafür, nicht mitzumachen?
«
»Es fühlt sich nicht gut an, bei so etwas mitzumachen, wenn einen alle komisch anstarren.«
»Ich habe nicht vor, Mitleid mit dir zu haben.«
Die Tränen liefen unaufhörlich, aber das schien der Wolf nicht zu bemerken. Sein T-Shirt war nass und ganz grün vom Rasen, es klebte wie eine zweite Haut an seinem sehnigen Körper. Die Haut an seinem Kiefer war gespannt, als wäre sie zu eng. Der Junge hatte ziemlich abgenommen, seit er das letzte Mal mit Lina in der Küche gesessen hatte. Damals hatte er Muskeln am Körper und ein Lachen, das das ganze Haus erfüllte. Anette hatte sein Lachen geliebt.
Lelle lehnte sich über den Tisch, kam ihm so nah, dass er seine Angst riechen konnte.
»Leer deine Taschen aus!«
Mikke Wolfs Angst wuchs.
»Warum? Ich habe nichts gestohlen.«
»Steh auf und leer deine Taschen, bevor ich dir auch den anderen Knöchel breche.«
Die Augen Wolfs zuckten, aber er zögerte. Erst als Lelle ihm drohend näher kam, hatte er es plötzlich eilig und
leerte seine Hosentaschen mit zitternden Händen. Er legte ein iPhone mit zersprungenem Display, ein Portemonnaie aus schwarzem Leder und ein Taschenmesser auf die Tischplatte.
Lelle nahm das Portemonnaie und durchsuchte es. Fünfzig Kronen, EC-Karte und zwei abgewetzte Fotos von Lina. Auf dem einen war nur ihr Gesicht abgebildet. Sie sah geheimnisvoll in die Kamera und lächelte mit geschlossenen Lippen. Auf dem anderen Foto lag sie ausgestreckt auf einem Bett, splitterfasernackt bis auf die Unterhose. Sie hatte ihr Gesicht weggedreht, ein paar Haarsträhnen lagen auf ihrer Brust. Lelle bekam keine Luft mehr und schlug instinktiv zu, verpasste dem Wolf eine Ohrfeige, die den Jungen nach hinten warf.
»Was sind das für widerliche Fotos?«
»Das sind meine Fotos. Ich habe sie gemacht.«
»Du hast sie gemacht.
Das glaube ich dir sofort. Was ich wissen will, ist, ob Lina wusste, dass du Nacktfotos von ihr gemacht hast? Wusste sie das?«
Lelle baute sich vor ihm auf. Sah, wie sich der Wolf im Stuhl zusammenkrümmte und sich hinter seinen Händen verbarg.
»Ja, natürlich wusste sie das! Wir haben das doch zusammen gemacht. Wir haben gegenseitig Fotos von uns gemacht. Daran war auch nichts Komisches.«
Lelles Wut versetzte den ganzen Raum in Schwingungen. Er nahm das Foto von der nackten Lina und riss es mit zitternden Fingern in kleine Streifen. Ließ sie auf den Tisch rieseln. Dann wandte er sich dem Wolf zu und zog ihn vom Stuhl.
»Hau ab, bevor ich dich totschlage!«
*
Zwei Nächte ohne Carl-Johan. Nachdem Torbjörn und Silje eingeschlafen waren, hatte sich Meja auf die Veranda gesetzt und gewartet und gehofft. Sie hatte ihre Füße auf das raue Fell des Hundes gelegt und Siljes Wein getrunken, nicht um betrunken zu werden, sondern um alles zum Verstummen zu bringen, was an ihr zerrte. Um die Einsamkeit auf Abstand zu halten. Sie zündete sich eine Zigarette an. Der Hund sah sie vorwurfsvoll an, fand sie.
»Das ist doch jetzt sowieso egal!«, sagte sie. »Der kommt nicht mehr wieder.«
Aber in dieser Nacht kam er. Der Hund hörte ihn zuerst, rannte ans Ende seiner Kette und wedelte mit seinem ganzen mageren Körper. Sie sah ihn aus dem Wald kommen und spürte das Flattern im Bauch. Schnell drückte sie die Zigarette aus und schüttete den Rest Wein ins Beet.
Er sah sie mit dem Lächeln an, das alles in ihr in Schwingungen versetzte.
»Wartest du auf mich?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Er umarmte sie und verlor kein Wort über den Zigarettenrauch.
»Wollen wir runter zum See?«
Meja nickte. Sie ließen den Hund an der Kette und rannten in den Wald, den kleinen Pfad entlang, wo dicke Wurzeln wie Kämme aus dem Boden ragten, und die Zweige nach ihnen griffen. Er nahm ihre Hand, sie lächelte seinen Rücken an, während sie sich anstrengen musste, mit ihm Schritt zu halten. Ihre Ausgelassenheit eiferte mit dem Rauschen des Waldes um die Wette
.
Am See angekommen führte er sie auf einen der Felsen, die weit ins Wasser ragten.
Kleine Wellen schlugen gegen den Stein, und die Luft war kühl, obwohl die Sonne schien. Carl-Johan legte seinen Arm um sie. Er roch ein bisschen nach Scheune und Stall.
»Ich dachte schon, du hast mich vergessen«, sagte sie.
»Dich vergessen?« Er lachte. »Niemals.«
»Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du vorbeikommst.«
»Wir hatten so irre viel zu tun auf dem Hof. Ich konnte einfach nicht weg.«
Sie sah auf seine Hände, die voller roter Flecken und Schwielen waren. Er war noch viel zu jung, um schon solche Hände zu haben.
»Ich habe ja noch nicht einmal deine Nummer, sonst hätte ich dir eine Nachricht geschickt.«
»Ich habe kein Handy.«
»Und warum nicht?«
»Mein Vater hält nichts von moderner Technik.«
Das Wasser gluckste an ihren Füßen. Meja konnte sich nicht vorstellen, wie er es schaffte, ohne Handy zu überleben, wagte es aber nicht, ihn zu fragen. Es schien ihm unangenehm zu sein, als würde er sich dafür schämen. Vielleicht war seine Familie arm, und sie hatten kein Geld für Handys. Sie kannte das, erinnerte sich noch sehr gut an diese dunklen Zeiten, in denen das ganze Geld für etwas anderes ausgegeben wurde. Von Silje. Für Alkohol und Tabletten.
»Und wo sind deine Brüder heute Nacht?«, fragte sie stattdessen
.
»Die durften mal wieder zu Hause bleiben«, sagte er lächelnd. »Ich wollte mit dir alleine sein.«
Ihr wurde ganz schwindlig, sie sah auf die Wellen, die sich im Takt mit ihrem Inneren bewegten. Der kühle Wind trug auch den Geruch von Tannenzapfen mit sich, aber sie fror nicht mehr. Carl-Johan legte seine Wange an ihren Kopf.
»Aber Göran würde gerne wissen, ob du eine Schwester hast«, sagte er.
Meja grinste.
»Ich habe keine Geschwister, zumindest weiß ich davon nichts.«
»Das muss ganz schön einsam sein, so aufzuwachsen.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Und dein Vater? Wo ist der?«
Meja musste schlucken, das schöne Kribbeln im Bauch wurde von einem dumpfen Ziehen ersetzt.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Er ist vor meiner Geburt abgehauen. Ich habe ihn nie kennengelernt.«
»Das tut mir leid.«
»Es fällt mir schwer, um etwas zu trauern, das ich nie gehabt habe.«
»Du bist ganz schön stark«, sagte Carl-Johan, »das kann ich dir ansehen. Ich könnte damit nicht umgehen – ohne meine Familie wäre ich nichts.«
Er strich ihr mit den Fingerspitzen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Blinzelte sie unter weißblonden Wimpern an. Meja hörte auf zu atmen, auch das Plätschern der Wellen und das hysterische Surren der Mücken waren verstummt. Sie sah nur, wie er nach ihnen schlug.
»Wollen wir schwimmen gehen?
«
Das taten sie, obwohl das Wasser so kalt war, dass Beine und Arme ganz taub wurden und ihre Zähne laut klapperten. Sie konnte die blauen Adern unter seiner Haut sehen, die Muskeln an seinen Schultern, als er schwamm. Sie hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Der See war flach, der Grund weich, er gab nach, wenn man die Füße aufstellte. Carl-Johan drehte sich um und lockte sie, ihm bis in die Mitte des Sees zu folgen, wo sich ein Ring aus Steinen befand. Sie schämte sich, dass sie so schlecht schwimmen konnte, und als sie einen kleinen Fischschwarm wie eine kalte Berührung am Oberschenkel spürte, drehte sie auf der Stelle wieder um.
»Ich friere.«
Carl-Johan hatte Handtücher dabei. Meja schlug ihre klitschnassen Haare darin ein und beobachtete ihn, während er ein Feuer machte. Seine Bewegungen waren unverkrampft und natürlich. Wie er die Zweige und die Rinde abriss. Er hielt die Äste vors Knie und zerbrach sie mit Leichtigkeit. Seine rauen Hände konnten alles anfassen, ohne zu bluten. Ihre Hände und Schienbeine hingegen wurden von den Flechten und Sträuchern zerkratzt, sie waren übersät mit kleinen, blutigen Wunden, die juckten und brannten.
»Ich gehöre hier einfach nicht hin«, sagte sie, als das Feuer hoch in den Himmel prasselte. »Ich fühle mich total falsch hier.«
Carl-Johan nahm ihre Hand und berührte ihre blutigen Kratzer darauf mit seinen Lippen. Ein Blitz durchfuhr sie, und eine Gänsehaut bedeckte ihren ganzen Körper.
»Ich werde dir alles beibringen, was ich weiß«, sagte er und lehnte seine Stirn an ihre. »Und wenn ich damit fertig
bin, dann wirst du dich in der Wildnis verdammt gut auskennen.«
Seine Worte kitzelten an ihrem Ohr. Seine Augen waren ganz nah, sie sah auf seinen Mund, forderte ihn mit ihrem Blick auf, sie zu küssen. Als er sich ihr endlich näherte, forschte sie unter fast geschlossenen Augenlidern nach, ob er seine Augen schloss. Silje hatte immer gesagt, dass man einem Typen, der mit offenen Augen küsste, nicht über den Weg trauen konnte. »Wenn er die Augen nicht zumacht, kann man gleich seine Sachen packen und abhauen.«
Aber Carl-Johan schloss die Augen.
*
Die Nacht atmete tief und gleichmäßig. Ihr feuchter Atem sickerte zwischen den Baumstämmen zu Boden. Sie hauchte Nebelschwaden über die Seen und Wasserläufe und brachte sie zum Tanzen. Sie war undurchdringlich. Lelle lehnte sich gegen die Motorhaube und füllte seine Lunge mit Tabak und Luftfeuchtigkeit. Die Scheinwerfer schafften nur ein paar Meter durch die dichte Nebelwand. Wie eine Todesfalle lag der Weg vor ihm, verlassen und abwartend. Eine ganze Nacht des Suchens würde verloren gehen.
Hinter seinem Wagen hielt ein anderer. Die grellen Polizeifarben leuchteten durch den Dunst. Lelle drehte ihm den Rücken zu, hörte das Echo der schlagenden Autotür.
»Verdammt nochmal, Lelle, du kannst bei so einem Wetter doch nicht durch die Gegend fahren.«
»Sieht es etwa so aus, als würde ich fahren?«
Er sah Hassans Umrisse nur verschwommen, auch er
verwandelte sich im Nebel, schrumpfte. In seiner Hand glänzte eine Thermoskanne, als er auf Lelle zukam. Er lehnte sich neben ihn gegen die Motorhaube, schraubte den Deckel ab und schenkte ein. Schenkte der Nacht noch mehr Dunst und Dampf.
»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Hassan und reichte Lelle den Becher.
»Und was soll ich zu Hause machen?«
»Dich ausruhen. Essen. Duschen. Netflix. Dinge, die normale Menschen so machen.«
»Ich habe keine Ruhe.«
Lelle nahm einen Schluck, spuckte ihn aber sofort wieder aus.
»Was ist das denn für ein Scheiß?«
»Das ist weißer Tee. Aus China. Soll super sein fürs Blut.«
»Widerlich.«
Lelle gab ihm den Becher zurück und spuckte kleine Blättchen aus, die noch auf seiner Zunge klebten. Hassan gluckste, nahm mehrere Schlucke und genoss diese betont übertrieben. Lelle steckte sich eine feuchte Zigarette in den Mund. Sie zischte beim Anzünden. Er war froh, ein bisschen Gesellschaft zu haben, obwohl er das niemals zugegeben hätte.
»Gestern ist Mikael Wolf bei mir eingebrochen. Während wir auf dem Fackelzug waren.«
»Du machst Witze!?«
»Als ich nach Hause kam, habe ich ihn in der Laube entdeckt. Er war aus Linas Fenster gesprungen und hatte sich den Fuß verstaucht.«
»Warum hast du mich nicht angerufen?
«
»Ich habe mich selbst darum gekümmert.«
Hassan schraubte den Deckel wieder auf die Kanne und seufzte.
»Kann ich es wagen zu fragen, was du mit ihm gemacht hast«?
»Nun ja, ich habe ihm nicht Großmutters Saft angeboten, wenn du das dachtest. Aber ich habe ihn gehen lassen.«
»Hat er versucht, etwas zu stehlen?«
»Nee.«
Lelle sah auf die Zigarettenglut zwischen seinen Fingern. Erinnerte sich an Mikke Wolfs gehetzten Blick, seine eingefallenen Wangen. Die nicht enden wollenden Tränen.
»Er hatte ein Foto von Lina in seinem Portemonnaie. Ein Nacktbild.«
»Aus der Zeit, als sie ein Paar waren?«
»Vermutlich.«
Hassan atmete den Nebel ein, sagte aber nichts. Lelle trat die Zigarette im Gebüsch aus. Ihm wurde schlecht. Er wischte sich die Feuchtigkeit mit dem Jackenärmel aus dem Gesicht. Hatte auf einmal das Gefühl, dass die ganze Welt weinte, dass alles undicht war und auszulaufen drohte.
»Du bist doch Gymnasiallehrer«, sagte Hassan. »Du weißt, wie die Jugendlichen heute mit solchen Fotos umgehen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Wir sehen das die ganze Zeit. Eltern, die Anzeige erstatten. Fotos, die über die sozialen Kanäle geteilt werden und manchmal in die falschen Hände geraten. Die Jugend von heute liebt es, mit solchen Dingen zu experimentieren und Risiken einzugehen.
«
»Ich weiß. Aber ich traue diesem Wolf nicht. Der Junge hat in den letzten Jahren mehr Gewicht verloren als ich.«
»Vielleicht vermisst er sie auch.«
»Vielleicht. Oder sein schlechtes Gewissen nagt an ihm.«
Hassan stand auf, Lelle spürte, wie der Wagen nachfederte.
»Willst du, dass ich mal ein Wort mit ihm rede?«
»Nein, lass ihn in Ruhe. Früher oder später wird er einen Fehler begehen.«
*
Carl-Johan wollte gerne sehen, wo sie wohnte. Meja starrte auf die Auffahrt und versuchte, die Nervosität zu bekämpfen, die in ihrem Magen wuchs.
»Kannst du dir bitte was Ordentliches anziehen!«, sagte sie zu Silje, die nur in Unterwäsche im Wohnzimmer herumrannte.
Überrascht sah Silje an sich herunter, auf die unförmige Unterhose und den roten Polyester-BH.
»Du weißt doch, wie das ist, wenn ich male. Ich sehe nur Farben!«, sagte sie und verschwand in ihrem Zimmer. Als sie wieder herauskam, trug sie einen purpurnen Seidenkimono und hatte sich die Haare zu einem wilden Dutt hochgesteckt. Ihr Hals war voll roter Farbe, und ihre Augen hatten diesen Blick, der bedeutete, dass sie vollkommen unberechenbar war.
Sie hörten die Reifen auf dem Kies, bevor sie den Wagen sehen konnten.
»Fährt er schon Auto? Wie alt ist er eigentlich?«
»Neunzehn.
«
»Birgers Junge fährt bestimmt schon, seit er zwölf ist«, sagte Torbjörn von seinem Platz am Küchentisch. »Das ist in dieser Gegend hier nichts Ungewöhnliches.«
Silje glättete den Stoff ihres Kimonos.
»Was für ein hübscher Kerl!«, rief sie, als Carl-Johan aus dem Wagen stieg. »Ich wusste ja gar nicht, dass du so oberflächlich bist, Meja!«
Er übergab ihr einen Strauß Margeriten, die schon anfingen, ihre Köpfe hängen zu lassen, und sie umarmte ihn unbeholfen zur Begrüßung. Seine Haare waren noch nass, und er roch nach Shampoo. Er hatte das Hemd bis obenhin zugeknöpft. Er war kein kleiner Junge, sondern ein Mann. Das konnte Meja an Siljes Reaktion ablesen, als sie in die Küche kamen. Sie war beeindruckt. Die Flüssigkeit aus seinem Kautabak lief Torbjörn aus dem Mundwinkel, als er ihn begrüßte. Er fragte Carl-Johan, wie es Birger ging und stellte Silje als seine neue Freundin vor. Die warf den Kopf in den Nacken, als sie lachte und gab den Blick auf das glänzende Amalgam frei. Sie hatte zwar schon etwas getrunken, war aber ganz klar. Ungeniert wanderten ihre Blicke über Carl-Johans Körper, von den Zehenspitzen bis zum Scheitel.
»Ihr trinkt doch bestimmt einen Kaffee mit?«
»Nein, wir gehen hoch in mein Zimmer.«
Carl-Johans Hand war kalt und feucht, als sie ihn die Treppe hinauf hinter sich herzog. Sie ließ ihn erst los, als sie in ihrem Dreieckszimmer standen.
»Ich entschuldige mich für meine Mutter, sie ist nicht nüchtern.«
»Ich fand sie ganz nett.«
Carl-Johan musste sich wegen der Dachbalken bücken.
Er sah sich im Zimmer um, als würde er etwas suchen. Wanderte mit seinen Eiswasseraugen über die leeren Wände und blieb schließlich an ihrem Rucksack hängen, der aufgeklappt auf dem Boden lag. Alles, was sie besaß. Meja stand verlegen neben ihm.
»Hier wohnst du also.«
»Ja, aber nur vorübergehend. Ich werde hier nicht bleiben.«
»Nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich werde im Herbst achtzehn, dann werde ich wieder in den Süden ziehen.«
Carl-Johan griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich.
»Aber ich will nicht, dass du wieder weggehst, wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.«
Er strich ihr Haar zur Seite und küsste die Stelle unterm Ohr. Wanderte mit den Fingern über ihr Schlüsselbein und murmelte, dass sie doch nicht gehen könne, bevor sie nicht alles gesehen habe. Dann drückte er seine Lippen auf ihre, und kurz darauf lag sie unter ihm auf dem knarrenden Bett. Er war schwer und erregt, seine Hände glitten unter ihren Pullover. Meja schob ihn von sich und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Sie hätte gerne gewusst, ob er schon mit vielen Mädchen geschlafen hatte, wollte ihn aber nicht fragen. Das Hemd fiel auf den Boden, zusammen mit ihrem Pullover. Sie waren nur noch Lippen und warme Haut. In Mejas Ohren rauschte es. Ihre Finger krallten sich in seine Schultern, sie wollte ihn nie wieder loslassen. Sie ließen erst voneinander ab, als sie Siljes Lachen aus dem Wohnzimmer hörten. Carl-Johans Gesicht war ganz rosig geworden
.
»Hat Torbjörn was über mich gesagt? Oder über meine Familie?«
Meja zögerte, ihre Lippen waren geschwollen.
»Nur dass ihr so eine Art Hippies seid.«
»Hippies?«
»Ja, dass ihr in und von der Natur lebt. So wie man das früher gemacht hat.«
Sie konnte alle seine Zähne sehen, als er lachte. Seine Hand lag auf ihrer Brust, auf ihrem Herzen.
»Wollen wir zu mir nach Hause fahren? Meine Eltern wollen dich auch gerne kennenlernen.«
»Hast du ihnen was über mich erzählt?«
»Ja, natürlich.«
»Und was hast du gesagt?«
»Nichts Besonderes. Nur, dass du der wunderbarste Mensch bist, dem ich je begegnet bin.«
Es rauschte in ihrem Kopf, als hätte sie einen ganzen Wald darin. Carl-Johan lehnte seine Stirn an ihre und lächelte sie an.
»Was meinst du? Wollen wir fahren?«
Mejas Zunge gehorchte ihr nicht, ihr Hals war ganz zugeschwollen vor Glück. Sie konnte nur nicken.
*
Bis früh in die Morgenstunden war er den Rand eines Moores abgelaufen, nachdem der Nebel sich etwas gelichtet hatte. Sein Wagen stank auf dem Nachhauseweg nach Schlamm und Modder. Rötlicher Lehm und Moosranken klebten an Stiefeln und Hosenbeinen. Lelle lehnte sich gegen das Geländer der Veranda und zog sich noch draußen
die Stiefel aus. Als er sich wieder aufrichtete, sah er, dass die Eingangstür offen stand. Er konnte Schuhe auf dem Teppich im dunklen Flur liegen sehen. Sein Herz schlug schneller. Auf Socken schlich er die Außentreppe hoch, lauschte und spähte durch den Türspalt. Seine Hand lag auf der Pistole, die im Hosenbund steckte. Es gab keine Einbruchspuren. Er schob sich seitlich durch den Spalt, bewegte sich so leise wie möglich. Hatte er vergessen abzuschließen? Immer dieses Gedächtnis, auf das er sich nicht mehr verlassen konnte. Nach nur wenigen Schritten roch er es, ein schwacher Parfümgeruch, der definitiv nicht zu diesem Haus passte, sondern zu einer Frau.
Er schlich weiter, den Flur hinunter, vorbei an der Küche, auf Zehenspitzen weiter. Seine Hand ruhte unverändert auf dem Griff der Pistole. Er lauschte, hörte aber nur das Rauschen seines Blutes in den Ohren und den eigenen Atem. Der Parfümgeruch wurde stärker. Als er um die Ecke bog, sah er, dass unter der Tür zum Arbeitszimmer Licht durchdrang. Zwei, drei Schritte noch, dann stand er vor der Tür und zog die Waffe. Er stieß die Tür auf und zielte auf die Gestalt im Raum. Zwei Handflächen flogen in die Luft, gefolgt von einem schrillen, verängstigten Schrei.
»Was zum Teufel machst du da!? Lelle!«
»Was zum Teufel machst du
da!?«
Er senkte die Waffe und sah Anette verwirrt an. Sie hatte die Tür mit ihrem Schlüssel geöffnet, natürlich. Mit ihrem Schlüssel, um den er sie schon vor langer Zeit gebeten hatte. Sie sah mitgenommen aus, blass, mit strähnigem Haar. Sie stand vor der Karte von Västerbotten und Norrland, die sich wie eine gespannte Haut über die ganze
Wand erstreckte, voller Stecknadelköpfe und Post-its. Anette fuchtelte mit der Hand vor seiner Nase herum.
»Was machst du mit einer Pistole? Bist du noch ganz dicht?«
»Ich dachte, du wärst ein Einbrecher.«
»Ich habe geklingelt, aber du hast nicht aufgemacht.«
»Und dann denkst du, dass du hier einfach so reinstiefeln kannst? Du wohnst hier nicht mehr, Anette. Ich will deinen Schlüssel haben.«
Sie hob das Kinn, ballte ihre Fäuste und schob sie sich über Kreuz unter die Achseln. Ihr Blick wanderte über sein verschwitztes T-Shirt hinunter bis zu den löchrigen Socken.
»Wo warst du? Du siehst ja schrecklich aus.«
»Ich habe unsere Tochter gesucht, und ehrlich gesagt siehst du auch nicht gerade topfit aus.«
Lelle sicherte seine Beretta und legte sie aufs Bücherregal. Sie machte ihm Angst, beziehungsweise seine Wut machte ihm Angst. Anette sah ihn eine Weile schweigend und mit roten Augen an, als hätte sie geweint. Sie zeigte auf die Karte, auf das Durcheinander aus Stecknadelköpfen, die ihnen entgegensahen.
»Was ist das?«
»Wonach sieht es denn aus? Das ist eine Karte.«
»Und die Stecknadeln?«
»Markieren die Orte, an denen ich schon nach ihr gesucht habe.«
Anette presste sich eine Faust an die Lippen. Sie hatte aufgehört zu atmen, weinte aber auch nicht. Sie stand nur da und betrachtete die Karte. Dann drehte sie sich zu ihm um
.
»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass du aufhören kannst, nach ihr zu suchen«, sagte sie. »Lina gibt es nicht mehr. Sie ist tot.«
*
Meja wühlte in ihrem Rucksack nach etwas zum Anziehen. Sie schämte sich, weil sie nur so wenig zur Auswahl hatte. Ein paar verwaschene Jeans und vier farblose T-Shirts. Strümpfe, die nicht zusammenpassten. Solange sie sich erinnern konnte, war sie genau dafür gehänselt worden. Dass sie jeden Tag dasselbe trug und falsch aussah, schmutzig und ungepflegt.
Aber Carl-Johan saß mit leuchtenden Augen vor ihr auf dem Bett.
»Du bist schön, so wie du bist«, sagte er. »Mach dir nicht so viele Gedanken.«
Silje und Torbjörn hatten sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, als sie nach unten kamen. Der Hund saß vor der verschlossenen Tür und kratzte traurig mit den Pfoten. Er warf Carl-Johan und Meja vorwurfsvolle Blicke hinterher, als sie an ihm vorbeigingen. Der Fernseher lief, aber sie konnten die beiden trotzdem auf der anderen Seite rummachen hören. Meja hatte es sehr eilig, wollte so schnell wie möglich das Haus verlassen.
»Willst du nicht Bescheid sagen, dass wir gehen?«
»Die merken doch sowieso nichts.«
Das Schild nach Svartsjö zeigte direkt in den Wald. Und der Weg dorthin bestand aus nicht viel mehr als zwei tiefen Fahrrinnen, die in der Mitte von einem Graskamm
getrennt waren. Die Bäume standen so nah, dass sie an den Seitenspiegeln schabten. Es war fast unvorstellbar, dass so ein Weg irgendwohin führen könnte.
Der Regen kam wie aus dem Nichts, und der Wald verschwamm. Carl-Johan pfiff zum Prasseln des Regens. Er hatte nur eine Hand am Steuer, ganz lässig, als würde der Wagen von selbst fahren. Ab und zu sah er zu ihr herüber, als würde er sich vergewissern wollen, dass sie wirklich neben ihm saß. Meja war angespannt, versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sich in ihr alles zusammenzog. Sie hatte sich immer klein gemacht, wenn sie bei anderen zu Besuch gewesen war. Ein richtiges Zuhause war wie eine fremde Welt, deren Regeln sie nicht kannte. Sie kannte sich aus mit Matratzen, die auf dem Boden lagen, mit Badezimmern ohne Toilettenpapier und mit Küchen, die vor Leere hallten. Silje und sie hatten nie ein richtiges Zuhause gehabt, nur Versionen von etwas, was dem nie auch nur annähernd glich. Mit Carl-Johan war es das erste Mal anders. Er war so stolz auf seine Herkunft.
Sie kamen an ein hohes Tor aus dicht aneinandergeschweißten Metallstreben. Willkommen auf Svartsjö
stand auf der obersten geschrieben. Meja sank noch tiefer in ihren Sitz, als Carl-Johan ausstieg und das Tor öffnete.
»Was für ein Tor!«, rief sie erstaunt.
»Das habe ich mit meinen Brüdern gebaut. Alles, was du hier auf dem Hof siehst, haben wir selbst gebaut.«
Vor ihnen öffnete sich der Wald auf eine große Wiese, wo eine Handvoll Kühe standen und grasten. Eine mit Kies bedeckte Auffahrt lag in einem Halbkreis vor einem sehr roten Gutshof, der sich wie ein Schloss aus Holz vor
dem Wald erhob. An den Seiten erstreckten sich Scheunen und kleinere Schuppen. Meja zog sich der Magen zusammen. Dass man tatsächlich so wohnen konnte.
Carl-Johan zeigte ihr den Stall und die Hundezwinger, wo sich aufgedrehte Hunde mit ihren Vorderpfoten an das Gitter stemmten und sie wild anbellten. Direkt dahinter erstreckte sich ein Kartoffelacker, der so groß war wie ein Tennisplatz.
»Du kannst das von hier aus nicht sehen, weil der Wald davor ist, aber direkt dahinter liegt unser See, nach dem der Hof benannt ist.«
»Es ist so schön hier.«
Meja blieb neben dem Wagen stehen. Legte sich die Hände auf den Bauch, der zu rumoren anfing, und versuchte, alles wegzutamen. Sie hatte es immer furchtbar gefunden, die Eltern von anderen kennenzulernen. Es war furchtbar, von ihnen verurteilt zu werden. Bewertet zu werden. Vor allem die Mütter hatten ein Auge dafür, was bei ihr nicht stimmte.
»Was machen deine Eltern denn beruflich?«
»Meine Mutter ist Künstlerin.«
»Künstlerin? Aha. Was denn für eine Art von Kunst?«
»Sie malt Bilder.«
»Kennt man ihre Arbeiten vielleicht sogar?«
»Das glaube ich nicht.«
»Und dein Vater, was macht der?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du weißt nicht, was dein Vater beruflich macht?«
»Er lebt nicht mit uns zusammen.«
»Aha.«
Mehr brauchten sie nie zu wissen. Aber am schlimmsten
war es, wenn sie Silje kannten, dann stellten sie überhaupt keine Fragen.
*
Lelle sah zu Boden, um nicht in Anettes gequältes Gesicht sehen zu müssen. Aber er hörte die von Schluchzern begleiteten Atemzüge und ihr Schniefen.
»In den ersten beiden Jahren habe ich sie gespürt, ich habe gespürt
, dass sie am Leben ist. Ich hatte so eine Art Licht in meinem Inneren, wenn ich an sie gedacht habe, eine Wärme. Aber die ist nicht mehr da, dieses Licht ist erloschen.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
Anette kam auf ihn zu, umarmte ihn und legte ihre Wange an seinen Oberarm.
»Sie ist tot, Lelle. Unsere Tochter ist tot. Ich habe dieses Gefühl seit dem letzten Winter. In mir ist etwas zerbrochen, ich kann das nicht erklären, aber ich weiß, dass es so ist – Lina ist tot.«
»Ich will diesen Scheiß nicht hören.«
Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, aber sie hielt ihn fest, presste ihr tränennasses Gesicht gegen sein Shirt und klammerte und krallte sich an ihm fest. Am Ende gab er seinen Widerstand auf und ergab sich ihrer Umarmung. Legte ebenfalls die Arme um sie. Zuerst hingen sie nur schlaff auf ihrem Rücken, dann hielt er sie immer fester. Sie klammerten sich aneinander, als ginge es um ihr Leben. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie sich jemals so im Arm gehalten hatten. Als wären sie dabei, von innen heraus zugrunde zu gehen
.
Als Anette zu ihm aufsah, küsste er sie, ohne nachzudenken. Sie schmeckte nach salzigen Tränen. In dem verzweifelten Versuch, ihr nahe zu sein, drückte er seine Lippen und sein Becken gegen ihren Körper. Er wollte ihr noch näher kommen. Anette zerrte an seinen Kleidern, riss an seinem Hosenschlitz, dann zog sie ihn zu sich auf den Boden und half ihm, in sie einzudringen. Sie umklammerte seine Taille mit ihren Beinen, um ihn noch dichter an sich zu ziehen. Er stieß immer wieder zu, härter, als er eigentlich wollte, und spürte, wie seine Tränen auf ihr Gesicht tropften. Ihre Nägel bohrten sich tief in seine Haut, bis es brannte, und da erkannte er, dass er genau das suchte. Dieses Brennen. Den Schmerz.
Hinterher lagen sie nebeneinander und teilten sich eine Zigarette. Die Sonne schien fast höhnisch durch die Gardinen und zeichnete zwei Streifen auf ihre nackten Körper. Anette piekte mit dem Zeigefinger in seine Rippen.
»Du hast abgenommen.«
»Mir fehlt es an nichts.«
»Du bist abgemagert, ungewaschen und schläfst zu wenig. Du bringst dich um, wenn du so weitermachst.«
Sie stand auf und zog sich an. Er sah die Sommersprossen auf der Haut über ihrer Brust. Dort hätte er gerne sein Gesicht hingelegt, auf ihren Herzschlag. Die Kratzer auf seinen Pobacken brannten. Ob sie nach Hause fahren und Thomas davon erzählen würde, dass sie mit ihm geschlafen hatte? Oder würde das ihr Geheimnis bleiben? Er wünschte sich, dass sie bei ihm blieb, gleichzeitig wusste er aber auch, dass er keinen Platz mehr für sie hatte. Eine schwere, bleierne Müdigkeit hatte ihn befallen, und er erwog, einfach dort auf dem Boden einzuschlafen, nackt.
Aber Anette ging nur in die Küche, und kurz darauf hörte er, wie sie Eier aufschlug und mit der Pfanne klapperte. Dazu kam das Geräusch der Kaffeemaschine und Geplauder aus dem Radio. Er hörte Anettes Stimme, begleitet von Kaffeeduft, die rief, dass er jetzt etwas essen müsse.
Sie hatte die Jalousien in der Küche hochgezogen und stand in der Sonne, als er hereinkam. Und für einen kurzen Moment war alles, wie es sein sollte. Lina lag in ihrem Bett im ersten Stock. Gleich würde sich Anette an den Fuß der Treppe stellen und nach ihr rufen. Die Sonne schien in der festen Überzeugung, dass es hier keinen Platz für Albträume gab. Aber als Anette den Kaffee eingoss, sah er die Sorgenfalten um ihren Mund und wusste, dass alles nur eine Illusion war. Sie setzte sich auf die andere Seite des Tisches, wo sie auch immer gesessen hatte, als sie noch zusammengewohnt hatten. Sie saß jetzt aber aufrechter, und sie schien sich nicht richtig wohl dabei zu fühlen. Zwei dampfende Berge Rührei standen zwischen ihnen auf dem Tisch. Lelle war so hungrig, dass ihm ganz übel wurde, als er seine Gabel in den einen Berg steckte. Anette sah ihn durch den Dampf ihres Kaffees an.
»Sei nicht böse, aber ich meinte das, was ich vorhin gesagt habe. Ich bin mir sicher, dass Lina nicht mehr lebt.«
»Das spielt keine Rolle. Ich werde nicht aufhören, nach ihr zu suchen, bevor ich sie gefunden habe.«
*
Carl-Johans Elternhaus war aus hellem Holz und in warmen Farben gestrichen. Es roch würzig, nach gekochtem Fleisch und getrockneten Kräutern. Eine Frau mit Schürze
und rot verfärbten Händen kam aus der Küche und begrüßte sie. Sie war dunkler und dünner als Carl-Johan, hatte aber dieselben feinen Gesichtszüge wie er. Sie lächelte, ohne dabei die Zähne zu zeigen, und berührte ihr Haar, das in einem silber-weißen, geflochtenen Zopf auf ihrer Schulter lag.
»Du musst Meja sein, wie schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Anita.«
Sie führte sie in die Küche, wo ein Mann saß und eine Waffe reinigte. Alle Einzelteile lagen ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch, und als er den Kopf hob, sah er sie aus grimmigen, zusammengekniffenen Augen an. Er musterte sie von oben bis unten, bis in die Fingerspitzen, als würde er Maß nehmen. Meja spürte, wie seine Blicke auf ihrer Haut brannten, als hätte ihr Körper Feuer gefangen.
»Und wen haben wir da?«, fragte er und zeigte mit einem dreckigen Lappen auf sie.
»Das ist Meja«, antwortete Carl-Johan, »meine Freundin.«
»Meja, tatsächlich! Von dir habe ich ja schon viel gehört.«
Birger stand auf und befeuchtete sich die Lippen, so dass sie seine Zahnlücken sehen konnte. Er sah alt aus, viel zu alt für einen Sohn wie Carl-Johan, aber er war stark und widerstandsfähig, und sein Händedruck war kräftig.
Sie bekamen kalte Milch und Roggenbrötchen, dazu selbstgekochte Blaubeermarmelade, von der man ganz blaue Lippen bekam. Birger erzählte vom Hof und den angrenzenden Ländereien. Dort gab es Urwälder, Moore und den Svartsjö. Dort gab es Beeren, Pilze und Fische.
Davon konnte sich eine ganze Stadt ernähren, und so sollte es eigentlich auch sein. Anita stand mit dem Rücken zu ihnen und schälte Wurzelgemüse, ihr ganzer Körper bebte dabei. Sie sagte nicht viel, das tat Carl-Johan auch nicht. Er hatte seinen Arm um Meja gelegt und hörte mit glänzenden Augen zu. Das Licht fiel auf seinen Hals und betonte die Adern, die dicht unter der Haut lagen. Dünn, blau. Sie konnte sogar seinen Herzschlag erahnen.
»Carl-Johan hat erzählt, dass du aus Stockholm kommst«, sagte Birger.
»Ich bin in Stockholm geboren, aber wir haben überall und nirgends gewohnt.«
»Ich bin auch viel herumgekommen in meiner Jugend. Meine Eltern konnten sich nicht um mich kümmern, darum bin ich von einer Pflegefamilie in die nächste gekommen. Aber ich habe nirgendwo Wurzeln geschlagen. Es ist nicht leicht, so aufzuwachsen, davon bekommt man eine harte Schale. Darum wollte ich meinen Söhnen das geben, was ich selbst nie hatte. Einen festen, stabilen Ort in ihrem Leben. Geborgenheit.«
Meja mochte seine Stimme. Wie sie den ganzen Raum in Schwingungen versetzte. Und seine Lachfalten, die vermuten ließen, dass er das alles genoss. Er schob ihr die Schale mit den Brötchen hin.
»Sei nicht schüchtern, nimm dir noch eins.«
Die Küche duftete nach Essen und Reinigungsmittel. Alle Oberflächen blitzten vor Sauberkeit. Es standen weder leere Flaschen noch Aschenbecher herum. In der Ecke hing eine uralte Uhr und tickte. Der Herd hatte dunkle Eisentüren, um ihn mit Holz zu füttern. Auf dem Teppich davor lag eine Katze auf dem Rücken und blinzelte ihnen
schläfrig zu. All das hatte etwas Leichtes, und Meja spürte, wie sie sich langsam entspannte.
»Zeig ihr die Tiere«, sagte Anita, als sie mit dem Essen fertig waren. »Wir haben Kälber und frisch geborene Zicklein.«
Die Abendsonne stand rot über der Scheune und der Wiese, auf der die Tiere grasten. Carl-Johan schob seine rauen Finger in ihre Hand. Er führte sie über ein Feld mit Wildblumen und Mücken und stellte ihr die Kühe vor, als wären es Menschen.
»Das sind Agda, Indra, Tindra und Knut. Und dann gibt es noch Algot, aber mit dem sollte man sich nicht anlegen.« Sie streichelte sonnenwarmes Tierfell und fütterte weiche Mäuler mit Heu. Zwei Zicklein wackelten auf unsicheren Beinen vor ihnen im Kreis, Carl-Johan hob eines hoch, als wäre es ein Kuscheltier.
»Das hier ist ein Paradies«, sagte Meja. Sie hatten sich mit dem Rücken gegen die Scheunenwand gelehnt.
Es war schon spät, aber die Nacht schien unendlich weit weg. Carl-Johan zupfte Heu aus ihrem Haar. Sie stellte sich vor, hier zusammen zu schlafen und am nächsten Morgen an so einem Ort aufzuwachen.
Da hörten sie eine Tür, und kurz darauf sahen sie eine hochgewachsene Gestalt, die über das Feld lief. Es war Göran, der Ältere, mit einer Angel in der Hand. Er hob den Arm zum Gruß, als er sie sah. Meja und Carl-Johan winkten zurück.
»Er geht oft angeln, vor allem nachts, weil er wegen der Helligkeit nicht schlafen kann. Dann haben wir Fisch zum Frühstück.
«
»Fisch zum Frühstück?«
»Das ist saulecker.«
Carl-Johan stand auf, bürstete sich das Heu von der Hose und streckte ihr dann die Hand hin.
»Übernachte hier, dann wirst du es sehen.«
*
Als Lelle erwachte, lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer. Er hörte das Lachen der Nachbarskinder und brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Er hatte eine ganze Nacht durchgeschlafen. Ihm tat alles weh, als er aufstand und in die Küche ging. Erst als er die Pfanne in der Spüle sah, erinnerte er sich daran, dass Anette bei ihm gewesen war. Er erinnerte sich an ihre Worte, dass Lina tot sei, und schüttelte sich, um sie wieder loszuwerden. Anette war schon immer abergläubisch gewesen.
Er wusch sich das Gesicht und gurgelte mit kaltem Wasser. Durchs Fenster sah er die leere Hängematte, hörte die Kette im Wind quietschen. Anette hatte damals eine Ewigkeit darin gelegen und ihren Verlobungsring über ihrem runden Bauch hin und her schwingen lassen.
»Wir bekommen ein Mädchen, Lelle.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Ich weiß es einfach.«
Er trocknete sich das Gesicht mit einem Geschirrhandtuch ab und sah auf die geöffnete Tür zum Arbeitszimmer. Die Buchrücken starrten ihn aus dem Dunkeln an. Hatten sie wirklich miteinander geschlafen?
Die Eingangstür war abgeschlossen, als er hinausgehen wollte, um sich die Zeitung zu holen. Der Kies in der
Einfahrt war nass. Er rannte zum Briefkasten. Auf der Zeitung lag ein einsamer, glänzender Schlüssel. Anettes Schlüssel. Sie hatte sich nach der Trennung immer geweigert, ihm den Schlüssel zurückzugeben, obwohl sie ihn verlassen hatte. Als würde sie ihn nicht loslassen können. Wahrscheinlich war es das Haus, das sie nicht loslassen konnte. Das Haus, in dem Lina aufgewachsen war. Und jetzt lag er da und glänzte in der Sonne.
In der Küche hörte er Linas Stimme, die sich über ihn lustig machte, dass er Zeitung las. »Heute liest doch niemand mehr Zeitung
.« Er konnte sie förmlich vor sich sehen. Sie saß an ihrem Platz, und er hörte den sarkastischen Tonfall, den sie sich zugelegt hatte. Er knallte die Seiten voller Druckerschwärze auf die Tischplatte, als würde sie tatsächlich dort sitzen und als würde er tatsächlich etwas auf ihre Aussage erwidern können. »Hier hast du mal eine richtige Zeitung und nicht irgend so ein bescheuertes Display
.« Aber das Einzige, was er damit in Bewegung setzte, war Staub. Erst dann las er die Schlagzeile.
17-JÄHRIGES MÄDCHEN VERSCHWUNDEN – POLIZEI KANN EIN VERBRECHEN NICHT AUSSCHLIESSEN
Die Polizei sucht nach einem 17-jährigen Mädchen, das in der Nacht zum Sonntag vom Campingplatz Kraja außerhalb von Arjeplog verschwunden ist. Sie zeltete mit ihrem Freund auf dem beliebten Campingplatz am Silvervägen. Ihr Freund gab an, dass sie das Zelt in den frühen Morgenstunden verlassen hatte und danach nicht wieder zurückgekommen war. Er alarmierte
sofort die Polizei, die mit der Unterstützung von Freiwilligen und der Heimwehr sofort die Gegend abgesucht hat.
»Zum jetzigen Zeitpunkt können wir ein Verbrechen nicht ausschließen, und wir sind deshalb für jeden Hinweis aus der Bevölkerung dankbar«, sagt Mats Niemi von der Polizei in Arjeplog.
Das Mädchen hat blondes Haar, blaue Augen und ist 1.56 m groß. Bei ihrem Verschwinden trug sie ein schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und weiße Nikes.
Lelle las die Zeilen mehrmals durch, aber die Wörter flossen ineinander. Der Kaffee brannte in seiner Kehle. Er stand auf und wankte zwischen Tisch und Spüle hin und her. Er sah die Nachbarskinder draußen spielen, hörte aber ihre Stimmen nicht. Plötzlich zog sich sein Magen zusammen, und er übergab sich in die Spüle, warmer Kaffee und Galle. Ihm brach der Schweiß aus, seine Arme zitterten. Als er nichts mehr im Magen hatte, sank er auf den Boden, drückte die Knöchel in seine Augenhöhlen und schrie laut auf.
*
Hassan war der Einzige, an den er sich im Moment halten konnte. Er war der Zuverlässigste.
»Lelle, was gibt’s?«
»Hast du noch nichts davon gehört?«
»Wovon?«
»Von dem siebzehnjährigen Mädchen, das in Arjeplog verschwunden ist?
«
Ein langer Seufzer mischte sich mit den Geräuschen des Polizeifunks.
»Es ist noch viel zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen.«
»Tatsächlich?«
»Die Suche läuft auf vollen Touren.«
»Ich habe das dumme Gefühl, dass sie das Mädchen nicht finden werden.« Lelle hörte, wie brüchig seine Stimme klang. »Ich habe die Befürchtung, dass es so kommen wird wie bei Lina.«
»Das verstehe ich«, sagte Hassan, »aber im Moment haben wir keine Hinweise darauf, dass …«
»Sie sind gleich groß«, unterbrach ihn Lelle. »Auf den Zentimeter gleich groß!« Er hörte, wie absurd das klang, aber er konnte nicht anders.
»Aber hier liegen vollkommen andere Umstände vor«, sagte Hassan. »Eigentlich deutet alles darauf hin, dass der Freund etwas damit zu tun hat.«
Lelle lachte verzweifelt auf. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund.
»Als Lina verschwunden ist, habt ihr mich verdächtigt! Ausgerechnet mich! Und wohin hat das geführt?«
»Jetzt beruhige dich bitte, Lelle!«
»Ich bin
ruhig! Ich will nur sichergehen, dass die Polizei ihren Job macht. Ich weiß nicht, ob euch das aufgefallen ist, aber nach der Beschreibung sieht das Mädchen Lina fast zum Verwechseln ähnlich. Und beide sind in der Nähe des Silvervägen verschwunden. Findest du, dass das wie Zufall klingt?«
»Für solche Rückschlüsse ist es noch viel zu früh, und ich habe kein Interesse an Spekulationen. Sie wird erst seit
einem Tag vermisst, die Chancen stehen noch gut, dass wir sie finden.«
»Ihr werdet sie nicht finden.«
»Ich hoffe wirklich, dass du dich irrst.«
»Das hoffe ich auch.«
*
Als sie aufwachte, war Meja allein. Das Bettlaken roch nach Carl-Johan. Dunkle Fensterläden schützten vor dem Tageslicht. Sie tappte durch das dunkle Zimmer, nahm ihre Anziehsachen und das Handy. Der Akku war leer. Der Radiowecker auf dem Nachttisch zeigte halb acht. Stand er immer so früh auf? An den Wänden hingen Poster von Kriegsflugzeugen. Meja zog sich Jeans und Pullover an. Am Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem eine alte Schreibmaschine neben einem Stapel Bücher thronte. Sie strich mit dem Finger über die schwarzen Tasten, blieb beim Buchstaben C hängen.
»Du bist ja wach.«
Carl-Johan öffnete die Tür einen Spalt. Das Licht fiel von hinten ins Zimmer, darum konnte sie sein Gesicht nicht sehen, nur, dass er lächelte. Er nahm sie in den Arm. Er roch nach Heu und Stall. Seine Haare waren ganz feucht von Schweiß.
»Hast du gut geschlafen?«
»Es ist so schön dunkel hier drinnen.«
Carl-Johan öffnete das Fenster und die Fensterläden, ließ Licht ins Zimmer. Es war ein grauer Tag, trotzdem stach die Helligkeit in den Augen.
Er nahm ihre Hände
.
»Hast du Hunger? Willst du was frühstücken?«
Alle saßen in der Küche, als sie nach unten kamen. Birger und Anita und die beiden Brüder. Ihre Augen musterten Meja neugierig, als sie sich dazusetzte. Verlegen strich sie sich mit den Fingern durchs Haar und sah nicht sie an, sondern den voll beladenen Tisch. Frisch gebackenes Brot, das noch dampfte, wenn man es aufschnitt. Drei Sorten Käse, Schinken und hartgekochte Eier mit gesprenkelter Schale. Die Milch in der Kanne war ganz schaumig.
»Das haben wir alles selbst hergestellt«, sagte Birger. »Frischer geht es nicht.«
Meja grummelte der Magen vor Hunger.
»Carl-Johan hat gesagt, ihr esst Fisch zum Frühstück?«
»Das kommt schon vor. Göran ist unser Nachtfischer.«
Göran hing schwerfällig mit den Ellenbogen auf der Tischplatte. Seine Pickel auf der Stirn leuchteten.
»Heute Nacht gab es keinen Fisch.«
Pär saß neben ihm, den Mund vollgestopft mit Essen. Er grinste Carl-Johan an. »Heute Nacht hatte nur Carl-Johan einen Fisch an der Angel.«
Die Krümel flogen über den Tisch, als er schallend lachte. Carl-Johan drohte ihm scherzhaft mit dem Buttermesser, Anita protestierte. Ihr Haar fiel wie Schnee auf ihre Schultern. Aber sie konnte nicht stillsitzen. Ständig rannte sie zwischen Küchentisch und Herd hin und her, goss Kaffee nach und spülte Teller ab. Wenn sie Meja ansah, lächelte sie übers ganze Gesicht. Sonne und Wind hatten sich auf ihre Züge gelegt, sie war eine schöne Frau. Meja wollte in ihrem Alter auch so aussehen, so frisch und vom Leben gemalt
.
»Deine Mutter weiß aber, dass du hier bist, oder?«, fragte sie.
»Ich glaube schon. Bei meinem Handy ist der Akku leer, darum kann ich sie nicht anrufen.«
»Ich halte nichts von Handys«, sagte Birger. »Das ist nur eine Methode der Regierung und anderer Mächte, uns zu kontrollieren.«
Meja rührte in ihrem Kaffee, spürte Carl-Johans Hand auf ihrem Oberschenkel. Er kitzelte sie.
»Eigentlich ist es brillant«, fuhr Birger fort. »Sie machen die Jugendlichen davon abhängig, ständig mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen, und gleichzeitig haben die uns damit total unter Kontrolle. Die können dich sehen, hören, filmen. Die wissen immer ganz genau, wo du dich befindest, und können jede deiner Bewegungen erfassen.«
Birgers Augen waren wie Wasser. Zwei Eislöcher, die sie unentwegt ansahen. Meja schwitzte, ihr Pullover klebte unter den Achseln. Das frische Brot wurde ganz zäh im Mund.
»Wer sind denn ›die‹?«, fragte sie.
Göran und Pär prusteten laut, Birgers Lächeln war verschwunden. »Genau das ist ja das Problem«, sagte er. »Die wissen alles über dich, aber du weißt einen Scheiß über die.«
*
Carl-Johan strich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und küsste sie. Der Schalthebel zwischen ihnen vibrierte kräftig. Durch sein Seitenfenster und durch den Regen sah sie Torbjörns Haus, das Wasser peitschte gegen
die dunklen Hauswände. Carl-Johans Hände drückten ihre Handgelenke, dann schob er sie von sich, und sie stieg aus.
»Sei nicht traurig. Wir sehen uns heute Abend.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Langsam ging sie aufs Haus zu, blieb dann stehen und sah ihm hinterher, wie er aus der Einfahrt fuhr und hinter den Bäumen verschwand. Sie war triefend nass, als sie ins Haus kam. Der Hund drehte Pirouetten vor Freude und wedelte mit seinem Schwanz gegen ihre nasse Jeans. Torbjörn brüllte ihn an, Platz zu machen, und hielt Meja ein Handtuch hin. Sein Blick war düster, er wollte Meja nicht vorbeilassen.
»Wo bist du gewesen? Wir hätten beinahe die Polizei gerufen.«
»Ich war bei Carl-Johan, auf Svartsjö.«
Meja wickelte sich das Handtuch um den Kopf und schob sich an ihm vorbei, auf der Suche nach Silje. Die saß in der Küche und zeichnete mit einem Bleistift. Sie hatte eine neue Haarfarbe. Jetzt fielen ihr pechschwarze Strähnen über die Schultern, was sie noch kränker aussehen ließ. Die dünnen Arme verschwanden in Torbjörns Flanellhemd. Sie nahm ihren Blick nicht von dem Papier, das vor ihr lag.
»Du hättest doch wenigstens anrufen können? Dein Handy kostet so viel Geld, und du benutzt es nicht.«
»Der Akku war leer.«
»Torbjörn war ganz außer sich, du hättest ihn mal sehen sollen. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen.«
Torbjörns Haare waren ungewaschen und verwuschelt,
und seine Arme waren mit blutigen Striemen übersät, als hätte er sich gekratzt.
»Heute Nacht ist wieder ein Mädchen verschwunden«, sagte er. »Natürlich macht man sich da Sorgen.«
Meja zeigte auf das dreckige Geschirr und die schwarze Mülltüte, die bis obenhin voll war mit leeren Bierdosen und Weinflaschen. Sie verzog ihr Gesicht, weil es überall nach Bier und Zigaretten stank, und musste an die Küche auf Svartsjö denken, in der alles blitzte und in der es gut roch. Dieser Gedanke gab ihr neue Kraft. Sie wandte sich an Torbjörn und sah ihm fest in die Augen. »Ich glaube nicht, dass ihr euch um mich Sorgen machen müsst.«
*
Er sah ihr Gesicht das erste Mal in den Nachrichten. Hanna Larsson. Ein hübsches blondes Mädchen mit dunkel geschminkten Augen und einem unsicheren Lächeln. Neben einem blauen Zelt vor einem spiegelglatten See. Sie sah Lina so ähnlich, dass er vergaß zu atmen. Der alte Schmerz in seiner Brust meldete sich zurück, er musste sich nach vorne beugen und die Fäuste dagegenpressen. Anette hatte ihm immer in den Ohren gelegen, dass er damit zu einem Arzt gehen solle, aber er wusste, dass es gegen diesen Schmerz keine Medizin gab. Die Trauer hatte sich in ihm eingenistet.
Als er den Kopf wieder hob, standen Hanna Larssons Eltern vor der Kamera. Der Schock und die Angst lagen wie bleiche Masken über ihren Gesichtern. Der Vater appellierte mit gebrochener Stimme an alle, was Lelles Schmerz noch verstärkte. Er flehte all jene an, die niemals
diese totale Hilflosigkeit empfinden würden, die einen heimsuchte, wenn man sein Kind verlor. Er flehte die Menschen an, die nichts gesehen und nichts gehört hatten. Das Einzige, was blieb, war Flehen. Lelle sah die zuckenden Lippen des Vaters, das aufgeknöpfte Hemd und sein unrasiertes Gesicht. Er sah die Mutter, die bereits jenseits aller Worte war. Als die Reklame geschaltet wurde, zitterte er selbst am ganzen Körper.
Er spürte Linas Blick, vom Foto am Herd. Er kitzelte ihn an der Zornesfalte auf seiner Stirn. Sie lächelte auf dem Foto, aber es war ein aufforderndes Lächeln. Sitz hier nicht einfach nur rum, Papa. Tu was!
Er stolperte durch die Küche, versuchte sich durch den Schmerz und das Dunkle zu atmen. Er zog seine dicken Stiefel an und die Fjällräven-Jacke mit der riesigen Kapuze, die gut gegen Mücken schützte, weil sie nur einen schmalen Schlitz für die Augen offen ließ. Er klopfte auf die Brusttasche, um sich zu vergewissern, dass er Zigaretten und Feuerzeug dabeihatte. Schloss nicht hinter sich ab. Draußen stand die Abendsonne hoch über den Baumwipfeln, sein Körper bebte vor Sehnsucht und Traurigkeit. Hinter den Johannisbeerbüschen sah er die Kinder der Nachbarn auf einem Trampolin springen. Sah, wie ihr flaumiges Haar durch die Luft flog. Was würde er dafür geben, das noch einmal erleben zu dürfen.
»Armes Schwein.«
»Wie soll man damit weiterleben?«
»Wenn sie wenigstens ihren Körper gefunden hätten.«
Er hatte keine Zeit, die Kinder anderer Leute zu suchen. Die Zeit der hellen Nächte war ohnehin viel zu kurz, die durfte er nicht vergeuden. Bald schon würde das Licht
wieder verschwinden, und in der Dunkelheit verrottete alles, erfror und wurde unter dicken Schichten aus blindem Schnee vergraben. Der Sommer war eine kostbare Zeit, da durfte keine Nacht vergeudet werden. Trotzdem führten ihn Steuer und Gaspedal nach Norden, zu dem Ort, an dem das Mädchen verschwunden war.
*
Der Campingplatz von Kraja war voller Menschen. Lelle parkte auf einer Rasenfläche. Er spürte, wie sich sein Herz zusammenzog, als er diesen Menschenauflauf sah. Grelle Streifenwagen, Warnwesten und das unheilverkündende Knattern eines Hubschraubers. Hinter dem Chaos erstreckte sich eine umwerfende Landschaft. Der längliche See glitzerte in der Sonne, eingerahmt von Wäldern und Bergen. Weiter hinten erhob sich ein Gebirgszug wie ein Tor in eine andere Welt. Dieser Ort raubte ihm immer wieder den Atem. Obwohl er schon so oft daran vorbeigefahren war, löste er in ihm einen tiefen, inneren Schmerz aus.
Er zog sich die Kapuze über den Kopf und lief an den roten Blockhütten vorbei hinunter zum Strand, wo die Polizei den Ort des Geschehens abgesperrt hatte. Blau-weißes Band umgab das Zelt, das traurig und einsam inmitten der Menschenmenge stand. Es grummelte in seinem Bauch. Ein Mann machte mit seinem Handy Fotos, woraufhin ein junger Polizeibeamter kam und ihn aufforderte wegzugehen. Draußen auf dem See schipperte ein rotes Boot, achtern hielt sich ein Taucher fest.
»Sie haben den Grund des Sees mehrere Male
abgesucht«, sagte da eine Stimme neben ihm. »Gott sei Dank haben sie nichts gefunden.«
Die Frau, die ihn angesprochen hatte, trug eine gelbe Schutzweste und hatte einen Notizblock in der Hand. Sie sah Lelle aus leicht zusammengekniffenen Augen an.
»Wir wollen gleich eine Suchkette bilden, falls Sie daran teilnehmen wollen? Wir können jede Hilfe gut gebrauchen.«
Lelle nickte stumm, ihm wurde schwindlig. Sie notierte sich etwas auf ihrem Block und zeigte zu einer kleinen Birkengruppe, an der sich ein paar Leute versammelt hatten. Vielleicht hatte sie noch nach seinem Namen gefragt, aber er hörte nichts mehr, seine Ohren waren zu.
Die Gegend, die sie durchsuchen sollten, war zugewuchert und verwildert, er musste bei jedem Schritt die Füße so hoch heben, als würde er durch Tiefschnee waten. Zu seiner Rechten lief eine ältere Dame, die beim Atmen pfiff, sich aber geschmeidig wie ein Luchs bewegte. Zu seiner Linken ging ein Mann, der ununterbrochen von seiner Zeit in Norrlands Dragonerregiment K4 redete. Wie die Mücken sich über ihre Oberschenkel hergemacht hatten, wenn sie gezwungen waren, sich zum Scheißen in den Wald zu hocken. Diese Zeit würde er niemals vergessen, und eigentlich sollten alle so eine Ausbildung absolvieren. Lelle summte vor sich hin und sah zu Boden, versuchte, alle anderen Geräusche wahrzunehmen: die Rufe der Suchenden, das Hundegebell und das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Die Luft war ganz schwer von Ängsten, Hoffnungen und all dem anderen, das die Teilnehmer ausatmeten. Er fühlte sich leer, spürte nur Anspannung und Schlafmangel, die in seinem Körper pulsierten. Genauso war die Suche nach Lina am Anfang auch verlaufen,
bevor nur noch er daran teilgenommen hatte. Er war so wütend gewesen. Auf die Menschen. So unsagbar wütend. Wütend über ihre Unbeholfenheit, über ihre verängstigten und unsicheren Blicke und ihre Hände, mit denen sie ihm auf den Rücken klopften wie einem Tier. Wütend darüber, dass sie nichts wussten, dass sie ihm nicht helfen konnten und dass sie nach Abbruch der Suche wieder zu ihren Kindern nach Hause zurückkehren und ihre Leben fortsetzen konnten. Diese Wut hatte ihn nie wieder verlassen. Er würde die Menschen nie wieder so sehen können wie vor Linas Verschwinden.
Die Blasen an seinen Fersen bemerkte er erst, als die Suche vorbei war. Sie waren aufgegangen. Die Socken klebten an den Schuhen. Sie hatten keine Spur von dem verschwundenen Mädchen gefunden, und der Leiter der Suchmannschaft sah niedergeschlagen aus. Lelles Körper fühlte sich aufgelöst und durchweicht an, als er zum Auto zurückging. Ein leichter Nebel hatte sich auf den See gelegt, an dessen Ufer sich nach wie vor unzählige Menschen aufhielten. Aber die Rufe, Pfiffe und das Hundegebell waren verstummt und durch eine verkrampfte Stille und hängende Köpfe ersetzt worden. Diese Stille kam ihm so bekannt vor, dass es ihn fast von innen zerriss.
Er stolperte um ein Haar über ein Absperrband, das abgerissen war. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er hoch und entdeckte ihn. Den Vater. Sein graues Haar hatte morgens im Fernsehen noch glatt am Kopf gelegen, aber jetzt stand es in alle Richtungen ab. Doch er erkannte ihn trotzdem sofort. Lelle wollte zuerst den Kopf senken und weitergehen, aber er konnte nicht. Stattdessen ging er
direkt auf ihn zu und stellte sich vor ihn. Lelle rang um Worte, hörte, wie er seinen Namen sagte, wie er versuchte, seine Schmerzen wegzuräuspern.
»Meine Tochter ist vor drei Jahren verschwunden. Wenn jemand weiß, wie Sie sich gerade fühlen, dann bin ich das.«
Hanna Larssons Vater blinzelte nervös, schwieg aber, und seine Augen waren ganz weiß vor Angst. Lelle bemerkte es und schämte sich.
»Falls Sie mit mir reden wollen, ich stehe im Telefonbuch.«
Mehr konnte er nicht sagen. Nicht jetzt. Er sah, dass seine Gegenwart dem Mann Angst machte. Auch er hatte Lelle wiedererkannt. Vielleicht hatte er ihn damals im Fernsehen gesehen, als die Hoffnung noch groß war. Aber jetzt war so viel Zeit vergangen. Drei Jahre zerstörten jede Hoffnung. Was Lelle erlebt hatte, war ein Albtraum, von dem niemand Genaueres wissen wollte, falls er ansteckend war.
Als er wieder im Auto saß, legte er den Kopf aufs Steuer und schluchzte, ohne dabei Tränen zu vergießen. Er schämte sich. Weil hinter dieser Verzweiflung eine neue Hoffnung schwelte. Die Hoffnung, dass dieser neue Fall alles verändern würde.
*
»Kannst du dir bitte was anziehen?«
Silje lag auf der Sonnenliege. Die Stelle, an der sie sich gerade rasiert hatte, leuchtete als weißes Dreieck in der Abendsonne. Ein Weinglas thronte wacklig auf den
Grasbüscheln neben einer stetig wachsenden Blume aus Zigarettenstumpen, die sie in der Erde ausdrückte.
»Das liegt an der Luft hier, die macht jedes Kleidungsstück überflüssig.«
Ihre Stimme hatte diesen klaren Klang, der von schlaflosen Nächten zeugte, in denen plötzliche Eingebungen augenblicklich umgesetzt werden mussten. Die schwarzen Haare waren erst der Anfang gewesen. Beim nächsten Mal würde es destruktiver werden. Meja dachte an Doktor Roos und fragte sich, ob er ihr ein neues Rezept ausstellen würde, obwohl sie weggezogen waren, oder ob Silje sich einen neuen Arzt suchen musste. Aber hier oben gab es wahrscheinlich weder Krankenhäuser noch psychosoziale Notdienste. Sie hielt sich eine von Siljes Zigaretten unter die Nase, atmete den Tabakgeruch ein.
»Ich habe aufgehört zu rauchen.«
»Warum das denn?«
»Weil es eklig ist und weil ich es Carl-Johan versprochen habe.«
Silje zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch absichtlich in Mejas Richtung und grinste sie an.
»Heißt der wirklich Carl-Johan?«, krächzte sie. »Hat der keinen Spitznamen, irgendetwas Einfacheres?«
»Was ist falsch an Carl-Johan?«
»Das klingt so prätentiös, findest du nicht?«
»Ich finde den Namen sehr schön.«
»Mach nicht alles, nur um ihm zu gefallen. Männer brauchen ein bisschen Widerstand, sonst wird ihnen langweilig.«
»Ich brauche deinen Rat nicht.«
Silje hob etwas linkisch ihr Glas, dabei verschüttete sie
ein wenig Wein. Sie lehnte sich vor und strich Meja mit der freien Hand übers Haar. Lächelte sie durch den Rauch hindurch an.
»Meine kluge kleine Meja, du brauchst meinen Rat nicht, und noch weniger brauchst du einen Typen. Du wirst prima allein zurechtkommen, das habe ich dir immer gesagt.«
Meja beugte sich ein Stück weg, außer Reichweite von Siljes Liebesbekundungen. Rotwein machte sie immer so weich und gefühlig.
»Carl-Johan ist nicht irgendein Typ. Er mag mich wirklich. So richtig.«
»Schlaft ihr zusammen?«
Meja brach die Zigarette in zwei Teile, der Tabak krümelte auf ihre Jeans.
»Das geht dich gar nichts an.«
»Ich weiß, dass du es nicht glauben magst, aber ich bin tatsächlich deine Mutter.«
Sie hörten das Auto, bevor sie es sahen. Meja nahm eine Decke, die auf dem Boden lag, und warf sie Silje zu. Als Carl-Johans Volvo um die Ecke bog, stand sie schon in der Einfahrt, abfahrbereit.
»Wo fahrt ihr hin?«
»Wir feiern Mittsommer auf Svartsjö, bei Carl-Johan.«
Silje aschte ins Gras und streckte ihr die Arme entgegen.
»Wenn du schon das ganze Wochenende weg bist, dann will ich wenigstens eine Umarmung haben.«
Unwillig drehte Meja sich um. Wurde ganz steif in Siljes Armen, roch diese Mischung aus Rauch und Färbemittel. Dann schob Silje sie ein Stück von sich weg und drückte sich die Sonnenbrille hoch auf die Stirn
.
»Du bist nicht wie ich, Meja. Vergiss das nicht. Du brauchst keinen Typen, um zu überleben.«
*
Am nächsten Abend fuhr er wieder nach Arjeplog. Das Zelt war abgebaut, stattdessen hatten sie einen Mittsommerbaum aufgestellt. Lelle machte einen großen Bogen um die Besucher und tauchte gleich ins Unterholz zu einer einsamen Suche. Er brach diese erst ab und kehrte zu seinem Wagen zurück, als der Nebel über dem See aufstieg und ihm die Sicht nahm. Vielleicht lag es an der Müdigkeit oder am Zigarettenqualm, oder es war die Sonne, die ihm in die Augen stach, auf jeden Fall sah er die Rentiere nicht. Zumindest viel zu spät. Sie hatten die Sonne im Rücken, ihr Winterfell löste sich in großen buschigen Fetzen von ihren Körpern. Instinktiv riss er das Steuer herum und schlitterte über den Mittelstreifen, konnte aber nicht mehr ausweichen. Er spürte den Stoß und hörte den dumpfen Aufprall, als der dünne Körper gegen die Motorhaube schlug. Der Wagen jammerte leise, und durch die Windschutzscheibe beobachtete er, wie die aufgescheuchte Rentierherde auseinanderstob und im Moor verschwand. Die nur halb gerauchte Zigarette war ihm aus der Hand gefallen, lag auf dem Armaturenbrett und glühte vor sich hin. Er griff danach und stieg mit zitternden Beinen aus.
Ein dunkles Etwas lag auf dem Asphalt. Der Größe nach zu urteilen war es ein Rentierkalb, im Frühling geboren. Lelle fluchte, als er sah, dass es noch atmete. Sein Brustkorb bewegte sich, und in den Fetzen seines weißen Winterfells sah er rote, blutige Streifen. Lelle holte die
Pistole aus dem Handschuhfach, entsicherte sie und kniete sich hin. Die Augen des Kalbs leuchteten, als er die Waffe an die Stirn des Tieres setzte und abdrückte. Das Kalb zuckte ein paarmal im Moment des Todes, dann war Frieden. Lelle steckte die Waffe in den Gürtel und packte das Tier an seinen Hinterläufen. Mit Mühe zerrte er den toten Körper über die Straße und rollte ihn hinunter ins Gebüsch. Zurück blieb nur ein breiter Streifen Blut auf dem Asphalt. Mit einem Handtuch aus dem Kofferraum wischte er sich die Hände sauber und versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann hockte er sich vor den Kotflügel und stellte fest, dass der Wagen nichts abbekommen hatte. Solange er fuhr, machte es ihm auch nichts aus, wie er aussah. Solange er damit nach Lina suchen konnte. Die Sonne stieg mit großer Geschwindigkeit, und die Vögel zwitscherten, als wäre nichts passiert. Als er jedoch wieder hinterm Steuer saß, überkamen ihn kalte Schweißausbrüche, er zitterte und weinte lautlos.
*
In dieser Mittsommernacht waren Wald und Wiesen ganz in Blau getaucht. Schwarze Mückenschwärme tanzten über die Wildblumen. Es surrte und juckte. Sie hatten ein Schwein geschlachtet, Meja hatte zwar nicht zugesehen, aber die Todesschreie hallten noch lange in ihr nach. Auf dem Platz vor den Stallungen hatte sich eine große dunkle Blutpfütze gebildet, auf der unzählige Fliegen saßen. Das Schwein steckte an einem Spieß überm Feuer. Viel Fleisch war nicht übriggeblieben. Der Mittsommerbaum warf einen langen Schatten über den Hof, und die Kränze, die
Anita geflochten hatte, baumelten im Wind. Birger hatte den Tanz um den Mittsommerbaum angeführt, und jetzt taten allen die Beine weh. Es hatte den ganzen Abend keinen Tropfen Alkohol gegeben. Meja lag mit ihrer Wange auf Carl-Johans Brust. Sie konnte seinen Herzschlag flüstern hören.
»Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel gelacht«, sagte sie.
»Ich auch nicht.«
Die Flammen des Lagerfeuers prasselten in den Himmel und sorgten dafür, dass die Mücken auf Abstand gehalten wurden. Birger und Anita hatten sich schon vor Langem verabschiedet, aber den jungen Leuten machte die Nacht nichts aus. In den frühen Morgenstunden hatte Pär seiner Zunge freien Lauf gelassen und diese schöne Nacht mit einem Haufen verqueren Zeugs über Den Untergang
, wie er es nannte, erfüllt. Meja tat so, als würde sie ihm nicht zuhören, sie führte ihre lautlose Unterhaltung mit Carl-Johan, zeichnete mit den Fingerspitzen unsichtbare Kreise auf seine Haut, zählte seine Leberflecken auf seinen Armen und kitzelte ihn mit Grashalmen an den Ohrläppchen, bis er lachte und sie mit seinen Armen umschlang und festhielt.
»Es wird mit Kernwaffen losgehen«, sagte Pär. »Eine Höllenbombe wird es sein, die die Hälfte der Bevölkerung ausradieren wird. Danach werden nur die Starken und gut Vorbereiteten überleben. Und dann können wir nochmal ganz von vorne anfangen. Und aus unseren Fehlern lernen.«
Er stocherte mit einem Stock in der Glut, seine Augen glühten mit dem Feuer um die Wette
.
»Oder die Natur wird den Untergang auslösen. Durch den Ausbruch eines Supervulkans im Yellowstone Park zum Beispiel, oder die ganze Maschinerie wird durch etwas anderes ausgelöst. Wer dann noch lebt, wird ja sehen. Aber wie es auch anfängt, danach wird es Krieg geben. Und zwar den blutigsten Krieg seit Menschengedenken.«
Es klang, als würde er sich aufrichtig darauf freuen. Seine Stimme zitterte, als müsste sie die Aufregung unterdrücken. Er machte mit seinem Arm Pumpbewegungen und gab Göran, der neben ihm saß, damit Zeichen. Der aber hörte gar nicht zu, sondern starrte nur ins Feuer. Ab und zu kratzte er sich fast manisch an Brust und Armen, als würde er es in der eigenen Haut nicht aushalten.
Pär zeichnete mit dem verrußten Ast ein schwarzes Kreuz in die Erde.
»Ich bin nicht Vaters Meinung«, sagte er. »Er redet immerzu von Killerviren und Krankheiten, die uns auslöschen werden. Die werden schon kommen, keine Frage, aber sie werden nicht in der Lage sein, die gesamte Menschheit auszurotten. Ein Virus verringert nur die Bevölkerung. Der Untergang erfordert einen richtigen Krieg.«
Meja fühlte sich in Carl-Johans Armen mutig genug, um Pär herauszufordern. »Glaubst du wirklich an das, was du da sagst?«
»An was?«
»Dass es Krieg geben wird?«
»Natürlich wird es Krieg geben. Sieh dir doch die Menschheitsgeschichte an, wir haben immer schon Krieg geführt. Das Problem heute ist nur, dass wir jetzt Waffen haben, mit denen wir die ganze Welt vernichten können. Da wird keiner überleben.
«
Er strich sich über seine Bartstoppeln und sah Meja über das Lagerfeuer hinweg an. »Wie lange würdest du überleben können, wenn die Gesellschaft kollabiert?«
»Wie meinst du das?«
»Ohne Strom, fließendes Wasser, Supermärkte – wie lange könntest du überleben?«
Meja sah auf Carl-Johans Hand, die in ihrer lag, und strich mit den Fingerspitzen über seine Schwielen. »Ich weiß es nicht.«
»Weißt du, wie lange wir hier draußen auf Svartsjö klarkommen würden?«
Sie schüttelte den Kopf. Pär hob eine Hand in die Luft und spreizte die Finger.
»Mindestens fünf Jahre. Vielleicht sogar für immer. Willst du es ihr nicht mal zeigen?«, wandte er sich an Carl-Johan.
Der hatte sein Gesicht in Mejas Haaren versteckt.
»Was sollst du mir denn zeigen?«, fragte sie.
»Morgen«, murmelte er. »Ich zeige es dir morgen.«
»Genau, jetzt ist es echt genug, verdammt nochmal«, sagte Göran und sprang auf.
Er holte einen Eimer mit Wasser und kippte ihn über das Feuer. Die letzte Glut trat er mit seinen Stiefeln aus. Er blutete an einigen der Stellen, an denen er herumgekratzt hatte. Dann fummelte er an seinem Hosenschlitz und verschwand zwischen den Bäumen.
Pär warf den Ast in die Asche.
»Es überleben nur die, die sich gut darauf vorbereitet haben«, sagte er und starrte Meja an. »Die anderen können nur auf unsere Barmherzigkeit hoffen.«
*
Sie lagen nah beieinander in der Dunkelheit und Stille. Frei von greller Mitternachtssonne und Mückenschwärmen. Nur Carl-Johans Atemzüge waren zu hören, tiefer und heiserer Schlaf. Sein Arm lag warm und schwer auf ihrer Hüfte. Aber sie wollte ihn nicht wegschieben, wollte die Einsamkeit nicht einlassen. Sie dachte an die Wohnungen, in denen Silje und sie gewohnt hatten, in Hochhäusern, wo sich die Fahrstühle seufzend von Stockwerk zu Stockwerk quälten. Wo die Essensgerüche nie aus ihrer Küche kamen. Das Stimmengewirr all der Menschen, die so nah waren und doch weit weg. Ganz dicht, ohne sich jemals zu berühren. An die Nächte, in denen Silje nicht nach Hause kam, und diese Stimmen alles waren, was sie hatte.
Sie wachte auf, weil ihr Handy vibrierte. Carl-Johan lag nicht mehr ganz so dicht neben ihr, aber sie spürte seine Wärme. Ein Blick auf das Display, und sie sah, dass es Silje war. Ihr erster Impuls war, sie wegzudrücken, aber dann bekam sie plötzlich Herzrasen. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens. Silje stand nie so früh auf, es musste etwas passiert sein.
»Hallo?«
»Meja, du musst sofort nach Hause kommen.«
»Was ist denn passiert?«
Sie hörte nur Siljes schweren Atem.
»Es ist Torbjörn, bitte, liebe Meja, ich will, dass du sofort nach Hause kommst.«
»Ist was mit Torbjörn?«
»Ja, ich will nicht mit ihm allein sein, keine einzige
Minute mehr. Du musst nach Hause kommen. So schnell du kannst.«
Die schlechte Verbindung zerhackte ihre Worte. Es klang aber, als würde sie das Telefon ganz nah an ihren Mund halten, damit niemand sie hören konnte.
*
Lelle stand in Unterhose in seiner Küche und briet Kartoffelklöße, als ein Polizeiwagen vorfuhr. Schnell rannte er ins Schlafzimmer und zog sich Jeans und T-Shirt an. Den Bratenwender ließ er mit der fettigen Seite nach unten auf dem Nachttisch liegen. Seine Hosenbeine waren noch feucht und fleckig von der nächtlichen Suche, aber das spürte er gar nicht. Durch die Schlitze in der Jalousie sah er Hassan aufs Haus zukommen, die Uniformjacke über der Schulter. Unter der Uniformmütze war sein buschiger Pony zu sehen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, flüsterte er.
Sofort hatte sich wieder die alte, unermüdliche und sture Hoffnung gemeldet und jagte seinen Puls in die Höhe. Vielleicht hatten sie sie gefunden, vielleicht war jetzt alles vorbei. Oder es würde jetzt erst richtig anfangen. Er stieß die Tür mit voller Wucht auf, sodass Hassan nach hinten ausweichen musste.
»Was gibt’s?«
Hassan hielt seine Hände in den Handschuhen hoch.
»Es geht nicht um Lina. Dieses Mal nicht.«
Die Enttäuschung, oder war es doch Erleichterung, drückte ihn schwer gegen den Türrahmen.
»Um was geht es dann?
«
»Darf ich reinkommen?«
Lelle ließ die Tür los und machte Platz. Er registrierte Hassans Blick.
»Mensch, Lelle, du musst echt was mit deinem Kopf machen.«
Lelle hob die Hand und strich sich über die Haare, die in alle Richtungen abstanden und klebrig und ganz steif waren.
»Es können nicht alle so gepflegt aussehen wie du.«
Hassan sah ihn nachdenklich an. »Hier riecht es nach Essen.«
»Ich brate mir gerade Klöße, willst du mitessen?«
»Du weißt doch, dass ich kein Fleisch esse!?«
»Aber unsere guten schwedischen Kartoffelklöße kannst du doch essen?«
»Aber da ist Fleisch drin.«
»Das kannst du ja rauspulen? Ein bisschen Fleisch hat noch niemandem geschadet.«
Hassan hängte seine Jacke über Linas Stuhl.
»Nicht auf den Stuhl!«, brüllte Lelle. »Dieser Stuhl wird nicht benutzt.«
Hassan nahm die Jacke wieder an sich und hängte sie wortlos über einen anderen Stuhl. Er sah bedrückt aus, schwieg aber, stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab und sah Lelle an. Es fühlte sich so an, als würde er jeden seiner Gedanken lesen können.
Lelle füllte zwei Teller mit je einem großen Berg glänzender Kartoffelklöße. Hassan sah skeptisch auf seine Portion.
»Kannst du mir jetzt mal erzählen, warum du hier bist?«
»Eigentlich wollte ich nur nach dir sehen.
«
»Nach mir sehen? Zur besten Arbeitszeit?«
Hassan stach die Gabel in einen schimmernden Kloß und brach ein Stück heraus, das er ausführlich inspizierte, bevor er es sich in den Mund steckte.
»Ich weiß, dass diese Jahreszeit besonders schlimm für dich ist«, sagte er beim Kauen. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass alles ist, wie es sein soll.«
»Du kannst mit dem Scheiß jetzt aufhören!«
Hassan schnitt eine Grimasse, schluckte und legte die Gabel beiseite.
»Okay«, sagte er, »dann höre ich jetzt auf mit dem Scheiß. Wo warst du in der Nacht zum Sonntag?«
»Unterwegs.«
»Und wo?«
»Die 95 rauf und runter, irgendwo auf dem Silvervägen.«
»Warst du zufälligerweise auch in der Nähe von Arjeplog?«
»Ich fahre jede Nacht durch Arjeplog.«
»Und um wie viel Uhr?«
Lelle zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich irgendwann zwischen drei und vier Uhr morgens. Vielleicht auch später.«
»Hast du auf Höhe des Campingplatzes Kraja angehalten?«
»Nicht, soweit ich mich erinnern kann. Nicht letzten Sonntag.«
»Verdammt nochmal, Lelle.«
Lelle zeichnete Kreise in die Preiselbeermarmelade. Er hatte keine Angst. Wahrscheinlich weil sie ihn schon einmal verdächtigt hatten. Er spürte nur eine unendliche Müdigkeit. Er hatte Lina als Letzter an der Bushaltestelle
gesehen, und jetzt war er in der Nähe des Ortes gewesen, wo Hanna Larsson verschwunden war. Natürlich konnte das falsch interpretiert werden.
»Du hast das letzte Mal gesagt, dass wir sie nicht finden werden«, sagte Hassan, »was meintest du damit?«
Lelle schob den Teller von sich.
»Das ist nur so ein Gefühl. Sie sieht Lina so verdammt ähnlich. Das kann einfach kein Zufall sein. Da muss es einen Zusammenhang geben.«
»Drei Jahre sind eine lange Zeit für einen Zusammenhang.«
Lelle pulte mit den Fingernägeln zwischen seinen Zähnen. Er hatte nicht vor, sich entmutigen zu lassen.
»Was genau weiß die Polizei denn über die Umstände von Hanna Larssons Verschwinden?«
»Darüber kann ich mit dir nicht reden.«
»Mit anderen Worten, ihr wisst genau gar nichts.«
»An deiner Stelle wäre ich ein bisschen vorsichtig«, sagte Hassan mit einer Stimme, die Lelle so noch nie von ihm gehört hatte.
»Und was ist mit ihrem Freund?«
»Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie ihn haben laufen lassen. Solange Hanna verschwunden ist, gibt es nichts, was wir tun können. Das weißt du ja.«
»Aber du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich
etwas mit der Sache zu tun habe?«
Hassan rieb sich mit den Handflächen über sein Gesicht.
»Ich will mal einen Blick in deinen Wagen werfen.«
»Bitte sehr. Der Schlüssel hängt im Flur.«
Hassan trug Teller und Besteck zur Spüle, warf den
Rest seiner Klöße in den Mülleimer und spülte das Geschirr. Dann stellte er alles zum Trocknen ins Abtropfgestell. Lelle betrachtete seinen Stiernacken und die muskulösen Arme. Dieselben Arme, die ihn hochgehoben hatten, als er in seiner eigenen Kotze gelegen hatte, die ihn in den ersten Stock getragen und ihm einen Eimer neben das Bett gestellt hatten. Hassan, der die ganze Nacht bei ihm geblieben war, obwohl das seine Aufgabe als Polizist weit überschritten hatte. Hassan hatte die Flasche mit dem Selbstgebrannten und alle anderen alkoholischen Getränke aus seinem Vorratsschrank entsorgt. Er hatte ihm in dieser furchtbaren Zeit, nachdem Anette ihn verlassen hatte, wirklich beigestanden. Seine Augen begannen zu brennen, als er daran dachte.
»Wusstest du eigentlich, dass hier in den Wäldern Kriegsveteranen leben?«
Hassan drehte den Wasserhahn ab.
»Hast du gerade Kriegsveteranen gesagt?«
»Ganz genau, ich habe einen ehemaligen UN-Soldaten im Wald getroffen, als ich unterwegs war. Er lebt auf einem verlassenen Hof. Du hättest ihn sehen sollen, bärtig und verwahrlost, er sah aus wie ein Wilder.«
Hassan trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab, er sah traurig aus, als er sich zu Lelle umdrehte.
»Findest du nicht, dass es Zeit wird, eine Pause zu machen?«
»Eine Pause?« Lelles Stimme hallte durch die Küche. »Meine Tochter ist seit drei Jahren verschwunden – drei Jahre
, ohne dass wir eine einzige Spur von ihr gefunden haben –, warum zum Teufel sollte ich eine Pause machen?
«
»Weil dich das umbringt.«
Das Brennen in den Augen wurde aufdringlicher, Lelle wedelte abwehrend mit der Hand.
»Willst du einen Kaffee?«
»Keine Zeit, aber vielen Dank fürs Essen.«
Hassan ging in den Flur, und Lelle hörte das Klimpern, als er den Autoschlüssel vom Haken nahm. Durch das Wohnzimmerfenster beobachtete er, wie Hassan auf den Volvo zuging und sich dabei blaue Gummihandschuhe anzog. Die Fahrertür war nicht abgeschlossen. Lelle sah, wie Hassan das Chaos in seinem Auto durchwühlte und dabei die Asche durch die Gegend flog. Er drehte sich zu Lina um, die ihn vom Foto am Herd anlächelte.
»Ist das zu glauben?«, sagte er laut. »Jetzt wollen sie mir das auch noch in die Schuhe schieben.«
Er saß in der Küche und lauschte dem Ächzen der Kaffeemaschine, als Hassan wieder ins Haus kam. Er blieb in der Tür stehen und hielt ein Stück Stoff hoch, auf dem dunkle Flecken waren. Lelle erkannte das Handtuch, mit dem er sich die Hände abgewischt hatte, nachdem er das Rentierkalb von der Straße gezogen hatte.
»Der gesamte Beifahrersitz ist voller Blut. Was zum Teufel ist da passiert, Lelle?«
*
»Du musst nicht mit reinkommen.«
»Sei nicht albern, natürlich komme ich mit.«
Carl-Johan griff unter den Fahrersitz und holte ein Messer heraus.
»Was tust du da?
«
»Was wisst ihr eigentlich über diesen Torbjörn? Wie lange kennt ihr den schon?«
Meja musste schlucken. Sie hatte einen sauren Geschmack im Mund.
»Keine Ahnung. Silje hat ihn im Netz kennengelernt.«
Carl-Johans Kiefer arbeitete. Er sah zum Haus hinüber.
»Ich will, dass du hinter mir bleibst.«
Bevor er ausstieg, schob er das Messer unter den Ärmel seines Pullovers. Meja wollte protestieren, bekam aber keinen Laut heraus. Sie spürte nur, wie ihr Herz wild gegen die Rippen pochte. Zögernd folgte sie ihm. Ihre Schuhe sogen sich mit dem Tau voll, der im ungemähten Gras hing. Carl-Johan ging die paar Stufen zur Eingangstür hoch und klopfte dann an. Er hielt einen Arm vor Meja, um sie zurückzuhalten.
Torbjörn öffnete die Tür. Er drückte sich ein blutiges Geschirrhandtuch gegen die Stirn. Und starrte die beiden an.
»Diese Frau hat den Verstand verloren! Mit der kann man nicht mehr vernünftig reden.«
Carl-Johan schob sich an ihm vorbei und rief nach Silje. Meja rannte hinterher, sah die Messerklinge aufblitzen.
Silje saß auf dem Küchenfußboden, umgeben von einem Haufen Zeitschriften. Ihre Haare klebten in schweißnassen Strähnen an ihrem dünnen Hals, und die Mascara hatte ihr schwarze Striemen ins Gesicht und auf die eingefallenen Wangen gezeichnet. Sie hielt den beiden ein paar ausgerissene Seiten entgegen. Darauf waren Aufnahmen von großbusigen Frauen, die ihre gespreizten Beine oder Hintern in die Kamera streckten.
»Der ganze Schuppen ist voll mit diesem Schund«, sagte
Silje. »Junge Mädchen, die sind keine achtzehn. Man könnte kotzen!«
Meja spürte, wie das Linoleum unter ihren Füßen nachgab, als ihr die Luft wegblieb. Die Scham stieg ihr blutrot ins Gesicht. Carl-Johan klappte das Messer wieder ein und steckte es in die Tasche. Sein Hals war so rot, als hätte er sich verbrannt. Hinter ihnen hörten sie Torbjörns Stimme.
»Ich war über vierzig Jahre lang Junggeselle. Diese Zeitschriften waren alles, was ich hatte. Ich wollte sie schon lange entsorgen, habe es aber immer wieder vergessen. Das ist nichts, worauf ich stolz bin.«
»Diese Zeitschriftensammlung reicht vom Boden bis zur Decke«, schrie Silje. »Und er sagt zu mir, dass er zum Schnitzen rübergeht. Schnitzen!
«
Ihr Gelächter ging nahtlos in ersticktes Weinen über. Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. Schluchzte und zuckte, als würde sie gleich sterben. Fassungslos standen Meja und Carl-Johan daneben und starrten sie an, zu verlegen, um etwas zu sagen. Nach einer gefühlten Unendlichkeit wandte sich Carl-Johan an Torbjörn. »Ich kann dir dabei helfen, den Kram zu verbrennen.«
Sie machten hinter den Stallungen ein Feuer, wo sie die Zeitschriften und Videokassetten mit einer Schubkarre hinfuhren. Schwarzer, beschämter Rauch verhöhnte den unschuldigen Mittsommerhimmel. Meja packte ihren Rucksack, blieb dann einen Augenblick im Badezimmer stehen und sah sich im Spiegel an. Ihre Hände taten weh, so verkrampft krallten sie sich an das angeschlagene und rostige Waschbecken. Ihr Gesicht glühte vor Scham.
Sie ging in die Küche und trank eine Tasse Kaffee. Ihre
Hände zitterten. Sie beobachtete die beiden Männer, die draußen schufteten. Sie schaufelten die Pornoblättchen mit langen Spaten ins Feuer, als wären sie getrocknete Kuhfladen. Sie sah Carl-Johans Muskeln im Sonnenlicht, während er mit der Schubkarre hin und her lief. Wie sollte sie ihm bloß jemals wieder in die Augen sehen können?
Silje hatte sich hinter ihrem Block und der Bleistiftspitze versteckt. Zeichnete mit sicherer Hand das lodernde Feuer. Meja überlegte lange, bevor sie ihrer Stimme vertraute.
»Du hast sie doch nicht mehr alle!«
»Ich habe ihn mit einem Holzscheit geschlagen. Darum blutet er.«
»Du hast mich angerufen und hierherzitiert, weil dein Typ eine Pornosammlung im Schuppen hat? Hörst du eigentlich selbst, wie krank das ist?«
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand unter Schock! Er sagt, dass er in den Schuppen geht zum Schnitzen. Das ist da wie in einem Dschungel aus Schweinkram. Vom Boden bis zur Decke junge Mädchen – in deinem Alter, Meja.
Ich war so außer mir, dass ich nur noch rumgebrüllt habe. Du hättest hören sollen, wie laut ich geschrien habe.«
»Vielleicht hättest du dir Gedanken darüber machen sollen, bevor du hierhergezogen bist. Ein bisschen recherchiert, zum Beispiel. Dann hättest du auch herausgefunden, dass ihn alle im Ort Pornobjörn nennen!«
»Das hast du dir ausgedacht!«
Silje versteckte sich wieder hinter ihrer Zeichnung. Zuerst dachte Meja, sie würde wieder anfangen zu weinen, dann aber hörte sie ein unterdrücktes Lachen hinter dem Zeichenblock
.
»Das ist nicht lustig. Du blamierst mich. Du blamierst uns. Warum kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch verhalten?«
Silje ließ den Zeichenblock sinken und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab.
»Ich wusste, dass mit dem etwas nicht stimmt, das habe ich sofort gemerkt. Der ist nicht wie die anderen, wenn es um Sex geht, das war mir gleich klar …«
»Ich will das überhaupt nicht hören!«
Meja schnappte sich ihren Rucksack und rannte auf die Veranda. Es klang, als würde gleich das ganze Haus in sich zusammenfallen, als sie die Tür hinter sich zuknallte. Sie ging auf Carl-Johan zu, stieß die Schubkarre weg und nahm sein Handgelenk. Die Worte kamen von ganz allein: »Bring mich weg von hier. Jetzt. Sofort.
«
*
Auf Svartsjö steckte das Spanferkel noch an seinem Spieß und grinste in den weißen Himmel. Der Geruch von gegrilltem Fleisch hing in der Luft. Carl-Johan und Meja saßen im Wagen, hatten die Fenster heruntergelassen. Das Messer lag wieder an seinem Platz unterm Fahrersitz.
»Ich weiß nicht, ob es gut war, deine Mutter mit dem Typen alleinzulassen«, sagte er.
»Sie hat schon viel Schlimmeres erlebt, glaub mir. Sie wollte nur Aufmerksamkeit.«
Er schnaubte.
»Hast du gesehen, was er da alles hatte? Der muss sich jedes Pornoblättchen zugelegt haben, das man jemals in diesem Land kaufen konnte.
«
Das Lachen hatte etwas Befreiendes und half dabei, den Schamklumpen im Hals langsam aufzulösen.
»Erzähl bitte niemandem davon«, bat ihn Meja, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Weder deinen Eltern noch Göran oder Pär. Das ist mir so furchtbar peinlich.«
»Versprochen.«
Sie sahen Anita am Waldrand, ihr silber-weißes Haar leuchtete fast unnatürlich in dem schwachen Licht. Ihr Kopf war gesenkt, sie hatte die beiden nicht kommen sehen. Meja war aufgeregt, die Nervosität flatterte in ihrer Brust.
»Glaubst du, dass Birger und Anita etwas dagegen haben, wenn ich eine Weile bei euch bleibe?«
»Nein, die werden sich freuen.«
Aber er blieb trotzdem im Auto sitzen.
»Aber vielleicht willst du
das gar nicht?«
»Natürlich will ich das! Aber es ist ein großer Schritt. Ich will nur, dass du weißt, auf was du dich einlässt. Meine Familie ist nicht wie andere.«
»Wie meinst du das?«
»Wir arbeiten viel und hart.«
Meja strich ihm die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so voller Kraft und Leben war.
»Das macht mir nichts aus. Ich kann hart arbeiten. Nichts kann schlimmer sein, als mit Silje zusammenzuleben.«
Birger war im Stall. In dem Blaumann sah er viel jünger aus, ein Körper wie der eines jungen Mannes, die grauen Haare waren unter einer Kappe versteckt. Weder die
Jauche noch die Fliegen schienen ihm etwas auszumachen. Er stellte die Forke beiseite, als er die beiden sah.
»Ich würde dich ja zur Begrüßung umarmen, Meja, wenn ich nicht so verdammt dreckig wäre.«
Meja lächelte. War verlegen. Die Luft in dem dunklen Stall war stickig, sie war nicht an den intensiven Geruch von Tieren gewöhnt. Der legte sich schwer in Rachen und Nase, aus dem Heu stieg die Wärme der schweren Tierkörper auf, die mit ihren Schwänzen einen peitschenden Krieg gegen die Fliegen führten.
Auch Carl-Johan wirkte verunsichert, seine Stimme war ganz leise und fast zögerlich, als er seinen Vater ansprach.
»Ist es okay, wenn Meja eine Zeitlang bei uns wohnt? Sie hat im Moment ein bisschen Stress zu Hause.«
Die Eiswasseraugen glänzten in Birgers wettergegerbtem Gesicht, sein Lächeln war verschwunden. Er streckte sich und musterte Meja. Die hatte den Kopf gesenkt und sah auf den unebenen Stallboden, auf die Kuhfladen und das Heu und die kleinen Rinnsale aus Urin, die sich ihren Weg aus den Boxen suchten. Ihre Zunge klebte am Gaumen, und sie bereute das ganze Vorhaben. Niemand wollte sie unter seinem Dach haben. Das hätte sie mittlerweile wissen müssen. Die Leute sahen ihr das verkorkste Leben an. Dass sie zu nichts gut war.
Birgers Stimme klang wie Samt. »Natürlich kann Meja bei uns bleiben. Hauptsache, ihre Mutter ist damit einverstanden.«
Ihr wurde schwindlig vor Erleichterung, ihre Beine zitterten. Carl-Johan legte einen Arm um sie und drückte sie fest an sich. Sie hörte, wie die beiden lachten, viel
leicht lachte sie sogar mit, ohne es vor Erleichterung zu merken.
Sie ließen Birger bei den Tieren zurück, um schnell hinaus ans Licht zu kommen. Die Sonne hatte den Morgennebel vertrieben und blendete sie. Carl-Johan zog sie in den Schatten und küsste sie, bis ihr die Luft wegblieb. Er hob sie hoch, drückte sie gegen die Wand und sich gegen sie, als wollte er mit ihr verschmelzen.
Görans Stimme kam wie aus dem Nichts. Sie ließen sofort voneinander ab. »Ihr solltet euch ein Zimmer suchen, wenn ihr nicht aufhören könnt.«
»Warum schleichst du hier so rum?«, fragte Carl-Johan.
Göran grinste und rieb sich die Hände am Blaumann ab. Er hatte seine Hosenbeine unachtsam in die Stiefel gesteckt und sah aus, als würde er wahnsinnig schwitzen. »Und warum grinst ihr beide so?«, fragte er.
»Meja zieht bei uns ein«, sagte Carl-Johan.
Göran machte einen Schritt zurück und geriet ins Wanken. »Stimmt das?«, fragte er Meja. »Wohnst du jetzt bei uns?«
»Für eine Weile auf jeden Fall, ja.«
Sein Gesicht wechselte die Farbe. Görans Blick wanderte zum Haupthaus und dann zurück zu Carl-Johan.
»Einige haben einfach Glück«, sagte er und spuckte auf den Boden.
*
Es war schon gegen Mitternacht. Lelle fiel es schwer stillzusitzen. Er lief unruhig von einem Zimmer ins nächste und drehte an einer noch nicht angezündeten Zigarette,
die er mal in den Mundwinkel, mal hinters Ohr steckte. Hassan hatte einen Kollegen dazugerufen, und sie hatten den Wagen beschlagnahmt. Kriminaltechniker aus Skellefteå würden ihn sich genauer ansehen, obwohl Lelle mehrfach die Umstände erläutert hatte.
»Ich habe oben bei Långträsk ein Rentierkalb überfahren.«
»Sehe ich aus wie ein Schäferhund? Glaubst du, ich kann den Unterschied zwischen Rentierblut und Menschenblut erkennen?«
»Aber ich brauche mein Auto!«
»Du solltest froh sein, dass wir dich nicht auch gleich mitnehmen.«
Vielleicht war es ein großer Fehler gewesen anzunehmen, dass Hassan sein Freund war. Dass er ihm vertrauen konnte. Gefährlich und dumm. Was er in den vergangenen drei Albtraumjahren gelernt hatte, war, dass die Welt ein schmutziger und unzuverlässiger Ort war und dass Norrland da keine Ausnahme bildete. Man konnte sich auf niemanden verlassen. So einfach war das.
Um zehn nach zwölf hielt er es nicht mehr aus. Er zog sich Jacke und Schuhe an und ging in die helle Nacht. Die Vögel schwiegen, er hörte nur seine Stiefel auf dem Kies. Die Luft war still und roch grün. Er nahm die Abkürzung durch den Wald, wo Lina ihr Baumhaus gehabt hatte. Ein paar traurige, vermoderte Bretter hingen noch am Baum, aber der Rest war zu Bruch gegangen, und Moos und Unkraut hatten sich das Terrain wiedererobert. Er sah nicht genau hin.
Er kam auf den Ängsvägen und lief die Storgatan hinunter, bis zu der verdammten Bushaltestelle. Seine Füße
bestimmten die Richtung, der restliche Körper befand sich wie im Leerlauf, dasselbe galt für seine Gedanken. Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete den Nachthimmel, der sich in den Regenpfützen spiegelte. Er zog ein paarmal an seiner Zigarette, bevor er sich ins Häuschen der Haltestelle setzte. Neben der Bank stand eine halbleere Dose Carlsberg. Ein Bier wäre jetzt genau das Richtige. Besonders in diesen Augenblicken. Er spürte, wie die Lust auf einen Drink immer stärker wurde, als er plötzlich Stimmen hörte. Aus dem Augenwinkel sah er zwei junge Männer. Der eine trug ein Skateboard unterm Arm, der andere humpelte auf dem rechten Fuß. An der Straßenecke verabschiedeten sie sich mit einem Faustcheck voneinander. Der Typ mit dem Skateboard stieg auf und rollte die Storgatan hinunter, der andere humpelte in seine Richtung. Er hatte dunkle Haare, die ihm bis über die Ohren wuchsen. An Armen und Hals wanden sich schwarze Tattoos. Auch seine Augen waren schwarz umrandet, als wäre er geschminkt. Lelle setzte sich aufrecht hin.
»Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?«
»Doch, klar.«
Lelle reichte ihm die Zigarettenschachtel, und der junge Mann kam auf ihn zugehumpelt. Er hatte auch Tattoos auf den Handknöcheln, links ein Kleeblatt und rechts ein paar Buchstaben.
»Was ist denn mit deinem Fuß passiert?«, fragte Lelle.
»Ich habe auf dem Brett Scheiße gebaut.«
»Aha.«
Lelle drückte seine Zigarette aus. Der andere musterte ihn. Seine Augen waren unangenehm hell im Kontrast zu seinen schwarzen Haaren
.
»Sind Sie nicht der Vater von Lina Gustafsson?«
Lelles Herz fing an zu rasen. »Doch, der bin ich. Kennst du sie?«
»Nee, aber alle wissen, wer sie ist.«
Lelle nickte. Ihm gefiel es, dass der junge Mann ebenfalls im Präsens von Lina sprach. »Wie heißt du?«
»Jesper, Jesper Skoog.«
»Gehst du auf die Tallbackaschule?«
»Ich habe letztes Jahr Abi gemacht. Ich war eine Klasse unter Lina.«
Lelle konnte sich nicht daran erinnern, den Jungen jemals zuvor gesehen zu haben, aber er sah sich die Menschen auch nicht mehr so genau an wie früher.
»Hattest du mich in Mathe?«
»Das hätte ich haben sollen, aber Sie waren die ganze Zeit krankgeschrieben.«
Lelle sah, wie nervös der Junge war, wie er mit den Armen zappelte und unablässig mit den Füßen auf dem Boden scharrte.
»Dann hattest du nie etwas mit Lina zu tun?«
»Ich bezweifle, dass sie weiß, wer ich bin.«
»Aha?«
Jesper nahm einen letzten Zug von der Zigarette und schnipste sie weg. Er hatte ein Piercing in der Zunge, das gegen die Vorderzähne schlug.
»Sie hatte ja nur Augen für Mikke Wolf.«
»Ja, stimmt, so war das.«
»Die waren ja richtig besessen voneinander.«
»Besessen?«
»Ja, das fanden alle.«
Lelle dachte einen Augenblick darüber nach. Die Nacht
war so still wie zuvor, das einzige Geräusch, das man hörte, war das Klicken des Silberrings gegen die Zähne. Das konnte doch nicht gut für den Zahnschmelz sein. Lelle bot Jesper eine zweite Zigarette an. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit genoss er es, über Lina zu sprechen.
»Du fragst dich wahrscheinlich, was ich hier mitten in der Nacht mache«, sagte Lelle.
»Hier ist sie verschwunden, oder?«
»Richtig.«
»Dann sitzen Sie hier und warten darauf, dass sie zurückkommt.« Das war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Genau das mache ich.«
Jesper nahm einen tiefen Zug. Die Nachtsonne zeichnete silberne Streifen in sein schwarzes Haar. Unter den dunklen Ponyfransen und den vielen Tattoos sah man einen unsicheren Jungen.
»Alle mochten Lina, aber niemand mochte den Wolf«, sagte er.
»Das hat mir bisher noch niemand gesagt.«
Ein weiterer Zug von der Zigarette. Klick, klick, klick gegen die Zähne.
»Er war fies zu uns Jüngeren, hat uns nicht ernst genommen.« Jesper spuckte auf den Boden. »Außerdem war er total angeberisch.«
»Ja, der hat was Protziges.«
»Sie war viel zu gut für ihn. Das fanden auch alle.«
»Das war mir nicht bewusst.«
Jesper ließ die Zigarette in eine Pfütze fallen. Lelle sah zu, wie die Glut erlosch.
»Es gibt ja Leute, die sagen, dass er es getan hat. Dass er es auch gestanden hat.
«
»Was gestanden?«
»Dass er Lina getötet hat.«
Die Worte hallten durch seinen Kopf.
»Wer sagt das?«
»Ein paar Typen aus Lajkasjärvi. Zwei Brüder. Die haben dem Wolf und seinen Leuten Alkohol verkauft. Als er mal besoffen war, soll er es gestanden haben.«
»Das kann ja gar nicht sein, Mikke Wolf hat ein Alibi, das hat die Polizei ja längst geprüft.«
Jesper klickte wieder mit seinem Piercing. »Ich sage ja nur das, was ich gehört habe.«
»Lina ist nicht tot«, sagte Lelle. Seine Hände waren ganz feucht geworden. »Es kann sie niemand getötet haben, weil sie nicht tot ist
.«
Klick. Klick. Klick.
Jespers Blick blieb an seinen Füßen hängen. Lelle spürte, wie die Wut in ihm wuchs.
»Und wie heißen die Brüder?«
»Jonas und Jonah. Ringberg.«
»Jonas und Jonah?«
»Es sind Zwillinge.«
Lelle notierte sich die Namen in seinem Handy und überlegte, wie weit es nach Lajkasjärvi war.
»Weißt du, wo man diese Brüder antreffen kann?«
»Die hängen am Wochenende meistens auf dem Glimmersberget ab und verkaufen den Kids da Alkohol.«
Lelle tippte diese Informationen ebenfalls in sein Handy, musste sich allerdings wahnsinnig anstrengen, um ruhig zu bleiben.
»Ich muss los«, sagte Jesper. »Wollen Sie die ganze Nacht hier sitzen?«
»Vielleicht.
«
»Haben Sie Lust auf ein Bier?«
Lelle schluckte, der Durst klebte an seinen überspannten Nerven.
»Das wäre super.«
Jesper nahm den verblichenen, blauen Fjällräven-Rucksack vom Rücken und gab Lelle ein Corona.
»Sommerbier«, sagte er, »am besten ist es mit einer Scheibe Limette im Flaschenhals.«
»Das wird auch so gehen.«
Jesper warf seine Mähne nach hinten und humpelte weiter Richtung Zentrum. Kurz vor der Unterführung drehte er sich um.
»Ich hoffe sehr, dass sie zurückkommt!«, rief er.
Lelle hob die Hand, als würde er die Worte auffangen. Er nippte am Bier. »Das hoffe ich auch.«
Lelle trank das Bier in einem Zug aus, spürte aber keine Wirkung. Die Sonnenstrahlen badeten die Bushaltestelle in grellem Licht, wärmten ihn jedoch nicht. Sein ganzer Körper zitterte. Wie war es möglich, dass er noch nie etwas von den Brüdern Ringberg gehört hatte? Denn wenn das Gerücht, das Mikael Wolf die Tat gestanden hatte, wirklich im Umlauf war, dann hätte es doch auch die Polizei erfahren?
Er warf die leere Bierflasche in den Mülleimer und rannte los. Durchs Zentrum von Glimmersträsk, das menschenleer vor sich hin schlief. Er ignorierte die Spritzer aus den Pfützen, die seine Jeans mit dunklen Streifen schmückten. Beim Fußballplatz bog er von der Storgatan ab und nahm die Abkürzung über das Spielfeld, auf dem Rasensprenger Regenbogen in die Luft malten
.
Sein Hals brannte, als er das weiße Einfamilienhaus auf dem Hügel erreichte. In der Einfahrt, die von leuchtenden Veilchen gesäumt war, stand der Streifenwagen. Er lief im Takt mit seinem Herzschlag über den Kies und stand vornübergebeugt an der Eingangstür, bis er wieder zu Atem gekommen war. Er legte die ganze Handfläche auf die Klingel, und als niemand öffnete, klopfte er gegen die Tür. Wie besessen hämmerte er dagegen, und der Wald hinter ihm warf das Echo zurück.
Als sich die Tür endlich öffnete, fiel er förmlich gegen Hassans nackte Brust. Der stand nur in Unterhose vor ihm, die Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab.
»Was ist los?«
»Die Brüder Ringberg«, keuchte Lelle, »Jonas und Jonah, kennst du die?«
Hassan schnitt eine Grimasse, als würde ihm die Nachtsonne Schmerzen bereiten.
»Was ist denn mit dir los, Lelle, hast du was getrunken? Du stinkst nach Bier!«
»Ein einziges Bier. Aber das ist doch jetzt auch scheißegal, du sollst mir zuhören. Ich habe vorhin an der Bushaltestelle gesessen und da einen jungen Typen kennengelernt, Jesper, und der hat erzählt, dass die Brüder Ringberg rumlaufen und behaupten, dass Mikael Wolf den Mord an Lina gestanden habe.«
Die Worte hinterließen einen widerlichen Geschmack in seinem Mund, er musste sich wegdrehen und ausspucken. Hassan kratzte sich an der Brust und war offenbar noch zu schlaftrunken, um den Ernst der Lage zu begreifen.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?
«
»Kennst du die Brüder Ringberg?«
»Jeder Sozialarbeiter und Bulle nördlich von Sundsvall kennt die beiden. Das sind kleine Fische, die im Umland mit Selbstgebranntem dealen. Die machen auch Einbrüche und kleinere Diebstähle. Sie wurden von Kindesbeinen an zwischen Heimen und Pflegefamilien hin und her gereicht.«
»Sie behaupten, dass Mikael Wolf gestanden haben soll.«
Hassan seufzte.
»Die Brüder Ringberg sind ungefähr so verlässlich wie das Wetter. Deren Aussagen messe ich keine große Bedeutung bei.«
»Dann hast du also davon gehört? Dass sie den Wolf beschuldigt haben?«
»Jetzt hör mir mal zu, Lelle. In den drei Jahren seit Linas Verschwinden waren Millionen von Gerüchten und Theorien im Umlauf. Du weißt das genauso gut wie ich. Wir haben in einer sehr frühen Phase Mikke Wolfs Hof mit Hilfe von Kriminaltechnikern und Leichenhunden auf den Kopf gestellt. Wir sind sogar zu deren Hütte in Vittangi gefahren, um uns dort umzusehen. Wir hatten damals von dieser Behauptung gehört und haben den Wolf daraufhin stundenlang unter Druck gesetzt. Wir haben mehr als vierzig Verhöre geführt, ohne das geringste Ergebnis. Er hat nichts gestanden, und ohne eine Leiche oder einen Beweis können wir ihn nicht festnehmen. Das weißt du doch alles selbst.«
»Ich finde, das klingt, als solltet ihr neue Beamte für die Verhöre einsetzen.«
Hassan legte die Stirn gegen den Türrahmen und kniff die Augen zusammen
.
»Du bewegst dich auf verdammt dünnem Eis, Lelle. Ich weiß, dass du leidest, aber ich habe auch deine ewigen Vorwürfe satt.«
Müdigkeit und Aufregung waren Lelle in die Beine gefahren, der Boden schwankte unter ihm. Er sah über seine Schulter. Der Polizeiwagen funkelte in der Sonne, und die bescheuerten Veilchen standen in hübschen Grüppchen davor.
»Ich brauche meinen Wagen«, sagte er. »Ich will nach Lajkasjärvi hochfahren und mich mal mit diesen Brüdern unterhalten.«
»Dein Auto ist konfisziert und steht auf der Wache. Und wenn ich höre, dass du es holst und damit nach Lajkasjärvi fährst, dann werde ich dafür sorgen, dass es für den gesamten Sommer beschlagnahmt wird.«
Lelle stützte sich auf das Geländer, versuchte, seine zitternden Beine unter Kontrolle zu bekommen. Hassan schob die Tür auf.
»Komm rein und schlaf dich aus, dann können wir später darüber reden.«
*
»Ich will nicht, dass du mit Göran allein bist.«
Carl-Johans Lippen kitzelten sie im Nacken, Meja drehte sich um, damit sie ihm in die Augen sehen konnte.
»Und warum nicht?«
»Weil du mein Mädchen bist und Göran immer alles haben will, was mir gehört.«
Meja schob ihn von sich weg. »Das hört sich an, als wäre ich dein Eigentum.
«
»So war das nicht gemeint, aber du merkst doch, wie er dich ansieht?«
Meja legte einen Finger auf seine Lippen. »Der kann gucken, so viel er will, du musst dir um mich keine Sorgen machen.«
Er zog sie dicht an sich, sein warmer Atem streichelte sie. »Halt dich einfach von ihm fern. Versprich mir das.«
In der Morgendämmerung stand er auf und ließ sie im Bett liegen. Wo er gelegen hatte, spürte Meja noch sein Gewicht auf ihrem Körper. Die Luft war stickig, und die Haut klebte, trotzdem hatte er darauf bestanden, sie die ganze Nacht über im Arm zu halten. Sie hatte vom Wald geträumt. Sie war über einen Pfad gerannt, und die Bäume hatten mit ihren Zweigen nach ihr gegriffen. Große Haarbüschel hingen darin.
Sie sah auf ihr Handy. Silje hatte ihr eine SMS geschickt.
Alles wieder gut. Ich habe TB verziehen. Er will, dass du nach Hause kommst, damit er sich bei dir entschuldigen kann.
Meja stand auf und öffnete den Fensterladen, ließ Licht ins Zimmer. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten und sie die Idylle draußen erfassen konnte. Es war wie in einem Film, die Kühe standen auf der Weide, und die Wildblumen kletterten an der Scheunenwand hoch. Hühner liefen über den Kies und ganz hinten am Schuppen meinte sie Carl-Johan sehen zu können. Er hatte ihr erzählt, dass sie schon spät dran waren mit dem Feuerholz, und sie hatte genickt, als hätte sie das alles verstanden. Sie kannte das Gefühl der Verunsicherung sehr gut, wie es sich anfühlte, in eine
Situation, an einen neuen Ort, in unbekannte Gesellschaft zu geraten und nicht zu wissen, was von einem erwartet wird. Da galt es, genau hinzusehen und mitzuspielen.
Unten in der Küche rannte Anita zwischen Ofen und Herd hin und her. Ein blutrotes Tuch bändigte ihr silbern-weißes Haar. Als sie Meja sah, hielt sie kurz inne und umarmte sie vorsichtig, darauf bedacht, sie nicht mit ihren mehligen Händen zu berühren. Mehrere ungebackene Brotlaibe lagen unter einem Tuch, um zu gehen. Der Raum duftete süß nach gekochten Beeren. Meja bekam schlagartig Hunger.
»Birger möchte mit dir reden.«
»Mit mir?«
»Er ist beim Hundezwinger.«
Meja hatte Hunde immer gerne gemocht. Aber diese norrländischen Hunde, die im Zwinger saßen und heulten, sahen wilder aus, wolfsähnlich. Sieben waren es, und sie hatten dickes Fell und hellblaue Augen, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. Carl-Johan hatte ihr gesagt, dass es Arbeitshunde waren und keine Kuscheltiere. Wenn sie kuscheln wollte, sollte sie lieber zu den Zicklein gehen.
Birger hatte zwei Eimer in den Händen, seine Nackenmuskeln waren dick wie Seile.
»Guten Morgen, Meja. Hast du gut geschlafen?«
»Ja, danke.«
»Das freut mich.«
Die Haut in seinem Gesicht hatte die Spannkraft verloren, das Kinn wackelte, wenn er lachte. Er stellte die Eimer auf den Boden und legte seine Hände auf ihre Schultern. Ganz vorsichtig, als befürchtete er, dass sie kaputtgehen könnte, wenn er zu viel Druck ausübte
.
»Wir sind sehr froh, dass du bei uns bist.«
Meja sah zu Boden, auf seine Stiefel, die fest auf dem matschigen Boden standen. Ein säuerlicher Geruch stieg aus den Eimern auf.
»Ich bin die, die froh ist.«
Da ließ er sie endlich los. Hob die Eimer wieder an und betrat den Hundezwinger. Dann goss er den Inhalt, Fischinnereien, in die Futternäpfe der Hunde, die sich unruhig gegen seine Beine drängten. Meja blieb auf der anderen Seite des Gitters stehen und atmete durch den Mund, vermied den Blick auf die rosa Masse, die von den Hunden gierig aufgeschleckt und geschluckt wurde.
»Wie du bestimmt mitbekommen hast, arbeiten wir hier auf dem Hof sehr hart, um uns so versorgen zu können. Und wenn du bei uns wohnen willst, dann erwarte ich auch, dass du deinen Teil dazu beiträgst.«
Meja umklammerte das Gitter.
»Ich habe immer nur in Städten gelebt, ich habe keine Ahnung von Landwirtschaft und so was.«
»Mach dir keine Sorgen, das werden wir dir alles beibringen. Eine bessere Ausbildung wirst du nirgendwo bekommen.«
Birger schüttete den letzten Rest aus den Eimern auf den Boden, woraufhin sich zwei der Hunde sofort darüber hermachten und darum kämpften. Ungeduldig schlug Birger mit den Eimern nach den beiden.
»Ich würde vorschlagen, dass du mit dem Hühnerstall anfängst. Du bist verantwortlich für die Eier und die Sauberkeit. Anita zeigt dir, wie es geht. Bist du damit einverstanden?«
»Sehr einverstanden.
«
»Dann ist das abgemacht.«
Er lächelte und entblößte seine Zahnlücken, und Meja musste unwillkürlich an die Tastatur eines Klaviers denken. Die Hunde hatten schon fertig gefressen und standen jaulend neben den leeren Futternäpfen.
»Eine Sache noch«, sagte Birger. »Und die wird dir wahrscheinlich nicht gefallen, aber ich will, dass du dein sogenanntes Smartphone abgibst.«
Meja drückte beide Hände auf ihren Magen, der lauthals Frühstück forderte. Diesen Trick hatte sie vor einiger Zeit entdeckt. Wenn sie nur fest genug drückte, konnte sie den Hunger zum Schweigen bringen. Das iPhone brannte in ihrer Tasche.
»Und warum?«
»Weil diese Telefone die reinsten Überwachungsinstrumente sind. Wir haben hier auf Svartsjö gemeinsam beschlossen, dass wir unsere Integrität so weit wie möglich bewahren wollen, und um das gewährleisten zu können, müssen wir uns leider gegen die neuen Technologien stellen.«
Meja holte das Handy aus der Tasche und umklammerte es.
Birger schob einen Finger unter ein Brillenglas und rieb sich das tränende Auge, dabei sah er sie mitfühlend an.
»Ich verstehe, dass es schwer für dich ist. Deine Generation ist mit dieser Sucht aufgewachsen, immer und überall erreichbar zu sein. Meine Söhne haben gegen dieselben Kräfte kämpfen müssen. Aber wir haben diesen Entschluss gefasst, um unsere Sicherheit zu wahren.«
»Aber das ist die einzige Möglichkeit für Silje, mich zu erreichen.
«
»Wir haben einen Festnetzanschluss. Gib ihr unsere Nummer, dann kann sie anrufen, wann sie will.«
Er schob sich an den Hundekörpern vorbei und verschloss sorgfältig das Gitter hinter sich.
»Denk in Ruhe darüber nach. Leider kann ich für dich keine Ausnahmen machen. Es müssen die gleichen Regeln für alle gelten.«
Meja bewegte das Handy in ihrer Hand hin und her. In ihr kribbelte es bis hinunter zum Steißbein.
»Ich schreibe ihr noch eine letzte SMS.«
Ihre Finger stolperten beim Tippen übereinander, so eifrig waren sie. Sie tippte nur zwei Sätze. Dann drückte sie auf Senden und gab Birger das Gerät. Ihre Hand wurde auf einmal ganz leicht, als wäre eine schwere Last von ihr genommen worden. In ihr keimte so etwas wie Hoffnung auf. Ohne Handy würde Silje sie nicht belästigen können. Jetzt war sie endlich frei.
*
Lelle wachte davon auf, dass Licht über Hassans frisch abgezogenen Holzboden fiel. Sein Nacken war ganz steif von der Armlehne des Sofas, aber wenigstens hatte er die schönen Kissen nicht vollgesabbert. Er hörte Klaviermusik und das Geräusch von Eiern, die in eine Pfanne geschlagen wurden. Sofort fühlte er die alte Scham in sich aufsteigen, als er an den ersten Winter nach Linas Verschwinden dachte, in dem er sich nur hatte volllaufen lassen.
Hassans Küche war modern und schneeweiß mit lauter geraden, nichtssagenden Linien. Es war eine Küche, in der jeder Gegenstand, der nicht schön und stilecht war,
vollkommen fehl am Platz wirkte. Und er gehörte in diese Kategorie. Er blieb auf der Türschwelle stehen. Hassan drehte sich zu ihm, als er ihn kommen hörte.
»Soso, da haben wir ihn ja. Hast du geschlafen?«
»Ein bisschen.«
»Setz dich, dann bekommst du was zu essen.«
»Danke, aber ich muss los.«
Hassan legte den Bratenwender neben den Herd. »Ich hoffe, du hast nicht vor, eine Dummheit zu begehen?«
»Was meinst du damit?«
»Mit den Brüdern Ringberg ist nicht gut Kirschen essen.«
»Mit mir im Moment auch nicht.«
Hassan streute Salz und Pfeffer auf die Spiegeleier und aß dann direkt aus der Pfanne.
»Glaubst du wirklich, dass Mikael Wolf was damit zu tun hat? Dass dieser Typ so unfassbar schlau ist und uns drei Jahre lang was vorgemacht hat?«
»Ich glaube gar nichts mehr, damit habe ich vor Langem aufgehört. Ich weiß nur, dass ich mir jedes Loch ansehen muss, egal was es kostet.«
»Aber die Brüder Ringberg sitzen nicht in irgendeinem Loch, das sind zwei verdammt heimtückische Scheißkerle. Die scheuen auch nicht davor zurück, harte Bandagen anzulegen, will ich mal sagen.«
Lelle rieb sich das Gesicht, in dem ein Dreitagebart spross. »Das klingt, als wäre es an der Zeit, ihnen mal ihre Grenzen aufzuzeigen.«
»Versprichst du mir bitte, dass du die Brüder Ringberg in Frieden lässt?«
Lelle sah an die Decke, wo kleine Lampen eingelassen
waren. »Gib mir Bescheid, wenn ich meinen Wagen abholen kann.«
*
Vier Eier pro Tag. Manchmal auch fünf. Meja drehte regelmäßig ihre Runden zum Hühnerstall. Am Anfang hatte sie Angst vor den Tieren gehabt. Das lag an ihren blinzelnden Augen und den zuckenden Köpfen. Die ersten Male hatte sie nur die Hand reingestreckt, um an die Eier zu kommen. Aber dann traute sie sich, immer ein bisschen länger zu bleiben und die Bewegungen und Verhaltensweisen verstehen zu lernen. Sie machten unheimlich viel Dreck und kackten alles voll. Es war schwer, den Hühnerstall sauber zu halten. Einige Hühner hackten nach einem anderen Huhn. Sogar der Hahn schikanierte es und hackte nach ihm, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Als Meja eines Morgens in den Stall kam, hatte das Huhn kaum noch Federn am Körper. Es saß ganz jämmerlich in einer Ecke. Die Sägespäne am Boden waren voller Blutflecken.
Anita gab ihr eine Dose mit Teersalbe.
»Reib es damit ein, dann lassen die anderen es in Frieden. Kein Grund, darüber Tränen zu vergießen.«
Carl-Johan bearbeitete das Feuerholz mit Axt und Säge. Meja saß im Gras und sah ihm zu. Sie war fasziniert von seinem Körper, der vor Schweiß glänzte. Seine Muskeln an Armen und Schultern spannten sich vor Anstrengung. Es kribbelte in ihr. Es machte ihr nichts aus, dass er nach Schweiß roch, wenn er zu ihr kam, sich auf sie legte und seine nassen Haare Abdrücke auf ihrer Kleidung
hinterließen. In den Pausen versteckten sie sich im hohen Gras und erforschten den Körper des anderen, mit rissigen und fleckigen Händen. Weder Dreck noch Erschöpfung hielten sie davon ab. Es waren kurze, intensive Momente, bis sie wieder jemand zur Arbeit rief. Aber sie hatten nie genug Zeit, um diesen Hunger ganz zu stillen.
Bei den Mahlzeiten saßen sie alle zusammen, auch wenn die anderen Familienmitglieder in der Peripherie verschwanden. Birger und Pär redeten die ganze Zeit über den Untergang. Obwohl sie sich gegen die modernen Technologien stellten, wurden abends oft Podcasts gehört. Sie waren das notwendige Übel, um an die richtigen, wahren Informationen zu kommen, sagte Birger. Die wurden in den normalen Nachrichtensendungen nämlich unterschlagen. Sie hörten hauptsächlich amerikanische Podcasts, die von Überlebensstrategien handelten. Wie man sich auf die verschiedensten Krisensituationen vorbereiten konnte, welche Lebensmittel man unbedingt einlagern sollte und wie man einfachere Operationen durchführte. Es ging oft um bevorstehende Katastrophen. Birger und Pär verloren sich nur zu gerne in der Diskussion über ihre Theorien. Eine Verschwörung zwischen den USA und Russland. Biologische Waffen und die Lügenpresse. Zwischendurch wurden die Gespräche so hitzig, dass einer von ihnen auf den Tisch schlug und das Geschirr klirrte. Meja begriff die Ernsthaftigkeit nicht, aber ihre Aufmerksamkeit galt auch Carl-Johan. Sein nacktes Knie, das sich an ihres drückte. Seine Finger unter ihrer Shorts. Das Lächeln, das die ganze Zeit um seine Lippen spielte und ansteckend war.
»Warum grinst ihr beiden eigentlich die ganze Zeit?«, wollte Birger wissen
.
Meja hätte sich gewünscht, dass sie mehr Zeit allein hätten, damit sie solchen Fragen aus dem Weg gehen konnte. Birger machte sich einen Spaß daraus, sie auszufragen, während Pär und Göran höhnisch zusahen.
»Wir stehen am Rande eines weltweiten Kollapses, und Schweden will seine Rüstungsausgaben weiter senken. Wie findest du das, Meja?«
»Wie finde ich was?«
»Warum werden deiner Meinung nach die Rüstungsausgaben gesenkt?«
»Weil die Kosten zu hoch sind?«
Pär prustete vor Lachen und sprühte Krümel über den Tisch.
»Das ist genau das, was wir glauben sollen«, sagte Birger gutmütig. »Gleichzeitig aber wollen
sie, dass wir untergehen, dass wir hilflos zusehen, wenn die Hölle über uns hereinbricht.«
»Lass sie in Ruhe«, sagte Carl-Johan. »Du sollst ihr keine Angst machen.«
»Ich will doch nur, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie mit offenen Augen durch die Welt gehen soll. Die ist nämlich kein Kinderspielplatz.«
Als sie abends ineinander verschlungen, erschöpft und befriedigt im Bett lagen, fragte sie ihn, ob er an das Gleiche glaubte wie Birger und seine Brüder.
»Die Menschen sind nicht bereit, das Schlimmste zu erwarten, von der Welt und ihren Mitmenschen. Wir wollen uns nicht darauf vorbereiten. Es ist ganz natürlich, die Augen davor zu verschließen und den Kopf in den Sand zu stecken, bis es zu spät ist. Aber mein Vater hat mir
beigebracht, wie ein Überlebender zu denken: immer vorbereitet zu sein, immer einen Schritt voraus zu sein.«
»Aber ist das nicht deprimierend, immer nur das Schlimmste zu erwarten?«
»Ich finde es deprimierender, über Nacht alles zu verlieren – die, die man liebt, das eigene Leben –, nur weil man keine Lust hatte, der Wahrheit ins Auge zu sehen.«
»Aber glaubst du wirklich, dass das passieren wird? Dass hier in Schweden Krieg ausbricht?«
Carl-Johan schob seinen Arm um ihre Taille und legte sein Kinn auf ihr Schlüsselbein. Seine Stimme war ganz rau vor Müdigkeit.
»Ja, das glaube ich. Anzeichen dafür findet man überall. Aber eigentlich spielt das auch gar keine Rolle. Das Wichtigste ist ja, dass man darauf vorbereitet ist, ganz gleich was passiert. Dass uns niemand etwas antun kann.«
In ihrem Traum in dieser Nacht war sie das Huhn, auf dem die anderen herumhackten. Sie saß in Anitas sonnendurchfluteter Küche, als sie anfingen, an ihr zu reißen und sie zu kratzen. Birger und die anderen. Mit scharfen Schnäbeln hackten sie nach ihr, rissen ihr die Haare aus, bis sie am ganzen Körper nackt und blutig war.
*
Es war Samstagabend. Der Himmel hing tief über den Baumwipfeln. Die dunklen Wolken drohten jeden Augenblick zu bersten. Lelle zog sich die Gummistiefel an und seine Kapuze über den Kopf. Er hatte die Pistole in der Hand, entschied sich dann aber doch, sie zu Hause zu
lassen. Das war sicherer. Er hatte kein Auto, aber zum Glück war es nicht weit bis zum Glimmersberg. Jesper hatte ihm erzählt, dass sie sich am Wochenende dort aufhielten. Die Brüder Ringberg und der Wolf.
Er nahm den Weg durch den Birkenwald und roch den Rauch, lange bevor er die Lagerfeuer sah. Wie ein mutloser Schatten erhob sich der Berg über dem Ort. Auf seiner östlichen Seite konnte man auf einem Schotterweg fast bis auf die Bergspitze fahren. Wenn man ein Auto hatte. Lelle beschloss, einen der Wege zu nehmen, die nicht gekennzeichnet waren und die an der Südseite entlangführten. Er war ziemlich zugewuchert und steil, und er musste immer wieder rutschige, vor Nässe glänzende Felsen umrunden.
Zwischen den Bäumen sah er den schwelenden Rauch von mehreren Lagerfeuern, hörte Stimmen, die sich wie ein Lied im Wind hoben und senkten. Es waren offenbar viele Teilnehmer. Seine Waden brannten, er musste eine Pause einlegen, damit sein Herzschlag sich beruhigen konnte. Er spürte Lina neben sich, obwohl er sie nicht sehen konnte. Sie waren hier früher mit dem Scooter gefahren, während die Nordlichter über ihren Köpfen tanzten und die Kälte in der Lunge stach. Ihre Augen hatten so geleuchtet wie die Lichter am Himmel.
»Die sehen aus wie Engelsflügel.«
»Findest du?«
»Siehst du nicht, wie die fliegen?«
Die Erinnerung brannte mit den körperlichen Schmerzen um die Wette. Er hockte sich kurz hin und spürte, wie die Wolken immer tiefer sanken. Kurz darauf fiel der Regen, bedeckte ihn, lief über seine Nase und tropfte in
den Kragen. Er hörte Linas Stimme zur Melodie der Regentropfen.
»Geh nach Hause, Papa. Du hast hier nichts verloren.«
Er hörte lautes Geheul und Geschrei durch den strömenden Regen, wie ein Rudel wilder Tiere. Ihm schnürte sich der Hals zu. Das letzte Stück schlich er ganz langsam, wie ein Jäger schob er sich durch das Unterholz, bis er sie sah. Sie standen in Kreisen um die Feuer herum. Es knackte und knisterte, er spürte die Hitze auf seinen regennassen Wangen. Laute, schwere Musik verschluckte die Stimmen. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Es waren mehr Jugendliche, als er erwartet hatte. Hauptsächlich junge Männer, deren Gesichter im Schein des Feuers gespenstisch aussahen. Der Geruch von Haschisch mischte sich mit dem Geruch von Feuchtigkeit und Wald. Er erkannte ein paar Gesichter von der Tallbackaschule, meinte sogar Jesper Skoog zu sehen, war sich aber nicht sicher.
Lelle atmete tief ein und versuchte, seinen inneren Widerstand zu überwinden. Dann stand er auf und ging auf sie zu. Er versuchte, sie zu zählen, aber es waren zu viele, der ganze Wald schien in Bewegung zu sein. Er stellte sich mitten in eine der Gruppen, mit dem Rücken zum Feuer, und suchte nach einem bekannten Gesicht. Einige der Jugendlichen verbargen schnell ihre Bierdosen, andere warfen ihre Joints ins Feuer. Er hörte, wie sie sich etwas zuflüsterten.
»Ich habe nicht vor, eure Party zu crashen«, sagte Lelle. »Ich bin nur auf der Suche nach den Brüdern Ringberg. Jonas und Jonah, hat einer von euch sie gesehen?«
Ein junger Mann kam mit starrem Blick auf Lelle zu.
»Bist du ein Bulle oder so was?
«
Die Musik war verstummt, und es hatte aufgehört zu regnen, und alles, was er hörte, war sein eigener Herzschlag. Sie kamen von allen Seiten auf ihn zu, schlossen den Kreis um ihn, wie Wölfe ihre Beute einkreisen.
»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte er, aber seine Stimme ließ ihn im Stich.
Ein hochgewachsener Typ trat vor und leuchtete Lelle mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
»Ich kenne Sie doch, Sie sind ein Lehrer von der Tallbacka.«
Ein überraschtes Raunen ging durch die Menge. Er hob die Hand gegen das grelle Licht.
»Das ist richtig. Und mir ist es scheißegal, was ihr hier macht. Ich will nur mit den Ringbergs sprechen. Weiß jemand, wo ich die finden kann?«
Der Junge senkte die Taschenlampe. »Was wollen Sie denn von denen?«
»Ich will mit ihnen über ein Gerücht reden.«
»Und was für ein Gerücht?«
»Sie wissen angeblich etwas über meine Tochter.«
Lelle holte das Foto von der lächelnden Lina aus der Jackentasche und zeigte es in die Runde.
»Das ist meine Tochter Lina. Wie viele wissen, ist sie vor drei Jahren an der Bushaltestelle in Glimmers verschwunden. Wenn jemand von euch etwas darüber weiß, dann flehe ich euch an, sagt es mir. Es ist nicht zu spät.«
Er bekam nur leere Blicke als Antwort. Regennasse Gesichter, die er nicht lesen konnte. Ihre Angst machte ihn wütend.
»Gibt es wirklich niemanden, der etwas zu sagen hat?«
Lelle zog sich die Kapuze über den Kopf, sah jedes
einzelne blasse Gesicht an und spürte den Impuls, sich auf sie zu stürzen. Sie mit bloßen Händen zu Boden zu rammen. Wie ein Berserker auf ihre feigen Körper einzudreschen. Er wünschte, er hätte seine Pistole mitgenommen. Die hätte sie zum Reden gebracht.
Er war ganz aufgelöst vor Wut, als er sich nach einer Unendlichkeit abwandte und den Rückweg antrat. Er war noch nicht weit gekommen, als plötzlich zwei Gestalten hinter ihm auftauchten. Es ging alles ganz schnell. Der eine packte ihn am Arm.
»Ich bin Jonas Ringberg.«
*
Meja tat der ganze Körper weh. Sie war hundert Mal mit der Schubkarre zwischen Hackklotz und dem Holzschuppen hin und her gefahren. Hatte Holzscheite auf- und abgeladen und aufeinandergestapelt, bis ihre Schultern vor Schmerzen schrien. Die Erschöpfung lag wie eine schwere Decke auf ihr, und als Carl-Johan und seine Brüder zum See gingen, um ins Wasser zu springen, hatte sie keine Kraft mehr gehabt, ihnen zu folgen. Sie lag stumm und müde auf dem Bett.
Plötzlich stand Anita neben ihr, sie trug bereits ein Nachthemd und hatte ihre Haare geflochten.
»Du hast Besuch, Meja. Vorne am Tor.«
Sie sah Torbjörns Wagen schon von Weitem. Er war mit Rostflecken übersät, die aussahen wie offene Fleischwunden. Sie musste an das zerrupfte Huhn denken. Sie waren beide ausgestiegen. Torbjörn lief wie ein nervöser Stier vor der Motorhaube auf und ab. Silje hatte ihre Augen hinter
einer schwarzen Sonnenbrille versteckt und rauchte auf eine betont gleichgültige Art, an der Meja sehen konnte, dass sie aufgeregt war. Ihre nackten Füße verschwanden im hohen Gras, ansonsten trug sie nur eine abgeschnittene Jeans und ein ausgeblichenes Bikinioberteil. Ihre Haare waren verknotet wie bei einem Vogelnest. Meja hatte schon keine Lust mehr auf das Gespräch, noch bevor das erste Wort gewechselt worden war.
»Was wollt ihr hier?«
»Wir wollten sehen, wie es dir geht. Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht.«
Silje schob sich die Sonnenbrille in die Stirn und musterte Meja eingehend. »Oh Gott, bist du dreckig! Was hast du denn gemacht?«
»Gearbeitet.«
»Gearbeitet? Dann hoffe ich doch, dass du dafür wenigstens Geld bekommst. Deine Klamotten sind ja total ruiniert.«
»Wenigstens habe ich welche an. Im Unterschied zu dir.«
Torbjörn stellte sich zwischen die beiden und hob flehend die Hände. »Jetzt beruhigen wir uns alle wieder. Wir möchten gerne, dass du wieder nach Hause kommst, Meja.«
»Aber Svartsjö ist jetzt mein Zuhause.«
Torbjörns Stirn glänzte wie eine überreife Preiselbeere. »Wenn das was mit meiner Heftsammlung zu tun hat, dann sollst du wissen, dass damit jetzt ein für alle Mal Schluss ist. Der Dreck ist weg. Dank Silje – und dir – habe ich die Chance bekommen, ein neues Kapitel in meinem Leben …
«
»Damit hat das nichts zu tun. Ich will einfach lieber hier wohnen, bei Carl-Johan.«
»Wir finden nicht, dass das eine gute Idee ist.«
»Das interessiert mich nicht.«
Torbjörn sah hilflos zu Silje, sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Und was sagen Birger und Anita dazu?«
»Die haben mich mit offenen Armen empfangen.«
Silje schob die Sonnenbrille zurück auf die Nase und hob das Kinn, ihre Lippen schlossen sich um den Filter der Zigarette.
»Und wie soll ich dich erreichen können, wenn du dein Handy abgegeben hast?«
»Du kannst bei Birger und Anita auf dem Festnetz anrufen und nach mir fragen.«
Silje schwankte. »Haben die dir ’ne Hirnwäsche verpasst oder was?«
»Hör auf damit!«
»Warum hast du das Handy abgegeben?«
»Einfach so. Jetzt kannst du dich auch nicht mehr über die Rechnung beklagen.«
Silje lehnte sich vor, flüsterte. »Betreiben die hier so eine Art Sekte? Haben sie Carl-Johan als Lockvogel benutzt?«
Meja lachte kalt und hölzern.
»Fahr nach Hause und schlaf deinen Rausch aus«, sagte sie, »und komm mal wieder in der Wirklichkeit an.«
Siljes Lippen wurden zu einer wütenden, schmollenden Blume. Sie warf ihre Zigarette gegen das verrostete Auto und öffnete die Beifahrertür. »Du weißt, wo ich bin, wenn Schluss ist. Denn es ist immer Schluss, irgendwann.«
Sie knallte die Tür zu. Das Echo hallte durch den Wald.
Torbjörn rührte sich nicht, sah sie mit bettelnden Hundeaugen an. »Du bist viel zu jung, um von zu Hause auszuziehen, Meja. Du bist noch keine achtzehn.«
»Frag Silje mal, wie alt sie war, als sie von zu Hause abgehauen ist.«
»Wir vermissen dich, glaub mir bitte. Wir vermissen dich beide.«
Er stampfte mit den Füßen und sah sie an, als würde er ertrinken. Mejas Augen brannten, sie sah über die Schulter, den Weg hinunter, der zum See führte, und hoffte, Carl-Johan würde von dort kommen. Sie räusperte sich, um die Tränen zu ersticken.
»Wir kommen mal vorbei, euch besuchen. Versprochen.«
»Das würde mich sehr freuen. Lass dich von Birger nicht kaputtmachen.«
»Lass dich von Silje nicht kaputtmachen.«
Er lächelte. Es sah fast so aus, als würde er sie umarmen wollen, aber nur für einen kurzen Augenblick, dann lehnte sich Silje auf die Hupe, und er hatte es auf einmal sehr eilig.
»Ruf an, wenn sie ins dunkle Loch fällt«, rief ihm Meja hinterher. »Versprich mir das!«
*
Die jungen Männer waren größer als Lelle, zwei identische, blasse Gesichter unter dunklen Kapuzen. Er lehnte sich gegen einen Baumstamm. Sie hatten ihn tiefer ins Unterholz gezerrt, wo sie niemand sehen konnte. Lelle schob seine Hand in die Hosentasche und schloss sie zu einer Faust um seinen Schlüsselbund. Er spürte einen Druck auf der Brust, bekam keine Luft
.
»Ich will keinen Ärger machen.«
Ihre Augen brannten förmlich. Der Typ, der sich Jonas genannt hatte, beugte sich zu ihm, sein Gesicht war nur Millimeter von Lelles entfernt. Er stank nach Alkohol.
»Wer zum Teufel bist du überhaupt?«, sagte er. »Rennst hier rum und brüllst unsere Namen durch die Gegend.«
Er zog Lelles Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche und nahm seine Führerscheinkarte heraus. Lelle ließ ihn gewähren, seine Hand mit dem Schlüssel tat weh.
»Lennart Gustafsson«, las Jonas laut und musterte ihn. »Und du bist sicher, dass du kein Bulle bist?«
»Ich bin nicht von der Polizei, und mir ist es scheißegal, was ihr hier oben macht. Ich bin hier, weil ich gehört habe, dass ihr was über meine Tochter wisst.«
»Wir wissen nichts über deine Tochter!«
Lelle nahm ihm Führerschein und Portemonnaie ab und holte das Foto von Lina raus. Hielt es wie einen Schild vor sich.
»Das ist Lina«, seine Stimme zitterte. »Sie wurde mir vor drei Jahren genommen – drei Jahre!
–, und ich bin bereit, alles zu tun, um herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Versteht ihr das?
«
Ihre Kiefer arbeiteten, sie knirschten vor und zurück.
»Das klingt ja alles sehr tragisch«, sagte Jonas, »aber wir haben damit nichts zu tun.«
»Vielleicht nicht, aber offenbar seid ihr rumgerannt und habt behauptet, dass ihr wisst
, wessen Schuld es ist.«
Die Brüder wechselten Blicke. »Wir haben nur das Gerücht gehört. So wie alle anderen auch.«
»Was denn für ein Gerücht?«
»Es gab viel Gerede in den letzten Jahren.
«
»Was für ein Gerede? Worüber?«
Jonas sah in den Himmel und seufzte. »Ich will ja kein Salz in deine Wunden streuen, aber deine Tochter war mit einem echten Mistkerl zusammen.«
»Ich nehme an, dass du Mikael Wolf damit meinst?«
»Kann sein, dass er in echt so heißt, wir nennen ihn alle nur den Wolf.«
»Und warum ist er ein Mistkerl?«
»Er hat bei uns immer Sprit gekauft und auch sofort bezahlt, zumindest am Anfang. Bis seine Freundin verschwunden ist. Danach ist er total durchgedreht. Rief fast jeden Abend an und wollte auf Pump kaufen. Auch andere Sachen, Tabletten und so was. Der hat mehr Party gemacht, als er sich leisten konnte. So was können wir nicht leiden.«
Lelle musste an Mikael Wolf denken, wie er auf ihn zugetorkelt war und mit den Fingern symbolisch auf ihn geschossen hatte. An den Einbruch während des Fackelzuges, und wie er heulend bei ihm in der Küche gesessen hatte. Ihm wurde übel.
Jonas rollte sich eine Prise Kautabak.
»Wir mussten zu ihm nach Hause fahren und unsere Kohle einfordern, und da ist er voll ausgetickt. Und hat rumgefaselt, dass er es getan hat.«
»Was getan?«
»Du weißt schon. Dass er sie abgemurkst hat.«
Lelle hielt sich am Baumstamm fest, seine Beine gaben nach. Jonas klang so gleichgültig, als würde er übers Wetter sprechen. Sein Zwilling stand wie ein stummer Schatten neben ihm, konnte Lelle nicht in die Augen sehen.
»Kannst du genau wiedergeben, was er gesagt hat?«
»Das ist so lange her, das weiß ich nicht mehr so genau.
Er hat gesagt, dass sie sich gestritten hatten und er die Kontrolle verloren hat. Dann hat er ihre Leiche entsorgt und damit angegeben, dass sie niemand finden wird.«
Lelle sank auf die Knie. Die Worte hallten in seinem Kopf. Er musste sich übergeben, beugte sich vor und würgte, aber es kam nichts. Der Boden vibrierte, als er zu den Brüdern hochsah.
»Warum seid ihr damit nicht zur Polizei gegangen?«
Sie schnaubten. Beide. Der Kautabak in Jonas Mund schmatzte.
»Wir reden nicht mit den Bullen, wenn wir das vermeiden können.«
»Aber hier ging es doch nicht um euer beschissenes Drogenbusiness, sondern um das Verschwinden einer Siebzehnjährigen. Wenn es stimmt, dass der Wolf gestanden hat, dann verändert das doch alles!«
Lelle stand stöhnend wieder auf. Seine Wut half ihm, sich aufzurichten, sie machte ihn größer. Aber er konnte seine Gedanken nicht ordnen. Er baute sich vor Jonas auf, konnte seinen schnaufenden Atem auf dem Gesicht spüren. Starrte ihn an, während sich beide Hände zu Fäusten ballten. Er wollte um sich schlagen, treten und zerstören. Alles in ihm schrie danach. Er wollte verletzen.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Jonah sich näherte. Er hatte keine Angst, dass er allein und sie zu zweit waren.
»Ihr seid jämmerliche Feiglinge«, sagte er, »die lieber ihre eigene Haut retten wollen als das Leben eines jungen Mädchens. Die Drogen an Kinder verkaufen, statt etwas Vernünftiges aus ihrem Leben zu machen. Leute wie euch sollte man einfach abknallen.«
Das zeigte Wirkung. Jonas brüllte laut auf, packte Lelle
an der Jacke und zog ihn zu sich. Lelle wollte sich aus dem Griff winden, sah aber, wie der andere ein Messer zückte. Er spürte den kalten Stahl an seinem Hals und erstarrte.
»Ich kapier schon, dass du wütend und frustriert bist«, sagte Jonas. »Wäre meine Tochter verschwunden, hätte ich auch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Täter zu finden. Aber wir haben mit dem Scheiß nichts zu tun, und mir gefällt deine Einstellung überhaupt nicht.«
Das Messer brannte auf der Haut, ihm lief etwas Warmes am Hals hinunter, und er konnte nicht sagen, ob es Schweiß oder Blut war.
»Na los, stich zu«, sagte Lelle. »Tu es. Los jetzt
.«
Der Griff wurde fester, die Messerschneide drückte so tief in die Haut, dass es beim Atmen wehtat. Aber er sah ihnen an, dass sie zögerten, sie würden es niemals tun. Die Enttäuschung darüber schlug ihm erneut auf den Magen.
Jonas sah Lelle lange an, eine stumme Warnung, erst dann gab er seinem Bruder mit einem Zeichen zu verstehen, dass er das Messer wegnehmen sollte. Er stieß Lelle mit einer solchen Wucht von sich, dass der umfiel und liegenblieb. Sie spuckten ihn an.
»Das nächste Mal haben wir nicht so viel Geduld mit dir«, sagte Jonas. »Du solltest mal lieber beim Wolf nachhaken, der sollte deine Wut abbekommen.«
Lelle sah ihnen hinterher. Der Boden schmatzte, als sie davonrannten. Er würde ihnen nicht hinterherlaufen, er war fertig mit ihnen. Sie waren jetzt nutzlos.
Zuerst fingen seine Arme an zu zittern, dann folgte der restliche Körper. Seine Gliedmaßen wurden tonnenschwer und unkontrollierbar. Sie wollten ihm nicht gehorchen. Er bohrte seine Finger in den Waldboden, sank tief in den
moosigen Untergrund und ließ sich von dem kalten, feuchten Erdreich verschlingen. Er hörte das Klappern seiner Zähne nicht, nur das Flüstern der Bäume und Jonas’ Worte, die in seinem Kopf echoten. »Dann hat er ihre Leiche entsorgt und damit angegeben, dass sie niemand finden wird.«
*
Meja hatte noch nie in einer richtigen Familie gelebt. Sie ertappte sich dabei, wie sie alle Mitglieder beobachtete, um sie besser kennenzulernen. Es bestand kein Zweifel daran, dass Birger das Sagen hatte. Sobald er den Raum betrat, waren sofort alle mit irgendetwas beschäftigt, er musste selten etwas sagen, seine bloße Anwesenheit genügte schon.
Er sprach Anita mit Meine Liebe
an und drückte ihr gerne einen Kuss auf den Scheitel, trotzdem bemerkte Meja schnell, dass es nur ein Spiel war. Sie hatte diese Sorte von Spiel oft bei Silje und ihren Männern beobachtet, und es enttäuschte sie, dass auch Birger und Anita da mitmachten, dass sie sich auch zu gegenseitigen Nettigkeiten überwinden mussten. Wenn Birger in der Nähe war, sah sie Anita an, dass ihre Gefühle ihm gegenüber nichts mit Liebe zu tun hatten. Außerdem merkte man es an ihrem Summen. Anita summte, wenn sie arbeitete, man wusste eigentlich immer, wo sie gerade war, weil man immer ihr Summen hörte. Es übertönte sogar Wind und Hundegebell. Aber wenn Birger in der Nähe war, verstummte es.
Es faszinierte sie auch, wie unterschiedlich die Brüder waren. Carl-Johan konnte frei reden und zog die Blicke
auf sich. Wenn es in dieser Familie ein Lieblingskind gab, dann war er es.
Pär lachte viel, ein lautes, befreiendes Lachen, das durchs Haus hallte und alle ansteckte. Er konnte gut mit Tieren umgehen und sammelte Messer. Abends saß er oft in der Stube und reinigte die Klingen, steckte sie in Äpfel und ließ sie so über Nacht stehen. Durch die Säure würde die Klinge härter, hatte er Meja erklärt. »Das Schlimmste ist ein unzuverlässiges Messer.«
Göran zog sich oft zurück, lief mit Kapuze auf dem Kopf herum, um zu verbergen, dass er sich so viel im Gesicht kratzte. Die unappetitlichen Pickel und Wunden quälten ihn, sie bildeten eine Kruste, rissen wieder ein, bluteten und wurden noch größer und tiefer. Wenn sie sich auf dem Hof begegneten, versuchte sie verzweifelt, nicht auf die Pickel zu starren und stattdessen in seine Augen zu sehen. Aber auch in seinem Blick war etwas, was ihr nicht gefiel. Es war eine Art unterdrückte Wut, als würde ihn ihre Anwesenheit stören.
Sie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf der Lichtung in einem Meer aus Siebensternen, die wie Schnee aussahen, als er kam. Sie bemerkte in all dem Weiß nicht, dass es die falschen Schuhe waren, die neben ihr standen. Sie streckte die Arme hoch zu dem Schatten über ihr, bekam aber keine Reaktion. Erst als sie sich aufrichtete, sah sie, dass es Göran war. Sein dünnes Haar klebte auf seinen wunden Wangen.
»Dachtest du, ich bin Carl-Johan?«
»Warum schleichst du dich so an?«
»War das deine Mutter gestern am Tor?«
»Hm.
«
»Sie sieht so jung aus.«
»Sie hat mich mit siebzehn bekommen.«
»Oh, wow.«
Er setzte sich im Schneidersitz mitten in die Siebensterne. In seinem Mundwinkel steckte ein Grashalm. Meja war dankbar, dass die Sonne schien, denn sie warf Schatten, in denen seine Haut verborgen blieb.
»Wollte sie, dass du wieder zurückkommst?«
»Hm.«
»Und was hast du ihr geantwortet?«
»Dass das hier mein neues Zuhause ist.«
Göran riss an den Pflanzen, ihn interessierten die Blüten der Siebensterne nicht. Sein Knie berührte Mejas. Seine Haut war kalt, trotz der Sonne.
»War sie traurig?«
»Meine Mutter ist wie ein kleines Kind. Bisher habe immer ich mich um sie gekümmert.«
»Aber jetzt hast du Carl-Johan und uns.«
Meja senkte den Kopf und lächelte.
»Das Einzige, was ich mir wünsche, ist eine Freundin«, sagte Göran. »Jemand, mit dem man alles teilen kann.«
»Dann musst du los und nach ihr suchen.«
»Glaubst du, das tue ich nicht? Keine will einen haben, der so aussieht wie ich.« Er riss sich kleine Hautfetzen aus der Handinnenfläche. Meja sah nicht hin und war ziemlich erleichtert, als Anita auf sie zukam. Der silberweiße Zopf wippte dabei auf ihrem Rücken. Aber sie hatte einen harten Ausdruck in den Augen.
»Was sitzt du hier rum, Göran?«, rief sie schon von Weitem. »Du solltest dich doch um den Kartoffelacker kümmern?
«
»Ich habe mich nur kurz ausgeruht.«
»Ja, vielen Dank, das sehe ich.«
Er sprang auf die Füße und klopfte sich die Jeans ab. Bevor er davonschlenderte, zwinkerte er Meja zu, als teilten sie ab jetzt ein Geheimnis. Anita streckte ihr eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Als sie nebeneinanderstanden, hatten ihre Augen wieder einen warmen Glanz.
»Meine kleine Meja«, sagte sie, »meine Jungs surren um dich herum wie die Bienen um den Bienenstock.«
Meja machten diese Worte verlegen. Anita sah es und lächelte sie an.
»Du wirst es nicht glauben, aber ich war auch mal jung und schön, darum weiß ich, wie das sein kann. Manchmal stört einen aber diese Aufmerksamkeit.«
»Du bist immer noch schön.«
Anita lachte so laut, dass es von der Scheunenwand zurückhallte. »Du bist ja eine Süße«, sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. »Aber wenn meine Jungs dir zu viel werden, dann sagst du mir Bescheid. Versprochen?«
»Versprochen.«
*
Er hatte Angst, verrückt zu werden. Dass er dem nichts entgegensetzen konnte. Dass der Wahnsinn ihn befallen würde. Seine Zehen zeigten wie immer über die Grubenkante der Marakläppen, er spürte, wie ihn der Abgrund magisch anzog. Und er wachte immer mit diesem Schwindel auf.
Der Staub tanzte in der Sonne, dort, wo sie durch die Jalousien drang. Von seinem Schlafplatz auf dem Sofa aus
sah Linas Lächeln verzerrt aus. Er sah an sich hinunter, auf die schmutzigen Jeans und das Hemd, das schon ganz steif vor Dreck war. Die schweißgelben Socken, die nicht einmal ein Paar bildeten. Auf dem Boden stand der volle Aschenbecher und grinste ihn höhnisch an. Wenn Lina jetzt durch die Tür käme, würde sie auf dem Absatz kehrtmachen und annehmen, dass sie im falschen Haus gelandet war. Diese Erkenntnis löste etwas in ihm aus.
Er verbrachte den ganzen Vormittag mit Putzen. Danach warf er zwei volle Staubsaugerbeutel in den Mülleimer. Seine Hände waren ganz rissig vom Abwasch, und seine Wangen juckten, weil er sie mit dem Rasiermesser bearbeitet hatte. Erschöpft saß Lelle am Küchentisch und starrte auf den neuen Zeitungsartikel über Hanna Larsson, in dem allerdings nichts Neues stand. Die intensive Suche im See war erfolglos gewesen, jetzt suchte man im Gebiet um Arjeplog weiter. Die Polizei bat die Bevölkerung um Mithilfe. Es war das gleiche alte Lied.
Die Pistole steckte in ihrem Holster im Arbeitszimmer. Er sah die schwarze Waffe die ganze Zeit im Augenwinkel, hatte das Gefühl, sie würde nach ihm rufen. Das Putzen hatte vorübergehend geholfen. Aber sein Kopf gönnte ihm keine Ruhe. Jetzt noch nicht.
Die Waffe und den Laphroig versteckte er unter der Jacke. Die Garage war nach wie vor leer, darum ging er zu Fuß durch den Wald. Hielt sich im Schatten und versuchte, nicht zu viel nachzudenken. Er hatte den Wolf und sein Umfeld lange genug beobachtet. Der Junge ging selten aus. Er hatte keinen Job, und die Freunde hatten sich alle nach und nach von ihm abgewandt. Er hatte nur noch den Alkohol und das Angeln, das ihn aus dem Haus lockte
.
Lelle fand ihn unten am See, am Glimmersträsk. Mikke Wolf saß auf einem Felsen im Schilf und angelte. Aus dem See stieg Dunst auf, wie in einem Hexenkessel. Von der anderen Seite waren die Schreie der Kinder zu hören, die badeten. Der Wolf schlug mit der freien Hand nach den Mücken. Er trug keinen Pullover, und sein Rückgrat stach unter der blassen Haut hervor wie Fischgräten.
Lelle stand lange am Waldrand und zögerte. Das Rauschen des Blutes in seinen Ohren war lauter als das Surren der Mücken. Außerdem hatte er gar nicht vor, sich dagegen zu wehren. Das Gewicht der Pistole zog an der Tasche, als er weiterschlich.
Mikke Wolf hörte ihn nicht kommen. Zog den Kopf erst ein, als Lelle durchs Wasser gestapft kam. Die Angel fiel ihm aus der Hand in den Schoß.
»Was willst du hier?«
Lelle hatte sich weder die Schuhe ausgezogen noch die Hose hochgekrempelt, er watete durch das Wasser zu dem Felsen, kletterte hoch und setzte sich neben den Wolf. Er hatte Flechten und Möwenkot unter den Fingernägeln. Zwischen den Würmern in Mikke Wolfs Angelkasten sah Lelle eine Viertelliterflasche Wodka. Er ließ seinen Blick einmal zu den badenden Kindern auf der anderen Seeseite schweifen, um sicherzugehen, dass niemand sie sehen konnte, bevor er den Whisky unter der Jacke hervorholte.
»Hast du Lust auf einen kleinen Schluck?«
Der Wolf blinzelte wortlos. Dann griff er nach der Flasche und nahm einen Schluck, ohne das Gesicht zu verziehen. Lelle zwang sich zu einem Lächeln.
»Findest du nicht auch, dass es Zeit wird, das Kriegsbeil zu begraben? Lina zuliebe?
«
»Meinst du das ernst?«
»Es wird doch auch nicht besser, wenn wir uns beide permanent in die Haare kriegen!«
Der Wolf gab ihm die Flasche zurück und griff wieder nach seiner Angel. Lelle nahm einen Schluck, der Whisky brannte, seine Falschheit auch. Der Schweiß unter der Jacke juckte.
»Das Leben steht still, seit sie weg ist«, sagte Mikke Wolf. »Ich bin wie ein lebender Toter.«
Lelle wedelte mit der Flasche vor seiner Nase herum. »Trink noch einen Schluck, das lindert den Schmerz.«
Der Wolf nahm mehrere ordentliche Schlucke und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
»Du versuchst mich jetzt aber nicht zu vergiften, oder?«
»Habe ich dafür denn einen Grund?«
Sie grinsten sich an, dann sahen sie aufs Wasser, wo die Sonne auf den Wellen schaukelte, und wechselten sich mit dem Trinken ab. Lelle merkte, wie der Whisky seine Wut neu anheizte, wie es in seinem Inneren zu brodeln anfing. Das Kinderlachen und das Gluckern des Wassers trugen ihren Teil dazu bei. Er dachte an Lina.
»Ich habe gestern zwei Kumpel von dir getroffen, oben am Berg.«
»Aha?«
»Hm. Die Zwillinge. Ähneln sich wie ein Ei dem anderen. Die haben früher Geschäfte mit dir gemacht?«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Wolf erstarrte und den Griff der Angel knetete.
»Du meinst die Ringbergs?«
»Stimmt, so heißen sie. Jonas und Jonah Ringberg. Die haben mir einiges über dich erzählt.
«
Die Ader an Mikke Wolfs Hals schwoll an. »Ich dachte, du bist gekommen, um das Kriegsbeil zu begraben?«
»Das will ich auch.« Lelle hob die Hände. »Oder siehst du irgendwo ein Kriegsbeil? Ich bin nicht gekommen, um zu streiten. Ich bin gekommen, weil ich die Wahrheit erfahren will. Und zwar von dir.«
»Was für eine Wahrheit denn?«
Lelle lehnte sich vor. Seine Wut hatte die Führung übernommen, machte ihn mutig. »Warum behaupten die Leute, du hättest den Mord an Lina gestanden?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Die Ringbergs sagen, dass du das gestanden hast.«
»Die Ringbergs sind ein Haufen Scheiße. Was soll ich denn gestanden haben? Ich habe nichts getan.«
»Du hast damit geprahlt, dass du ihre Leiche so versteckt hast, dass niemand sie jemals finden wird.«
Der Wolf verlor die Fassung, seine Stimme wurde schriller. »Das ist nicht wahr. Ich würde Lina niemals wehtun. Niemals
.«
Lelle stellte den Whisky beiseite, warf einen kurzen Blick in die Umgebung. Dann ging alles ganz schnell. Er zog die Pistole aus der Jacke und presste die Mündung gegen Mikke Wolfs Rippen. Er sah die Panik in den Augen des Jungen, als er die Waffe entsicherte. Die Angel fiel ins Wasser und schaukelte auf der Seeoberfläche.
»Du bist ja nicht mehr ganz dicht!«
»Das ist korrekt. Ich bin nicht mehr ganz dicht. Und wenn du das hier lebend überstehen willst, dann würde ich vorschlagen, dass du endlich anfängst, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Aber ich habe nichts getan!
«
»Und warum sagen dann die Ringbergs, dass du gestanden hättest?«
Der Wolf zitterte. Die Pistole hatte einen Abdruck auf seinem T-Shirt hinterlassen. Lelle war speiübel, aber er nahm seinen Finger nicht vom Abzug. Es dauerte ein paar Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, bevor der Junge endlich aufgab und in sich zusammenfiel.
»Okay«, sagte er dann. »Ich erzähle es dir.«
Aber dann kam erst einmal nichts, er schluckte nur und stotterte, versuchte, sich zusammenzureißen. Lelle wurde langsam ungeduldig.
»Los, raus mit der Sprache!«
»Ja, okay, okay.« Mikke Wolfs Unterlippe bebte. »Ich schuldete den Ringbergs einen Haufen Geld. Die saßen mir im Nacken, haben mir gedroht, dass sie bei uns einbrechen und sich im Haus bedienen würden. Ich hatte Panik, ich wollte, dass sie mich in Ruhe lassen und dass sie vor mir so viel Angst haben wie ich vor ihnen.«
Der Wolf fing an zu schluchzen und nach Luft zu schnappen, als würde er an seinen eigenen Tränen ersticken. Sein magerer Körper schlotterte. Lelle zog seine Pistole weg, die brauchte er nun nicht mehr.
»Darauf bin ich überhaupt nicht stolz, ich war am Ende, total verzweifelt. Und feige. Verdammt feige
. Ich habe die Ringbergs angelogen. Ich habe gesagt, dass ich es war. Die sollten Schiss kriegen und mich in Frieden lassen – und es hat funktioniert! Die sind abgehauen und nicht wiedergekommen.«
Lelle pendelte hin und her, hatte jeden Halt verloren. Sein Gesicht war bedrohlich nahe an Mikke Wolfs. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hast du den Mord
meiner Tochter gestanden, um den Respekt von zwei kleinen miesen Dealern zu gewinnen. Ist das richtig?
«
Der Wolf legte seinen Kopf auf die Knie. In Tränen aufgelöst. Lelle blieb still neben ihm sitzen und ließ zu, dass die Wut ihn überschwemmte. Er wurde innen drin ganz kalt. Die Pistole zappelte in seiner Hand. Vor seinem inneren Auge sah er, wie er die Waffe hob, sie dem schluchzenden Jüngling an die pochende Schläfe hielt. Sah, wie die Vögel in den Bäumen aufflogen, als es knallte. Hörte, wie das Kinderlachen verstummte. Spürte das Blut wie einen warmen Regen auf seinem Gesicht. Hörte das Echo der Sirenen, das über den See hallte. Spürte den kalten Stahl, als Hassan ihm die Handschellen anlegte. Sah die Enttäuschung in seinem Blick im Rückspiegel, als sie ihn wegbrachten. Obwohl Hassan ja schon vorher den Eindruck gehabt hatte, dass er die Kontrolle verloren hatte. Vielleicht hatte er das ja auch.
Linas Stimme riss ihn aus diesem Traum. Sie stand am Ufer und flehte ihn an, die Waffe wegzulegen. Irgendwann gab er auf, glitt vom Stein hinunter und watete wieder ans Ufer, zu Lina. Der Wolf rief ihm etwas hinterher, was er aber nicht verstand. Er wollte sich nicht umdrehen. Konnte nicht. Die Tat, die er um ein Haar begangen hätte, jagte ihm eine solche Angst ein, dass er durch den Wald zurückrannte. Bloß weg vom See und von Mikke Wolf. Weit weg von diesem Wahnsinn.
Mitten im Wald fing er so heftig an zu zittern, dass er gezwungen war stehenzubleiben. Er hockte sich zwischen die Bäume, hielt sich krampfhaft am erstbesten Strauch fest, während der ganze Wald bebte. Er übergab sich, um die Angst auszuspucken. Spuckte und würgte, bis nichts
mehr übrig war. Nur die bekannte, ausgehöhlte Leere. Er schleppte sich bis zum Birkenwäldchen, wo die Sonne den Boden wärmte und das Gras seine Beine streifte. Dort ließ er sich fallen und blieb liegen. Fest davon überzeugt, dass er nie wieder aufstehen würde.
*
Meja wusste, dass sie ihr etwas vorenthielten, was nur die Familie betraf. Und dazu gehörte sie noch nicht, würde es vielleicht auch niemals tun. Sie konnte nur warten und hoffen. Außerdem hatte sie begriffen, dass Carl-Johan sie nicht einfach in das Geheimnis einweihen konnte, sondern dass sie auf Birgers Zustimmung warten musste.
Eines Morgens aber, sie war im Hühnerstall, stand er plötzlich hinter ihr. Sie sah ihm sofort an, dass es jetzt so weit war.
»Keine Eier?«, fragte er.
»Heute nicht.«
»Ich hoffe nicht, dass die Hühner anfangen, faul zu werden.«
»Nein, gar nicht. Wir haben mehr Eier, als wir essen können.«
»Und genau so soll es sein. Man sollte immer mehr haben, als man essen kann. Dann kann man hamstern und einen Notvorrat anlegen.«
Meja sah auf die Schatten, die sie und Birger auf den Boden zeichneten, sie sahen aus wie Außerirdische.
»Als ich klein war, gab es nie genug zu essen«, sagte sie. »Ein leerer Vorratsschrank ist das Schlimmste, was es gibt.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung, Meja. Ich wurde so
oft vom Hungerschrei meines Magens in den Schlaf gewiegt, viel öfter, als ich mich erinnern möchte. Aber die meisten Menschen heutzutage haben noch nie erlebt, wie schrecklich es ist, nichts zu essen zu haben. Sie haben den irrigen Glauben, dass wir immer im Überfluss leben werden.« Er sah sie eine Weile stumm an. »Ich glaube, es wird Zeit, dass du unsere Vorratskammer besichtigst.«
»Ich war doch schon mal in eurer Vorratskammer.«
Er grinste nur. Der Weg führte vom Haupthaus weg in den Wald hinein. Meja war überrascht, wie leichtfüßig er lief. Mitten im Unterholz hielt er an und trat ein paar Zweige und Gestrüpp mit den Füßen beiseite, bis im Boden eine Luke sichtbar wurde. Atemlos stand Meja daneben, als Birger sich hinkniete und sich abmühte, um die Luke zu öffnen. Eine Leiter führte in die Tiefe. Man konnte keinen Boden sehen.
Birger schob seine Beine über den Rand und kletterte nach unten, forderte Meja auf, ihm zu folgen. Die aber blieb wie erstarrt vor dem klaffenden Loch stehen.
»Ich mag keine kleinen Räume.«
Ein lautes Lachen schallte von unten hoch. »Das ist überhaupt nicht klein hier, wenn du erst einmal unten bist.«
Sie sah nur noch seinen Kopf. Ein Blick über die Schulter, zum Haupthaus. Sie wünschte sich, Carl-Johan würde in dieser Sekunde aus dem Haus kommen, damit sie ihn rufen konnte. Wenn er dabei wäre, hätte sie keine Angst. Sie hatte nie Angst, wenn er in ihrer Nähe war.
»Jetzt komm schon, Meja!«, rief Birger aus der Tiefe. »Komm, dann wirst du sehen, was ich meine.«
Langsam, ganz langsam setzte sie den einen Fuß auf die
oberste Stufe, dann den anderen. Tastete mit den Händen nach einem Halt. Es war ziemlich weit bis ganz nach unten. Die Stufen der Leiter hörten und hörten nicht auf. Nasskalte Luft schlug ihr entgegen, und der Geruch von feuchter Erde drang in Hals und Lunge. Birger stand unten und wartete neben einer Tür, die einen Spalt geöffnet war. Warmes honiggelbes Licht fiel durch den Spalt. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern leuchteten.
»Jetzt halt dich fest, kleine Meja.«
Torbjörns Pornosammlung tauchte plötzlich vor ihrem inneren Auge auf, in der Sekunde, als Birger die Tür aufschob. Sie bekam kaum Luft dort unten. Bildete sich ein, dass es nicht genug Sauerstoff gab. Ihr wurde schwindlig.
Dann erst sah sie den Raum, der sich hinter der Tür verbarg, so langgestreckt und hoch wie ein Turnsaal und hell erleuchtet, obwohl er keine Fenster hatte. Teppiche in allen möglichen Farben lagen kreuz und quer auf den Holzdielen und hauchten dem riesigen Raum Leben ein. Die Wände waren bis zur Decke mit Regalen bestückt, in denen sich Konserven, Zinnkästen und Marmeladengläser mit adretten Etiketten stapelten. Dort standen auch Petroleumlampen, Spirituskocher und Batterien in langen Reihen. Auf dem Boden lagerten mehrere enorme Wasserkanister nebeneinander. Drei Stockbetten, die alle mit Schlafsäcken bestückt waren, standen an der einen Stirnseite des Raumes. Daneben hingen auf Bügeln Kleidungsstücke in allen möglichen Größen, und da standen ebenso viele verschiedene Schuhe, Mützen und Handschuhe. An drei Haken hingen insgesamt zehn Gasmasken und starrten sie an. Drei Erste Hilfe-Koffer thronten neben
Medizinflaschen und dicken Rollen Bandagen und Binden. Außerdem gab es sowohl Krücken als auch einen Rollstuhl.
Weiter hinten im Raum hingen die Waffen. Etwa zehn Gewehre, die mit ihren Läufen zu Boden zeigten, sowie ein paar kleinere Handfeuerwaffen. Neben blank polierten Messern, Äxten und anderem Werkzeug drängten sich Hunderte von Packungen mit Munition.
Birger zeigte und erklärte ihr alles ganz genau. Sie hätten Essen und Wasser für mindestens ein Jahr. Auch ein batterie- sowie solarbetriebenes Radio gehörte zur Ausstattung dazu. Und im Notfall hätten sie ausreichend Petroleum, Schlageisen und andere Brennstoffe für mehrere Winter. »Nichts und niemand kann uns etwas anhaben, wir sind auf alles vorbereitet!«
Er erinnerte Meja an den katholischen Priester, den Silje in einem Sommer auf Gotland verführen wollte. Ein Mann, dessen Stimme vor Überzeugung bebte und der Gott allen irdischen Gelüsten vorzog. Er hielt lange Tischgebete und versagte sich Essen, Schlaf und weibliche Schönheit. Seine Augen aber leuchteten vor Überzeugung mit einer so großen Strahlkraft, dass es sie angesteckt hatte und sie auch ein Teil davon sein wollte. Meja würde nie vergessen, wie seine Lippen vor Erregung zitterten, wenn er von seinen Heiligen und seinem Gott sprach, und seine Stimme brachte das Geschirr im Schrank zum Klirren, wenn er lateinische Psalmen sang. Sie hatte auch den Wunsch, etwas so Starkes zu erleben, an etwas mit einer solchen Inbrunst zu glauben, dass es förmlich aus allen Poren trat und alle berührte, die in der Nähe waren. Auch Birger war voller Überzeugung, auch er versank, ertrank beinahe darin. Das künstliche Licht zauberte Gold in sein
flaumiges Haar, und Meja musste automatisch an Engel denken. Seine Haut war farblos und schlapp, aber ihn umgab etwas Überirdisches, es drückte ihr die Luft aus der Lunge und nahm ihr den Atem.
»Unsere Gesellschaft sorgt weder für Katastrophenschutz noch für eine Notversorgung. Aber das tun wir. Hier bei uns bist du in Sicherheit, Meja. Hier wirst du niemals Hunger leiden.«
*
Bei Mikke Wolf war er viel zu weit gegangen. Das Gefühl, den Finger am Abzug zu haben, verfolgte ihn auf seinem Weg zurück. Das Schlimmste aber war, dass er tatsächlich schießen, es ein für alle Mal beenden wollte. Zuerst den Jungen und dann sich selbst. Zwei Schuss, dann wäre es vorbei gewesen.
Hassan lag auf allen vieren in seinen Blumenbeeten, als Lelle vorbeikam. Ein Haufen Unkraut türmte sich neben ihm, und aus dem geöffneten Fenster drang klassische Musik. Auf einer kleinen Bank standen ein Martiniglas mit einer Olive und ein Cocktailshaker, die beide in der Sonne glitzerten.
Lelle legte seine Pistole ganz vorsichtig neben das Unkraut, als wäre es ein Lebewesen. Hassan stand auf und klopfte sich mit seinen Gartenhandschuhen den Schmutz von der Hose.
»Was ist das?«
»Ich will, dass du sie beschlagnahmst.«
»Ist das deine?«
»Die ist nicht registriert, wenn du das meinst.
«
Hassan sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du mit deinem Hals gemacht?«
Lelle legte die Hand auf die Schnittwunde, die ihm die Ringberg-Brüder zugefügt hatten.
Hassan sah skeptisch aus, er nahm die Pistole und inspizierte sie eingehend. »Ich hoffe sehr, dass du damit nicht geschossen hast.«
»Deshalb will ich ja auch, dass du sie an dich nimmst. Bevor ich es tatsächlich tue.«
*
Silje hatte nur die eine Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten. Und zwar über das Festnetz. Aber die nutzte sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Meistens wollte sie Meja nur überreden, wieder nach Hause zu kommen.
»Das hat mit diesen verschwundenen Mädchen zu tun«, sagte sie. »Torbjörn ist total verkrampft deswegen. Er will, dass du nach Hause kommst, damit wir besser auf dich aufpassen können.«
»Ich bin hier sicherer, als ich es jemals mit dir war.«
»Ich weiß nicht, warum du immer so feindselig sein musst.«
Als sie Birger von Siljes Sorgen erzählte, lächelte er. »Die Medien wollen nur Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten. Die machen aus jeder Mücke einen Elefanten. Verschwundene Mädchen? Was ist das für ein Quatsch? Wenn junge Menschen abhauen, ohne Bescheid zu sagen, muss man doch nicht gleich Schlagzeilen daraus machen! Das passiert doch ständig. Anita und ich haben
das auch getan, und uns hat es nicht geschadet. Im Gegenteil.«
Trotzdem wollte er nicht, dass sie nachts durch die Gegend fuhren. Denn außerhalb von Svartsjö herrschten Korruption und Verderben, sagte er, und damit sollten sie nicht in Kontakt kommen. Zur Sicherheit schloss er nachts die Autoschlüssel in seinem Arbeitszimmer ein, obwohl Carl-Johan und seine Brüder protestierten.
Auf Svartsjö gab es keinen Fernseher. Carl-Johan wusste nicht, warum, es sei schon immer so gewesen. Meja wollte Birger nicht fragen, hauptsächlich, weil sie sich vor der Länge seiner Ausführungen fürchtete. Sie hatten einen Rechner, über den Birger aber mit Argusaugen wachte. Als sie einmal Facebook aufrufen wollte, drehte er vollkommen durch.
»Wann hörst du endlich auf, so naiv zu sein, Meja? Die sozialen Medien sind nichts anderes als Überwachungsinstrumente!«
Stattdessen hörten sie weiterhin die Podcasts. Abends versammelten sich alle im Wohnzimmer, wo Birger in seinem Sessel saß, die Hände auf der Brust wie zum Gebet gefaltet, und zuhörte. Sein Favorit war Jack Jones, ein Amerikaner, der für die Luftwaffe gearbeitet hatte und behauptete, geheime Kenntnisse über die korrupte Regierungsmaschinerie zu haben. Anita hatte immer ihr Strickzeug auf dem Schoß, die Nadeln klimperten rhythmisch, aber erbarmungslos gegeneinander, als führten sie einen diskreten Krieg. Göran und Pär lagen auf dem Sofa, ihre Füße und Arme hingen über Lehnen und Kanten. Carl-Johan und Meja hatten sich für das Rentierfell vor dem
Kamin entschieden. Vor allem, weil sie dort in Ruhe gelassen wurden. Sie liebte es, wie die Wärme des Feuers seine Wangen rot färbte und wie die Flammen in seinen Augen flackerten. Der Podcast und die anderen wurden zu einem Hintergrundrauschen, es gab eigentlich nur sie beide und die Flammen.
Als Jack Jones mit seinem Vortrag fertig war, kam Birger an die Reihe und durfte Hof halten. Er allerdings forderte die totale Aufmerksamkeit.
»Meja, Liebes, weißt du eigentlich, wie Anita und ich uns kennengelernt haben?«, fragte er eines Abends.
Seine Söhne stöhnten und seufzten, aber das interessierte ihn nicht weiter. Sein Gesicht wurde von kleinen, kaum wahrnehmbaren Zuckungen erschüttert, wenn ihm etwas besonders wichtig war. Meja setzte sich auf. Meistens wollte er vor allem ihre Aufmerksamkeit.
»Und, wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Du musst wissen, wir waren zu Beginn Geschwister. Schwester und Bruder.«
»Birger!« Anitas Stricknadeln waren verstummt. Dann brachen alle im Zimmer in lautes Gelächter aus. Meja sah zu Carl-Johan, der ganz rot im Gesicht war.
»Na ja, keine biologischen Geschwister natürlich«, fuhr Birger fort. »Wir sind in derselben Pflegefamilie gelandet, und dort war die Ansage, dass wir uns wie Geschwister verhalten sollten. Aber als ich sie das erste Mal sah« – er zeigte auf Anita –, »da wusste ich, dass daraus nichts werden kann. Sie war eine klassische Schönheit so wie du, Meja. Eine klassische Femme fatale, die jedem den Kopf verdrehen konnte, jedem noch so armen Tropf. Auch ohne es zu wollen.
«
Anitas Gesicht glühte.
»Selbstverständlich warf auch unser Pflegevater ein Auge auf sie. Zum Glück war das Haus klein und hellhörig, darum kam er damit nicht durch. Ich erwischte ihn auf frischer Tat in der Waschküche, als er versuchte, ihr an die Wäsche zu gehen …«
»Birger
«, drohte Anita.
Die Stricknadeln hatten wieder Fahrt aufgenommen, klackerten noch schneller als vorher. Erreichten bald ein Crescendo. Birger legte eine Hand auf ihr Bein, bevor er weitersprach. »Ich habe ihm ordentlich eine verpasst, er ist mit dem Kopf gegen den Trockner gefallen und blieb liegen. Wir dachten, er sei tot. Darum haben wir schnell unsere Sachen gepackt und uns seitdem von den Klauen der Behörden ferngehalten, um selbst für uns zu sorgen. Und das haben wir getan. Wir sind ausgezogen, um unser Glück zu finden. Ich war siebzehn und Anita sechzehn. Wir beide gegen den Rest der Welt.«
Er lehnte sich vor und gab Anita wie so oft einen Kuss auf den Scheitel. Seine Stimme war belegt, als er weitersprach. »Zehn Jahre lang haben wir gespart, bis wir uns dieses Land kaufen konnten. Und noch länger, bis die Jungs kamen. Wir wollten nämlich nichts lieber, als eine Familie zu gründen – wir wollten viele Kinder haben –, aber auch darum mussten wir hart kämpfen. Eine Fehlgeburt nach der anderen mussten wir erleiden, bis Göran endlich kam. Ich habe nie an einen Gott geglaubt, aber an dem Tag seiner Geburt war ich kurz davor. Die beiden anderen kamen schnell danach. Drei kleine Wunder, die unsere Träume erfüllten.«
Birger lehnte sich zu Meja und starrte sie und Carl-
Johan an. Sein Unterkiefer schob sich vor, als er sie anlächelte. »Um im Leben zurechtzukommen, braucht man einen Partner, einen echten Partner. Einen, mit dem man alles teilen kann. Denn dann kann man mit ihm auch seine Träume verwirklichen. Seht uns an.«
Er streckte seinen Arm aus, griff nach Anitas Hand und küsste sie. Die Stricknadel stach ihm dabei fast ins Auge. Seine Söhne lachten.
Meja musste an Silje denken, die immer auf der Suche nach der wahren Liebe war, sie aber nie festhalten konnte. Die Suche und die Einsamkeit hatten ihr Leben unglücklich und unstet gemacht. Sie lehnte ihren Kopf an Carl-Johans Schulter und nahm sich selbst das Versprechen ab, niemals so zu werden. Sie würde die Liebe festhalten.
*
Lina lag immer im Wasser, wenn er sie fand. Kalt und bleich lag sie unter der schwarzen Oberfläche. Der magere Körper war ganz aufgequollen, wenn er sie an Land zog. Es war immer dieselbe Prozedur: Er riss sich seinen Pullover vom Körper und wickelte ihn um sie, aber aus den Haaren und Körperöffnungen quoll unaufhörlich das Wasser. Er versuchte vergeblich, es zu stoppen, aber das Wasser strömte mit einer Wucht aus ihr heraus wie ein reißender Frühlingsbach. Sie zerrann ihm buchstäblich zwischen den Fingern. Jedes Mal. Wenn er dann aufwachte, war sein Bett ganz feucht.
Der Donner hatte ihn aus seinem Traum gerissen. Im Blitzlicht sah er seinen körperlichen Verfall. Schnittwunden und blaue Flecken von seinen Nächten im Wald,
angeschwollene Mückensticke an den Knöcheln und auf dem Kopf, aufgekratzt vom nächtlichen Jucken. Sein ganzer Körper kribbelte und stank. Unter der Dusche tauchte wieder die Erinnerung auf, wie er Mikael Wolf die Pistole in die Rippen gedrückt hatte und bereit gewesen war, ihn zu erschießen. Er zitterte unter dem heißen Wasser, lehnte sich gegen die Kacheln und schluchzte und schniefte. Er hörte erst auf, als der Strom ausfiel und es im Badezimmer dunkel wurde. Dann tastete er sich vorsichtig die Treppe hinunter in die Küche und hinterließ eine nasse Spur. Er hatte gerade die Kerzen gefunden, als sein Handy klingelte. Anettes Stimme hatte diesen besonderen Klang, der ihm sofort in den Magen fuhr.
»Ich habe auf dem Festnetz angerufen, aber du bist nicht rangegangen.«
»Ich stand unter der Dusche.«
»Ach so.«
Bleiernes Schweigen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Lelle zündete mit der freien Hand eine Kerze an und setzte sich an den Küchentisch. Hörte ihren Atem.
»Ich rufe an, weil ich dir etwas erzählen will. Das wird für dich jetzt vielleicht erst einmal ein Schock sein – ich kann nur sagen, mich
hat es auch vollkommen überrumpelt –, denn ich war überzeugt, dass ich viel zu alt bin, aber das stimmte offenbar nicht …«
»Sag doch endlich, was du mir sagen willst«, unterbrach er sie.
»Ich bin schwanger.«
Ein ohrenbetäubender Donner zerriss ihre Worte. Lelle drückte sich das Handy dichter ans Ohr. »Was hast du da eben gesagt?
«
»Ich bin schwanger. Thomas und ich werden ein Kind bekommen.«
»Ihr bekommt ein Kind?«
»Ja.«
Lelle lachte laut auf, obwohl es alles andere als lustig war. Er sah hinüber zum Arbeitszimmer, im Blitzlicht konnte er sehen, dass die Tür angelehnt war. Wie lange war es her, dass sie miteinander geschlafen hatten?
»Bist du sicher, dass das Kind von Thomas ist?«
»Natürlich bin ich mir sicher.«
»Denn, wenn ich mich nicht irre, dann haben wir doch …«
»Das ist vergangen und vergessen, Lelle. Was wir getan haben, hat keine Bedeutung.«
»Ah ja, verstehe.«
Die Kerze warf lange Schatten über Linas leeren Stuhl.
»Und Lina?«, sagte er nach einer Weile.
»Was meinst du damit?«
»Du hast doch schon ein Kind, das seit drei Jahren verschwunden ist. Unsere gesamte Energie sollten wir der Suche nach ihr widmen, findest du nicht? Oder ist das deine Art weiterzumachen, indem du dir einfach ein neues Kind anschaffst, statt nach dem zu suchen, das du bereits hast?«
Anettes Stimme zitterte. »Ich hoffe, dass du dich eines Tages darüber freuen kannst, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist.«
Am Vormittag desselben Tages konnte er seinen Wagen wieder abholen. Hassan sah ihn gutmütig an, als er ihm die Schlüssel aushändigte. Er teilte ihm mit, dass sie keine
Spuren von menschlichem Blut in seinem Auto gefunden hätten. »Wenn du das nächste Mal ein Rentier über den Haufen fährst, meldest du das, damit wir den Samen Bescheid geben können.«
Lelle fuhr sofort los, er rauchte mit geschlossenem Fenster, bis die Luft im Wagen ganz neblig war und die Asche sich aufs Armaturenbrett und den Getränkehalter gelegt hatte. Aber das störte ihn nicht weiter. Er war in Gedanken bei dem Tag, als Anette ihm das erste Mal erzählt hatte, dass sie schwanger war und dass sie es ihm um ein Haar gar nicht gesagt hätte. Sie waren gerade zusammengezogen, er hatte an dem Morgen Eier gekocht und frische Brötchen zum Frühstück gekauft. Anette hatte lange geschlafen, war total erschöpft gewesen, und als er sie geweckt hatte, hatte sie sich darüber beklagt, dass es nach Eiern stank. Und das, obwohl sie Eier so liebte. Kurz darauf hatte sie in ihrem Morgenmantel am Frühstückstisch gesessen und gesagt, dass ihr auch vom Kaffee ganz übel wurde, und er hatte einen großen Schrecken bekommen. Womöglich war es doch ein Fehler gewesen, so schnell zusammenzuziehen. Anette hatte später an der Balkontür gestanden, um frische Luft zu schnappen. Er hatte sich von hinten angeschlichen und seine Hand in ihren Morgenmantel geschoben, um ihre Brust zu berühren. Eine liebevolle Geste, kein plumpes Verlangen. Aber Anette hatte so laut geschrien, als hätte er ihr ein Messer in den Körper gerammt. Danach war sie in Tränen ausgebrochen. Zwischen den Schluchzern erzählte sie ihm, dass sie am darauffolgenden Montag einen Termin für eine Abtreibung vereinbart hatte. Den Brief vom Arzt hatte sie ihm wortlos hingehalten. So erfuhr er davon
.
Er hatte darauf bestanden, sie dorthin zu fahren, er wollte für sie da sein. Anettes Lippen waren ein schmaler roter Strich, als sie neben ihm saß, den Blick starr in den Wald gerichtet, um deutlich zu machen, dass sie keinen Bedarf hatte zu reden. Als sie an Varuträsk vorbeigefahren waren, wurde ihr übel, und er musste anhalten. Lelle rauchte eine, während sie sich ins Gebüsch übergab.
»Und du willst Vater werden?«, fragte sie verächtlich. »Du quarzt doch wie ein Besessener.«
»Ich höre sofort auf zu rauchen, wenn wir das Kind behalten.«
Er hatte die zur Hälfte gerauchte Zigarette hochgehalten, Anette hatte sich aufgerichtet und war auf ihn zugekommen. Sie hatte sich so dicht vor ihn gestellt, dass die Zigarettenglut fast ihre Nasenspitze berührte. So hatten sie eine gefühlte Ewigkeit voreinander gestanden und sich in die Augen gesehen. Dann hatte sie sich mit dem Ärmel den Mund abgewischt und ihre Schulter fallen lassen.
»Mach die Zigarette aus«, hatte sie gesagt. »Ich will nach Hause.«
Danach hatte Lelle keine einzige Zigarette mehr geraucht, siebzehn Jahre lang. Und jetzt saß er da, die Asche legte sich wie eine Decke auf seine Hosenbeine, und versuchte auszurechnen, wie viel Zeit seit jenem Morgen in seinem Arbeitszimmer vergangen war. Aber er kam zu keinem Ergebnis. Er konnte sich nur erinnern, dass Anette Eier gemacht hatte. Sie liebte Eier. Er kurbelte das Fenster herunter und warf die nur zur Hälfte gerauchte Zigarette auf den rissigen Asphalt. Dann nahm er die Schachtel und warf sie hinterher. Anette konnte sagen, was sie wollte. Er wusste, dass es sein Kind war.