Die Stille war schlimmer als die Dunkelheit. Sie hörte weder Wind noch Regen und auch keine Vögel. Weder Schritte noch Stimmen. Es war fast so, als existierte keine Welt dort draußen. Sie legte das Ohr an die Wand und lauschte, hörte aber nur den eigenen Herzschlag. Die Schnittwunden auf ihren Armen leuchteten im Dunkeln. Sie sah alte blaue Flecken, die langsam gelb wurden und verblichen. Sie schlug und verletzte sich nicht mehr, hatte gar keine Kraft mehr dazu. Die Adern traten unter der schlaffen Haut hervor, als wäre sie frühzeitig gealtert, als würde das Leben sie langsam verlassen.
Die Glühbirne an der Decke warf ihren Schatten an die Wand, und irgendwann hatte sie angefangen, ihm von ihrer Pritsche aus zuzuwinken. Sie sah, wie die langen Schattenfinger zurückwinkten, auch der Schatten versuchte wohl, die Einsamkeit zu bekämpfen.
Der Raum war ein exaktes Quadrat. Als würde sie in einer Kiste sitzen. An der einen Wand stand das Bett, daneben ein Nachttisch mit dem Essen, das sie nicht anrührte. Eine Thermoskanne mit Suppe und Käsebrote, die in Frischhaltefolie eingewickelt waren. Wenn der Hunger unerträglich wurde, roch sie an der Suppe, aber schon beim ersten Schluck überkam sie ein Brechreiz. Ihr Körper wollte einfach kein Essen, als würde ihr Inneres gegen die Gefangenschaft protestieren .
Auf der anderen Seite, neben der Tür, stand ein Eimer, der ihr als Toilette dienen sollte. Ein zweiter war mit frischem Wasser gefüllt. Sie mied beide Eimer, so gut es ging. Aß und trank so wenig wie möglich, damit sie nicht in den Eimer pinkeln musste. Sie hatte auch keine überschüssige Energie, sich zu waschen. Ihr Haar hing in fettigen, steifen Strähnen über ihre Schultern und hinterließ Abdrücke auf dem Kissen. Wahrscheinlich stank sie auch, obwohl sie das selbst nicht riechen konnte. Sie hoffte, dass sie stank, damit er sie in Ruhe ließ.
Sie versuchte, so viel zu schlafen wie möglich, Zeit totzuschlagen. Wenn die Unruhe sie überfiel, lief sie im Kreis, bis ihr die Beine wehtaten. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen die Wände und suchte nach Hohlräumen. Konzentrierte sich, um etwas anderes zu hören als ihre eigenen Atemzüge. Konnte die Hoffnung nicht aufgeben, Geräusche zu hören, die es einfach nicht gab. Ohne Tageslicht war es unmöglich zu wissen, wie viele Tage sie schon hier war. Die Stunden glitten ineinander und wurden nur vom Schlaf und ihrem Kreislaufen unterbrochen. Und dem Lauschen. Stundenlang starrte sie auf die Tür. Ihr eigenes Blut klebte an dem Metall und rostete. Sie hatte schon lange nicht mehr gegen die Tür gehämmert, aber ihre Finger waren nach wie vor wund, die Haut wollte im Dunkeln nicht heilen. Er hatte ihr angeboten, sie zu verbinden, aber sie hatte sich nur zu einem Ball zusammengerollt. Hatte ihre Stacheln ausgefahren wie ein Igel. Das Letzte, was sie wollte, war, von ihm berührt zu werden.
*
Lelle nippte an dem kalten Kaffee und sah auf die gesenkten Köpfe vor ihm. Die Stifte kratzten über das Papier. Ansonsten war es still. Offensichtlich waren lange Haare gerade modern, denn viele der Jungen trugen sie so lang, dass sie ihnen ins Gesicht hingen und immer nach hinten gestrichen werden mussten. Die Mädchen hatten da mehr Möglichkeiten. Eine hatte rosa Strähnen im Pony, eine andere hatte sich die Haare überm Ohr abrasiert. Sie waren so jung und gesund und gelangweilt, dass es ihm den Atem raubte, wenn er daran dachte.
Lina war älter als sie, sie würde bald zwanzig werden, aber er hatte Schwierigkeiten, sich das vorzustellen. Sie hatte immer davon gesprochen, welche Länder sie bereisen wollte. Thailand, Spanien, vielleicht die USA. Sie hatte sich auch überlegt, als Au-Pair zu arbeiten.
»Du hast doch keine Ahnung von Kindern!«
»Das kann ja wohl nicht so schwer sein!«
Ein Bild kam oft in seinen Tagträumen vor. Er stellte sich vor, wie sie über einen Highway in Kalifornien fuhr, Wind im Haar und ein paar Kinder reicher Leute auf dem Rücksitz. Dass sie gar nicht verschwunden war.
Die Dunkelheit hatte wieder Einzug gehalten, ein weiterer Sommer war ergebnislos vergangen. Der Schulbeginn fühlte sich mittlerweile wie ein Todesurteil an. Er war gezwungen, seine Suche aufzugeben und sich wieder vor eine Klasse zu stellen. Seine neuen Schüler wussten genau, wer er war. Er sah es an ihrer Art, ihn anzusehen. Eine Mischung aus Faszination und Mitleid, was ihm den Magen umdrehte. Aber sie stellten keine Fragen. Als er sich dem neuen Jahrgang vorstellte, erwähnte er Lina mit keinem Wort. Trotzdem wussten es alle. Ganz Glimmersträsk wusste es. Die Leute hatten Angst, und die Jugendlichen in seinem Klassenzimmer waren mit dieser Angst groß geworden. Sie hatten gelernt, niemals allein unterwegs zu sein und immer die Augen offen zu halten. Er nahm an, dass sie noch nie an einer Bushaltestelle auf einen Bus gewartet hatten, der nicht rechtzeitig kam. Der Fall Hanna Larsson hatte wieder frisches Öl ins Feuer gegossen, alle daran erinnert, dass die Gefahr noch da draußen lauerte, und wie wichtig es war, auf die Kinder aufzupassen, auch in so einer kleinen Gemeinde wie Glimmers.
Er konnte besser mit Schülern als mit Erwachsenen umgehen. Wenn die Stunde vorbei war und sie an ihm vorbeiliefen und das Klassenzimmer verließen, blieb er immer noch sitzen und lauschte in die Stille, die sie hinterlassen hatten. Am meisten fürchtete er sich vor dem Lehrerzimmer. Die Kollegen mit ihren angespannten Gesichtern und den unerwünschten guten Absichten.
Er musste sich innerlich gegen das ausgelassene Lachen wappnen, ging immer direkt zur Kaffeemaschine und hielt sich dort die meiste Zeit auf. Rührte mit dem Löffel in seinem Becher, obwohl er weder Milch noch Zucker nahm. Versteckte sich hinter dem klickenden Geräusch von Metall gegen Porzellan. Vor dem Fenster sah er die Birken, deren Blätter langsam gelb wurden und zu Boden fielen. Eine dünne Eisschicht lag auf den Pfützen.
Claes Forsfjäll, einer der Lehrer für Sozial- und Gemeinschaftskunde stellte sich neben ihn und fing an, von der bevorstehenden Elchjagd zu reden. Lelle brummte pflichtbewusst, nahm aber seinen Blick nicht von den vereisten Pfützen. Da legte ihm Forsfjäll eine Hand auf die Schulter. Er roch nach Banane und salzigem Läkerol. » Wenn wir da draußen sind, ist deine Tochter immer in unseren Gedanken.«
Lelle sah seinem Kollegen in die wässrigen Augen, ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Warum glaubst du, dass sie da draußen im Wald ist?«
Forsfjäll schob seine Unterlippe vor, sein Hals wurde auffällig rot. »So wörtlich meinte ich das ja gar nicht, ich wollte nur sagen, dass wir an sie denken und die Augen offenhalten.«
Lelle senkte den Kopf, spürte deutlich den harten Boden unter seinen Füßen, spürte die Schwerkraft und die Energie, die es erforderte, um gerade zu stehen. »Danke«, sagte er, »das bedeutet mir viel.«
Forsfjäll zog sich wieder zurück, setzte sich zu den anderen Lehrern, die in der Lage waren, unbeschwert die Beine übereinanderzuschlagen und eine unverbindliche Unterhaltung zu führen. Lelle sah zu Anette, die weiter hinten saß und mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, was sie immer tat, wenn sie Publikum hatte. Sie trug einen enganliegenden Pullover, der es unmöglich machte, die kleine Kugel über ihrem Hosenbund zu übersehen. Er stützte eine Hand aufs Fensterbrett, als seine Beine unter ihm nachzugeben drohten, spürte, wie Kaffee über den Tassenrand schwappte, und sah die Bewegung der Hemden und Blusen um sich herum, als sie ihn voller Mitleid ansahen. Der Boden drückte von unten gegen seine Sohlen, als er so schnell wie möglich aus dem Lehrerzimmer stürmte. Er meinte, ihre Schreie zu hören. »Du armer Teufel!« , schrien sie. »Wie hältst du das bloß aus?!«
*
Er kam immer ohne Vorwarnung. Sie hörte nur das Jaulen der Tür, wenn er sie öffnete. Wenn die Glühbirne ausgeschaltet war, zog er an der Schnur und betrachtete sie eine Weile im Lichtschein. Seine Blicke brannten auf ihrer Haut, auch wenn sie die Augen geschlossen hatte und tat, als würde sie schlafen. Nachdem er sich versichert hatte, dass sie noch am Leben war, nahm er die beiden Eimer und verschwand wieder. Hinter der Tür führte eine Treppe nach oben, das konnte sie sehen. Aber auch da gab es kein Tageslicht. Er leerte den Eimer mit dem dunklen Urin, und füllte in den anderen frisches Wasser, dann kam er damit zurück. Hinterließ dunkle Flecken auf dem Betonboden.
Die Tür schloss sich automatisch. Sie hörte nie einen Schlüssel in einem Schloss. Ganz am Anfang, als sie noch mehr Kraft gehabt hatte, hatte sie sich hinter der Tür versteckt und ihn angegriffen, wenn er mit den Eimern zurückkam. Das Wasser war in alle Richtungen gespritzt, und er hatte mit einem der Eimer so fest zugeschlagen, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ohne Widerstand leisten zu können, hatte sie sich auf ihre Pritsche tragen lassen, dann hatte er sie mit seinen widerlichen Händen gestreichelt und getätschelt, als wäre sie ein Tier, das er so beruhigen wollte, bevor er es zur Schlachtbank führte.
Er trug immer eine schwarze Maske. Nur Augen und Mund waren frei. Seine Augen leuchteten hell vor dem dunklen Hintergrund. Seine Haare konnte sie nicht sehen und stellte sich darum vor, dass er eine Glatze und einen deformierten Schädel hatte.
Sie konnte auch sein Alter nicht schätzen. Vielleicht war er jünger als ihr Vater, aber sicher konnte sie nicht sein. Er wirkte riesig in der kleinen Kammer, sein Kreuz war so breit wie die Tür. Ob er aber draußen in der richtigen Welt ein großer Mann war, ließ sich nicht sagen. Trotz der schweren Arbeitsstiefel bewegte er sich leicht und geschmeidig. Er roch immer etwas säuerlich, wie nach frischem Schweiß, als wäre er zu ihrem Gefängnis gerannt. Seine Stimme war sanft, wenn er sprach, gedämpft, als würden seine Stimmbänder unten im Bauch sitzen.
»Warum isst du nichts?«
Er nahm das Essen, das sie nicht angerührt hatte, und stellte neues hin. Gemüse, das noch dampfte, und ein Stück glänzendes Fleisch. Sofort meldete sich der Brechreiz, obwohl sie Hunger hatte. Ihr Magen tat weh vor Hunger.
»Ich kann nichts essen, ich muss mich sofort übergeben.«
»Hast du auf was Bestimmtes Lust, gibt’s was, auf das du richtig Heißhunger hast?«
Er bemühte sich wirklich, freundlich zu ihr zu sein, das merkte sie, obwohl sie die unterdrückte Wut in seiner gepressten Stimme hören konnte.
»Ich muss mal an die frische Luft. Nur für ein paar Atemzüge. Bitte
»Fang nicht schon wieder damit an.«
Er schraubte den Deckel der Thermoskanne ab, goss etwas in einen Becher und gab ihn ihr. Der Dampf tat ihren eingerissenen Lippen gut. Es roch süß, fruchtig.
»Das ist Hagebuttensuppe«, sagte er. »Trink was davon, dann geht es dir besser.«
Sie führte ihre Lippen an den Becherrand, tat so, als würde sie etwas trinken. Ihr Blick blieb an einem kleinen gelben Blatt hängen, das an seinem Stiefel klebte. Sie starrte ihn fassungslos an.
»Haben wir schon Herbst?«
Er erstarrte, stand auf und ging Richtung Tür.
»Wenn ich wiederkomme, will ich, dass du das aufgegessen hast.«
*
»Ich habe geträumt, dass du schwanger bist.«
Carl-Johan war aus ihr herausgeglitten, sie spürte die warme Feuchtigkeit zwischen den Beinen. Meja schlug die Bettdecke beiseite und stand auf.
»Klingt für mich eher wie ein Albtraum.«
»Du warst so wunderschön, mit dem tollsten Bauch der Welt!«
Meja ging ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab, damit er nicht hinterherkam. Sie bürstete sich Zähne und Haare und legte ein bisschen Mascara auf. Für mehr war keine Zeit. Als sie wieder ins Zimmer kam, lag er noch auf dem Bett und grinste. Sie beugte sich über ihn, legte ihre Lippen auf seine und genoss die Wärme, die er verströmte. Er zog sie zu sich aufs Bett.
»Musst du wirklich gehen? Kannst du nicht bei mir bleiben?«
»Ich verpasse den Bus, wenn du mich jetzt nicht loslässt.«
Er drückte sie fest an sich und verwuschelte ihre Haare mit den Fingern. Meja riss sich los.
»Warum musst du meine Frisur kaputt machen? «
»Was spielt denn das für eine Rolle? Für wen hast du dich denn so hübsch gemacht?«
Sie waren nicht begeistert, dass sie zur Schule gehen wollte, um das Gymnasium zu beenden. Weder Birger noch Carl-Johan. Sie fanden das die reinste Zeitverschwendung. Meja musste ihnen mehrfach erklären, dass sie sich selbst das Versprechen gegeben hatte, einen Schulabschluss zu machen. Sie wollte es weiter bringen als Silje. Die hatte sofort die Schule verlassen, als sie schwanger geworden war.
»Deine Mutter hat überhaupt nichts verpasst«, hatte Birger dazu gesagt. »Ein Kind auf die Welt zu bringen, ist eine weitaus wichtigere Aufgabe, als in der Schule zu sitzen und sich einer Gehirnwäsche durch die manipulativsten Lakaien des Staates zu unterziehen.«
Es wäre ein Leichtes gewesen einzulenken. Sie mochte die Schule ja nicht einmal, war nie lange genug an einem Ort geblieben, um sich damit anzufreunden. Kaum hatte sie das Gefühl, angekommen zu sein, standen die gepackten Taschen im Flur. Silje interessierte es auch nicht, ob es mitten im Schuljahr war. Wenn es Zeit war weiterzuziehen, dann war es Zeit. Und genau dieser Umstand trieb Meja an, gab ihr die Kraft. Sie wollte anders werden. Sie wollte sie selbst sein.
Es waren drei Kilometer bis zum Silvervägen, wo der Bus abfuhr. Niemand hatte Zeit, sie dorthin zu fahren, darum musste sie laufen. Morgens fühlte sich das unendlich weit an. Birger hatte sie gewarnt:
»Im November wird dir das nicht gefallen, wenn es die ganze Zeit dunkel ist. «
Die Wahrheit war, dass es schon jetzt morgens dunkel war. Der Wald bestand nur aus dunklen Schatten. Sie starrte auf den Weg vor sich, um ihren Tanz zwischen den Bäumen nicht zu sehen. Der Code für das Tor bestand aus einer langen Reihe von Zahlen, die sie auswendig lernen musste, weil sie sie nicht aufschreiben durfte. Später stellte sie fest, dass es sich um Birgers Geburtstag handelte. Das Tor quietschte leise, Birger stand in der Eingangstür, sie spürte seinen Blick im Rücken. Sorgfältig schloss sie das Tor hinter sich und rannte sofort los, vorbei an traurigen Krüppelkiefern und Birken, die langsam ihr Kleid ablegten. Es knackte unter den Sohlen, das Laub klebte an den Schuhen, und sie fand, dass es nach Schnee roch.
Ihr Hals brannte, als sie die asphaltierte Straße erreichte. Sie musste in der Mitte der Straße stehen, damit der Busfahrer sie schon von Weitem sehen konnte. Der war ein kleiner, rotwangiger Typ, der Kaffee aus der Thermoskanne trank und ganz abgehackt sprach, sodass sie kaum verstand, was er sagte, außer dass es um Birger ging.
Der Bus füllte sich nach und nach mit Schülern aus der Umgebung. Meistens konnte sie kein Haus sehen, nur Schilder, die von der Straße in den Wald zeigten. Die Jugendlichen standen auch am Wegesrand und warteten. Alle grüßten sich, der Bus war voller fröhlicher Stimmen. Meja lehnte ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe und schloss die Augen, als die anderen einstiegen. Sie bemerkte, dass sie sie ansahen, ihre Neugier kitzelte auf Mejas Augenlidern, aber sie ließen sie in Ruhe.
Die Tallbackaschule war in Glimmersträsk und bestand aus nicht mehr als einem traurigen, gelben Backsteingebäude. Es zog durch die alten Fenster, darum behielten die meisten Schüler ihre Jacken auch im Klassenzimmer an. Vor der Schwingtür standen Reihen von grün gestrichenen Schließfächern. Meja hängte ihre Jacke an den Haken und tastete in dem Fach, in dem ihre Bücher lagen, nach der flachen Pillenpackung. Sie drückte eine aus dem Blister und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Als sie ihr Schließfach wieder zuschob, stand Krähe neben ihr und grinste sie an. Ihr rosa Haar stand in alle Richtungen vom Kopf ab.
»Wissen deine Eltern, dass du die Pille nimmst?«
»Ich bin zu Carl-Johan gezogen.«
Krähes Augen wurden kugelrund.
»Dann weiß er es nicht?«
Meja verzog den Mund. »Er will, dass ich schwanger werde.«
*
Sie hatte die Hagebuttensuppe aufgegessen, als er das nächste Mal kam. Er roch nach kalter Luft und vermodertem Laub. Der Herbst saß in seiner Kleidung, und sie musste gar nicht fragen, ob der Sommer tatsächlich vorbei war.
»Ich freue mich so, dass du etwas gegessen hast.«
Er hatte Zimtschnecken und frische Milch mitgebracht. Der Geruch hatte etwas Versöhnliches.
»Bleib doch bitte ein bisschen«, bat sie ihn.
Er erstarrte, seine Augen hinter der Maske sahen sie wachsam an. Dann glitt er mit dem Rücken an der Tür zu Boden, kratzte sich an den verdeckten Wangen, als würde ihn ein Bart jucken .
Sie reichte ihm die Tüte mit den Zimtschnecken. »Es ist so langweilig, immer allein zu sein.«
Er nahm eine Schnecke aus der Tüte. Die schwarze Maske erwachte zum Leben, als er abbiss und kaute. Sie konnte nichts essen, die Angst schwamm im Magen und schnürte ihr die Kehle zu. Sie tat nur so.
»Könntest du nicht einmal deine Maske abnehmen?«
»Wann hörst du endlich auf, immer dieselben dummen Fragen zu stellen?« Er sah aus, als würde er grinsen, als hätte er einen Scherz gemacht. Die Hoffnung durchfuhr sie wie ein Blitz. Verzweifelt überlegte sie, womit sie ihn trotzdem dazu bringen könnte.
»Hast du die hier selbst gebacken?«
»Nee.«
»Hast du sie gekauft?«
»Was habe ich zum Thema ›neugierig sein‹ gesagt?«
Er nahm eine zweite Schnecke, wischte sich die Krümel von der Brust. Er trug eine plustrige dunkle Helly-Hansen-Jacke. Der Anflug von Wut in seiner Stimme machte sie augenblicklich nervös, und sie presste ihre Schultern gegen die kalte Wand. Er konnte es nicht leiden, wenn sie Fragen stellte.
Da stand er auf und rieb sich die Hände, während er auf sie zukam. Die Pritsche jammerte, als er sich daraufsetzte. Sie kniff die Augen zu, als er die Hand nach ihr ausstreckte. Spürte, wie er mit den Fingern über den Stoff ihres Pullovers glitt, übers Schlüsselbein und hinunter auf ihre Brust. Mit den Knöcheln seiner Hand klopfte er gegen ihre Rippen. »Du musst mehr essen, du verschwindest ja langsam.«
»Ich habe keinen Appetit. Ich brauche frische Luft. «
Sie überwand sich, ihm dabei in die Augen zu sehen, ihre Angst zu bezwingen. Sie sah seine geplatzten Äderchen in den Augen, von Drogen oder Schlaflosigkeit verursacht. Große Pupillen, die hier unten aber nicht viel zu bedeuten hatten. Ihn umgab der Duft von Kälte und Natur. Vielleicht verstand er ihren Augenkontakt als Angebot, denn Sekunden später lehnte er sich vor und zog sie an sich. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber er hielt sie einfach nur fester und schob eine Hand unter ihren Pullover. Sie stieß ihn weg, wehrte sich, spürte aber auch, dass er vor Wut zitterte. Als er sie losließ, schlug er mit der flachen Hand gegen die Wand neben ihrem Kopf. Den Windzug spürte sie ganz deutlich. »Du solltest anfangen, ein bisschen mehr Dankbarkeit zu zeigen«, sagte er. »Für alles, was ich für dich tue.«
Sie sah nicht, wie er wieder ging. Hörte nur das Knallen der Tür. Und ihr blieb nur die Einsamkeit.
*
Es wurde schon wieder dunkel, als Meja das Schulgebäude verließ. Krähe stand unter einer Birke und drehte sich eine Zigarette. Als sie das Blättchen anleckte, wurde ihr Zungenpiercing sichtbar. Ihre rosa Haare kräuselten sich. Sie sah zu Meja. »Wollen wir in die Pizzeria gehen? Ich lade dich ein.«
»Ich kann nicht. Mein Bus fährt gleich.«
»Ist es nicht furchtbar langweilig auf Svartsjö?«
»Nein, ich mag es da.«
»Ja, klar, du kannst dir ja auch mit Carl-Johan die Zeit vertreiben.« Krähe zwinkerte ihr zu und sog besonders verführerisch an ihrer filterlosen Zigarette. »Wie ist er denn so? Also, im Bett mein ich?«
»Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Mann, bist du boring!« Krähe lachte laut. »Wenn ich deine Gesichtsfarbe richtig deute, dann würde ich sagen, dass er wohl den Erwartungen entspricht.«
Meja schlug den Kragen ihrer Jacke hoch.
»Ich fand ihn immer ziemlich sexy.« Krähe ließ nicht locker. »Ein bisschen strange, natürlich, aber ziemlich sexy.«
Ein Wagen hielt vor ihnen. Meja hatte den rostzerfressenen Lack sofort erkannt. Ihr Magen zog sich zusammen. Torbjörn hatte das Fenster heruntergekurbelt und lehnte sich übers Steuer. Er war allein, keine Spur von Silje. Sein Grinsen wurde durch den Schnurrbart noch breiter, dann grüßte er Krähe, die ihm nur mit Rauchringen antwortete.
»Meja, hast du mal einen Augenblick?«
Sie schnitt Krähe eine Grimasse und stieg dann ins Auto.
»Ist was passiert?«
»Nein, nein, alles in Ordnung.«
Er kurbelte das Fenster wieder hoch, drehte das Radio leiser. Auf dem Armaturenbrett und dem Getränkehalter türmten sich Tabaksdosen und Süßigkeitentüten. Meja nahm ihren Rucksack auf den Schoß. Sah auf die Uhr. Der Bus nach Svartsjö würde in zehn Minuten kommen. Sie hatte nicht vor, mit Torbjörn zu fahren.
»Was willst du?«
»Es ist wegen Silje. Sie schläft den ganzen Tag, will nichts essen.«
»Hat sie aufgehört zu malen? «
Er nickte besorgt.
»Mach einen Termin. Aber nicht einfach nur in einer normalen Praxis, die muss zu einem Psychologen.«
»Und was mache ich, wenn sie sich weigert?«
»Dann nimmst du ihr den Wein weg. Bis sie nachgibt.«
Er zupfte nervös an seinem Schnurrbart. Sah sie mit Hundeaugen an. »Wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich, dass sie dich vermisst. Und ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass ich dich verjagt habe.«
Meja sah aus dem Fenster auf das gelbe Schulgebäude. »Du hast mich nicht verjagt.«
Er trommelte mit den schmutzigen Fingern auf das Steuer, begleitet vom Keuchen der Scheibenwischer. »Wie geht es dir da draußen auf Svartsjö?«
»Gut.«
»Läuft es gut mit Birger und seiner Familie?«
»Ja.«
»Wie ist es, mit Carl-Johan zusammenzuwohnen?«
»Prima.«
»Dann bereust du es nicht?«
Meja sah hinüber zu Krähe, deren Haare in der grauen Umgebung etwas Übernatürliches hatten.
»Nee.«
»Deswegen müsstest du dich überhaupt nicht schämen, solltest du es doch noch bereuen. Ihr seid ja beide noch so jung.«
»Aber ich bereue es nicht.«
Torbjörns Mundgeruch schob sich durch den Wagen, als er seufzte.
»Aber ihr könntet doch mal zum Essen vorbeikommen, Carl-Johan und du? Wir vermissen dich, Meja. «
»Hm.«
Er sah sie wieder mit diesen Hundeaugen an. »Ich wäre so gerne ein Vater für dich, wenn du mir die Chance dazu gibst.«
Meja drückte ihren Rucksack an die Brust und legte die Hand auf den Türgriff. »Ich brauche keinen Vater.«
*
Sie lag auf ihrer Pritsche und spielte mit ihrem Schatten. Schmiedete Pläne zusammen mit der hektischen Gestalt an der Wand. Wenn das nächste Mal die Tür aufging, musste der Toiletteneimer bereitstehen. Er würde die volle Ladung Urin ins Gesicht bekommen, damit er nicht sehen konnte, wie sie den Nachttisch hochhob. Das war das einzige Möbelstück, das sie anheben konnte. Sie würde es ihm mit voller Wucht gegen den Kopf werfen. Ihn bewusstlos schlagen und dann an ihm vorbei ins Freie fliehen. Die Treppe hoch. Sie wusste nicht, was sie dort oben erwartete, ob es noch weitere verschlossene Türen gab, aber das Risiko musste sie eingehen.
Manchmal dauerte es tagelang, bis er wieder auftauchte. Sie hatte nur ihr eigenes Zeitgefühl, aber an den Lebensmitteln konnte sie ablesen, wie die Zeit verging. Sie wurden hart und begannen zu schimmeln. Da packte sie die Angst, dass sich die Tür vielleicht nie wieder öffnen würde. Das Gefühl, gleichzeitig vor Angst zu zittern und sich nach ihm zu sehnen, verwirrte sie. Und sie erkannte, dass die Angst, alleine hier unten zu verrotten, größer war als die Angst vor ihm.
Sie stellte den Teller mit dem Essen auf den Boden und versuchte, den Nachttisch anzuheben. Das Holz war massiv und schwer, ihr tat alles weh. Ihre Schattenarme zitterten an der Wand, als wäre alle Kraft, die sie jemals besessen hatte, verschwunden. »Wir müssen essen«, sagte sie zu ihrem Schatten, »wenn wir das schaffen wollen.«
Sie wachte vom Blitz einer Kamera auf. Er stand über sie gebeugt und machte Fotos von ihr, die Hand am Objektiv war rissig und schrundig. Sie zog die Decke hoch und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Es blitzte unaufhörlich weiter. Er riss ihr die Decke weg, zerrte ihren Pullover hoch, bis Bauch und BH zu sehen waren. Erst als sie anfing zu weinen, hörte er auf. Er atmete schwer.
»Du hast ja gar nichts gegessen! Willst du dich zu Tode hungern, oder was?«
»Mir geht es nicht gut, ich brauche einen Arzt.«
Er warf ihr einen Blick zu – eine stumme Warnung. Dann entsorgte er das steif gewordene Essen mit wütenden Bewegungen in eine Mülltüte und stellte neues hin. Wurst, Kartoffeln und geriebene Karotten. Zwei Thermoskannen und eine Tafel Milchschokolade von Marabou. Das glänzende Papier lächelte sie an. Sie sah ihren Schatten, der ganz eifrig wurde.
»Ich dachte schon, dass du nie wiederkommst.«
Sie meinte, ihn unter der Maske wieder grinsen zu sehen. »Dann hast du mich also vermisst?«
Sie nahm die Tafel Schokolade und fummelte am Papier herum. »Du riechst nach Winter. Ist es kalt draußen?«
»Ich sage dir lieber nicht, wonach du riechst. Du hast doch den Eimer Wasser und Seife. Kannst du dich nicht mal ein bisschen waschen? «
Sie brach ein Stück Schokolade ab, legte es sich auf die Zunge und wartete, bis es mithilfe ihrer Spucke anfing zu schmelzen. Er hob die Hand und berührte ihr Haar. »Soll ich dir beim Haarewaschen helfen?«
Sie zog die Knie an die Brust und sah, dass ihr Schatten es ihr nachmachte. Die Tränen flossen auch aus ihrer Nase, die Schokolade schmeckte salzig. »Warum hast du mich fotografiert?«
»Damit ich dich ansehen kann, wenn ich nicht hier bin.«
»Wohnst du allein? Oder hast du eine Familie?«
»Oh, bist du eifersüchtig, oder was?«
»Ich bin nur neugierig.«
»Neugierde kann ziemlich gefährlich sein.«
Seine Hand wanderte weiter über ihre Wange. Sie rührte sich nicht, musste sich zwingen stillzuhalten. Er strich mit dem Daumen über ihre Lippen. »Familie oder nicht«, sagte er, »ich will nur mit dir zusammen sein.«
*
Sie stand an der Bushaltestelle, allein, und wartete. Das Licht der Straßenlaterne über ihr bildete einen nebligen Kranz, unter ihrer Kapuze sahen blonde Strähnen hervor. Er reagierte auf ihre Haarfarbe. Und auf die Tatsache, dass sie dort allein stand.
Ohne nachzudenken wendete Lelle den Wagen, schlitterte über die Gegenfahrbahn und hielt dann direkt an der Bushaltestelle. Er ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und winkte sie zu sich. Die Enttäuschung darüber, dass es nicht Lina war, hatte ihn wie immer gepackt, obwohl er es besser wusste .
Das Mädchen hieß Meja und war neu an der Schule. In seinem Unterricht saß sie an einem Platz am Fenster und verbrachte die meiste Zeit damit, den Rand ihres Blocks mit Mustern zu versehen. Er ließ sie in Frieden, weil sie neu war und ziemlich einsam wirkte. Zögernd näherte sie sich seinem Wagen, er sah das Blinzeln ihrer Augenlider im Schatten der Kapuze.
»Ich fahre nach Hause, soll ich dich mitnehmen?«
Sie sah die Straße hoch, von wo der Bus kommen würde, der aber nicht zu sehen war.
»Es sind über zehn Kilometer nach Svartsjö.«
»Das macht nichts, zu Hause wartet niemand auf mich.«
Er sah ihr Zögern, ihre innere Zwiesprache. Dann hatte sie einen Entschluss gefasst, war mit zwei Schritten am Wagen, öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie roch nach Regen, aus ihren Haaren tropfte Wasser auf ihre Jacke. Lelle wendete den Wagen und fuhr den Silvervägen nach Norden hoch.
»Auf diesen Bus ist ohnehin kein Verlass«, sagte er.
»Der hat immer Verspätung.«
Als sie den Hügel erreicht hatten, schaltete er das Fernlicht ein und sah in den milchig-grauen Wald. Der würde bald weiß sein. Die Bäume würden sich wie Greise unter der Schneemasse ducken, und der Boden und alles, was sich darunter verbarg, würde für lange Zeit verborgen sein. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er diesen Zustand noch einmal aushalten sollte. Er spürte Mejas Blicke von der Seite. Er sah zu ihr, aber da drehte sie sofort den Kopf weg.
»Du wohnst also auf Svartsjö?«
»Hm. «
»Bei Birger und Anita?«
»Kennen Sie die?«
»Na ja, kennen und kennen. Würde ich jetzt nicht so sagen. Seid ihr verwandt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mit ihrem Sohn Carl-Johan zusammen.«
»Das ist ja ’n Ding!«
Die Leute rümpften immer die Nase, wenn es um Birger Brandt und seine Familie ging, obwohl niemand sie wirklich gut kannte. Aber vielleicht genau deshalb. Sie waren selten im Ort, und keiner wusste so richtig, wie sie sich dort draußen selbst versorgen konnten. Ob die Jagd auf dem eigenen Grund oder die Landwirtschaft sie über Wasser hielten. Sie waren in Teufels Küche gekommen, als sie beschlossen hatten, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken, sondern zu Hause zu unterrichten, so wie früher. Lelle wusste nicht, wie die Sache ausgegangen war, ob die Behörden sich darauf eingelassen hatten. Zumindest hatte er die Brüder nie in der Tallbackaschule gesehen.
»Rauchen Sie?«, fragte Meja plötzlich.
»Nur im Sommer.«
Der Wagen stank nach Rauch, kein Wunder. Er saß in den Sitzbezügen, außerdem hatte er den Innenraum noch nicht gereinigt. Das Armaturenbrett war überzogen mit einer dünnen, grauen Schicht aus Asche. Sofort schämte er sich dafür.
»Rauchst du?«, fragte er.
»Nein, ich habe aufgehört.«
»Das ist gut. Zigaretten sind scheiße.«
»Carl-Johan sagt, dass Tabak eine Verschwörung des Staates gegen uns ist. Um die Schwachen zu eliminieren. «
Lelle sah sie von der Seite an. »Diese Theorie habe ich noch nie gehört. Der Staat ist doch nicht für Lungenkrebs verantwortlich!?«
Meja seufzte. »Eine geschwächte Bevölkerung gibt dem Staat mehr Spielraum, sagt Birger.«
»Aha.«
Lelle räusperte sich, damit sie seine Verwunderung nicht bemerkte. Er wollte sie auch nicht auslachen. Damals, im ersten Sommer, hatte ihn seine Suche auch auf Birgers Hof geführt. Sie hatten alle mitgeholfen, Birger, seine Frau und die Söhne. Hatten ihm die Schlüssel für die Schuppen und den Erdkeller gegeben und ihm alle Wege und Pfade gezeigt, die das Anwesen durchzogen.
Er beobachtete das Mädchen aus dem Augenwinkel, die blonden Haarspitzen und Sommersprossen, Überbleibsel vom Sommer. Sie hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, und er fand, sie wirkte zerbrechlich wie das erste Eis, bevor der Winter mit voller Kraft Einzug hielt.
»Wie lange wohnst du schon auf Svartsjö?«
»Seit dem Sommer.«
»Und wo hast du vorher gewohnt?«
»Überall und nirgends.«
»Es klingt, als würdest du aus dem Süden kommen.«
»Ja, ich bin in Stockholm geboren, aber dann sind wir immer wieder umgezogen.«
»Und wie finden das deine Eltern, dass du so früh von zu Hause ausgezogen bist?«
»Ich habe nur meine Mutter, Silje, und die interessiert das nicht.«
Ihr gefielen seine vielen Fragen nicht, das merkte er. Sie rieb ihre Knie mit den Fingern, trommelte auf dem Jeansstoff und zupfte Fusseln ab. Er musste an Lina denken, und wie schwer es gewesen war, sich mit ihr ausführlicher zu unterhalten, je älter sie geworden war. Als hätten sich die Jahre zwischen sie gestellt und sie einander entfremdet. Alles, was er sagte, sorgte bei ihr nur für Augenrollen und Grimassen. Das hatte ihn frustriert, aber jetzt vermisste er es.
Meja hob die Hand und zeigte auf den Abzweig, als sie sich dem Holzschild näherten, das in der Dunkelheit fast zwischen den Bäumen verschwand.
»Sie können mich hier absetzen.«
»Ich fahre dich bis zum Haus.«
Sie wand sich auf ihrem Sitz, als wäre ihr das überhaupt nicht recht, aber Lelle ließ sich davon nicht abschrecken. Er fragte sich, warum ein junges Mädchen freiwillig an so einen abgeschiedenen Ort zog, und ob eine Jugendliebe das tragen konnte. Svartsjö hatte nicht mehr zu bieten als dichte Wälder und einen kleinen See.
Am Tor blieb er hinterm Steuer sitzen, Meja sprang aus dem Wagen und tippte den Code ein.
»Birger Brandts Junge muss ja ein Teufelskerl sein«, sagte er laut, ehe sie wieder ins Auto stieg.
Hinter dem Tor erstreckte sich der große Hof, flankiert von schwarzem Wald. Die Fenster waren erleuchtet, und es sah aus, als würde das Haus in Flammen stehen. Meja saß ganz vorne auf dem Sitz und fummelte an ihren Haaren. Sie machte sich einen Pferdeschwanz, nur um ihn gleich wieder aufzumachen, um danach mit der Prozedur von vorne zu beginnen. Das machte ihn ganz nervös.
Birger stand auf der obersten Treppenstufe, als sie die Einfahrt hochkamen. Lelle fand, dass er viel älter und erschöpfter aussah als bei ihrer letzten Begegnung. Als Meja ausgestiegen war, klopfte er ihr auf den Rücken wie einer Hündin. Ein bisschen schroff, aber liebevoll.
»Lennart Gustafsson, das ist ja eine Ewigkeit her!« Er zeigte ins Haus. »Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?«
*
Der Schatten an der Wand tanzte, schwankte hin und her mit seinen dürren Armen und Beinen. Er headbangte, dass die nassen Haare nur so durch die Gegend flogen. Der Seifengeruch stach in der Nase, die Nebenhöhlen brannten. Aber das Waschen und die Schokolade hatten ihr neue Energie gegeben. Genug Energie, um den Nachttisch acht Mal hochzuheben und ihn einen Moment zu halten. Danach schlug sie mit der Handfläche gegen die Wand und machte High Five mit dem Schatten. Fühlte sich so stark wie schon lange nicht mehr.
Als der Mann zurückkam, war das Essen weg. Das Meiste hatte sie in den Kloeimer geworfen. Ob er das bemerkte, wusste sie nicht, er kommentierte es auf jeden Fall nicht. Wie immer ging er aus dem Zimmer, um die Eimer zu leeren, und kam kurz danach wieder und füllte den Raum mit dem Duft von Herbst und mit seinem säuerlichen Körpergeruch. Seine Augen hinter der Maske strahlten. »Du hast dich gewaschen!«
Sie saß mit dem Rücken zum Schatten. Die raue Wand schabte an ihren Schulterblättern. Auf einmal überkam sie die Angst, auf was für Ideen er kommen könnte, weil sie jetzt frisch gewaschen war. Sie beobachtete ihn, wie er sich bewegte und neues Essen auf den Tisch stellte. Dunkle Blutklöße mit Butter und Preiselbeeren. Der Nachttisch wackelte ein bisschen, als hätte auch er Angst vor ihm.
»Wie schade, dass ich die Kamera nicht dabeihabe«, sagte er. »Jetzt, wo du dich so hübsch gemacht hast.«
Die Pritsche protestierte, als er sich neben sie setzte. Sie aber wurde ganz stumm. Hörte nur noch den eigenen Atem, der stoßweise kam, als er sie berührte. Er streichelte ihr Haar, glitt mit den Fingern an ihrem Hals entlang. »Warum hast du dich ausgerechnet heute so hübsch gemacht?«
Ihr Brustkorb zitterte, machte es fast unmöglich zu sprechen. »Ich dachte, wenn ich etwas esse und mich wasche, dann lässt du mich auch mal rausgehen – und frische Luft atmen.«
Seine Hand an ihrem Hals bekam ein Eigenleben, drückte fester und hob ihr Gesicht nah an seines. »Küss mich, dann werden wir ja sehen.«
Die schwarze Maske war feucht. Er presste seine Lippen auf ihre. Sie kniff ihren Mund zusammen und riss den Kopf weg. Als er begann, an ihrer Kleidung zu zerren, versuchte der Schatten, Widerstand zu leisten. Die spindeldünnen Arme kratzten und boxten, bis er zurückschlug. Warmes Blut tropfte ihr von der Stirn, lief ihr in den Mund, als er sie auf die Pritsche presste.
Er ließ nicht ab, und sie schwebte solange nach oben an die Wand, stellte sich neben den Schatten und biss die Zähne aufeinander, bis sie ihr wehtaten.
Danach zog er sich die Jeans wieder an und drückte sein T-Shirt fest auf die Wunde an ihrer Augenbraue. Mit der flachen Hand. Sie atmete durch den Mund, um den Stoff nicht riechen zu müssen. Die Maske war ein wenig verrutscht. Sie widerstand dem Impuls, sie ihm vom Kopf zu reißen. Die Art, wie er sich bewegte, verriet ihr, dass aus Wut mittlerweile Reue und Bedauern geworden waren. Sie ergriff die Gelegenheit. »Warum nimmst du die Maske nicht mal ab?«
»Du weißt doch noch, was ich dazu gesagt habe?«
»Aber ich will dich sehen können.«
Er nahm sein T-Shirt von der Wunde, zerknüllte den blutigen Stoff in den Händen. »Eines schönen Tages werde ich die Maske abnehmen, und wir werden Hand in Hand hier rausgehen. Aber du bist noch nicht so weit. Noch nicht.«
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie sah zur Tür, dann zu ihm. »Doch, natürlich bin ich so weit.«
Aber er ließ sie auf der Pritsche sitzen. Der Schatten streckte seine Arme aus, als die Tür sich öffnete, als hätte er vor, mit ihm nach draußen zu schlüpfen. Aber dann fiel die Tür ins Schloss, und sie beide blieben im Staubwirbel und mit Blutgeschmack im Mund zurück.
*
Natürlich erinnerten sie sich an ihn. Birgers Frau Anita kochte frischen Kaffee und starrte Lelle unter dem Schutz ihrer Ponyhaare an. Sie wirkte verängstigt, ihre rissigen Hände zitterten, als sie den Tisch deckte, und sie wollte sich auch nicht zu ihnen setzen. Stand nur schweigend am Herd, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. So wurde man offensichtlich, wenn man nie unter Leute ging.
Birger hatte sich tatsächlich ziemlich verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte tiefe Querfalten auf der Stirn, und er sah viel hohläugiger aus als früher. Voller Anteilnahme sah er Lelle an. »Und, gibt es irgendwelche Neuigkeiten über deine Tochter?«
Lelle schüttelte den Kopf und sah hinaus auf den Hof, der von einer einsamen Glühbirne beleuchtet wurde. Es war windig, die Bäume bewegten sich und warfen tanzende Schatten, sodass es schwerfiel, einzelne Details zu fixieren.
»Nichts Neues«, sagte er.
»Und die Polizei, was macht die?«
»Einen Scheiß macht die.«
Die Haut in Birgers Gesicht zitterte, als er nickte. »Ein Haufen unnützer Rindviecher sind die. Wenn was gemacht werden soll, dann muss man es selbst in die Hand nehmen.«
»Ich werde niemals aufgeben, nicht bevor ich ganz Norrland durchkämmt habe.«
»Das ist gut so«, sagte Birger. »Und so wirst du sie auch finden.«
Lelle richtete seinen Blick auf die Tischplatte und blinzelte, bis er wieder scharf sehen und die Kratzer im Holz und den Perlzucker auf dem Gebäck erkennen konnte, das Anita auf den Tisch gestellt hatte. Die Tränen überkamen ihn nach wie vor mit derselben Kraft, aber er war ein Meister darin geworden, ihnen nicht nachzugeben.
»Vielen Dank, dass du Meja nach Hause gebracht hast«, sagte Birger. »Wir machen uns Sorgen um sie.«
»Ach wirklich?«, fragte Meja.
»Natürlich tun wir das.«
Lelle sah von Birger zu Anita und weiter zu Meja. »Ich nehme an, dass ihr von dem Mädchen gehört habt, das im Sommer in Arjeplog verschwunden ist? «
»Natürlich haben wir das«, sagte Birger. »Wurde sie gefunden?«
»Nein«, sagte Lelle. »Dasselbe in Grün. Die Polizei hat bisher nichts herausgefunden.«
Anita fluchte leise hinter ihnen. Aus dem Ofen quoll Rauch, als sie die Luke öffnete. Das frisch gebackene Brot hatte eine schwarze Kruste, als sie das Blech herausholte und mit den Ofenhandschuhen wedelte. Sie schwitzte, er konnte die Flecken unter ihren Achseln sehen.
»Nein«, sagte Birger und öffnete das Fenster. »Der Kluge rettet sich selbst. Die Polizei ist nichts anderes als ein Haufen Stümper.«
Lelles Lippen zogen sich zusammen, der Kaffee war unglaublich bitter und stark. »Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde.«
Birger wollte etwas darauf erwidern, wurde aber unterbrochen, als die Tür aufging und drei junge Männer hereinkamen und die nasse Erde von den Füßen stampften. Ihnen folgte kalte Luft. Als sie Lelle sahen, blieben sie abrupt stehen.
»Meine Söhne kennst du sicher noch«, sagte Birger und winkte die drei zu sich. »Kommt und setzt euch zu uns und steht nicht wie die Deppen da rum!«
Sie hatten helle Haut und rote Wangen, sehnige Körper und Schmutz unter den Fingernägeln. Göran war der Älteste und hatte rötliches Haar und ein von Aknenarben gezeichnetes Gesicht. Er wirkte nicht besonders redselig. Der Mittlere hieß Pär und trug einen Dreitagebart, die Haut glühte an den Stellen, an denen er sich gekratzt hatte, sein Handschlag war unterkühlt und kräftig. Carl-Johan war der Jüngste, groß und schlank. Er hatte es eilig, sich neben Meja zu setzen. Birgers schlaffe Wangen leuchteten vor Stolz. »Wenigstens diese drei Dinge sind mir geglückt in meinem Leben. Jetzt müssen wir nur noch auf Enkelkinder warten.«
»Was stinkt hier? Wollt ihr das Haus abfackeln?«
»Mir ist das Brot angebrannt«, sagte Anita. Das war das erste Mal, dass Lelle ihre Stimme hörte.
Sie war mindestens einen Kopf kleiner als ihre Söhne. Lelle spürte die Energie der drei jungen Männer, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl. Das erschöpfte ihn, die Müdigkeit legte sich wie ein Joch auf seine Schultern, und er stand so schnell auf, dass der Kaffee in der Tasse hin und her schwappte. »Vielen Dank für den Kaffee«, sagte er, »aber ich muss los, bevor meine Augen zu müde werden.«
Eine drückende Stille senkte sich über sie, bis Anita sich zusammenriss. »Ja, das ist bestimmt eine gute Idee, so schwarz, wie das da draußen ist.«
Meja bedankte sich für die Mitfahrgelegenheit, und Birger begleitete ihn nach draußen zum Wagen, legte eine Hand auf seine Schulter, als wären sie alte Freunde. »Ich habe gehört, dass du bei der Elchjagd nicht mehr mitmachst?«
»Die haben mich rausgeschmissen.«
Lelle stieg ein. Ein leichter Nieselregen fiel auf die Windschutzscheibe und benetzte Birgers Brillengläser.
»Du kannst gerne mal mit mir und den Jungs auf die Jagd mitkommen, wenn du Lust hast.«
»Vielen Dank, aber ich glaube, ich bin durch mit der Elchjagd. Ich habe schon genug mit meiner eigenen Jagd zu tun.«
Birger lächelte mit geschlossenen Lippen. »Verstehe. Aber du sollst wissen, dass wir dir gerne bei der Suche nach deiner Tochter helfen. Du musst es nur sagen. Wir haben gute Ausrüstung, und meine Jungs sind zäh und ausdauernd.«
»Danke, das werde ich mir merken.«
Birger klopfte aufs Autodach. »Pass auf dich auf.«
»Gleichfalls.«
Lelle fuhr los, schlitterte ein bisschen über den Hofplatz und hob die Hand zum Abschied. Er stellte das Fernlicht an und fuhr so schnell er sich traute zwischen den Baumspalieren hindurch. Der Kaffee brannte noch immer in seinem Hals, und er hielt den Atem an, bis er das Tor erreicht hatte. Dort wartete er, den Motor im Leerlauf. Im Rückspiegel sah er Gestalten, die sich in den erleuchteten Fenstern bewegten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis das Tor rasselte und sich langsam öffnete.
*
»Warum hat dich dieser Lehrer nach Hause gefahren?«
»Ich habe auf den Bus gewartet, er fuhr vorbei und hat es mir angeboten.«
»Und du bist einfach eingestiegen? Einfach so?«
»Warum hätte ich das nicht tun sollen?«
»Mir ist der Typ einfach ein bisschen suspekt.«
Meja sah ihn an, die Haare hingen ihr ins Gesicht. »Bist du etwa eifersüchtig?«
Carl-Johans Lachen war ein warmer Luftzug an ihrem Hals. »Doch nicht auf diesen alten Sack!«
Meja schob sich aus seiner Umarmung, schlug die Bettdecke beiseite und stand auf. Das warme klebrige Zeug lief ihr am Bein hinunter, und auf einmal sehnte sie sich nach einem eigenen Bett, danach, mal wieder allein zu schlafen. »Er tut mir irgendwie leid. Er sieht so einsam und verlassen aus.«
Carl-Johan streckte die Hand nach ihr aus. »Er ist nicht der Einzige, der sich verlassen fühlt.«
Meja ging ins Badezimmer und setzte sich aufs Klo. Sie versuchte, das klebrige Zeug mit Toilettenpapier wegzuwischen, gab aber schnell auf und stellte die Dusche an. Sie zog sich den Pulli aus und stellte sich unter den kalten Strahl. Kurz darauf tauchte Carl-Johans Schatten hinter dem Duschvorhang auf. Sie hörte, wie er den Klodeckel hob und pinkelte. Sie hätte die Tür abschließen sollen. Er schien kein Gespür dafür zu haben, dass es Menschen gab, die ein bisschen Raum für sich allein benötigten. Es dauerte lange, bis das Wasser endlich warm war, sie stand ganz still unter dem Strahl und ließ es einfach nur laufen. Wenn es doch nur schon früh am Morgen wäre, dann würde sie jetzt zur Schule gehen können. Carl-Johan putzte sich die Zähne, sie schloss die Augen, damit sie nichts sehen musste. Aber dann wurde der Duschvorhang beiseitegezogen, und er kam zu ihr, schob sie aus dem Strahl in die kalte Luft. Seine Augen glänzten im Wasserdampf.
»Ich finde, du solltest dich von diesem Lehrer fernhalten.«
»Er ist mein Klassenlehrer.«
»Ja, aber du musst ja nicht mit ihm durch die Gegend fahren.«
»Er wollte nur nett sein und mich nach Hause fahren. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass seine Tochter an der gleichen Bushaltestelle verschwunden ist. «
»Ich finde trotzdem, dass du vorsichtig sein solltest. Außerdem mögen Mama und Papa nicht, wenn wir Leute mit nach Hause bringen.«
»Das hast du mir noch nie gesagt.«
Meja schob den Duschvorhang zur Seite und zwängte sich an ihm vorbei, zog ein Handtuch vom Haken und wickelte sich damit ein. Es interessierte sie nicht, ob sie dabei alles volltropfte. Carl-Johan rief ihr etwas hinterher, aber seine Stimme wurde vom Rauschen des Wassers verschluckt. Meja ging ans Fenster, öffnete den Haken und schob es ein Stück auf, steckte ihren Kopf durch den Spalt und atmete tief ein.
Sie sah Anita über den Hof laufen. Gebeugter Rücken, gesenkter Kopf. Die kurzen Beine beeilten sich, in den Armen hielt sie etwas, das sie fest an die Brust drückte, als hätte sie Angst, es zu verlieren. Eine schwarze Katze folgte ihr wie ein Schatten. Sie tänzelte um sie herum und rieb sich an ihren Beinen, aber Anita trat nach ihr, und die Katze floh in die Beete. Da hob Anita den Kopf und sah Meja. Ihr Gesicht sah teigig aus, die Wangen hingen schlaff und aufgedunsen herunter. Sie hob die Hand, und Meja winkte zurück. Sie fragte sich, warum Anita nach der Katze getreten hatte, und über wen sie sich so geärgert hatte.
*
Das Licht wurde weniger, die Tage wurden immer kürzer. Trotzdem fühlten sich die hellen Stunden wie eine zähe, unendliche Ewigkeit an. Lelle ging es morgens nicht gut, er musste den Kaffee in kleinen Schlucken trinken und die ganze Zeit mit Brechreiz kämpfen. Er zwang sich, die Neuigkeiten in den sozialen Medien zu lesen, obwohl das sein Unwohlsein nur verstärkte. Anette hatte auf Linas Facebook-Seite ein Ultraschallbild hochgeladen und dazu geschrieben: Komm schnell wieder nach Hause, Lina. Du wirst bald ein Geschwisterchen bekommen. Das Foto hatte zweihundertzweiunddreißig Likes und über hundert Kommentare, alle voller Begeisterung und mit pastellfarbenen Herzen versehen. Lelle schlürfte seinen Kaffee und verzog das Gesicht.
Während des Unterrichts befand er sich wie in einem Nebel. Wusste meistens nicht, was er zu seinen Schülern gesagt hatte. Die waren für ihn ohnehin wie leere DIN-A4-Seiten, unleserlich und nichtssagend. Im Lehrerzimmer hielt er sich an Standardphrasen über das Wetter und die Vorfreude aufs Wochenende. Er trank seinen Kaffee, aß Bananen und schaltete auf Durchzug. Vermied Anette und ihren dicker werdenden Bauch so gut es eben ging. Niemand fragte mehr nach Lina, und das machte ihn wütend. Gunhild, die Schulkrankenschwester, war die einzige Person, die fragte, wie es ihm eigentlich ging. Aber auch das ärgerte ihn, weil er keine Worte dafür fand. Sie neigte dabei immer den Kopf zur Seite und berührte ihn mit ihren eiskalten Fingern, darum machte er einen großen Bogen um sie, wenn er sie im Lehrerzimmer sah.
Außerhalb der Neonröhren des Schulgebäudes lag die Welt in einer dauerhaften Dämmerung. Morgens war es dunkel und am Nachmittag auch. Manchmal schlich er sich in der Mittagspause raus und schlenderte zwischen den Regenpfützen umher, die voller Zigarettenstummel, Kaugummis und altem Laub waren. Die Wolken verteilten ihren Niederschlag großzügig, aber die Luft war noch nicht kalt genug. Ganz anders als in seiner Kindheit, als schon im Oktober Schnee lag. Er hatte Lina immer wieder erzählt, dass die Winter nicht mehr so waren wie früher, in seiner Jugend. Heute gab es nur noch ein paar beißend kalte Wochen mit Rekordtemperaturen und Schnee, in denen die Leute durchdrehten. Ganz anders als früher, als das die Regel war und sich darum auch niemand darüber beschwerte. Lina mochte den Winter. Besonders das Eisfischen und Schlittschuhlaufen auf den Seen. Als sie das letzte Mal zusammen auf dem Eis gewesen waren, hatte er zwei Thermoskannen mit Kaffee dabeigehabt. Die Zeiten der warmen Schokolade waren vorbei. Es fühlte sich an, als wäre dieses Erlebnis eine Ewigkeit her.
Die einzige Person, die er registrierte, war Meja. Sie sah so einsam aus, blass und gebückt saß sie an ihrem Platz, hatte immer ihre Jacke an, als würde sie ständig frieren. Vielleicht sollte er ihr seine Hilfe anbieten. Sie fragen, wie es ihr ging. Auf dem Nachhauseweg ergab sich die Gelegenheit dazu. Meja saß auf einer der verwitterten Bänke am Parkplatz, die Füße hatte sie in einen Laubhaufen gesteckt, die Hände tief in den Taschen vergraben. Weißer Rauch stieg aus ihrem Mund, so kalt war es. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet. Ihre Kleidung war den Temperaturen nicht angemessen, sie trug nur eine schwarze Kapuzenjacke. Dazu weder Mütze noch Handschuhe. Ohne nachzudenken, ging er zu ihr. Das Laub unter seinen Füßen raschelte, und sie sah hoch. Verängstigt, fand er, als hätte er sie bei etwas ertappt. Lelle bemühte sich zu lächeln.
»Hier sitzt du also. «
Das klang total bescheuert. Eigentlich hätte er erwartet, dass sie mit den Augen rollte. Wenn man genauer hinsah, waren Lina und sie sich überhaupt nicht ähnlich, trotzdem raste sein Herz, und er hatte Schwierigkeiten zu atmen. »Ist es in Ordnung, wenn ich mich dazusetze?«
Sie zuckte mit den Schultern, rückte ein Stück zur Seite, damit er sich zu ihr auf die Bank setzen konnte. Das Holz war nass, und er spürte, wie die Feuchtigkeit durch seine Jeans drang. »Wie geht es dir hier bei uns auf Tallbacka?«
»Geht so. Ganz okay.«
»Hast du schon Freunde gefunden?«
Sie verzog das Gesicht. Unverkennbar, dass sie seine Fragen doof fand. Lelle suchte krampfhaft nach besseren Worten. Dieses Gefühl, im Dunkeln zu tappen, kam ihm bekannt vor. »Du hast erzählt, dass deine Mutter auch hier lebt. Wo wohnt sie denn?«
»Sie wohnt hier in Glimmersträsk. Bei Torbjörn.«
»Torbjörn Fors?«
Meja nickte.
»Ach echt?!«
Zwischen ihnen stieg eine weiße Wolke auf. Lelle versuchte, sich zusammenzureißen. Dann hatte Hassan tatsächlich recht gehabt, und Torbjörn Fors hatte eine Lebensgefährtin gefunden, nachdem er sein bisheriges Leben allein verbracht hatte. Das war ein echtes Wunder.
»Warum wohnst du eigentlich auf Svartsjö? Solltest du nicht eher bei Torbjörn und deiner Mutter wohnen?«
»Silje und ich sind nicht klargekommen. Und ich wollte lieber bei Carl-Johan wohnen.«
»Und bist du mit Torbjörn klargekommen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Der ist ein bisschen komisch, aber er war immer nett zu mir. Er war nicht der Grund, warum ich ausgezogen bin. Es war einfach an der Zeit.«
Lelle nickte, als hätte er verstanden. Hoffte, dass sie weiterreden würde. Meja sah ihn mit großen Augen an, fast so, als würde er ihr Angst machen. »Stimmt es, dass Ihre Tochter verschwunden ist?«
Jetzt war er an der Reihe, sich innerlich zu schützen. »Ja, das stimmt.«
»Aber Sie suchen sie noch immer?«
»Ich werde niemals damit aufhören.«
Er holte das abgegriffene Foto von Lina aus seinem Portemonnaie und zeigte es ihr. Als sie danach griff, sah er ihren abgeblätterten rosa Nagellack. Sie nahm sich Zeit, das Foto in Ruhe anzusehen. »Sie sieht aus wie dieses andere Mädchen, das im Sommer verschwunden ist«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe sie auf den Plakaten gesehen.«
Lelle nickte erneut. Ihre Finger waren kalt, als sie ihm das Foto zurückgab. Er widerstand dem Impuls, ihre Hände zwischen seine zu nehmen und sie zu wärmen, so wie er es bei Lina gemacht hatte, als sie klein war. Er ließ das Portemonnaie im Schoß liegen. »Es wird schwer werden für dich, Freunde zu finden, wenn du auf Svartsjö wohnst, das ist so weit weg von allem.«
Sie drehte den Kopf weg und trat mit der Schuhspitze in den Laubhaufen. »Das war schon immer schwer, das ist nichts Neues. Aber jetzt habe ich ja Carl-Johan und seine Familie. Birger und Anita haben mich mit offenen Armen aufgenommen.«
»Das hört sich gut an. Aber du sollst wissen, dass ich auch für dich da bin, falls etwas sein sollte. Ich weiß, wie schwer es ist, auf einer neuen Schule anzufangen, besonders in so einer kleinen Ortschaft wie dieser, wo alle sich schon seit Ewigkeiten kennen.«
Meja sah ihn von der Seite an, die aufgesprungenen Lippen leicht geöffnet. »Danke«, sagte sie. »Aber ich kenne das nicht anders.«
Lelle sah, wie ein Schauer durch ihren dünnen Körper lief, als sie aufstand und die Hände an der nassen Jeans abstreifte. »Ich muss los, der Bus kommt.«
Ihre Knie schlugen beim Laufen aneinander, als würden sie sich gegenseitig stützen wollen. Sie war so dünn, dass es ihm fast wehtat. Hoffentlich versorgten die Brandts sie gut auf Svartsjö. Sie stellte sich ins Häuschen bei der Bushaltestelle und warf die Arme um sich, klopfte und rieb sich mit den handschuhlosen Händen, um warm zu werden. Lelle fror auf der nassen Bank, aber er blieb sitzen, bis der Bus kam und er sicher sein konnte, dass sie eingestiegen war.
*
Sie wachte davon auf, dass er an ihrer Pritsche stand und sie ansah. Die Glühbirne pendelte und erzeugte den Eindruck, dass der ganze Raum schwankte. Sein Atem auf ihrer Haut fühlte sich an wie Sandpapier. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, erst da sah sie, dass er etwas vor ihr hochhielt. Etwas Glänzendes. Langsam, ganz langsam begriff sie, was es war. Handschellen in der einen Hand, ein dunkles Halstuch in der anderen.
»Was ist das? «
»Du musst die hier anlegen.«
Er drehte ihre Arme auf den Rücken und legte ihr die Handschellen ziemlich eng an. Das tat weh auf der Haut. Danach verband er ihre Augen mit dem Halstuch. Sie spürte den Windzug seiner Hand, als er sich davon überzeugte, dass sie auch tatsächlich nichts sehen konnte. Sofort bekam sie Panik. Hatte Metallgeschmack im Mund, eiskalte Schauer liefen ihr den Rücken herunter. Sie hatte Angst, dass er sich so an ihr vergehen würde, dass er sich ein widerliches Spielchen ausgedacht hatte. Ihre Angst irritierte ihn. »Warum zitterst du denn?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du keine Angst vor mir haben musst?«
Sein Gesicht war so nah an ihrem, dass sie seinen Atem spüren konnte. Sie kniff die Lippen zusammen und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen. Er drückte sich an sie und rieb ihre Arme, um sie zu wärmen. Als sie nicht aufhörte zu zittern, packte er sie um die Taille und zerrte sie mit sich.
»Wo gehen wir denn hin?«
Zu ihrer Überraschung öffnete sich die Tür, sie spürte einen kalten Windzug und seine Hände, die sie vor sich herschoben. Die Treppenstufen hochzusteigen war nach so langer Zeit eine ungewohnte Bewegung, die ihr mit verbundenen Händen noch schwerer fiel. Als sie oben angekommen waren, schnappte sie nach Luft, als hätte sie einen ganzen Berg bestiegen. Sie hörte, wie er eine weitere Tür öffnete, dann ergoss sich eine Welle aus eiskalter Luft über sie. Seine Finger krallten sich in ihren Oberarm, als er ihr über die Schwelle half. Dann wurde alles um sie herum mit einem Schlag lebendig. Sie hörte das raschelnde Laub unter den Füßen, den Wind in den Bäumen. Es roch intensiv nach Wald, Erde und bevorstehendem Winter.
Sie gingen ein kleines Stück in den Wald hinein, sie sog gierig die frische Luft bis tief in ihre Lunge, spürte, wie es ihr Kraft gab. Durch den Spalt unter ihrer Augenbinde konnte sie den Waldboden sehen. Alles war dunkel, es war Nacht. Sofort fing ihr Kopf an zu arbeiten. Das hier war die Gelegenheit, sie musste sich von ihm losreißen und fliehen. Schreien und um sich schlagen. Aber sein Griff war so fest wie die Handschellen. Sie hatte keine Chance. Nicht dieses Mal.
Dann überfiel sie eine andere Angst. Vielleicht wollte er sie ja auch umbringen. Vielleicht war jetzt alles vorbei. Vielleicht hatte er keine Lust mehr auf sie, oder er hatte keine Zeit mehr, sich um ihre Versorgung zu kümmern. Vielleicht war das alles ein großes Missverständnis, und der einzige Ausweg war, sie loszuwerden. Endgültig.
Sie blieb abrupt stehen. Die Kälte drang ihr unter die Haut, aber sie spürte die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, als würde ihm das alles nichts ausmachen.
»Wo gehen wir hin?«, fragte sie erneut.
»Du hast doch die ganze Zeit gejammert, dass du an die frische Luft willst. Hier hast du sie. Jetzt genieß sie, solange wir hier draußen sind.«
Sie atmete tief ein, versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken, blieb ganz still stehen und lauschte. Aber sie hörte nur das Flüstern des Windes in den Baumwipfeln. Ob sie jemand hören würde, wenn sie jetzt um Hilfe rief? Sie spürte, wie sich der Schrei seinen Weg in ihrem Hals nach oben bahnte, wagte aber nicht, ihn rauszulassen. Nicht, wenn er direkt neben ihr stand. Vielleicht spürte er das auch, denn er zog an ihrem Arm. »Okay, genug jetzt. Du frierst ja.«
»Nur noch einen kleinen Augenblick.«
»Ich will aber nicht, dass du krank wirst.«
Die Enttäuschung war wie eine schwarze Blume in ihrer Brust, die langsam aufging und größer wurde, als er sie zurück in ihr quadratisches Verlies führte. Sie spürte die Wut auf der Haut, als er ihr die Handschellen abnahm. Sie sank auf der Pritsche zusammen, ließ sich widerstandslos von ihm zudecken. Das Bedauern hämmerte in ihr. Sie hätte einfach losrennen sollen, schreien sollen, statt sich wieder in dieses stinkende Loch zurückbringen zu lassen. Es stank fürchterlich. Sie roch erst jetzt, wie widerlich es dort stank, weil sie die Freiheit gerochen hatte. Es roch wie in einem Grab.
»Jetzt kannst du auf jeden Fall nicht mehr sagen, dass ich nichts für dich tue«, sagte er. »Ich tue nämlich alles für dich.«
*
Impulse. Seit Linas Verschwinden hatten ihn vor allem seine Impulse gesteuert. Er hatte Dinge getan, sein Körper hatte ihn an neue Orte geführt, ohne dass sein Kopf daran beteiligt gewesen war. Ohne Vorwarnung.
Nach dem Gespräch mit Meja auf der nassen Bank saß er plötzlich im Auto und fuhr in den Ort. Die Straße, die in den südlichen Teil führte, endete in einem Wendehammer, und dieser befand sich unmittelbar in der Nähe von Torbjörn Fors’ Hof. Als er die schiefe Bruchbude zwischen den Bäumen sah, wusste er, dass ihn einer seiner Impulse hierhergebracht hatte. Er parkte das Auto neben einem zugewucherten Graben und blieb eine Weile reglos sitzen. Torbjörn und er kannten sich, mehr aber auch nicht. Zwei einsame Wölfe auf einander gegenüberliegenden Seiten des Waldes.
Dass Torbjörn eine Frau kennengelernt haben sollte, war kaum vorstellbar. Er hatte seit dem Tod seiner Eltern allein gelebt und Pornohefte gesammelt, weil die richtigen Beziehungen ausblieben. Über seine Sammlung hatte es in den Jahren immer wieder Gerede gegeben. Es hieß, er hätte fremden Frauen aus dem Internet Geld geschickt für ihre Dienste, während sein Hof vom Verfall bedroht war. Außerdem wurde ihm nachgesagt, dass er am See unten spannte und die weiblichen Badegäste beobachtete. Lelle wusste, dass er im Wald arbeitete und als Jugendlicher immer ziemlich viel getrunken hatte. Aber er hatte nie eine Frau gehabt.
Torbjörn wollte an jenem Morgen vor drei Jahren, an dem Lina verschwand, denselben Bus nehmen wie sie. Lelle sah ihn noch vor sich, als wäre es gestern gewesen, wie er sich beim Reden am Schnurrbart zupfte.
»Sie war nicht da, als ich zur Bushaltestelle kam. Ich stand da ganz allein. Frag den Busfahrer. Wir haben sie nicht gesehen.«
Die Polizei hatte ihn als glaubwürdig eingestuft. Lelle hingegen kannte niemanden, der diese Bezeichnung verdienen würde.
Das Haus war in der Tat in einem sehr schlechten Zustand, die rechte Hälfte war abgesunken. Dort wuchs das Unkraut bis zum Fenstersims. Die Tür war angelehnt, auf dem Treppenabsatz lag ein magerer Hund. Er wedelte lediglich schwach mit dem Schwanz, rührte sich aber keinen Millimeter. Lelle klopfte ein paarmal kraftvoll gegen die Tür. »Hallo? Ist jemand zu Hause?«
Es dauerte eine Weile, bis er eine Gestalt sah, die aus dem Dunkeln auf ihn zukam. Es war eine Frau. Sie trug einen verwaschenen Morgenmantel und farblich passende Hausschuhe. Ihr Haar stand wie eine Löwenmähne vom Kopf ab, ihre verschmierte Mascara malte Streifen auf die Wangen. Ihre Augenlider schienen sehr schwer zu sein, als sie ihn ansah und blinzelte. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Lennart Gustafsson.«
Fast hätte er ihr die Hand hingestreckt, aber dann sah er, dass sie mit Pinsel und Palette bewaffnet war und Farbtropfen auf dem Boden hinterließ.
»Kennen wir uns?«
Im Flur roch es unangenehm nach Müll und altem Zigarettenrauch.
»Ich glaube nicht. Sie müssen Silje sein. Ich bin der Klassenlehrer Ihrer Tochter in der Tallbackaschule.«
Ihre Augen wurden groß und rund. »Ist Meja etwas passiert?«
»Nein, nein, es ist nichts passiert.«
»Meja wohnt hier nicht mehr. Sie ist umgezogen.«
»Ich weiß, darum bin ich unter anderem auch hier.«
Silje hob den Arm. »Kommen Sie doch rein. Sie müssen die Schuhe nicht ausziehen.«
Lelle stieg über den Hund und lief dann im Zickzack vorbei an Schuhen, Kleidungsstücken und Abfall, der überall auf dem Boden verstreut lag. Er atmete durch den Mund. Silje führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihre Staffelei neben dem Fenster aufgebaut hatte. Daneben stand ein verschlissenes Sofa voller Rotweinflecken und ein niedriger Couchtisch, der überquoll von leeren Gläsern, Aschenbechern und altem Geschirr. Eines der Fenster war geöffnet, obwohl es draußen kalt und regnerisch war, aber auch der Duft der Kiefernnadeln, der von draußen hereinwehte, konnte nichts gegen den Gestank ausrichten. Silje hatte den Morgenmantel nicht zugebunden, und er sah erst jetzt, dass sie darunter fast nackt war. Er konnte ihre Brüste sehen und einen Slip mit Spitzenbesatz. Er sah verlegen zu Boden, der sehr dreckig war.
»Wollen Sie auch einen Schluck?«, fragte sie und klimperte mit dem Pinsel gegen die Weinflasche.
»Vielen Dank, aber ich muss noch fahren.«
Er hörte, wie sie mehrere Schlucke trank und sich dann eine Zigarette anzündete. Der Zigarettenrauch hatte fast etwas Erfrischendes in dem muffigen Zimmer. Torbjörn war nirgends zu sehen.
»Meja ist zu ihrem Freund gezogen.«
»Ja, das habe ich gehört.«
»Wir haben versucht, sie wieder zurückzuholen, aber sie ist so besessen von ihm, dass wir nicht an sie rankommen.«
Die Zigarette hing in ihrem Mundwinkel, während sie mit langsamen Bewegungen Tupfen auf die Leinwand setzte. Lelle räusperte sich. »Wo ist denn Torbjörn?«
»Er ist im Wald, arbeiten.«
»Und was arbeitet er?«
»Keine Ahnung, aber er kommt bestimmt bald.«
Lelle versuchte, einen Blick auf die Leinwand zu werfen. »Meja hat erzählt, dass Sie in diesem Sommer hierhergezogen sind? «
»Das stimmt.«
»Und gefällt es Ihnen hier?«
Silje unterbrach ihre Arbeit. Die schwarze Schminke betonte ihre Augen auf unnatürliche Weise. »Na ja, gefallen und gefallen. Man tut, was man kann.«
»Aber Torbjörn ist nett zu Ihnen, hoffe ich doch?«
»Torbjörn ist der netteste Mann, den ich je kennengelernt habe.«
»Dann hat nicht er Meja vertrieben?«
Silje nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und warf den Stummel in eine leere Bierdose auf dem Fensterbrett. Sie war noch gar nicht so alt, aber das Leben hatte sie gezeichnet und ihr tiefe Falten um Augen und Mund gezogen. Ihre Unterlippe zuckte. »Niemand hat Meja vertrieben. Dieser Carl-Johan hat ihr den Kopf verdreht. Wir haben beide versucht, sie zurückzuholen. Wir sind sogar zu ihr gefahren, in diese Einöde, und haben sie angefleht, aber sie hat gar nicht zugehört. Keiner von uns kommt an sie ran.«
»Sie ist ja eigentlich zu jung, um ohne Ihr Einverständnis von zu Hause auszuziehen. Haben Sie schon mal mit den Behörden gesprochen?«
Sie schnaubte. »Mit denen komme ich nicht so gut zurecht. Die haben uns beiden noch nie geholfen.«
»Ich kenne jemanden bei der Polizei, der kann gut mit Jugendlichen reden.«
»Ich will da keine Behörde mit reinziehen. Am Ende wollen sie mir nur Meja wegnehmen, und das würde ich nicht überleben.«
Schwarze Tränen liefen ihr übers Gesicht, und der Pinsel bekam ein Eigenleben. Sie griff nach ihrem Weinglas und leerte es in einem Zug. »Meja weiß, dass ich sie brauche. Dass ich ohne sie nicht klarkomme. Sie kommt bald wieder zu mir zurück.«
Lelle sah sich um, sah den Schmutz und die Unordnung und die halbnackte Frau. »Eigentlich ist es doch so, dass Meja Sie braucht?«
Sie rieb sich das Gesicht. »Ich bin krank. Darum brauchen wir uns beide. Ich war so alt, wie Meja jetzt ist, als ich sie bekam. Und seitdem gibt es nur uns beide gegen den Rest der Welt.«
Ihre Stimme brach, und Schluchzen erschütterte ihren Körper. Unbeholfen stand Lelle daneben. Er hatte das Bild von Meja vor sich, wie sie allein und in den falschen Klamotten in der Kälte gesessen hatte. Es brannte in seiner Brust. Er räusperte sich. »Ich weiß, dass Sie im Laufe der Jahre viel umgezogen sind. Aber ich glaube, dass Meja jetzt vor allem Stabilität braucht. Dass sie sich irgendwo zu Hause fühlen will. In einem richtigen Zuhause!«
»Ich habe doch gesagt, dass ich es versucht habe.«
»Mein Freund bei der Polizei könnte zu ihr rausfahren und mal mit ihr sprechen. Er muss ja keinen Bericht darüber schreiben …«
»Nein, habe ich gesagt. Ich will da keine Polizei reinziehen!«
Silje schwankte, hatte den Pinsel wie eine Waffe erhoben. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn Sie jetzt gehen. Ich darf mich nicht aufregen.«
Lelle hob die Hände in die Luft und zog sich durch den vermüllten Flur zurück. Seine Beine waren schwer, und in seinem Kopf pochte die Wut. Am liebsten sollten sie alle verrecken, diese Eltern, die sich nicht für ihre Kinder einsetzten, die nur mit sich und ihrem eigenen Leid beschäftigt waren.
Seine Hand lag auf dem Griff der Autotür, als sie den Kopf aus dem Fenster steckte und ihm zurief: »Grüßen Sie Meja bitte von mir, ich vermisse sie!«
*
»Das geht alles über die Atmung. Um eins zu werden mit der Waffe, müsst ihr zusammen atmen.«
Birgers Stiefel knirschten gleichmäßig hinter Meja. Auf dem Boden lag eine goldene Decke aus Laub, wo die Birken ihre Kleider abgeschüttelt hatten. Meja kniete darauf und spürte, wie die Feuchtigkeit durch ihre Jeans drang. Das Gewehr wollte nicht ruhig in ihren Händen liegen. Es vibrierte unter ihren Fingern. Sie spürte die Blicke der anderen auf sich. Birger und die Brüder hatten ihr einer nach dem anderen demonstriert, wie man schießen sollte. Sie hatten die Zielscheibe mit schwarzen, tödlichen Treffern durchsiebt, in Herz und Kopf. Hatten ihr gezeigt, wie man ausatmete und dabei mit dem Finger den Abzug drückte, als würde der Schuss irgendwo tief aus ihrem Inneren kommen. Aber Meja verkrampfte sich, hatte Angst vor dem Rückstoß. Weder Muskeln noch Lunge wollten ihr gehorchen. Der erste Schuss ging viel zu weit hoch und verschwand zwischen den Bäumen. Und mit jedem weiteren Schuss wurde es immer schlimmer und schlimmer. Die Waffe blieb kalt und fremd und machte ihr Angst.
»Wir schießen seit wir zehn sind«, hatte Göran gesagt. »Du musst Geduld haben, dann wird das schon.«
Pär war der Meisterschütze unter ihnen. Sie warfen Tontauben hoch in die Luft, seine Kugel zerfetzte sie jedes Mal. Er konnte durch den Wald rennen und innerhalb von Sekunden eine geeignete Schussposition einnehmen. Mit dem Gewehr über der Schulter bekam er etwas Konzentriertes, Raubtierhaftes. Sie drückte ihre Hände auf die Ohren und sah ihm zu, erleichtert, wenn ihr Versuch überstanden war.
Birger klopfte ihr auf die Schulter, die Luft war ganz verraucht und schwer vom Geruch nach Schießpulver, und die Kälte biss in die Wangen. Er genoss es sichtlich. »Ich befürchte, du bist noch nicht bereit für die Elchjagd dieses Jahr, meine kleine Meja. Aber nächsten Herbst wirst du den großen Bullen erledigen.«
Sie trugen ihre Gewehre an Riemen über den Schultern. Carl-Johan verwandelte sich, wenn er die grünen Camouflagesachen anhatte, wirkte viel ernster. Erwachsener.
»Schade, dass es schon so früh dunkel wird«, sagte er. »Sonst könnten wir jeden Tag ein bisschen üben. Nur wir beide.«
Er bewegte sich geschmeidig durch das Unterholz, merkte nicht, wie sie hinter ihm herstolperte. Das letzte Stück lief sie allein mit Birger. Die Sonne stand tief und warf lange Schatten. Er blieb oft stehen, bückte sich und berührte einen Pilz oder eine vereinsamte Beere. Er schnupperte, als würde er eine Witterung aufnehmen. Sobald sein Blick auf sie fiel, lächelte er. »Ich bin so froh, dass du mitgekommen bist, Meja. Jeder sollte in der Lage sein, mit einer Waffe umzugehen.«
»Wäre es nicht am besten, wenn es überhaupt keine Waffe gäbe?«
»Du klingst ja wie die in der Zeitung. Sei nicht so naiv. Der Staat verringert den Verteidigungshaushalt, obwohl sich die ganze Welt in Aufruhr befindet. Die Fähigkeit zur Selbstverteidigung war noch nie so wichtig wie heutzutage.«
Birger zeigte auf einen kleinen Ring aus Fliegenpilzen und grinste. »Die da oben wollen nicht, dass wir uns bewaffnen. Denn eine bewaffnete Bevölkerung ist eine Bedrohung für die Diktatur, verstehst du. Und genau aus diesem Grund haben wir hier mehr Waffen, als die sich überhaupt vorstellen können. Denn wir weigern uns, unsere eigenen Gräber zu schaufeln.«
»Ist das denn legal, so viele Waffen zu besitzen?«
Wieder grinste er. »Wir setzen unser Überleben und unsere Freiheit an oberste Priorität, vor die willkürlichen Gesetze Schwedens. Am Ende ist es nämlich das, was zählt.«
Sie konnten den Hof am Ende des Waldes liegen sehen. Weißer Rauch stieg in den dämmrigen Himmel und hieß sie willkommen. Meja spürte den vertrauten Hunger, sie sehnte sich nach Anitas Küche, nach der Wärme und dem Geruch von Essen. Birger legte erneut eine Hand auf ihre Schulter, stützte sein Kinn auf ihrem Kopf ab. »Die wichtigste Fertigkeit, die ich meine Söhne gelehrt habe, ist die Kunst zu überleben. Wenn du die beherrschst, Meja, dann wird dir nie wieder jemand etwas antun können.«
*
Sie lag im Kofferraum. Der Wagen ruckelte auf der unebenen Straße. Gesang drang aus einem Radio. Sie kaute auf ihrem Knebel, es brannte in den Mundwinkeln. Die auf den Rücken gefesselte Hand war eingeschlafen, und ihr Hals tat weh von seinen Fingern, die zugedrückt hatten. Als die Kofferraumklappe zugeschlagen wurde, war sie sicher, dass alles anders gedacht gewesen war und er nur übersehen hatte, dass sie noch atmete.
Als sie aufwachte, schmerzte ihre Lunge, als wäre sie im Schlaf gerannt. Langsam, aber sicher nahm ihr quadratisches Zimmer Form an, die feuchten Wände, der weiße Lichtschein der Glühbirne. Sie legte ihre Fingerspitzen an ihren Hals, fühlte ihren Herzschlag. Dann drehte sie sich zur Wand und legte zwei Finger auf den Schatten, als würde sie auch seinen Puls fühlen. »Noch leben wir«, flüsterte sie.
Sie überwand sich und aß zwei Bissen von den Blutklößen, die beim Kauen immer größer wurden. Sie spülte sie mit der lauwarmen Milch aus der Thermoskanne herunter. Sie streckte sich, bis ihre Gelenke knackten. Dann glitt sie zu Boden und machte ein paar Liegestütze, bevor sie erschöpft auf dem kalten Betonboden liegenblieb. Kraft und Stärke aufzubauen war schwerer, als sie erwartet hatte. Ihr Körper wollte nicht mitmachen. Auch ihre Gedanken fuhren die ganze Zeit dazwischen. Die Angst, was er ihr antun würde, wenn es ihr misslang.
Ihr Blick blieb an einem der Pritschenbeine hängen. Etwas war darum gewickelt, wie eine dünne Schnur. Als sie danach griff, erkannte sie, dass es ein Haargummi war, das jemand um das Bein gewickelt hatte. Ihr Körper fing an zu zucken. Sie stemmte sich hoch, schob ihre rechte Schulter unter die Pritsche, hob sie an und zog das Haargummi ab. Sie hielt es ins Licht der Glühbirne. Und sah hellblonde Haare, viel heller noch als ihre, fast weiß.
Die Erkenntnis packte sie mit voller Wucht, nahm ihr den Atem. Sie presste die Faust gegen die Lippen, um das zu unterdrücken, was sich seinen Weg ins Freie suchen wollte.
Als er kam, hatte sie sich das Haargummi wie ein Armband angezogen.
Er wirkte gereizt, angespannt. Hinterließ matschige Abdrücke auf dem Boden. Er leerte die Eimer, stellte neues Essen hin, Pellkartoffeln und dunkle Wurst. Irgendwie waren alle Lebensmittel, die er ihr brachte, aus Blut gemacht. Sie versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem sie ihn ansah.
Das gelang ihr. Er blieb stehen. Mit seiner Winterjacke sah er noch größer aus als sonst. Der Hals war ganz rot, als würde er darunter kochen. »Was ist? Warum starrst du mich so an?«
Sie versuchte, ihre Angst hinunterzuschlucken, sie wegzuatmen. »Ist jemand vor mir hier gewesen?«
Er griff sich an die Maske, als hätte er die Fassung verloren. Öffnete den Reißverschluss seiner Jacke.
»Wie meinst du das?«
»Ob jemand vor mir hier unten gewohnt hat?«
»Warum fragst du?«
»Weil es sich so anfühlt, als wäre schon vor mir jemand hier gewesen.«
Er schob eine Hand unter die Jacke und kratzte sich an der Brust. Sein Blick glitt über die Wände und Ecken. »Was hast du denn gefunden?«
»Gar nichts.« Sie zog den Ärmel ihres Pullovers runter. »Es ist nur so ein Gefühl.«
»Ich habe keine Zeit für so was. Iss auf und versuch zu schlafen, statt hier herumzusitzen und über Sachen nachzudenken, von denen du keine Ahnung hast.«
Seine Hand lag auf dem Türknauf, sie zitterte. Das gab ihr Mut. »Wo ist sie jetzt? Was hast du mit ihr gemacht?«
Er sah sie durchdringend an. »Wenn du nicht aufhörst, Fragen zu stellen, dann komme ich nicht mehr zurück. Dann kannst du hier unten vergammeln.«
*
Morgens war es am schlimmsten, wenn die Luft kalt war und durch Türen und Hemdkragen drang und dafür sorgte, dass er immer fror. Als er in der Schule ankam, war es draußen noch finstere Nacht, und sein Bart war ganz nass von geschmolzenem Frost und tropfte. Im Klassenzimmer roch es nach feuchten Daunenjacken und kalter Haut, die Gesichter der Schüler hatten im Licht der Neonröhren eine ungesunde Farbe. Verschnupfte Nasen und wintertrockene Lippen. Schwarzer Kajalstift, der vom stürmischen Wind verschmiert worden war.
Meja saß an ihrem Platz am Fenster. Sie hatte sich einen Schal vom Hals bis hoch über den Mund gewickelt. Die Kapuze hatte sie tief in die Stirn gezogen. Es berührte ihn, sie zu sehen. Oder war er erleichtert, dass sie zur Schule gekommen war? Vielleicht war es auch Freude. Der Stift in der Hand fühlte sich ganz leicht an, als er die erste Rechenaufgabe ans Whiteboard schrieb. Er wusste jetzt, warum sie nach Svartsjö gezogen war. Ihm klangen noch Siljes Worte im Ohr: »Meja weiß, dass ich sie brauche.«
In der Mittagspause fand er sie auf ihrer Bank. Lelle reichte ihr einen Pappbecher mit Kaffee, den sie ohne Widerstand entgegennahm. »Ich wusste nicht, ob du Milch in den Kaffee nimmst.«
»Das macht nichts, ich kann ihn auch schwarz trinken.«
Sie machte ihm Platz. Die Sonne hatte es über die Baumwipfel geschafft, aber das Licht war schwach und ohne Wärme.
»Ich habe gehört, dass Sie bei Silje gewesen sind.«
»Richtig.«
»Und warum?«
»Weil ich mir Gedanken über dich mache.«
Sie atmete hörbar aus, sah hinüber zum Fußballplatz, wo das verwelkte und erschöpfte Gras ergeben auf den Schnee wartete.
»Weil ich Sie an Ihre verschwundene Tochter erinnere?«
»Nein«, antwortete er sofort. Viel zu schnell. »Vielleicht«, fügte er nach einer Weile hinzu.
Sie hielt den Becher unter ihr Kinn, ließ den Dampf ins Gesicht steigen und lächelte. Er erwiderte das Lächeln. Das Schweigen war weder angenehm noch unangenehm, und er versuchte, sich nicht so viele Gedanken darüber zu machen, was die Leute über sie beide denken könnten. Ein Mann mittleren Alters und ein siebzehnjähriges Mädchen. Ein Lehrer und seine Schülerin außerhalb des Klassenzimmers. Genau diese Zusammenstellung setzte bevorzugt eine Maschinerie in Gang.
»Hatte sie wieder getrunken?«, fragte Meja.
»Ein bisschen, denke ich.«
Sie sah unter der Kapuze hervor. »Trinken Sie?«
»Manchmal. Aber ich habe festgestellt, dass dadurch nur alles schlimmer wird. «
»Auf Svartsjö ist Alkohol verboten. Birger und Anita hassen Alkohol und Drogen.«
»Und was ist mit dir? Hasst du Alkohol auch?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich finde es schön, nach Hause zu kommen und sicher sein zu können, dass alle nüchtern sind. Bei Silje weiß man nie, was einen erwartet.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Der Kaffee war kalt. Lelle schlürfte ihn trotzdem, aber hauptsächlich als verbindliche Geste. Innerlich wog er seine Worte ab, bevor er den Mund wieder öffnete. »Und wie läuft es mit Carl-Johan?«
»Alles okay.«
»Was passiert denn, wenn ihr eines Tages Schluss macht? Wo wirst du dann hingehen?«
Sie verzog das Gesicht. »Wir machen niemals Schluss.«
»Es ist nicht so leicht zusammenzuleben, besonders wenn man so jung und eigentlich noch auf der Suche nach sich selbst ist. Dann kann es schnell passieren, dass man sich gegenseitig einengt.«
Sie reagierte kaum, aber er sah, dass sie ihn verstanden hatte. Lelle knüllte den leeren Becher zusammen, dann zeigte er damit auf die Straße, die in dem matten Licht glänzte. »Ich wohne nur ein paar Kilometer Richtung Norden, Glimmersträsk 23, in einem roten Haus. Wenn du etwas brauchst oder einfach mal eine Pause willst, meine Tür steht dir immer offen. Svartsjö ist nicht deine einzige Alternative.«
Ihre Augen wurden einen Hauch runder, aber sie sagte nichts.
»Lass dir das in Ruhe durch den Kopf gehen. «
Als er schließlich aufstand, um zu gehen, lief ihm der Schweiß den Rücken herunter, obwohl es so kalt war.
*
Meja blieb sitzen und sah ihm hinterher. Es graute ihr vor den hellerleuchteten Schulfluren und dem Lachen der anderen. Es war richtig kalt geworden, die Luft brannte auf der Haut und bedeckte die Pfützen vor ihren Füßen mit dicker werdenden Schichten aus Eis. Vorsichtig tippte sie es mit der Fußspitze an, unterdrückte jedoch den Impuls draufzuspringen für den Fall, dass sie jemand dabei beobachtete.
Krähes Stimme kam wie aus dem Nichts. »Was war das denn eben?«
»Was denn?«
»Na, du und Lelle Gustafsson?«
»Gar nichts. Wir haben uns nur unterhalten.«
»Geht ihr miteinander ins Bett?«
Meja lachte laut, konnte nicht anders. »Du bist doch total krank im Kopf.«
Krähe grinste. »Komm, drehen wir eine Runde?«
Sie trug einen schwarzen Mantel und eine rote Strickmütze, die wie eine Preiselbeere leuchtete. Ihr geschminktes Gesicht hatte etwas Glamouröses. Sie entfernten sich von der Schule und liefen in einen kleinen Birkenhain. Die Laubhaufen waren mit Frost bedeckt und glänzten in dem matten Sonnenlicht.
Krähe rauchte und tippte mit kalten Fingern eine Nachricht ins Handy. Zwei Totenköpfe grinsten Meja von den schwarz lackierten Nägeln an .
»Wovor verstecken wir uns hier?«, fragte Meja.
»Wir verstecken uns nicht. Wir warten auf jemanden.«
Krähe sah den Weg hinunter, der in den Hain führte und dann im Wald dahinter verschwand. Kurz darauf hörten sie das Knattern eines Mopeds.
»Und auf wen warten wir?«
»Einen Typen, von dem ich ab und zu was zu rauchen kaufe.«
Krähe zog sie hinter sich her zwischen die Bäume, sah über die Schulter zum Schulgebäude. Da tauchte ein rotes Moped mit einem schlaksigen Typen in Lederjacke und mit vom Wind verwuschelten Haaren darauf auf. Sein Helm hing lässig am Lenker. Er schaltete den Motor aus und blieb sitzen. »Und wer bist du?«, fragte er Meja.
»Das ist Meja«, sagte Krähe. »Sie ist in Ordnung.«
»Du weißt, was ich dir gesagt habe, von wegen Leute mitbringen und so?«
»Meja ist keine Leute.«
Krähe legte beschützend den Arm um Meja und lächelte selbstbewusst. »Das ist Mikke, aber wir nennen ihn alle nur den Wolf. Obwohl er genauso ungefährlich ist, wie er aussieht.«
Mikke schlug mit dem Helm nach ihr und grinste. Krähe gab ihm ein paar zusammengeknüllte Geldscheine, die er schnell in die Jackentasche steckte. Er sah hinüber zur Schule, bevor er im Gegenzug eine kleine Plastiktüte hervorholte und sie Krähe gab. Die verbarg sie in ihrer Faust und schenkte ihm ein Lächeln mit ihren rot geschminkten Lippen. Das alles dauerte nur wenige Sekunden.
Aber der Wolf fuhr noch nicht los, blieb mit seinen müden Augen an Meja hängen. »Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube, ich habe dich schon mal irgendwo gesehen.«
Meja zog sich die Kapuze über den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Ich könnte schwören, dass du mir total bekannt vorkommst.«
»Dir kommen alle Blondinen bekannt vor«, warf Krähe ein. »Wir müssen los. Denn im Unterschied zu dir haben Meja und ich vor, etwas aus unserem Leben zu machen.«
»Ich weiß ja nicht, ob Junkie schon als Karriere gilt!«
Krähe zeigte ihm den Mittelfinger. Mikke Wolf lachte.
Als sie ein Stück gegangen waren, hakte sich Krähe bei Meja ein und legte den Kopf an ihre Schulter. Die Wolle ihrer Mütze kitzelte.
»Die Leute reden einen Haufen Scheiße, ich kenne den Wolf schon ewig«, sagte sie. »Er ist wie ein Bruder für mich. Und ich werde ihn nie im Stich lassen, so wie die anderen Idioten hier im Ort.«
»Und warum haben die das getan?«
Krähe sah Meja von der Seite an. »Weil er mit Lina Gustafsson zusammen war, als sie verschwand. Und weil die Leute einen Schuldigen brauchen.«
Es fing plötzlich an, in ihrem Nacken zu jucken. Meja musste an Lelle denken, an seinen traurigen Blick beim Autofahren. An seine schweren müden Arme, die sich aufs Steuer legten, als würde er jederzeit zusammenbrechen können. »Du glaubst also nicht, dass dieser Mikke was damit zu tun hat?«
Ein Lächeln flog über Krähes Lippen. »Ich habe ihn nie danach gefragt. Und ich bin auch nicht so sicher, ob ich das alles wirklich wissen will.«
*
Im Herbst holte er den verlorenen Schlaf wieder auf. Die Müdigkeit überfiel ihn ständig, und er gab ihr, so oft es ihm möglich war, auch nach. Er hielt am Straßenrand an und schob den Sitz nach hinten. Er legte seinen Kopf auf die Arme, die er auf dem kühlen Küchentisch abstützte. Wachte in den frühen Morgenstunden auf dem Sofa auf, frierend und benommen, mit ungeputzten Zähnen. Die anhaltende, undurchdringliche Dunkelheit zwang ihn dazu. Wenn er sich an die Mitternachtssonne und die langen hellen Nächte erinnerte, kam ihm diese Zeit so unwirklich vor, vor allem da er sich jede wache Stunde jetzt regelrecht erkämpfen musste. Er sah sein Spiegelbild in den Fensterscheiben und wusste, dass er allein am Tisch saß. Aber in seinen Träumen war sie bei ihm.
Lelle schlief, als der Streifenwagen in seine Auffahrt fuhr. Er hörte weder das Schlagen der Autotür noch die Schritte über den Kies. Erst als aus dem Klingeln hämmerndes Klopfen wurde, wachte er auf.
»Das glaub ich nicht, du schläfst schon? Es ist doch erst sechs!?«
Es nieselte, und Hassans Haare kräuselten sich.
»Ist was passiert?«
»Nein, ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht. Hast du ’n Kaffee?«
»Natürlich hab ich einen Kaffee, aber du musst deine Schuhe ausziehen, wenn du reinkommen willst.«
Lelle wankte in die Küche. Die Müdigkeit machte ihn ganz wacklig. Er zeigte auf die Thermoskanne auf dem Küchentisch. Hassan sollte sich selbst einen eingießen. Lelle wusste nicht mehr, von wann der Kaffee war, aber es konnte nicht ganz so lange her sein, denn er dampfte noch. Hassan musterte ihn eindringlich. »Warst du bei der Arbeit heute?«
»Natürlich«, sagte Lelle.
»Machen dich die Kids so fertig?«
»Ich bin einfach nur müde.«
Hassan stützte sich auf den Tisch und trank seinen Kaffee in zügigen Schlucken. »Warum hast du eigentlich nie Gebäck im Haus?«
»Ich habe Brot.«
»Brot ist doch kein Gebäck! Ich meine Zimtschnecken, Kekse, so was. Für den Kaffee, zum Dippen.«
»Isst du so was? Ich dachte, du achtest so auf deine Figur?«
»Leck mich!«
Lelle stellte den Brotkorb ab und holte eine Butterpackung aus dem Kühlschrank, nahm allerdings den Deckel ab, damit Hassan nicht sah, dass sie schon vor drei Wochen abgelaufen war. Käse hatte er keinen.
»Du solltest was essen. Wie viel hast du mittlerweile eigentlich abgenommen?«
»Mir geht es gut. Mich interessiert vielmehr, was die Polizei so treibt. Wie geht es im Fall Hanna Larsson voran?«
»Du weißt doch, dass ich mit dem Fall nichts zu tun habe.«
»Aber irgendetwas wirst du doch wohl mal aufschnappen? Verfolgt die Polizei eigentlich die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen Hannas und Linas Verschwinden gibt? «
Hassan nahm sich eine Scheibe, begutachtete skeptisch das trockene Brot. »Wir schließen einen Zusammenhang grundsätzlich nicht aus, aber es liegt eine ziemlich große Zeitspanne zwischen den Fällen. Das macht die Sache kompliziert.«
»Ja, es scheint wirklich sehr kompliziert zu sein, weil ihr kein bisschen weiterkommt.«
Hassan antwortete erst gar nicht. Er trank seinen Kaffee aus und schenkte sich nach.
»Willst du heute Nacht nicht schlafen?«, fragte Lelle.
»Ich muss arbeiten.«
»Passiert in dieser Jahreszeit so viel hier in der Gegend?«
»Mehr, als man glaubt.«
Lelle griff nach der Thermoskanne und schenkte sich ebenfalls einen Kaffee ein. Seine Zunge war ganz trocken, und er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Er strich sich durch die Haare, merkte, wie fettig sie waren. »Komm mal mit, ich will dir was zeigen.«
Er ging ins Arbeitszimmer und schaltete alle Lampen ein, um die Dunkelheit zu verjagen. Nahm einen Apfel aus der Obstschale und stellte sich vor die stetig wachsende Sammlung von Zetteln und Artikeln. Er hatte alle Zeitungsartikel aufgehängt, die jemals über Lina geschrieben worden waren. Daneben Ausdrucke aus dem Netz, die von Bedeutung sein könnten. Er hatte auch eine Sammlung von Artikeln über Hanna Larsson angefertigt. Die Fotos der beiden Mädchen hingen nebeneinander, und es raubte ihm jedes Mal den Atem, wenn er sie ansah. Sie sahen sich so verdammt ähnlich. Wie Schwestern.
Hassan blieb in der Tür stehen. Er hatte seinen Kaffeebecher mitgenommen, trank aber nicht mehr. Lelle biss herzhaft vom Apfel ab und wies mit einem Kopfnicken auf die Fotos. »Und ihr habt ernsthaft Zweifel, dass es da einen Zusammenhang gibt?«
Hassan kratzte sich am Hinterkopf. Schwieg aber nach wie vor. Lelle klopfte auf einen der Artikel, in dem ein Journalist vom Norrbottens-Kurier Parallelen zwischen den Fällen gezogen hatte. Die Überschrift brüllte ihnen förmlich von der Wand entgegen:
BEÄNGSTIGENDE ÄHNLICHKEITEN IM FALL DER VERSCHWUNDENEN MÄDCHEN
Aber Hassan blieb die Ruhe selbst. »Was willst du mir denn damit sagen?«
»Dass es einen Zusammenhang zwischen Linas und Hannas Verschwinden gibt. Ich sehe ihn. Die Journalisten sehen ihn. Ich will nur sichergehen, dass ihn auch die Polizei sieht.«
Die Uniform knarrte, als Hassan seine Arme vor der Brust verschränkte. Auf einmal sah er ganz müde aus. »Glaub mir«, sagte er. »Auch wir sehen ihn.«
*
Er war immer besonders nett, nachdem er sie geschlagen hatte. In diesen Augenblicken konnte sie ihre Extrawünsche vorbringen. Die Erste-Hilfe-Box stand geöffnet auf dem Boden. Er hatte darauf bestanden, die Platzwunde mit Alkohol zu desinfizieren. »Sonst entzündet sie sich«, sagte er, als sie sich wehrte, »vor allem, weil du dich nicht waschen willst.«
Sie hasste es, wenn er so nah bei ihr saß, hasste seine Hände und seinen säuerlichen, abgestandenen Körpergeruch. Wie vergammeltes Obst. Sie würde ihn immer an seinem Geruch wiedererkennen. Der blieb in der Luft und in ihrer Nase hängen, und zwar noch lange nachdem er wieder gegangen war.
»Ich brauche frische Luft, sonst heilt das nicht richtig.«
»Es ist kalt draußen.«
»Das macht nichts, ich will doch nur ein bisschen Luft holen.«
»Jetzt nicht.«
»Och, bitte.«
»Jetzt nicht, hab ich gesagt! Hör auf zu nerven!«
Er war wütend, aber noch hatte sie Spielraum. Sie versuchte, ihrer Stimme einen weichen Klang zu geben. »Wir müssen doch nicht weit gehen, ich kann auch mein Gesicht einfach nur durch den Türspalt stecken und atmen.«
Er klebte ein Pflaster auf ihre Stirn und strich die Ränder mit dem Daumen glatt. Dann zeigte er zu dem Teller auf dem Nachttisch. Dort lagen dünne Brotscheiben mit schimmerndem Lachs. »Den habe ich selbst gebeizt«, sagte er. »Iss was, solange er noch so frisch ist, dann werden wir sehen, ob wir noch Zeit für einen kleinen Spaziergang haben.«
Sie griff nach einer Scheibe. Der bittere Geruch von Dill provozierte ihren Magen, trotzdem biss sie ein großes Stück ab. Der Lachs war butterweich und schmolz auf der Zunge, die Kiefer mussten gar nicht viel arbeiten, und dafür war sie sehr dankbar. Denn allein das Kauen kostete sie viel Kraft.
Er bückte sich hinunter zu der Erste-Hilfe-Box und legte die Schere wieder sorgfältig an ihren Platz zurück. Als sie seinen gebeugten Nacken sah, überlegte sie kurz, ob ihr Tritt kräftig genug wäre, dass er ohnmächtig wurde. Ihr Fuß baumelte über dem Bett, einsatzbereit. Es kitzelte in den Zehenspitzen. Ein Tritt müsste reichen, vielleicht noch ein zweiter. Am Anfang hatte er ihr nie den Rücken zugekehrt, aber jetzt fing er langsam an, nachlässig zu werden.
Er hob den Blick, sah, wie sie mit dem Brot und dem Lachs kämpfte.
»Du willst flüchten, stimmt’s?
»Nein«, antwortete sie sofort mit vollem Mund.
»Deshalb willst du auch immer raus an die Luft.«
Er setzte sich neben sie auf die Pritsche, legte seinen Arm um ihre Schultern. »Iss auf, dann werden wir ja sehen.«
*
Lelle hasste Freitage. Wenn alle Kollegen sich mit glänzenden Augen ins Wochenende verabschiedeten und nach Hause in ihre hell erleuchteten Heime zum gemütlichen Abendessen aufbrachen. Nach Hause zu Kind und Kegel und zu dem Gefühl temporärer Vollkommenheit. Er konnte sich gut an dieses Gefühl erinnern, in so eine Situation nach Hause zu kommen. Lina und Anette bei Kerzenlicht am Abendbrottisch. Danach einen Film sehen. Einfacher Alltagsluxus, der ihm jetzt unendlich weit weg erschien.
Das Haus lag dunkel vor ihm, und die Räume waren kalt, als er aufschloss. Er schaltete kein Licht ein, behielt auch die Jacke an und ging direkt in die Küche, wo es säuerlich roch. Entweder aus dem Kühlschrank oder aus der Spüle. Anette hatte immer eine Spülmaschine haben wollen, aber er war wie immer zu geizig dafür gewesen. Mit der Hand auf dem Herzen hatte er verkündet, dass er immer den Abwasch machen würde. »Wer braucht eine Spülmaschine, wenn er zwei Hände hat?« Er war schon damals ein Riesenidiot gewesen.
Um den Geruch im Haus zu vertreiben, setzte er Kaffee auf. Er lehnte sich gegen die Spüle, der rostfreie Stahl drückte in den Lendenbereich. Lelle hatte Lust, etwas zu trinken, es brannte auf der Zunge, und er bekam einen kalten Schweißausbruch.
Er saß im Dunkeln, als es an der Tür klingelte. Plötzliches Herzrasen, ihm wurde ganz schwindlig. Er rannte durch den Flur und sah durchs Fenster. Atemstillstand. Eine kleine dünne Gestalt mit schwarzer Kapuze und blonden Strähnen.
Lina, meine geliebte Lina, bist du es? Bist du es, Lina?
Sie zog die Kapuze vom Kopf, als er die Tür öffnete. Lelles Körper reagierte unmittelbar auf die Enttäuschung. Unsicher und schweigend blinzelten sie sich an. Ein Netz aus Regentropfen hatte sich auf ihr Gesicht gelegt, ihre Jacke war tropfnass, und sie sah verängstigt aus. »Ich habe den Bus verpasst. Stör ich?«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Komm rein.«
Er schaltete alle Lichter an und schämte sich für die Unordnung und die abgestandene Luft. Meja behielt die Jacke an, und als er sie bat, sich zu setzen, wählte sie Linas Stuhl. Er wollte automatisch protestieren, hielt sich dann jedoch zurück. Er stellte Kaffeebecher und die traurigen Brotscheiben hin, die noch übrig waren, und musste an Hassans Worte denken. Jetzt hätte er gerne ein paar Kekse vorrätig gehabt.
Mejas Blick wanderte durch den Raum, über das dreckige Geschirr in der Spüle, dann weiter zum Kühlschrank mit Linas Fotos. »Sie haben aber ein schönes Haus.«
»Vielen Dank.«
»Die Häuser hier oben in Norrland sind alle so groß.«
»Wahrscheinlich, weil hier niemand leben will.«
Sie lächelte, und da sah er die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Die war ihm noch nie aufgefallen. Da wurde ihm klar, dass er sie auch noch nie hatte lächeln sehen.
»Ich will hier oben leben«, sagte sie. »Am Anfang dachte ich das nicht, aber jetzt gefällt es mir hier.«
»Dir gefällt es auf Svartsjö?«
»Mir gefällt es in Norrland.«
»Das unterschreibe ich.« Lelle schmierte sich eine Scheibe Brot, und sie tat es ihm nach. »Hätte ich gewusst, dass du kommst, dann hätte ich noch was anderes besorgt. Ich bekomme sehr selten Besuch.«
»Haben Sie keine Frau?«
»Wir haben uns vor zwei Jahren scheiden lassen. Sie hat einen neuen Mann.«
»Oh.«
»Ja, das kann man so sagen.«
Auf Mejas Stirn erschien eine tiefe Falte. Lelle tauchte seine Brotscheibe in den Kaffee und stellte fest, dass er das erste Mal über Anette sprach, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Es fühlte sich weder schwer noch verbittert an. Ganz im Gegenteil, es tat ihm gut, sich mit einem jungen Menschen zu unterhalten. Der außerdem noch seine Tochter sein könnte.
»Wie ist es eigentlich, da draußen auf Svartsjö zu wohnen? Ich habe gehört, dass die Familie Brandt nicht einmal einen Fernseher hat?«
»Wir hören abends Podcasts.«
»Podcasts?«
»Ja. Meistens von Amerikanern, die über die neue Weltordnung reden oder so was.«
»Die neue Weltordnung?«
Er sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und sie den Blick abwandte.
»Birger glaubt da am meisten dran. Und Pär.«
»Carl-Johan nicht?«
»Er ist damit groß geworden, er kennt doch nichts anderes. Aber er wird seine Haltung bestimmt ändern, wenn er die Welt kennenlernt.«
»Dein Plan ist also, ihm ein bisschen was von der Welt zu zeigen?«
Meja seufzte, senkte den Kopf. »Er will, dass wir heiraten und Kinder bekommen.«
»Jetzt schon? Ihr seid doch noch so jung!?«
Sie sah hoch, blinzelte ihn zwischen den Ponyfransen an. Sie hatte auf jeder Seite ein kleines Lachgrübchen. »Ich nehme heimlich die Pille.«
Das warme Licht der Küchenlampe. Der Rest der Welt in tiefer Dunkelheit. Die Bäume bogen sich im Wind wie eine streitsüchtige Ermahnung, dass sie nicht ewig zusammen am Küchentisch sitzen konnten. Sie ist nicht Lina, du hast deine Tochter nicht zurückbekommen. Meja war diejenige, die schließlich aufstand. Er hörte, wie sie am Spülbecken ihren Becher abwusch und hinter ihm hin und her lief. Als er sich zu ihr umdrehte, stand sie vor dem Kühlschrank und betrachtete die Fotos. Zehn Lina-Gesichter lächelten sie von der rostfreien Stahloberfläche an. Ein nackiges Baby mit Mittsommerkranz auf dem Kopf. Eine Achtjährige mit Zahnlücke auf einem roten Roller. Das letzte Foto war vom Sommerfest auf der Tallbackaschule. Lina trug ein weißes Kleid und hatte ihre Haare hochgesteckt. Meja neigte den Kopf zur Seite und lehnte sich vor, als würde sie etwas in Linas Gesicht suchen. So blieb sie lange stehen. Dann drehte sie sich um. »Es wird langsam spät, ich sollte anrufen und fragen, ob mich jemand abholt.«
»Ich fahre dich.«
Die Bäume bogen sich tief über den angrenzenden Wildzaun, als sie daran vorbeifuhren. Der Silvervägen lag glänzend und leer vor ihnen. Lelle ertappte sich dabei, dass er extra langsam fuhr, um den Abschied hinauszuzögern. Meja war verstummt. Als sie in den Weg nach Svartsjö einbogen, zog sie sich die Kapuze über den Kopf. »Sie können mich hier rauslassen.«
»Ich kann dich doch bis nach vorne fahren. Sonst wirst du noch weggepustet.«
»Aber ich will laufen.«
Sie sprach leise, aber mit einer Schärfe in der Stimme, die ihn anhalten ließ, obwohl der Wind die Bäume peitschte. Bevor sie ausstieg, umarmte sie ihn. Drückte ihre kalte Wange an seine raue. »Vielen Dank fürs Fahren.«
Dann öffnete sie die Tür und verschwand im Unwetter. Lelle sah der mageren Gestalt hinterher, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Lange blieb er im Wagen sitzen, draußen heulte der Wind, in seiner Brust wuchs die Leere. Es konnte kein Zufall sei, dass sie zu ihm gekommen war. Er wusste, dass es eine Bedeutung hatte. Das hatte er am Küchentisch, in dem warmen Licht der Küchenlampe ganz deutlich gespürt. Etwas hatte sie beide zusammengeführt.
*
Die Dunkelheit drückte sich von außen gegen die Scheiben und drohte sie zu ersticken. Meja zuckte vor dem eigenen Spiegelbild in den schwarzen Fenstern zusammen. Der Hof war eine einsame Laterne in der Finsternis. Der Wald lag da wie eine schwarze Mauer, die schon an den Häuserecken anfing. Anita hatte ihr eine Stirnlampe gegeben, damit sie den Weg zu den Hühnern finden konnte. Die dunkle Kälte hatte auch den Hühnerstall in ihren Klauen. Die Hühner saßen aufgeplustert auf den Stangen. Sie legten weniger Eier, und Meja konnte von Glück sagen, wenn sie am Tag zwei einsammeln konnte.
Das frühe Ende des Tages trieb alle wie ein Hütehund zusammen. Meja saß eingeklemmt zwischen den Brüdern vor dem Kamin. Wie immer war Birger für das Feuer zuständig, und Anita saß im Sessel und hatte ihr Strickzeug im Schoß. Ihre Hände führten ein Eigenleben, und die Wolle schien niemals zu versiegen. Meja hätte auch gerne etwas gehabt, worauf sie sich konzentrieren konnte. Eine Alternative zu den Ausführungen der Brüder über bevorstehende Kriege und den Weltuntergang. Auch an diesem Abend wollte Birger ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Er stand mit dem Rücken zum Feuer und starrte sie durchdringend an, um sicherzugehen, dass sie ihm auch zuhörte .
»Die wollen, dass wir uns aus der Wirklichkeit verabschieden. Dass wir unsere Köpfe in Handys und Rechner stecken, statt uns umzusehen und in Frage zu stellen, was auf dieser Welt alles so vor sich geht.«
Sie hatte kein eigenes Zimmer, keine noch so winzige Ecke, in die sie sich zurückziehen konnte. Immer waren sie um einen, wie Fliegen. Sooft sich die Gelegenheit dazu bot, versuchten Göran und Pär, neben ihr zu sitzen. Legten Arme und Hände auf sie, schwer und vertrauensvoll. Als würden sie bei ihr auftanken. Sie hatte immer von einer richtigen Familie geträumt, von Geschwistern. Aber weil sie permanent von ihnen umgeben war, stellte sie fest, dass sie sich auch nach Einsamkeit sehnte. Um Luft zu holen. Denn sie musste sich widerwillig eingestehen, dass nicht nur die Dunkelheit sie zu ersticken drohte.
Carl-Johan stieß die Tür auf, ohne anzuklopfen, und steckte seinen Kopf durch den Spalt. »Warum sitzt du denn hier?«
»Ich möchte einfach nur kurz allein sein.«
Er runzelte die Stirn. »Wir wollen den Podcast von diesem Typen aus Texas hören. Und Mama hat Biskuitrolle gebacken.«
»Ich muss noch was tun, wir schreiben morgen eine Arbeit.« Er blieb in der Tür stehen. Seine Unzufriedenheit machte ihn hässlich. »Ich komme, wenn ich fertig bin.«
Aber sie ging nicht mehr runter zu den anderen. Und als es Schlafenszeit war und er zu ihr ins Bett kam, atmete sie tief und schwer und hoffte, dass er sie in Frieden ließ. Sie wohnten erst seit ein paar Monaten unter einem Dach, aber sie spürte schon jetzt diese nervöse Unruhe in sich. Vielleicht hatte sie ja dasselbe wie Silje, konnte nicht an einem Ort bleiben. Vielleicht würde sie niemals irgendwo Wurzeln schlagen können. Im Sommer war sie sich ihrer Sache noch so sicher gewesen. Überzeugt davon, dass Svartsjö ihr Zuhause werden würde. Für immer. Aber jetzt hatten sich die Dunkelheit und der Alltag ins Leben geschlichen, und auf einmal bekam es etwas Lächerliches. Sie musste an Lelles Worte denken, dass es nicht so leicht sei zusammenzuleben, besonders wenn man eigentlich noch auf der Suche nach sich selbst sei.
Als sie sicher war, dass er tief und fest schlief, stahl sie sich aus dem Bett, ganz langsam, ein Bein nach dem anderen. Sie drückte ihre Klamotten an die Brust, bis sie die Tür leise hinter sich zugezogen hatte. Görans und Pärs Türen waren geschlossen, alles war dunkel. Sie waren alle keine Nachteulen, dafür sorgte schon die harte Arbeit auf dem Hof. Schnell zog sie sich an. Das ganze Haus ächzte und knirschte, als sie die Treppe hinunterlief, aber niemand schien es zu hören oder sich daran zu stören. Die Flügeltür von Birger und Anitas Zimmer war ebenfalls geschlossen.
Nachts allein nach draußen zu gehen war wie Schwimmen im See von Glimmersträsk. Alle Muskeln erwachten gleichzeitig zum Leben. Der Weg wurde von dem Licht einer schmalen Mondsichel beleuchtet, und so fand sie mit Leichtigkeit zum Hühnerstall. Am liebsten hätte sie jemanden mit ihrem Handy angerufen. Vielleicht Silje oder Krähe. Oder Lelle. Mit ihm würde sie gerne sprechen. Aber sie hatte keins und musste sich darum mit den Hühnern begnügen.
Sie saßen dicht aneinandergedrängt und schliefen. Es schien sie auch nicht zu stören, dass sie mitten in der Nacht zu ihnen kam. Meja sank auf den mit Sägespänen bedeckten Boden. Der Dreck machte ihr nichts aus. Die eine Hand legte sie auf das zerrupfte Huhn. Die Teersalbe war abgegangen, und darunter waren neue weiche Federn gewachsen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu entwirren. Vielleicht weinte sie auch ein bisschen. Aber nicht so, dass es die Tiere störte.
Sie war kurz davor einzunicken, als Stimmen sie weckten. Ihr erster Gedanke war, dass Carl-Johan nach ihr suchte. Vielleicht hatte er Göran und Pär geweckt. Niemand von ihnen begriff, dass sie auch mal ihre Ruhe brauchte. Wer da draußen auch herumlief, unterhielt sich leise und gedämpft. Fast flüsternd. Sie lehnte sich an die Tür und hielt die Luft an, um besser hören zu können.
Zuerst murmelte ein Mann etwas, was sie nicht verstand, dann hörte sie eine andere Stimme, eine hellere, fremde. Eine weibliche Stimme.
*
Lelle saß am Küchentisch, allein im warmen Licht der Lampe. Er saß gegenüber von Linas Platz, aber er dachte nicht nur an sie. Er wollte es zwar nicht zugeben, aber er wartete auf Meja. Saß ganz steif auf den abgewetzten Stuhlbezügen und lauschte. Er erinnerte sich daran, wie sie sich umgesehen hatte, mit großen Augen, als wäre sie beeindruckt von dem verdreckten alten Haus. Sie hatte sich Linas Fotos genau angesehen. Sehnsuchtsvoll. Wie ein Hund, der unter dem Esstisch sitzt und darauf wartet, dass ein paar Brocken für ihn abfallen, hatte sie Lina beim Wachsen zugesehen. Von den dicken Kinderbäckchen bis zu dem herablassenden Blick eines Teenagers. Zehn Fotos hingen am Kühlschrank, zehn Augenblicke, die er nie wieder erleben würde, aber die er noch förmlich riechen konnte. Die restliche Welt hatte Geruch und Geschmack für ihn verloren. Er machte auch keine Fotos mehr. Alles, was ihm etwas bedeutete, war mit traurigen kleinen Magneten am Kühlschrank befestigt und starrte ihn mit der stummen Aufforderung an: Sitz hier nicht einfach nur rum, Papa. Tu was!
Er nahm sein Handy und wählte Hassans Nummer. Als der nicht ranging, sprach er ihm auf die Mailbox: »Ich habe eine neue Schülerin, um die ich mir Sorgen mache. Sie heißt Meja Nordlander und ist siebzehn Jahre alt. Ihre Mutter ist die Lebensgefährtin von Torbjörn Fors. Silje heißt sie. Ich würde gerne mehr über ihre Vergangenheit erfahren. Wenn du mir da weiterhelfen könntest, wäre ich dir sehr dankbar. Du weißt ja, wo du mich findest.«
Lange blieb er mit dem Handy in der Hand sitzen. Er spürte eine mächtige Unruhe im ganzen Körper, wenn er an Meja dachte. Das Mädchen, das ohne Vater groß geworden war und nie ein richtiges Zuhause gehabt hatte. Das Mädchen, dessen Foto wahrscheinlich nie einen Kühlschrank zieren durfte.
*
Meja spähte durch das Gitter des Hühnerstalls. Am Waldrand sah sie zwei Gestalten. Sie dachte sofort an Einbrecher, aber die Hunde lagen still in ihrem Zwinger. Die eine der beiden Gestalten erkannte sie. Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie sofort, dass es Göran war. Es war die Art, wie er sich bewegte, mit den Armen schlenkerte, als würde er sich wehren müssen oder jemanden angreifen wollen.
Die andere Gestalt war viel kleiner, viel zu klein, um einer der anderen Brüder zu sein. Und sie war auch wesentlich dünner als Anita. Es war ein Mädchen, ein junges Mädchen, vielleicht sogar ein Kind. Im Mondlicht sah sie blonde Strähnen, die ihr bis auf den Rücken fielen. Sie bewegte sich sonderbar, hatte die Schultern hochgezogen, als hätte sie Schmerzen.
Sie redeten miteinander, laut und aufgeregt. Als würden sie sich streiten. Meja schlich aus dem Hühnerstall und duckte sich hinter die Schubkarre. Im Licht der Hoflampe sah sie, wie Göran das Mädchen gegen einen Baum drückte und ihr eine Hand auf den Mund presste. Er hatte sich etwas über den Kopf gezogen, eine schwarze Maske, die sich bewegte, wenn er sprach. »Ich habe alles für dich getan, und das ist dein Dank?« Das Mädchen weinte und wimmerte. Meja wollte schreien, aber ihre Zunge gehorchte ihr nicht. Göran legte seine Stirn gegen die des Mädchens. »Meine Liebste davor war genauso dumm wie du«, sagte er. »Sie wollte auch weglaufen, obwohl ich sie gerettet habe – gerettet! Das hätte sie nicht tun sollen!«
Das Mädchen wimmerte erneut. Er nahm seine Hand von ihrem Mund, gierig sog sie die Luft ein und hustete. »Ich will nach Hause«, stöhnte sie. »Bitte, bitte, ich will nach Hause.«
Aber das machte ihn nur noch wütender. Meja sah, wie er sie hochhob und wie eine Puppe schüttelte. »Du bist zu Hause, kapierst du das nicht? «
Er presste den dünnen Körper wieder gegen den Baumstamm und drückte ihr mit den Händen den Hals zu. Die Augen des Mädchens wurden riesengroß, Meja sah das Weiße ihrer Augäpfel, die Beine zappelten hilflos in der Luft. Sie trat und schlug um sich. Dann hörte Meja ein gurgelndes Geräusch und sich selbst schreien, so laut, dass die Hunde geweckt wurden und anfingen zu bellen. Göran drehte sich um und sah in ihre Richtung, aber er behielt den Würgegriff bei. Die Beine des Mädchens hatten aufgehört zu zappeln, ihr Körper hing schlaff am Baumstamm herunter. Meja rannte einmal quer über den Hof, schlug und trat auf Göran ein. Er war so viel stärker als sie. Wahrscheinlich ließ er nur aus Überraschung los, das Mädchen fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, hustete und spuckte, dann kroch sie auf allen vieren in den Wald.
Göran riss sich die Maske vom Kopf und starrte Meja mit einem Gesichtsausdruck an, den sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er hatte eine Wunde am Kopf, die blutete. Eine dunkle Blutspur lief ihm über die Wange bis hinunter zum Hals. Sein Oberkörper pumpte, als würde die Luft nicht ausreichen. »Misch dich nicht ein, Meja. Wir spielen nur.«
Sie sah, dass das Mädchen sich aufgerappelt hatte und losrannte, Richtung See. Wie ein fliegendes Gespenst sah es aus.
»Was machst du da? Wer ist das?«
Göran antwortete nicht. Sein Blick war leer. Tot. Sein Atem verfärbte die kalte Luft, und sie konnte förmlich hören, wie die Gedanken in seinem Kopf arbeiteten. Plötzlich hechtete er vor und packte sie am Arm, bekam aber nur ihren Pullover zu fassen, Meja riss sich los und rannte so schnell sie konnte auf das dunkle Haus zu.
Erst oben auf der Treppe stellte sie fest, dass er ihr gar nicht gefolgt war. Weder in der Nähe der Scheune noch am Waldrand konnte sie etwas erkennen. Göran und das Mädchen waren von der Dunkelheit verschluckt worden. Anstrengung und Angst brannten in ihrer Brust, als sie mit beiden Fäusten gegen Birgers und Anitas Zimmertür hämmerte.
Anita öffnete, ihr Haar leuchtete im Dunkeln, und ihr Nachthemd schwang gespenstergleich um ihre Beine. »Was ist denn los?«
Meja stützte sich gegen den Türrahmen. Sie sah Birger im Hintergrund, der nach seinem Gewehr griff.
»Es ist Göran, ihr müsst sofort kommen.«
Mehr musste sie nicht sagen, sowohl Birger als auch Anita zogen sich blitzschnell an.
Sie fanden ihn unten am See. Das Wasser lag verborgen unter einer Eisdecke, alles war still. Göran hatte sich gegen den Stamm einer krummen Birke gelehnt, man konnte von Weitem nicht sagen, wo die Äste endeten und seine Arme anfingen. Mit Ausnahme der Blutspur, die eine rote Linie in sein Gesicht malte, war er so bleich wie der Mond. An seinen Lippen hingen kleine Speichelbläschen. Er atmete schwer. Als er sie sah, löste er sich vom Baumstamm, kam zu ihnen und klammerte sich an Anita, strich mit den Händen über ihren Hals und Rücken. Meja hörte ihn flüstern.
»Verzeih mir, liebe Mama, verzeih mir.«
»Mein geliebter Junge, was hast du getan? «
»Ich wollte ihr nicht weh tun, das wollte ich nicht. Wir haben nur gespielt.«
Birger schwenkte den Lichtkegel seiner Taschenlampe über den Boden, der Baum sah jetzt grau und bedrohlich aus. »Verflucht, Junge«, sagte er. »Wo ist sie?«
Göran bückte sich und übergab sich, Anita strich ihm über den Rücken und warf Birger böse Blicke zu. »Das ist deine Schuld«, sagte sie mit bebender Stimme. »Du hast ihm jede Hilfe verweigert.«
Birger antwortete nicht. Man hörte nur das Knacken der Zweige unter seinen Stiefeln. Er hielt die Taschenlampe wie eine Waffe. Meja stand mit klappernden Zähnen daneben. Sie roch Schweiß, Erbrochenes und Blut. Eine kalte Angst kroch in ihr hoch, als Göran sich aufrichtete und in den Wald zeigte. »Sie liegt dort drüben«, flüsterte er.
Birger schwenkte die Taschenlampe in die angedeutete Richtung. Zuerst sahen sie ihre Haare, dann die ausgestreckten Beine. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, die Hände waren ganz schwarz vor Erde, als hätte sie darin gegraben. Sie atmete nicht.
Birger rannte zu ihr und drehte sie auf den Rücken. Ihre Halsmuskeln hatten keine Spannung mehr, der Kopf hing leblos an ihrem Körper. An Kinn und Mund klebte Blut. Anita legte den Kopf in den Nacken und schrie in den Himmel.
»Nicht schon wieder! Lieber Gott, nicht schon wieder!«
Birger sank auf die Knie und hielt sein Ohr an die Lippen des Mädchens. Dann legte er das Gewehr beiseite und öffnete den zarten Mund mit zitternden Händen. Meja sah, wie er mit aller Kraft Luft in sie blies, dann beugte er sich über sie und bearbeitete mit den Händen ihren Brustkorb.
»Das wollte ich nicht«, jammerte Göran immer wieder. »Sie hat mich angegriffen.«
Birger blies und pumpte, blies und pumpte so kraftvoll, dass Gefahr bestand, ihr die Knochen zu brechen. »Du verdammter, verdammter Kerl«, schnaufte er. »Du führst uns alle ins Verderben.«
Da fing das Mädchen an zu husten, aber Birger schien es gar nicht zu bemerken, wie besessen setzte er seine Wiederbelebungsmaßnahmen fort. Meja hörte wieder, wie das Mädchen schrie. Sie rannte zu Birger und zerrte ihn von ihr runter. Das Mädchen rollte sich auf die Seite und schnappte nach Luft. Birgers Hemd war ganz nass vor Schweiß, und er keuchte vor Anstrengung.
»Wir müssen den Notarzt rufen.«
Birger wischte sich das Gesicht ab. Er sah Meja an, als würde er erst jetzt begreifen, dass sie dort stand. Ihm liefen Schweiß und Tränen aus Augen und Mundwinkeln. Er stand auf und zog sie fest an sich. Sie spürte durch das schweißnasse Hemd, wie sehr er zitterte, wie sich seine Angst mit ihrer mischte. »Wir werden niemanden rufen«, sagte er.
Meja versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen, aber er packte ihr Handgelenk mit der einen Hand und sein Gewehr mit der anderen. Sie sah noch, wie er das Gewehr in die Luft hob, sah seine weißen Finger, die den Gewehrkolben umklammerten. Dann explodierte die Welt.
*
Lelle wachte von einem Knirschen in der Auffahrt auf. Ein Speichelfaden verband seinen Mund mit dem Leder des Sofas. Seine linke Wange fühlte sich ganz plattgedrückt an, als er sich aufrichtete. Noch bevor er am Fenster war und nachsehen konnte, wer da gekommen war, klopfte es an der Tür. Aber er konnte die grellen Farben des Streifenwagens durch die Gardine erkennen. Lelle hielt sich den Kopf. Er tat weh.
»Sag mal, Lelle, machst du noch was anderes außer schlafen?« Hassan reichte ihm einen rosa Karton und schob sich an ihm vorbei. »Ich weiß ja, dass Wochenende ist, aber wir haben schon fast elf Uhr.«
»Das ist mir so was von egal. Ich würde auch den Rest meines Lebens schlafen, wenn ich könnte.« Lelle öffnete den Deckel des Kartons, in dem zwei große Zimtschnecken mit Perlzucker lagen und ihn anstarrten. Hassan hatte seine Schuhe ausgezogen und war in der Küche verschwunden.
»Hast du diesen Saustall nicht irgendwann mal satt? Du weißt schon, dass es Putzfirmen gibt, die man bestellen kann?«
»Ich bin nicht in der Stimmung für deine Witze.«
»Koch mal Kaffee, damit du wieder normal wirst.«
Lelle stellte den Karton auf den Tisch und gehorchte. Hassan öffnete den Reißverschluss seiner Uniformjacke und setzte sich an die Stirnseite des Tisches. Offenbar hatte er endlich gelernt, Linas Platz frei zu halten.
»Gibt es Neuigkeiten, oder bist du nur vorbeigekommen, um mich zu bemitleiden?«, fragte Lelle, während die Kaffeemaschine ihre Arbeit aufnahm. Hassan hatte schon von seiner Zimtschnecke abgebissen und den Mund voll.
»Beides, befürchte ich. «
Der Boden unter Lelles Füßen fing an zu schwingen, als er Becher und Milch auf den Tisch stellte. »Lass hören.«
»Dieses Mädchen, weswegen du mich angerufen hast – Meja Nordlander – ich habe mich mal ein bisschen in ihrer Vergangenheit umgesehen. Das Jugendamt ist seit ihrer Geburt involviert. Da gibt es eine ganze Menge Papierkram.«
»Aha?«
»Details, die ich dir eigentlich nicht erzählen dürfte.«
Lelle hatte sich gegen die Spüle gelehnt. »Du weißt, dass ich niemandem etwas sagen werde.«
Hassan wischte sich die Krümel vom Mund. »Sie hatte gelinde gesagt ein bewegtes Leben. Seit Meja auf der Welt ist, waren sie und ihre Mutter Silje an über dreißig Wohnorten gemeldet. Einen Vater gibt es nicht, und die Mutter hatte einige Schwierigkeiten. Drogen und psychische Auffälligkeiten. Mehrere polizeiliche Ermittlungen und Verdacht auf Prostitution. Das Mädchen wurde immer wieder in andere Obhut gegeben, aber Silje gelang es jedes Mal wieder, sie zurückzuholen.«
»O Mann. Kein Wunder, dass sie auf Svartsjö gelandet ist. Sie war es bestimmt leid, immer herumzuirren.«
Hassan schob die zweite Zimtschnecke zu Lelle rüber. »Es scheint, dass sie einen festen Halt sucht«, sagte er. »Etwas, auf das sie sich verlassen kann.«
*
»Bleib liegen, du blutest.«
Meja blinzelte. Die Gestalt, die sich über sie beugte, hatte ein blaues Auge und eine frische Wunde am Mund. Sie drückte Meja ein Stück Stoff auf die Stirn, ihre Stimme war heiser. »Versuch dich zu entspannen, sie haben dir ordentlich eine verpasst.«
»Wer bist du?«
»Ich heiße Hanna.«
Über den Schlüsselbeinen unter den blonden Haaren leuchteten rote Würgemale. Meja sah sich in dem Raum um, in dem sie sich befanden. Er war klein und dunkel, an der Decke hing nur eine müde Glühbirne an einer Schnur und warf lange Schatten. Die Luft war kalt und abgestanden, der scharfe Gestank von Urin stach in der Nase. »Wo sind wir?« Ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen.
»Wir sind in einem Raum unter der Erde, mehr weiß ich nicht.«
»Und wo sind die anderen?«
»Hier sind nur wir beide.«
Meja stützte sich auf die Ellenbogen. Ein heißer Schmerz hinter den Augen durchfuhr sie wie ein weißer Blitz, und es hämmerte in ihrem Kopf. Sie schloss die Augen und setzte sich ganz langsam auf, unterdrückte die aufsteigende Übelkeit.
»Du solltest liegenbleiben«, murmelte Hanna. »Du bist so weiß wie ein Laken.«
Aber Meja schenkte ihr keine Beachtung. Vorsichtig betastete sie mit den Fingern ihren Kopf. Ihre Haare waren verklebt, die Haut war empfindlich und brannte bei der kleinsten Berührung. Sie zog ihre Hand zurück, und als sie ihre blutverschmierten Finger sah, bekam sie Angst. »Wer hat mich denn geschlagen?«
Hanna räusperte sich. »Ich weiß es nicht. Es waren mehrere.« Sie tunkte das Stoffstück in einen Eimer mit Wasser, drückte den Lappen aus und betupfte damit Mejas Stirn. Es brannte. »Kannst du selbst etwas drücken? Du blutest noch ziemlich doll.«
Meja legte ihre Hand auf den Lappen. Ihre Finger fühlten sich nicht wie ihre eigenen an, aber sie drückte so fest sie konnte. Sah Hanna dabei an. Sie blinzelte. Plötzlich fing ihr Herz an zu rasen, als sie den Zusammenhang herstellte. »Ich kenne dich. Du bist überall auf den Plakaten.«
»Was für Plakate?«
»Die wurden überall aufgehängt. Alle suchen nach dir.«
Hannas Unterlippe begann zu zittern. »Und ich war die ganze Zeit hier unten.«
Meja sah zur Tür, atmete tief ein, um die Übelkeit weiter zurückzudrängen, dann stand sie auf. Sie hatte schwarze Flecken vor den Augen, und ein spitzer Schmerz jagte ihr durch den Hinterkopf. Sie hob eine Hand und stützte sich an der schwankenden Wand ab. Da hörte sie Hannas Stimme hinter sich. »Leg dich wieder hin, bevor du ohnmächtig wirst.«
Aber Meja drückte sich von dem rauen Beton ab und schleppte sich zur Tür. Plötzlich tauchten ein paar Erinnerungsfetzen auf. Sie sah den See in der Nacht glitzern und Birgers Hände, die den Gewehrkolben umklammerten. Seinen Gesichtsausdruck, der ihr so fremd war. Sie legte ihre freie Hand auf den Türgriff und drückte. Als nichts passierte, ließ sie den blutigen Lappen auf den Boden fallen und begann mit beiden Händen an Griff und Türrahmen zu rütteln, bis die metallene Oberfläche mit ihrem Blut verschmiert war. Sie rief nach Carl-Johan, nach Birger und Anita, schrie so lange, bis sie sich übergeben musste, ihre Beine nachgaben und sie auf den kalten Boden sank.
Hanna half ihr wieder auf, brachte sie zurück auf die Pritsche und legte den Lappen auf ihre Wunde. Ihr liefen Tränen über die dreckverschmierten Wangen. »Es hat keinen Sinn, hier unten kann uns niemand hören.«
Meja keuchte. »Dann habe ich dich und Göran oben bei der Scheune gesehen?«
»Weißt du, wer das ist?«
»Er ist der Bruder meines Freundes.«
»Deines Freundes?«
Meja nickte. Sie hatte Kopfschmerzen und legte eine Hand auf ihren zitternden Brustkorb. Die Luft in der winzigen Kammer reichte nicht aus. Plötzlich wurde ihr eiskalt, und ihre Zähne schlugen aufeinander. Die Erkenntnis, dass sie in einem Bunker gefangen war, nahm langsam Form an. Ein kleiner, dunkler Keller, in dem man sich verstecken konnte, wenn die schlimmsten Befürchtungen eingetroffen waren und die Gefahr tatsächlich vor der Tür stand. Es gab keinen Zweifel daran, dass er Birgers Werk war. Oder das eines seiner Söhne.
Sie packte Hannas Handgelenk und drückte es. »Warum bist du hier? Was ist passiert?«
»Ich war mit meinem Freund zelten. Nachts musste ich mal aufs Klo. Und plötzlich war er da – wie aus dem Nichts. Hat einen Arm um meinen Hals gelegt und zugedrückt. Alles hat geflimmert. Ich habe versucht, um mich zu schlagen, mich loszureißen, aber es ging nicht. Er zerrte mich einfach hinter sich her. Würgte mich. Ich war mir sicher, dass ich sterben würde …« Hannas Stimme brach. Ihr magerer Körper zitterte. »Ich muss ohnmächtig geworden sein«, flüsterte sie. »Denn als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Kofferraum und konnte mich nicht erinnern, wie ich dorthin gekommen war. «
»Woran kannst du dich denn noch erinnern?«
»Der Kerl hatte eine Maske auf, er hatte immer eine Maske auf. Sein Gesicht habe ich nie gesehen.«
Meja musste an Görans Pickel und Wunden im Gesicht denken, an denen er immer herumkratzte. An seinen Blick, als er Carl-Johan und sie im Gras überrascht hatte, an die Eifersucht in seinen Augen. Diese Eifersucht hatte ihn immer wie ein schlechter Geruch verfolgt. Sie musste auch daran denken, wie er auf der Lichtung mit den vielen Siebensternen den Blumen die Blüten ausgerissen und zu ihr gesagt hatte, dass er auch so etwas wolle wie sie und Carl-Johan. Anitas Worte hallten in ihrem Kopf: Aber wenn meine Jungs dir zu viel werden, dann sagst du mir Bescheid. Wieder stand ihr das Bild von Birger mit dem Gewehr in der Hand und von Anita in ihrem flatternden Morgenmantel vor Augen. Göran, der zusammengekauert in den Armen seiner Mutter gelegen hatte, nicht weit weg von Hanna. Wie er geweint und dann endlich gezeigt hatte, wo er sie liegen gelassen hatte. Sie hatte Hannas Handgelenk noch nicht losgelassen, spürte ihren Puls unter den Fingern. »Wollte er dich freilassen, als ich euch an der Scheune gesehen habe?«
»Ich hatte ihn verletzt.« Hanna zeigte auf den kleinen Holztisch, der in der Ecke stand. »Ich habe ihm den Nachttisch gegen den Kopf geworfen und bin losgerannt. Aber das hätte ich nicht tun sollen.«
*
Schon wieder hatte er verschlafen. Lelle hatte nur Zeit, sich oberflächlich zu waschen und die Zähne zu putzen. Ohne seinen morgendlichen Kaffee zitterte er auf dem Weg zur Schule. Schnell huschte er ins Lehrerzimmer, um sich eine Tasse Kaffee zu holen, dann lief er mit gesenktem Kopf weiter, um jeden Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, zu unterbinden. Hinter ihm bildete sich eine Spur aus Kaffeetropfen auf dem frisch geputzten Boden, aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Es beschwerte sich ohnehin nie jemand über ihn. Mit einem Menschen, der alles verloren hat, musste man Nachsicht haben so wie bei sehr kleinen Kindern oder sehr gebrechlichen Greisen. Man ließ sie gewähren.
Sieben Minuten war er zu spät. Die Schüler saßen schon alle auf ihren Plätzen, blinzelten träge, einige grunzten enttäuscht, als er auftauchte.
»Hat jemand noch Fragen, bevor ihr euch an die Klausur macht? Oder habt ihr das Gefühl, Pythagoras begriffen zu haben?« Während er zwei Zahlenreihen an die Tafel schrieb, bemerkte er, dass Mejas Platz leer war. »Wo ist denn Meja?« Vor ihm nur leere, träge Blicke und vereinzeltes Schulterzucken. »Weiß niemand von euch, wo sie ist?«
»Keine Ahnung«, meldete sich eine Stimme aus den hinteren Reihen.
»Wahrscheinlich ist sie krank«, sagte eine andere.
Lelle kratzte sich am Kinn, wo sich schon wieder ein Dreitagebart bildete. Es juckte so sehr, dass er es fast nicht aushielt. Aber er musste sich zusammenreißen, denn alle Schüleraugen waren auf ihn gerichtet.
Sie kam auch am nächsten Tag nicht zur Schule. Er ging nach der Mittagspause bei Gunhild vorbei. Die Schulkrankenschwester sprach so leise, dass man die Luft anhalten musste, um sie verstehen zu können. Nein, Meja hätte sich nicht bei ihr krankgemeldet. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Na ja, sie hat halt ein paar wichtige Stunden versäumt.«
»Nein, ich meinte, ob bei dir alles in Ordnung ist? Du siehst müde aus.«
Natürlich wollte sie ihn damit ködern. Aber Lelle konnte diese Art nicht leiden. Was für eine bescheuerte Frage. Vor einem Jahr noch hätte er gebrüllt, dass nichts in Ordnung sei und er für den Rest seines beschissenen Lebens müde aussehen würde und sie sich gefälligst jetzt schon daran gewöhnen sollte. Aber er hatte mittlerweile gelernt, diese Wut hinunterzuschlucken und den Außenstehenden das zu geben, was sie hören wollten. »Ich lebe«, sagte er darum, »mehr kann ich nicht verlangen.«
*
Meja erzählte Hanna von Carl-Johan. Wie er ihr die Zigarette aus dem Mund genommen und gesagt hatte, dass schöne Mädchen nicht rauchen sollten. Sie erzählte ihr von Birger und Anita, was für ein Leben sie führten und dass sie den Hof nur selten verließen. Dass sie alles hatten, was sie brauchten. Und noch mehr. Sie zeichnete die Postkartenidylle nach, in der glückliche Tiere über die grünen Wiesen liefen. Und ließ auch den großen Bunker nicht aus, mit dessen Vorräten sich die Familie mindestens fünf Jahre lang über Wasser halten könnte. Vielleicht sogar für immer. Hanna saß mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und hörte ihr aufmerksam zu. »Ich habe nie jemand anderen gesehen. Er war der Einzige, der kam. «
»Göran muss das alles ganz allein geplant haben. Heimlich. Oder ich war total blind.«
»Ich habe ihm den Nachttisch gegen den Kopf geworfen, so fest ich konnte. Aber offensichtlich nicht fest genug, denn ich bin nicht weit gekommen, als er mich eingeholt hat. Wenn du nicht aufgetaucht wärst, hätte er mich umgebracht.«
Meja musste an Birgers Wiederbelebungsversuche denken. Ihr wurde ganz schwindlig. Sie legte die Finger an ihren Hals, als würde sie sich vergewissern wollen, dass ihr Herz noch schlug. »Wir werden das hier überleben«, sagte sie. »Niemand wird uns umbringen.«
Sie schliefen eng beieinander. Am Anfang hatten sie eine kleine Lücke zwischen sich gelassen, die sich aber im Laufe der Nacht auflöste. Als Meja wach wurde, hatten sie ihre Arme und Beine ineinander verschlungen. Es gab nichts zu essen, nur lauwarme Milch in der Thermoskanne. Mejas Magen gab laute Geräusche von sich. »Mein Magen hat aufgehört zu protestieren«, sagte Hanna. »Schon lange.«
Meja drehte unaufhörlich Kreise auf dem feuchten Boden. Der Kopf tat ihr weh, wenn sie sich zu schnell bewegte, aber das Schwindelgefühl war weg. Carl-Johan würde sie vermissen. Er würde niemals zulassen, dass ihr jemand wehtat. Vielleicht wusste er gar nicht, was die anderen getan hatten, und suchte sie überall? Bestimmt tat er das. Außerdem würden doch auch die an der Schule merken, dass sie fehlte. Lelle auf jeden Fall, da war sie ganz sicher. Und Silje. Sie rief doch mehrmals in der Woche an, um sich über Torbjörn zu beschweren. Es würde vielleicht ein bisschen dauern, aber früher oder später würde etwas passieren. »Die Leute wissen ja, wo ich bin«, sagte Meja. »Das wird nicht mehr lange dauern.«
»Vielleicht bringen sie uns vorher um und beseitigen alle Spuren und Beweise.« Hannas Stimme war so dunkel wie die Schatten in den Ecken der Kammer.
»Sag so was nicht.«
»Ich bin nicht die Erste. Vor mir war eine andere hier. Ich habe Hinweise gefunden.« Hanna schob ihren Ärmel hoch und zeigte Meja das lila Haargummi mit den hellblonden Haaren daran, die sich um das Gummi gewickelt hatten. »Siehst du? Dieses Haargummi war schon vor mir hier.«
Meja wandte den Kopf ab. »Sie wissen, dass ich hier bin«, wiederholte sie. »Silje und mein Lehrer wissen es beide.«
Sie schliefen, als die Tür geöffnet wurde. Meja hob den Kopf, konnte aber nur einen Schatten im Türspalt sehen und einen Gegenstand, der in die Kammer geschoben wurde. Sie sprang auf und stürmte zur Tür, aber da war die schon wieder ins Schloss gefallen. Auf dem Boden stand ein Korb mit Essen, der Geruch breitete sich sofort im ganzen Raum aus. Meja schrie die Tür an, hämmerte mit den Fäusten dagegen, bis ihre Wunden wieder aufplatzten und bluteten. Sie sank zu Boden. Hanna saß auf der Pritsche, ihre Augen strahlten wie Sterne in ihrem blau geschlagenen Gesicht. »Ich habe doch gesagt, dass es sich nicht lohnt.«
Meja wusste sofort, dass Anita das Essen zubereitet hatte. Das selbst gebackene Brot und die Blutklöße. Die frisch geschlagene Butter, die sahnig und salzig schmeckte und im Mund schmolz. Die Preiselbeermarmelade, die eher flüssig als fest war, und der Kaffee, der als Pulverhaufen im Becher liegenblieb. Das alles hatte Anita hergestellt.
Anita mit ihren silberweißen Haaren und dem flatternden Morgenmantel, der über den frostigen Boden schwebte. Meja erinnerte sich gut an ihren Blick, als sie Göran auf der Lichtung mit scharfer Stimme weggeschickt hatte. Ihre sehnigen Arme, die sie schützend um Mejas Taille gelegt hatte, wissend, wozu ihr Sohn fähig war.
Aber als sie das Essen sah, wusste sie auch, dass die ganze Familie sie verraten hatte. Göran, Pär, Birger, Anita – vielleicht sogar Carl-Johan. Der tat immer alles, was Birger sagte, und hinterfragte nie etwas. Sie sah noch den Stolz in seinem Gesicht, als er über sie alle gesprochen hatte: »Denn ohne meine Familie wäre ich nichts.«
*
Lelle musste die Augen gar nicht öffnen, um sich zu vergewissern, dass es schneite. Er hörte es an der Stille. Jetzt würde alles endgültig begraben werden und unter der kalten Schicht bis zur Unkenntlichkeit verrotten. Er würde durch den Wald pflügen können und doch niemals tief genug kommen, um auf das zu stoßen, was sich darunter verbarg. Mejas Stuhl war jetzt seit zwei Wochen leer geblieben, er würde nicht länger warten. Zwei leere Stühle waren zu viel. Das würde er nicht aushalten. Erst recht nicht mit all dem Schnee.
Lina wäre fast im Schnee zur Welt gekommen. Sie hatten zu Ostern eine Hütte oben in den Bergen gemietet, obwohl Anette aussah, als würde sie jeden Augenblick platzen. Sie hatten sich Rentierfelle in den Schnee gelegt und ihre Gesichter in die Sonne gehalten. Es war so hell, dass ihre Augen tränten. Die Bäume waren unter schweren weißen Ballen verborgen, die an den Spitzen tropften. Anette nahm seine Hand und legte sie auf den Bauch unter ihrem Pullover, damit er fühlen konnte, wie das Kind in ihr strampelte. Sie hatten gelacht, sich gefreut, sich gesehnt und Angst gehabt. Aber Sekunden später hatte Anette das Gesicht verzogen und sich die Handschuhe gegen den Bauch gedrückt. Lina hatte sich nicht damit zufriedengegeben, ein bisschen zu strampeln. Sie wollte raus, raus in den glitzernden, tropfenden Schnee und in das Sonnenfeuer, das am Himmel flackerte. Raus zu denen, die sich nach ihr sehnten. Das Fell unter Anette war ganz dunkel, und sie hatten nur den Scooter. Lelle hatte sie ins Krankenhaus gefahren, aber er konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern. Nur an das Licht und den Schnee und seine tränenden Augen.
Vom Sommer waren noch zehn Zigaretten übrig. Der Tabak war trocken geworden und hatte seinen Geruch verloren. Die Zigarette knisterte, als er sie anzündete. Er konnte weder Linas Proteste hören noch seine Tochter sehen. Nur das eigene, gehetzte Gesicht in dem fleckigen Spiegel. Die schlaffe Haut über dem Bart. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn überhaupt wiedererkennen würde. Oder ob sie sich beide zu sehr verändert hatten.
Er rauchte, während er das Auto freikratzte. Sein Atem und der Rauch umhüllten ihn wie einen Schutzmantel. Er meinte, den Nachbarn etwas rufen zu hören, kratzte aber unbeirrt weiter und stieg mit der glühenden Zigarette im Mund in den Wagen. Der Schnee, der sich auf die Bäume gelegt hatte, würde nicht liegenbleiben. Und auf dem Silvervägen hatten die anderen Fahrzeuge schmutzige Spuren durch die weiße Oberfläche gezogen. Früher hatte er den Winter gemocht, jetzt sah er nur noch das Hässliche.
Auf dem Schild nach Svartsjö lag ebenfalls eine Haube aus frischem Schnee. Der Weg bis zum Tor war eine vollkommen unberührte Oberfläche. Keine Spuren, weder von Fahrzeugen noch von Schuhen. Hier war niemand langgekommen. Er ließ den Motor laufen, stieg aus und klingelte. Trampelte mit den Füßen und sah hinüber zum Hof. Birgers Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher. »Wer ist da?«
»Ich bin es, Lennart.«
Es folgte eine kurze Pause. »Komm doch rein.«
Das Tor schob einen Schneeberg vor sich her, als es aufglitt. Es schneite noch immer, die Wolken hingen tief, und das Tageslicht war nur noch eine Ahnung am Horizont. Bald wäre es schon wieder dunkel. Er hatte nicht viel Zeit.
Birger begrüßte ihn und führte ihn wie beim letzten Mal in die Küche. Auf dem Herd stand ein Topf, in dem etwas brodelte und einen herzhaften Geruch verströmte. Von Meja und den Söhnen keine Spur. Lelle blieb in der Tür stehen, die Mütze in der Hand wie ein Schuljunge. Alles an ihm tropfte, er wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Er würde nicht ablegen, auf keinen Fall. »Ich bleibe nicht lang, ich wollte nur hören, wie es Meja geht.«
»Aber Zeit für eine Tasse Kaffee hast du doch, oder?«
Birger steckte seinen Kopf in den angrenzenden Raum und rief nach Anita. Seine Stimme hatte etwas Ungeduldiges, als würde er einen ungezogenen Hund rufen .
»Bitte keine Umstände«, sagte Lelle.
Aber Birger streckte schon die Hand nach seiner Jacke aus. Lelle hielt die Plastiktüte mit der Mathematikklausur krampfhaft fest, als er in die Küche ging. Birgers Kinn spaltete sich, wenn er lächelte. »Ja, der Winter kommt. Jetzt können wir nur noch den Kopf einziehen und durchhalten.«
Lelle nickte zustimmend. »Ja, der Winter kommt.«
»Ich wusste nicht, dass Lehrer heutzutage auch Hausbesuche machen.«
»Ich war in der Nähe und wollte mal sehen, wie es Meja geht. Sie war schon eine Weile nicht in der Schule, darum nehme ich an, dass es etwas Ernstes ist.«
»Sie hat die Grippe, die Arme. Es hat sie voll erwischt.« Birger schüttelte den Kopf, sodass seine Wangen zitterten. Wären seine Augen nicht gewesen, hätte er ausgesehen wie ein Hund. Aber seine Augen hatten überhaupt nichts Hündisches.
»War sie denn schon beim Arzt?«
»Nein, aber sie ist auf dem Weg der Besserung. Sie wird wieder fit. Meine Liebste kümmert sich um sie. Sie ist besser als jeder sogenannte Arzt.«
Der Rentiergeruch war so intensiv, dass Lelle das Fleisch schmecken konnte, das im Topf vor sich hin kochte. Trotzdem war sein Mund ganz trocken, als er die Plastiktüte hochhielt. »Könnte ich sie kurz sehen? Ich habe ihr eine sehr wichtige Klausur mitgebracht, die sie leider verpasst hat. Aber ich würde ihr gerne die Gelegenheit geben, sie nachzuschreiben, damit ihre Note nicht darunter leidet.«
Bevor Birger darauf etwas antworten konnte, erschien Anita in der Tür. Sie sah wild aus, mit starrem Blick und zerzausten Haaren, die wie eine Mähne auf ihren Schultern lagen. »Da bist du ja«, sagte Birger. »Kannst du zu Meja hochgehen und sie fragen, ob sie kurz runterkommen kann?«
Anita sah von Birger zu Lelle, als würde sie die beiden gar nicht kennen. Sie legte eine Hand auf die Brust und keuchte. »Natürlich kann ich das«, stieß sie hervor, ehe sie wieder verschwand.
Birger zog einen Stuhl heran und bot ihn Lelle an. »Das ist wirklich nett von dir, extra herzukommen«, sagte er. »Das würden bestimmt nicht alle Lehrer tun.«
»Ach, ich weiß nicht.«
Lelle öffnete seine Strickjacke und nippte am Kaffee. Der war heiß und bitter, sein Magen protestierte. Der ganze Raum schien zu kochen. Er hörte dumpfe Schritte aus dem ersten Stock und versuchte zu lauschen. Birger sah ihn unverwandt mit seinen wässrigen Augen an. Auch sein Lächeln versiegte nicht. Lelle spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief. »Ihr anderen habt euch nicht angesteckt? Mit der Grippe?«
»Wir sind aus zähem Holz. Uns erwischt so schnell nichts.«
Lelle brummte. Vor dem Fenster dämmerte es, ansonsten war alles still. Ab und zu hörte er Hundegebell aus dem Zwinger, ansonsten keine Anzeichen von Leben. Nirgends. Birgers Hände lagen auf dem Tisch, er hatte seine Hemdsärmel hochgekrempelt. Er war ein Mann, der zupacken konnte. »Meja hat überlegt, von der Schule abzugehen«, sagte er.
»Ach wirklich? Das hat sie mir gegenüber nie angedeutet. «
»Doch. Sie sagt, dass Schule doch nicht ihr Ding ist und sie lieber richtig arbeiten will.«
»Dann hoffe ich doch, dass ihr sie davon abbringt. Schule ist wichtig.«
Birger grunzte. Seine Nägel waren ganz schwarz, als hätte er mit bloßen Händen in der Erde gegraben. Lelle saß auf der vorderen Kante des Stuhls. Er wollte fragen, wie es den Söhnen ging, geriet jedoch ins Stocken und war gefangen von Birgers Blick und dem blubbernden Topf auf dem Herd.
Sie schwiegen noch, als Anita wieder nach unten kam. Allein. »Sie schläft, das arme Ding, ich hatte nicht das Herz, sie aufzuwecken.«
Lelle sah nach oben an die Decke, als würde er Meja durch bloße Gedankenkraft herbeizaubern können. Die Plastiktüte raschelte, als er aufstand. Er sah hinüber zur Treppe in den ersten Stock, dann zu Birger, dessen Gesichtsausdruck sich verändert hatte. »Lass die Klausur doch einfach hier, dann gebe ich sie ihr, wenn sie aufwacht.«
Die Plastiktüte schnürte ihm die Finger ab, Lelle zögerte einen Augenblick, ehe er sie losließ. »Sie soll mich anrufen, wenn sie Fragen hat. Zur Klausur.«
Sekunden später stand er wieder draußen im Schnee und atmete tief ein, um den Fleischgeschmack und dieses bedrohliche Gefühl loszuwerden, dass die Welt im Begriff war, ein zweites Mal zu kollabieren. Eine dünne Schneeschicht hatte sich auf die Wagenfenster gelegt, die er mit dem Jackenärmel wegwischte. Er nahm sich viel Zeit dafür, sah dabei immer wieder hoch zu den erleuchteten Fenstern und hoffte, wenigstens ihren Schatten zu sehen. Er wollte sie nicht bei diesen Menschen lassen. Das Bild von Lina, allein an der Bushaltestelle, flatterte an seinem inneren Auge vorbei. Birger stand am Küchenfenster und beobachtete ihn. Schweren Herzens stieg Lelle ins Auto und fuhr los. Das Tor war bereits offen, als er dort ankam.
*
Er wachte in Linas Zimmer auf. Es dauerte einen Augenblick, bis er realisierte, dass sie nicht neben ihm lag. Er hatte mit dem Kopf am Fußende gelegen, die Tagesdecke war ganz feucht, als hätte er sich durch seine Träume geschwitzt. Linas Fenster zeigte nach Norden und wurde im Winter regelmäßig über und über mit Eiskristallen geschmückt. Am Dachfirst hingen immer meterlange Eiszapfen. An den Wänden klebten Plakate von jungen Männern mit freiem Oberkörper, die ihn anglotzten. Im Bücherregal buhlten eine ganze Reihe Romane um den besten Platz: die abgenutzten Bände der Herr der Ringe -Trilogie, die Lina immer wieder gelesen hatte, wetteiferten mit schwarz gebundenen Romanen, die von Vampiren handelten und im Sonnenlicht schimmerten. Lina liebte diese Bücher.
Ihre Tagebücher hatte Anette mitgenommen, zusammen mit ihrem Schmuck und der Kleidung. Wahrscheinlich hatte sie die Tagebücher auch gelesen, denn sie war mehrmals mit Informationen herausgeplatzt, die sie ohne diese persönlichen Einsichten nicht hätte wissen können. Wann Lina ihre Unschuld verloren hatte zum Beispiel, und dass sie auf einer Uniparty in Luleå das erste Mal Hasch ausprobiert hatte. Er wollte gar nichts von Linas Geheimnissen erfahren. Ihm genügten die Dinge, die sie ihm selbst erzählt hatte. Von denen er wissen sollte.
Er setzte sich auf und strich mit der Hand über die Tagesdecke, als wäre sie ein alter Hund. Wenn er getrunken hatte, landete er meistens bei ihr im Zimmer, was ihm gar nicht gefiel. Denn sein Körpergeruch verdrängte ihren. Linas Geruch war am Anfang so präsent gewesen, in ihrer Kleidung, ihrer Bürste und in den Wänden. Aber er hatte mittlerweile so viele Nächte in ihrem Zimmer verbracht, dass er sie mit seiner Anwesenheit vertrieben hatte. Das war unverzeihlich.
Er versuchte zu rekonstruieren, warum er dieses Mal zur Flasche gegriffen hatte, konnte aber nur dem Winter die Schuld geben. Der Dunkelheit, die sich um das Haus legte und ihn lähmte. Der Kälte, die tief in die Erde drang und jedes Leben erdrückte. Er hatte den Gedanken wieder einmal nicht ertragen können, dass sie dort draußen war und fror. Darum hatte er getrunken. Um diesen Schmerz loszuwerden.
Unten in der Küche stützte er sich auf die Spüle und kämpfte gegen den Brechreiz an. Trank immer wieder kleine Schlucke Wasser, bis er sich kräftig genug fühlte, um Kaffee zu kochen. Draußen war es noch dunkel, obwohl der Schnee leuchtete. Er versuchte, seinem Spiegelbild im Fenster auszuweichen. Darum verabscheute er die Dunkelheit, weil sie ihn zwang, sich selbst und sein Inneres zu sehen.
Er fand Birger Brandts Nummer im Telefonbuch und wählte, ohne darüber nachzudenken. Er wollte Mejas Stimme hören. Aber ihm antworteten nur unendlich viele Klingelzeichen. Er legte auf und rief wieder an, immer und immer wieder. Bis der Kaffee kalt geworden war und das graue Tageslicht seinen Weg in die Küche gefunden hatte.
Er machte sich nicht die Mühe, sich saubere Kleidung anzuziehen, sondern behielt die Sachen vom Vortag an, in denen er geschlafen hatte. Sein Haar fühlte sich an wie Stahlwolle, und er wusste, dass er ungewaschen war und stank. Der Whisky vom Vorabend atmete aus allen Poren. Er stieg ins Auto, öffnete das Fenster einen Spalt und ließ kalte Luft ins Innere des Wagens. Der Frost hing in den Birken, die ihre Skelettzweige in den Himmel streckten. Er fragte sich immer wieder, warum sie in der Kälte nicht eingingen. Es war unvorstellbar, dass sie jemals wieder Knospen haben könnten.
Er schwitzte, als er nach Svartsjö abbog. Immer wieder hatte er angerufen, doch nach wie vor ging niemand ans Telefon. Er fuhr so schnell, dass er nur mit Mühe und Not vor dem Tor zum Stehen kam. Dieses schreckliche Tor, das sich wie ein bedrohlicher Schatten vor ihm aufbaute. Vielleicht könnte er über das Tor klettern, wahrscheinlich hatten sie ihn allerdings schon längst gesehen.
Birgers Stimme dröhnte am anderen Ende der Leitung, als er klingelte. »Was gibt es denn schon wieder?«
»Ich muss mit Meja sprechen.«
Es knisterte und knackte, bevor das Tor aufglitt. Der Weg bis zum Hof war geräumt, der Schnee knirschte unter den Reifen. Aus dem Schornstein des Wohnhauses stieg Rauch auf, und die roten Wände des Gebäudes setzten sich stolz ab von all dem Weiß, das es umgab. Wie auf einer Weihnachtskarte, wenn man so etwas mochte. Er sah hoch zu den Zimmern im ersten Stock, aber dort waren alle Gardinen zugezogen .
Birger begrüßte ihn. »Hier geht’s ja zu wie auf dem Bahnhof.«
»Ich bin nur gekommen, um Meja abzuholen.«
Anita stand in der Küche, die Luft war schwer von Wasserdampf und dem Geruch von frischem Blut. Vor ihr auf der Arbeitsfläche stand eine Schale mit zähflüssigem, mehligem Blut. Es tropfte von ihrer Hand, als sie sie zum Gruß hob. »Du siehst, wir haben alle Hände voll zu tun«, sagte Birger.
»Ich will auch gar nicht bleiben, sondern nur Meja abholen.«
»Das muss ein Missverständnis sein. Meja ist nicht hier.«
Lelle stand in der Tür, versuchte vergeblich, nur durch den Mund zu atmen, um den Geruch von warmem Schweineblut auszublenden. Er legte eine Hand auf seinen Gürtel, wo immer sein Holster gehangen hatte. Aber er hatte die Pistole Hassan gegeben und hörte nur Linas warnende Stimme im Ohr. Hau ab, Papa! Dreh dich um und geh!
»Ihr habt gesagt, dass sie krank ist und im Bett liegt …?«
»Ja, aber sie ist heute Morgen weggegangen.«
»Wisst ihr wohin?«
Birger schüttelte den Kopf. »Sie hat den Hof gegen acht Uhr verlassen, vielleicht hat ihre Mutter sie abgeholt. Sie wollte es uns nicht sagen. Ich glaube, Carl-Johan und sie hatten ein paar Unstimmigkeiten. Du weißt ja, wie junge Leute so sind.«
Das klang so unaufgeregt, dazu passend Birgers unbekümmerter Gesichtsausdruck. Lelle bekam eine Gänsehaut.
»Und ihr habt sie alleine in diese Kälte gelassen? Ihr hättet sie doch fahren können!? «
»Sie wollte das nicht. Meja ist kein Kind mehr, Lelle, wir können doch nicht über sie bestimmen.«
Birger bot Lelle einen Platz an, aber der blieb stehen. Anitas Nacken war ganz feuerrot geworden, als sie sich über die Blutsuppe beugte. Er sah, wie ihre Halsschlagader pochte und ihr ganzer Körper zitterte. Ihre Stimmung übertrug sich auf ihn, er bekam einen Schweißausbruch und wollte auf der Stelle gehen. Aber Birger kam lächelnd auf ihn zu. »Jetzt komm schon, Lelle, setz dich. Du siehst aus, als könntest du eine kurze Pause vertragen.«
»Nein, ich will euch auch nicht länger stören. Entschuldigt bitte, dass ich hier so reingestiefelt bin, ich weiß nicht, was mich da geritten hat.«
Er öffnete die Tür und ging nach draußen in die Kälte. Vom Zwinger schallte Hundegebell herüber, und hinten an der Scheune meinte er etwas gesehen zu haben, als würde sich jemand hinter dem Gebäude verstecken. Er stieg ins Auto und schlitterte los.
Am Tor hielt er an und wartete, die Finger brannten, so sehr umklammerten sie das Steuer. Als nichts passierte, fuhr er so nah heran, dass sein Nummernschild das Tor berührte. Aber das Tor blieb verschlossen. Wütend sprang er aus dem Wagen und schrie und wedelte mit den Armen, dass sie das Tor aufmachen sollten. Da sah er plötzlich Birger auf dem Hofplatz. Er saß auf einem Scooter und startete den Motor. Die Vögel stoben aus den Bäumen. Er erzeugte eine Schneefontäne, als er auf Lelle zugefahren kam. Der spürte, wie sich sein Körper verkrampfte, als Birger vor ihm bremste und hielt. »Wir hatten in letzter Zeit Ärger mit dem Tor, aber ich kann es manuell öffnen.« Er stieg vom Scooter und griff nach etwas, das aussah wie eine Eisenstange. Lelle ließ ihn vorbei. »Kannst du dort ein bisschen drücken und schieben?« Birger zeigte auf die oberste Metallstange.
Lelle legte beide Hände auf den kalten Stahl und drückte und schob mit ganzem Körpereinsatz. Birger hatte die Eisenstange in die Spalte geschoben, wo das Tor aufgehen sollte. Weiße Atemwolken entstanden durch ihr Keuchen und Schuften, aber das war auch alles. Das Tor saß bombenfest. Lelle spürte, wie sich bei dem Gedanken, hier draußen bleiben zu müssen, Panik in seinem Inneren breitmachte. Erneut warf er sich mit aller Kraft gegen das unverrückbare Stahlmonster. Er schloss die Augen vor Anstrengung und sah darum auch nicht, wie Birger die Eisenstange hob und ihm damit auf seinen Hinterkopf schlug. Ein weißer, blitzender Schmerz durchfuhr ihn, bevor alles schwarz wurde.
*
Die Zeit im Bunker stand still. Sie schliefen, damit sie schneller verging, um der Realität für eine Weile entfliehen zu können. Es war schwer abzuschätzen, wie viele Tage vergangen waren. Die wenigen Male, wenn die Tür geöffnet wurde, bekamen sie kaum mit. Sie sahen nur, dass ein Korb mit neuen Lebensmitteln in die Kammer geschoben wurde, und hörten die Vibrationen, wenn die Tür sich wieder schloss.
Meja hatte aufgehört, ihrem Gefängniswärter hinterherzuschreien, aber die Wut packte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie den Nachttisch mit den neuen Speisen deckte. Aber sie war zu hungrig, um sie stehen zu lassen .
Hanna lag auf der Pritsche. Es war schwer zu sagen, ob sie die Augen offen hatte oder nicht. Die blauen Flecken und die Schatten flossen ineinander über. Ihr dünner Körper versank in den schmutzigen Bettlaken. Vorsichtig tippte Meja sie an. »Willst du nichts essen?«
Hanna verzog das Gesicht. »Gibt es Hagebuttensuppe?«
Sie hatten zwei Thermoskannen bekommen, in der einen war Kaffee, in der anderen etwas Süßes. Meja schraubte den Deckel ab und roch daran. »Das ist warme Schokolade. Magst du welche haben?«
»Ich versuche es mal.«
Hanna setzte sich auf und sah Meja zu, wie sie eine Scheibe Brot mit Butter bestrich und einen Becher heiße Schokolade eingoss. Die war aus frischer Milch, die noch schäumte und ganz mild schmeckte. Meja verdrängte ihre Wut und überließ dem Hunger die Regie. Sie verschlang zwei Scheiben Brot und trank zwei Becher Schokolade, während Hanna nur an ihrem nippte. »Hast du keinen Appetit?«
»Mein Körper hat keine Kraft dafür.«
Meja legte sich neben Hanna, fühlte sich ganz schläfrig. Sie legte den Kopf auf ihre knochigen Schultern und spürte, wie sich eine unbekannte Ruhe in ihr ausbreitete. Sie würden es schaffen, irgendwie. Wenn Birger oder Anita zu ihnen in den Bunker kamen, würde sie die beiden zur Vernunft bringen.
Sie wollte Hanna sagen, dass alles wieder gut werden würde, dass sie davon überzeugt war. Aber ihre Zunge war angeschwollen und wollte ihr nicht gehorchen, ihre Lippen vermochten keine Wörter zu formen. Sie versuchte, Hanna zu berühren, war aber nicht in der Lage, die Finger zu heben. Ihre Gliedmaßen waren bleischwer und gelähmt.
Ihr entwichen gurgelnde Geräusche. Sie sah, wie Hanna der Becher aus der Hand glitt, die Schokolade übers Bettlaken und ihre Jeans lief. Aber keine von beiden rührte sich. Meja kämpfte verzweifelt gegen ihre tonnenschweren Augenlider. Hanna hatte schon aufgegeben, die Muskeln hatten ihre Spannung verloren, der Kopf hing schlaff auf ihrer Brust. Meja wollte schreien, sie aufwecken, hatte aber keine Kontrolle mehr über sich.
So musste es sich anfühlen zu sterben, dachte sie noch, bevor die Welt sich für immer auflöste.
*
Als er aufwachte, lag er mit der Wange auf kaltem Beton und spürte den Schmerz wie einen zweiten Herzschlag in seiner rechten Schläfe. Sie hatten ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt, das Seil schabte an der Haut, bis sie blutete. Sein Kopfschmerz kam und ging in Wellen, und in seinen kurzen Träumen hatte er das Gefühl, dass sein Schädel zu klein war und das Gehirn nach draußen drängte.
Sie hatten ihm Wasser in einer Schale hingestellt, und er beugte sich darüber und schlabberte das Wasser wie ein Hund. Nachdem er getrunken hatte, ließ der Schmerz nach, und ihm fiel die Stille auf. Er hörte nur sich selbst. Die Arbeit seiner Lungenflügel. Seinen Herzschlag. Sonst nichts. Er legte sein Ohr an die Wand, hörte dort jedoch nichts. Keine Stimmen, keine Schritte, keinen Wind. Es gab kein Fenster, kein natürliches Licht, nur eine kalte weiße Glühbirne in einer der Ecken. Entweder befand er sich tief unter der Erde, oder sie hatten sich mit der Schallisolierung des Raumes große Mühe gegeben. Auf jeden Fall hatte er genau diese Funktion: einen Menschen gefangen zu halten, ohne sich um die Schreie Sorgen machen zu müssen.
Er musste an Lina denken und bekam sofort Atemnot. Er hyperventilierte, bis die Wände zu flimmern begannen. Nur ein dünner Streifen Licht, der Rest versank im Dunkeln. Das war immer seine größte Angst gewesen, dass sie gefesselt war und gefangen gehalten wurde. In absoluter Stille. Lebendig begraben. Diese fensterlosen Wände hatte er in seinen Albträumen gesehen, die Bilder hatten ihn angetrieben, immer weiter zu suchen. Und jetzt war er tatsächlich hier. Sein Gesicht war nass, er leckte die salzigen Tränen mit der Zungenspitze ab, damit ihm nichts mehr verloren ging.
Als Birger kam, war auch der Schmerz zurück. Lelle lag zusammengekrümmt auf dem Boden, hielt sich die Hände wie zum Schutz vors Gesicht. Er hatte keine Schritte gehört, nur das Knarzen der Tür, als diese aufging und Birger im Licht stand. Der Schein der Glühbirne zeichnete dunkle Schatten auf sein Gesicht. Lelle setzte sich auf. »Birger, was zum Teufel soll das alles?«
Sein Gegenüber ließ sich auf einen Stuhl sinken, legte die Zungenspitze an die Oberlippe und blieb so eine Weile sitzen, bevor er anfing zu reden. »Lelle, wenn einer versteht, dass man alles für seine Kinder tun muss, dann bist du das. Denn ihr Leid wird zu unserem Leid. So ist der Lauf der Natur. Wir müssen unsere Kinder beschützen, für sie kämpfen, wenn es sein muss, bis zum letzten Atemzug, denn am Ende sind sie alles, was wir haben.«
Lelle spuckte auf den Boden, musste sich zusammenreißen, nicht die Fassung zu verlieren. »Wo ist Meja?«
»Meja fehlt es an nichts. Und du wirst deine Antworten bekommen, wenn du mir zuhörst.«
»Ich höre!«
Birger lächelte verhalten. Er schlug ein Bein über das andere, ehe er ausholte: »Alles, was wir tun, tun wir für unsere Kinder. Darin sind wir uns einig, Lelle. Ich habe dieses Stück Land gekauft, um für meine Kinder einen Ort der Geborgenheit zu schaffen. Und zwar so weit entfernt von den Klauen der Gesellschaft wie möglich. Anita und ich haben geschuftet wie Tiere, damit sich unsere Söhne nicht auf den korrupten Dschungel verlassen müssen, der dort draußen regiert …«
»Mach mich los, Birger. Verdammt nochmal.«
»Ich befürchte, dass ich das nicht kann. Noch nicht.« Er neigte seinen Kopf und sah Lelle einladend an. »Weißt du, warum ich vor dieser Welt zurückschrecke?« Lelle spuckte erneut auf den Boden und zerrte an seinen Fesseln. »Ich schrecke vor dieser Welt zurück, weil ich seit dem Tag meiner Geburt ihr Opfer bin. Ich war nicht erwünscht, meine Eltern wollten nichts von mir wissen. Also wurde der Staat meine mich umsorgende Mutter, die mich an Pflegeeltern und Heime und andere legitimierte Sadisten verkaufte. Ich will dich nicht mit den Details darüber langweilen, wie viel Gewalt ich in meiner Kindheit ausgesetzt war. Ich kann nur sagen, dass mein Vertrauen in den Staat und seine Mitbürger gestorben ist, und zwar schon lange bevor ich volljährig wurde. «
»Ich habe kein Interesse an deinen Jammergeschichten.«
Birger presste die Lippen aufeinander. »Ich glaube doch. Denn leider ist es ja so, dass auf die eine Geschichte die nächste folgt, sich wie Unkraut vermehrt und die anderen Blumen erstickt. Kummer ist wie eine ansteckende Krankheit, Lelle. Er springt von Mensch zu Mensch, ob wir das wollen oder nicht.«
Lelle verzog das Gesicht. »Was hat das mit deinem Scheiß hier zu tun?«
»Gleich werden alle Puzzlestücke an ihren Platz fallen, versprochen«, sagte Birger. »Es geht um unsere Kinder, und ich will dir von meinem Sohn Göran erzählen.« Er machte eine Pause, nahm seine Brille von der Nase, atmete auf die schmutzigen Brillengläser, sodass sie beschlugen, und rieb sie sauber. »Göran ist nicht wie die anderen, verstehst du? Er ist krank im Kopf. Wir haben früh gemerkt, dass er eine dunkle Seite in sich trägt. Schon als kleiner Junge hat er Tiere mit Steinen und Stöcken gequält. Hat im Hundezwinger Feuer gelegt. Diesem unglücklichen Verhalten konnte man nur mit fester Hand und viel Liebe begegnen.«
»Ich finde, es klingt eher so, als ob der Kerl einen Psychotherapeuten bräuchte.«
»Anita und ich kennen unseren Sohn am besten. Uns würde niemals in den Sinn kommen, ihn in die Obhut anderer Menschen zu geben, nicht nach all dem, was wir selber erleben mussten. Wir wissen, was es bedeutet, seine Würde zu verlieren und sich ohnmächtig zu fühlen – niemals im Leben würde ich meine Kinder dem aussetzen. Wir haben uns um Göran gekümmert, hier zu Hause, haben ihm beigebracht, Tiere mit Respekt zu behandeln und seine Impulse zu kontrollieren. Und es ist uns gelungen. Er hat sich beruhigt. Bis er in die Pubertät kam. Du weißt ja selbst, was man über die Pubertät sagt? Ein Teufelscocktail aus Hormonen und anderen Dingen, der jede Vernunft ausschaltet. Leider half es auch nicht besonders, dass Göran immer seine Haut und sein Äußeres als Gegner hatte. Wie alle jungen Männer wollte auch er ein Mädchen kennenlernen. Er fuhr durch die Gegend und versuchte, seine Fühler auszustrecken, versuchte, eine für sich zu gewinnen. Aber keine ließ sich darauf ein, und am Ende war er frustriert, der Arme. Also sah er sich nach anderen Lösungen um.«
Lelle bekam eine Gänsehaut. »Wie meinst du das?«
»Er nahm die Sache selbst in die Hand, sozusagen. Wir wussten natürlich nichts davon, weder Anita noch ich. Erst als unsere beiden anderen Söhne es uns erzählten, wussten wir, dass Görans Krankheit wieder ausgebrochen war. Und dass es schlimmer war, als wir es uns jemals vorgestellt hatten.«
»Seine Krankheit?«
»Seine dunkle Seite hat ihn in ganz tiefe Abgründe geführt. Er begann, Mädchen zu belästigen. Er hatte keine Lust mehr, immer nur Abfuhren zu bekommen, und das führte zu Handgreiflichkeiten. Darauf sind wir nicht stolz, und wir haben unser Bestes getan, um das Problem in den Griff zu bekommen. Er hat hart gearbeitet, und wir haben ihm gezeigt, wie er seine Frustrationen produktiv umsetzen kann. Und das gelang auch. Zumindest am Anfang. Er verbrachte ein ganzes Jahr damit, unten am See einen eigenen Bunker zu bauen, und wollte auch keine Hilfe von uns. Er hatte ja auch alle Fertigkeiten von mir gelernt. Wir hatten zwar schon zwei Bunker auf dem Grundstück, aber Göran wollte seinen eigenen. Und natürlich hatten wir nichts dagegen. Wir waren ja stolz auf ihn, dass er diese Initiative ergriffen hatte. Wir konnten ja nicht ahnen, wohin das führen würde.«
Lelle lehnte sich gegen die Wand, versuchte, den Kopf nicht zu bewegen, um die Übelkeit in Schach zu halten. Birger schob einen Finger hinter das Brillenglas und rieb sich das tränende Auge. »Es vergingen Monate, bis wir begriffen, was Göran getan hatte. Er hat noch nie einen Unterschied zwischen Tier und Mensch gemacht. Für ihn ist die Elchjagd dasselbe wie die Jagd auf Frauen. Die Beute muss erlegt werden. Er begreift nicht, dass Menschen nicht mit Gewalt festgehalten werden dürfen.«
Birgers Gesicht geriet in Bewegung, Kinn und Wangen zitterten. Lelle saß wie erstarrt an der Wand, das alles war so unwirklich. Er wollte nichts mehr hören, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Er konnte nicht protestieren, er brachte keinen Ton heraus.
»Carl-Johan und Pär kamen zu mir und erzählten, dass Göran ein Mädchen in seinem Bunker gefangen hielt. Er hatte es nicht für sich behalten können, der Druck war zu groß gewesen. Außerdem wollte er sie zeigen, sie war seine Trophäe . Wir waren natürlich vollkommen schockiert. Das war zu Mittsommer vor drei Jahren, und wie du es dir bestimmt schon gedacht hast, war dieses Mädchen deine Tochter. Deine Lina.«
Lelle hörte den Schrei, ein animalisches Brüllen, und erstarrte vor Angst. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass er geschrien hatte. Birger war aufgestanden und zur Tür gegangen. In seiner Hand glitzerte eine Pistole, die Lelle vorher nicht gesehen hatte. Birger wartete, bis Lelle wieder verstummt war. »Ich muss dir leider mitteilen, dass wir sie an Weihnachten verloren haben. Göran sagte, es war ein Unfall, ein Spiel, das aus dem Ruder gelaufen ist. Er hatte nie die Absicht, sie zu töten. Es tut mir aufrichtig leid, Lelle. Aus tiefstem Herzen.«
Die Wände schwankten im Takt mit seinem Herzschlag, der ganze Raum war in Bewegung. Lelles Körper zuckte und bebte. Etwas in ihm zerbrach, er spürte förmlich, wie die Lebensenergie aus ihm herausströmte.
Auch seine Augen ließen ihn im Stich, er konnte nicht mehr scharf sehen. Aber er sah Birger in der Tür stehen, die eine Hand am Türgriff, die andere an der Waffe, als hätte er Angst. Lelle hoffte inständig, dass er ihn erschießen würde. Er robbte zu ihm. »Du hast gesagt, dass Lina letztes Weihnachten starb? Heißt das, ihr habt sie zweieinhalb Jahre in diesem Bunker sitzen lassen? Wie eine Art Spielzeug für euren geisteskranken Sohn?«
»Wir hatten keine Wahl, Lelle, das musst du verstehen. Der Schaden war ja bereits geschehen. Wenn wir Lina hätten gehen lassen, dann wäre alles verloren gewesen, unser ganzes Lebenswerk. Ich konnte nicht zulassen, dass mir der Staat meinen Sohn wegnimmt. Nur über meine Leiche.«
Lelles Brustkorb drohte zu bersten, als würde sein Herz explodieren. Er drückte die Hände auf die Brust. Er sah Lina, wenn er die Augen schloss. »Ich will sie sehen. Ich will meine Tochter sehen.«
»Ich befürchte, da gibt es nicht viel zu sehen.« Birgers Stimme bebte. »Aber ich kann dir zeigen, wo sie liegt. Und ihr werdet nebeneinander begraben, das verspreche ich dir.«
*
Lelle wusste nicht, ob er überhaupt noch lebte. Weder sein Körper noch sein Kopf wollten ihm gehorchen. Die Zeit war stehengeblieben und hatte sich transformiert, in etwas Trügerisches und Ungreifbares, Abstraktes. Er hörte Birgers Stimme in unmittelbarer Nähe, doch der sprach gar nicht mit ihm.
Sie packten ihn. Lange, schlanke Gestalten, die ihm unter die Achseln griffen und ihn mit Leichtigkeit hochhoben. Sie trugen ihn durch einen Flur, eine Treppe hinauf. Jeder Schritt war wie ein Hieb mit der Axt in seinen Kopf, und nach den vielen Stunden in Dunkelheit blendete ihn die Nacht draußen fast.
Lelle schaukelte in ihrem Griff. Über ihm leuchteten die Sterne, die Kälte drang durch seine dünne Kleidung, machte ihn schlagartig hellwach. Er sah in ihre blassen Gesichter unter den dicken Wintermützen – es waren große Jungs, mit aufeinandergepressten Kiefern und Augen, die ihn nicht ansehen wollten. Er hörte sich fluchen und schwören, dass er sie alle umbringen werde. Der größte von ihnen grinste, sein Gesicht war voller Pickel. Lelle versuchte, mit seinen gefesselten Händen nach ihm zu greifen, was das Grinsen des Jungen nur verstärkte.
Sie trugen ihn in den Wald. Die Baumwipfel schwankten unruhig über ihren Köpfen, ein kalter Mond warf seinen unheimlichen Schein auf den Boden. Sie setzten ihn auf einer Lichtung ab, er sank im frischen Schnee auf die Knie. Vor ihm lag ein frisch ausgehobenes Loch. Die schwarze, eisenreiche Erde dampfte in der kalten Luft. Wartete darauf, ihn endlich verschlucken zu dürfen. Die Feuchtigkeit drang durch seine Hosenbeine, aber Lelle fror nicht mehr. Er sah sich um, sah den Erdhaufen, die Spaten und die blassen Gesichter, die ihn umringten. Birger und seine Söhne. Weißer Rauch kam aus ihren Mündern, unruhige Füße knirschten auf gefrorenem Boden. Birger stellte sich hinter ihn, die Pistole noch in der Hand. Lelle hörte, wie er die Waffe entsicherte. Seine Stimme war ganz belegt. »Es tut mir furchtbar leid, dass es so kommen musste, Lelle. Gott weiß, wie leid es mir tut.«
Er hätte sich wehren müssen. Er hätte um sein Leben flehen und betteln können, stattdessen kauerte er mit gesenktem Kopf reglos am Boden. Er sah Lina. Hörte, wie er zwischen den Atemzügen ihren Namen flüsterte. Einer der Jungen wurde ungeduldig.
»Jetzt mach schon, Papa. Erschieß ihn.«
Die Zeit blieb stehen, nur die Kiefern lebten und bewegten sich. Lelle saß am Küchentisch und sah Lina vor sich, ihren Blick hinter dem langen Pony, die schiefen Zähne, wenn sie lächelte.
»Worauf wartest du?«
»Hier liegt sie, Lelle. Deine Tochter.«
Es würde nicht weh tun, er würde gar nichts merken. Sein Blut würde den Schnee färben, und sein Körper würde verrotten und im Frühling zu Löwenzahn werden. Er würde nie wieder den Silvervägen mit einer Zigarette im Mundwinkel entlangfahren, den Blick in den Wald gerichtet, auf der Suche nach ihr. Die Suche hatte ein Ende.
Er kniff die Augen zu und wartete. Er spürte, wie die Stelle kitzelte, an der Birger ihm die Pistole an den Kopf hielt. Dann kam der Schuss. Ein dumpfes Fiepen im Ohr.
Als er die Augen öffnete, sah er, dass Birger zu Boden gefallen war, die Hände auf die Brust gepresst. Hinter ihm, mit erhobenem Gewehr stand Anita und blinzelte, das silberweiße Haar hatte sich wie ein Pelz auf ihre Schultern gelegt. Sie zielte mit dem Gewehr auf ihre Söhne, die verängstigt zurückwichen.
»Lasst die Waffen fallen, es ist vorbei.«
*
Anita hatte das Gewehr immer noch in der Hand, als die Polizei eintraf. Sie hatte alle gezwungen, sich an den Küchentisch zu setzen, Lelle und ihre Söhne, alle verbunden in Schweigen. Birger hatte sie draußen in der Kälte liegen lassen, ob er noch am Leben war oder nicht, schien sie nicht weiter zu interessieren. Breitbeinig stand sie neben ihnen und schwenkte mit dem Gewehr hin und her, um sicherzugehen, dass sie gehorsam waren. Der älteste der Söhne fluchte und verspottete sie, kratzte mit den Fingern die Wunden auf seinen Wangen auf und warf seiner Mutter vor, alles zerstört zu haben. Anita richtete den Lauf des Gewehrs auf ihn, ihre Stimme klang ganz dumpf, sie vibrierte, als käme sie aus großer Tiefe. »Ich habe deinen Vater erschossen, und ich werde auch dich erschießen, wenn du mich dazu zwingst.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, aber ihre Hände hielten die Waffe mit entschlossener Kraft. »Du wirst deine Brüder nicht ins Verderben führen. Nur über meine Leiche.«
Der Junge wurde vor Wut ganz weiß im Gesicht, aber er begriff, dass sie es ernst meinte, denn er verhielt sich still. Juckte sich und fluchte und knirschte mit den Zähnen. Die beiden anderen weinten wie Kinder und verbargen ihre Gesichter in den Händen.
Lelle sah aus dem Fenster in die sanfte Morgendämmerung. Er fror und zitterte, obwohl es in der Küche so warm war. »Was ist mit Meja?«, fragte er. »Lebt sie noch?«
Anita antwortete ihm, indem sie auf ihn zielte. Ihr Gesicht war dunkelrot, umrahmt von weißem Haar. »Es sollte niemand sterben«, sagte sie. »Birger hat mir versprochen, dass alles gut wird, dass es am Ende keine Rolle mehr spielt und die Mädchen froh sein können, in Sicherheit unter der Erde und am Leben zu sein. So war das gedacht.« Sie trocknete sich die Augen. »Aber mit unserem Jungen stimmt etwas nicht. Wir haben das Problem nicht in den Griff gekriegt.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Lelle. »Was habt ihr mit Meja gemacht?«
Aber Anita hatte den Blick abgewandt, stand nur stumm am Rand, als würde sie ihn nicht hören.
Kurz darauf wurde die Dunkelheit von blinkenden Lichtern erfüllt. Die Ankunft der Polizei erzeugte ein neues Chaos aus schweren Stiefeln und Polizeifunk. Laute Stimmen, die niemand verstand. Anita legte ihr Gewehr ab und faltete ihre rissigen Hände. »Er liegt draußen auf der Lichtung. Ich habe ihn erschossen.« Sie zeigte auf Göran. »Um ihn müssen Sie sich kümmern. Er darf nie wieder unter Menschen. Und zu den Mädchen bringe ich Sie jetzt.«
Alles geschah schnell und langsam zugleich. Als sie Anita Handschellen anlegten, sah Lelle, wie sie in sich zusammensackte, als wäre sie erleichtert, dass alles endlich vorbei war. Göran leistete Widerstand. Als sich die Polizisten ihm näherten, schrie er und fuchtelte mit einem Jagdmesser herum. Seine Augen brannten wie zwei schwarze Feuer. »Sie haben hier nichts zu suchen. Das ist unser Land!«
Seine Brüder brachten ihn schließlich dazu, das Messer wegzulegen. Sie hatten einstudierte Handgriffe, die sie offensichtlich im Laufe der Jahre gelernt hatten. Sie warfen ihn auf den Boden, und während ihm der eine ein Knie zwischen die Schultern drückte, nahm der andere ihm das Messer aus der Hand. Sie waren beide sehr blass und weinten.
Lelle blieb sitzen und sah zu, wie sie abgeführt wurden, zuerst Anita, dann die Söhne. Es kamen immer mehr Polizisten, und jedes Mal wurden Kälte und Schnee ins Haus getragen. Lelle hatte Schwierigkeiten, all die Fragen zu beantworten, weil seine Zähne so klapperten. Eine Polizistin fragte ihn, was passiert sei, sie lächelte freundlich, aber er bekam kein Wort heraus. Jemand legte ihm eine Decke um die Schultern und drückte ihm einen Becher Suppe in die Hand. Lelle genoss den warmen Dampf im Gesicht, er kam gar nicht auf die Idee, dass er die Suppe auch essen könnte.
Draußen ging die Sonne auf, die Beamten liefen kreuz und quer über den knirschenden Schnee, während sich die Hunde die Lunge aus dem Leib bellten. Dann kamen noch mehr Streifenwagen, das Tor stand offen. Jemand verarztete seinen Kopf. Er konnte das Blut riechen, hatte aber keine Schmerzen. »Die haben meine Tochter umgebracht. Und die anderen Mädchen auch.«
Mehr brachte er nicht heraus. Die lächelnde Polizistin schien ihn nicht zu verstehen. Aber auf einmal hatte sie es sehr eilig. »Entschuldigen Sie mich kurz«, sagte sie und verschwand nach draußen.
Lelle lief hinterher, schlitterte über den Schneematsch und musste sich gleich wieder hinsetzen. Eine schwarze Traube aus Polizisten rief über den Hof: »Wir haben die Mädchen gefunden! Sie leben!«
*
Der Polizist hatte nette, warme Augen. Wenn er sich schon eine Meinung über sie gebildet hatte, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. Ihm gelang es sogar, dass sie das Krankenhausbett und die Infusion vergaß. Meja kannte es nicht, dass ihr jemand aufrichtig und aufmerksam zuhörte und sie eine Sache vom Anfang bis zum Ende erzählen durfte. Zuerst kamen die Worte noch zögerlich und holprig, aber dann nahmen sie immer mehr Fahrt auf und stolperten förmlich übereinander. Er hieß Hassan und hatte kein Problem damit, dass es schon nach Mitternacht war. Er hatte kein einziges Mal auf die Uhr gesehen. »Fang von vorne an«, hatte er sie gebeten.
Und Meja erzählte von der Zugreise nach Norrland, dass sie kein Geld für einen Liegewagen gehabt und deshalb die ganze Strecke im Abteil verbracht hatten. Über zehn Stunden lang, das war der weiteste und längste Umzug, den sie je gemacht hatte, aber bei Weitem nicht der erste. Torbjörn war nett zu ihr gewesen, obwohl er nicht gut gerochen und Pornozeitschriften gesammelt hatte. Aber Silje war eben Silje. Es war vollkommen egal, wohin sie zogen, Silje würde immer Silje bleiben .
Sie erzählte von der Einsamkeit im Dreieckszimmer, die sie in den Wald getrieben hatte, wo sie Carl-Johan am Sumpf begegnet war. Am nächsten Tag schon hatte sie aufgehört zu rauchen. Denn sie hatte sich Hals über Kopf verliebt. Sie erinnerte sich an seinen Geruch, der alles andere erträglich gemacht hatte. Das Gerede über den Krieg und den bevorstehenden Untergang wurde dadurch an den Rand gedrängt. Vielleicht war Liebe darum auch so gefährlich. Nicht weil man sofort blind wurde, sondern weil man die Warnsignale übersah. Ob Lelle wohl ihre Meinung teilen würde?
Hassan wollte wissen, ob sie aus Liebe nach Svartsjö gezogen war, aber das verneinte sie sofort. Sie wollte weg von Silje, ihr eigenes Leben führen. Sie hatte immer davon geträumt, ein richtiges Zuhause zu haben, in dem es eine Vorratskammer gab und Eltern, die weder tranken noch Nudisten waren. Eltern, für die man sich nicht schämen musste. Birger und Anita waren auch sonderbar gewesen, aber das hatte sie sich nicht eingestehen wollen.
Als sie vom Überlebensbunker erzählte und von den vielen Waffen, wurde ihr heiß und kalt. Sie konnte dieses Leuchten in Birgers Augen nicht vergessen, als er ihr das Depot gezeigt hatte. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Göran sich nicht alle Kratzwunden selbst zugefügt hatte. Sie hatte gedacht, Carl-Johan sei eifersüchtig, als er ihr gesagt hatte, dass sie nicht mit Göran allein sein sollte. In Wirklichkeit hatte er Angst gehabt, dass sein Bruder ihr etwas antun würde. »Ich habe schon kapiert, dass die alle komisch sind, dass alles, woran die so geglaubt haben, seltsam war. Aber ich hatte ja keinen Vergleich. Ich hatte nie eine normale Familie. Ich war so dankbar, dass sie mich überhaupt bei sich haben wollten.«
Hassan nickte, als verstünde er jedes Wort. Als der Morgen anbrach und sie vor Müdigkeit anfing zu nuscheln, holte er Frühstück und Kaffee, was sie beide in null Komma nix verschlangen. Birger war tot. Die anderen saßen im Gefängnis. Hanna würde nach Arjeplog verlegt werden, sobald die Ärzte grünes Licht gaben.
Meja versuchte, sich Birger tot vorzustellen, bleich und mit starren Augen unter einem weißen Leichentuch. Aber es gelang ihr nicht. Traurig war sie aber auch nicht. Sie fragte sich nur, wie Anita wohl im Gefängnis zurechtkommen würde, so ganz ohne Töpfe und Bleche und Teig. Und was würde mit Carl-Johan passieren, der Svartsjö noch nie verlassen hatte? »Habt ihr Lelles Tochter gefunden?«, fragte sie.
Hassans Augen glitzerten, aber sie sah keine Träne. »Wir haben ihre Überreste gefunden. Sie sind noch nicht endgültig identifiziert, aber alles deutet darauf hin, dass es Lina ist.«
Meja fühlte sich matt, schattenhaft. Sie musste an Lelle denken, seine hängenden Schultern und das Haar, das vom Kopf abstand und gegen das Leben zu protestieren schien. Was würde aus ihm werden, nachdem sich seine schlimmste Befürchtung erfüllt hatte? Wie würde er weiterleben können? Es brannte in den Augen, aber auch sie wollte nicht weinen.
»Die Medien werden mit dir sprechen wollen«, sagte Hassan, als sie den Kaffee ausgetrunken hatten. »Aber ich finde, du solltest lieber nicht mit denen reden. Konzentrier dich darauf, dich auszuruhen, du hast ein großes Trauma erlitten. Die Ärzte haben gesagt, dass ihr Beruhigungsmittel in einer Pferdedosis bekommen habt.«
»Ich schäme mich so«, sagte Meja. »Ich schäme mich, weil ich freiwillig bei diesen Menschen gelebt habe.«
»Sei nicht so hart zu dir. Du hast nichts falsch gemacht.«
Er bürstete sich die Krümel vom Hemd und stand auf. Da bekam sie auf einmal Angst. Sie hatte Angst davor, allein zu sein, Angst davor, was die Leute über sie sagen würden, und Angst davor, wie es weitergehen sollte. Vielleicht spürte Hassan das, denn er neigte den Kopf zur Seite und sah sie freundlich an. »Willst du, dass ich deine Mutter hole?«
Meja biss sich auf die Lippe, bis es brannte. »Nein. Aber vielleicht könntest du Lelle anrufen?«