Als ich mit Velvets Shampoo, das in Seidenpapier eingeschlagen in einer Tüte thronte, aus dem Kosmetiksalon trat, wärmte die Frühsommersonne mein Gesicht. Mein Kopf war ein Chaos aus Kreditkartenbelegen – damit Norma mich in der Lodge nicht anmeckerte – und der Sorge, meinen Vater warten zu lassen, und warum Frida schon wieder herumwinselte und –
FEN FUCKING SARAFIAN.
Ich erinnerte mich an ihn. Natürlich. Jetzt, da ich das Bild des zerzausten Cholerikers im Plattenladen mit der Erinnerung an frühere Sommer am See zusammenbringen konnte. An den unbeholfenen Jungen, der nur aus braungebrannten Armen und Beinen bestand und eine markanten Nase hatte, die ein wenig zu groß war für sein Gesicht.
Fen blieb zurück, wenn Eddie einen Schritt nach vorn machte. Er war still, wenn Eddie den Mund aufmachte. Er war so alt wie ich. Beim letzten Mal, als ich Zeit mit ihm verbracht hatte, war ich fünfzehn gewesen und wir hatten über Musik geredet.
Er behauptete, wir hätten uns zum letzten Mal in jener Nacht am Stauwehr gesehen.
Meiner Horrornacht.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, sein Gesicht dort gesehen zu haben. Andererseits konnte ich mich sowieso an kaum etwas erinnern. Bei jedem Versuch spürte ich von Neuem den Sturz über das Geländer. Die Todesangst. Und den Moment, in dem ich mich damit abgefunden hatte, weil ich wusste, dass ich sowieso nichts daran ändern konnte. Ja, daran erinnerte ich mich. Dann an nichts mehr. Ich konnte mich erst wieder an den nächsten Tag im Krankenhaus erinnern.
Aber das stimmte nicht ganz. Es gab ein klitzekleines Bild von dieser Nacht, das durch meinen Kopf taumelte. Bruchstücke von Bildern, die ich mir nicht zusammenreimen konnte.
Vielleicht wollte mein Hirn es auch nicht.
Jetzt war es sowieso egal. Ich regte mich wegen nichts auf. Hatte ich also Fen gesehen. Na und? Eddie hatte mich gewarnt, dass sein kleiner Bruder ein Arsch war. Ich hätte Eddie gern erzählt, dass ich seinen Bruder getroffen hatte. Im Friseursalon hatte ich mehrmals angefangen, ihm eine Nachricht zu schreiben, mich dann aber beherrscht. Er war zwar bestimmt schon auf den Philippinen gelandet, aber er hatte ja erwähnt, dass er während der Weiterreise auf die Insel ein paar Tage »nicht erreichbar« sein würde. Insoweit wollte ich ihn jetzt lieber nicht mit Nachrichten über seinen schwierigen Bruder bombardieren, die tagelang auf ihn warten würden.
Argh. Warum musste ich auch heute in den Plattenladen gehen? Alles war gut gewesen, bis Fen mich mit seinem kumpelhaften Musikgelaber eingewickelt hatte – Oh, la-la-la, ich bin der Einkäufer hier. Schau mich und meine elegant außerirdischen Hände an, ich weiß alles über die Double Deuce. Was war er? Eine Art Sirene? Eddie wusste nicht mal, was Punk war – wie konnte es sein, dass sein schrecklicher Bruder mehr Ahnung von Musik hatte?
Es kam mir vor, als hätte ich mein ganzes Geld für ein Konzert gespart, das man nur einmal im Leben geboten kriegt, und dann wäre eine andere Band auf der Bühne erschienen. Es war völlig unerwartet passiert, und nichts konnte es besser machen. Dieser Junge mit seinen wilden dunklen Haaren und seinen Laseraugen und das ganze Rumgeschreie – mein Gott! Wenn ich mich so auf der Arbeit aufführen würde, wäre ich sofort raus.
Andererseits gab es vermutlich einen Grund, warum Fen nicht mehr zu Hause wohnte. Das schwarze Schaf. Mehr als schwarz. Kohlpechrabenschwarz.
Aber. Andererseits hatte Fen am Ende unseres Schlagabtauschs Tränen in den Augen gehabt. Er war durcheinander. Verletzt. Und das war völlig ungewohnt für mich. Im Haus der Larsens zeigten Männer keine Gefühle. Mein Vater nur selten. Wut verstand ich, Tränen nicht.
Ich hatte doch bloß meinen Tagträumen über eine Wohnung mit Eddie nachhängen wollen. Jetzt konnte ich nicht mal mehr das, ohne Fens Gesicht vor mir zu sehen.
Ich durfte ihn nicht so sehr an mich heranlassen.
Dad wartete an der vereinbarten Stelle im hochglanzpolierten und schwärzer als schwarzen Heckflossen-Mercedes. Doch da meine Gedanken um Fen kreisten, bekam ich nicht mit, dass er mir durch das heruntergelassene Fenster ein Zeichen gab, mich auf die Rückbank, nicht auf den Beifahrersitz zu setzen – meinen gewohnten Platz, wenn er mich mitnahm. Es drang erst zu mir durch, als die hintere Tür aufging und Mad Dogs Gesicht mich anstarrte.
Shit. Das war so ungefähr das Allerletzte, was ich gerade brauchen konnte.
Mad Dog musterte mich durch eine Brille mit dickem Rahmen und zupfte sich den angegrauten rötlichen Bart, der die Tattoos verdeckte, die aus einem weiten weißen Meditationsshirt herauslugten: knurrende mythische Bestien und Werwölfe umgeben von skandinavischen Runen.
Die Rückbank des Mercedes bog sich unter seinem massigen Körper.
»Spring rein, kattekat«, sagte er mit tiefer Stimme und dänisch gefärbtem Akzent.
Was blieb mir anderes übrig, als in das zinnoberrote Lederinterieur des Mercedes zu steigen, in dem man sich wie im Rachen eines Wals vorkam. »H-hey, Mad Dog. Hatte nicht erwartet, dass wir zusammen fahren würden, Sir.«
»Ich kann laufen, falls du den Wagen für dich haben willst«, scherzte er. »Dir ist wohl dein tolles Highschool-Diplom zu Kopf gestiegen. Herzlichen Glückwunsch übrigens.«
Ich lachte nervös. »Danke. Und da wir vermutlich dasselbe Ziel haben, können wir ja auf jeden Fall eine Fahrgemeinschaft bilden«, erwiderte ich. Hoffentlich klang ich ebenso locker wie er. »Hey, Dad.«
»Hey, Küken. Wie läuft Tag eins als Velvets Assistentin bisher? Hast du bekommen, was du besorgen solltest?«
»Erfolg.« Ich schlug die Tür zu. Es war nicht das erste Mal, dass ich mit Mad Dog mitfuhr, aber es passierte auch nicht jede Woche oder so. Er brauchte so viel Platz, körperlich wie geistig, abgesehen davon fühlte es sich komisch an, hier hinten zu sitzen. Wo ich nicht hingehörte.
Frida kümmerte das nicht. Sie sprang mit einem Satz über Velvets Shampoo-Tüte, um Mad Dog schwanzwedelnd zu begrüßen.
»Hey, du Zwerg. Wie geht es meiner anderen Tochter?«, zog er sie auf.
Mein Vater beobachtete ihn im Rückspiegel. Nur ein kurzer Blick. Aber er entging mir nicht.
»Dem haarlosen Wunder«, stellte Mad Dog klar.
Natürlich meinte er Frida. Dass er es erklären musste, sprach allerdings Bände.
Ich hatte durchaus mitbekommen, was andere Leute über mich redeten. Meine Mutter war die stellvertretende Haushälterin gewesen. Dad und sie verliebten sich unsterblich ineinander. Eines führte zum anderen und sie wurde schwanger. Neun Monate später kam ich zur Welt … und als ich fünf war, starb sie. Das hätte eigentlich das Ende der Geschichte sein sollen. War es aber nicht, weil irgendjemand im Haus – eine der unzähligen Haushälterinnen oder einer der Gärtner oder wer auch immer im Lauf der Jahre im Dienst gewesen war – das Gerücht in Umlauf gebracht hatte.
Und das Gerücht ging folgendermaßen:
Meine Mutter hatte, als sie was mit meinem Vater anfing, zur gleichen Zeit was mit Mad Dog laufen. Oder kurz vor Dad. Oder es gab eine wilde Nacht zwischen den dreien. Suchs dir aus. Es lief alles auf dasselbe hinaus.
Ich könnte das Kind von Mad Dog sein.
Das erste Mal hörte ich es von Velvets ehemaliger Nanny, die kurz nach dem Tod meiner Mutter gelegentlich auf mich aufpasste. Aber ich verstand es nicht. Zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Beim zweiten Mal war ich zehn und es passierte in der Schule. Mein Vater musste sich mit mir hinsetzen und mir versichern, dass es nicht stimmte. Und dass, selbst wenn die allerwinzigste Möglichkeit bestand, er niemals einem Vaterschaftstest zustimmen würde, weil er es nicht wissen wollte. Und dass er mein Vater war und ich sein Kind und damit Schluss.
Punkt.
Wir redeten nicht darüber. Das war die Marlow-Methode: Worüber man nicht sprach, das verschwand irgendwann von selbst. Aber manchmal dachte ich trotzdem darüber nach. Weil ich nicht aussehe wie mein Vater, der blonde Löwe. Ich sehe allerdings auch nicht aus wie der rothaarige Mad Dog. Ich sehe aus wie meine Mutter. Mehr wusste ich nicht. Und so versuchte ich, nicht zu viel darüber nachzugrübeln.
»Wo ist Rosa?«, fragte ich. Seine Frau – Velvets Mutter – eignete sich gut als Puffer. Außerdem war sie nett und bot mir immer an, mir Bücher aus ihrer Bibliothek auszuleihen.
»In der Lodge«, antwortete er. »Leo und ich haben sie vorhin abgesetzt, weil sie Rückenschmerzen hatte. Sie ist heute zu viel gelaufen. Vor Velvets Party muss sie sich noch gründlich ausruhen.«
Party. Es war fast Mittag und ich hatte keine Ahnung, wobei ich Velvet außer Shampoo besorgen noch helfen musste. Vermutlich war es mein Job, das zu wissen – wenn Eddies Familie denn mal aufhören würde, mich in Plattenläden zu belästigen.
»Wie gehts deinem Kopf?«, erkundigte sich Mad Dog, als der Wagen vom Strip abbog.
Mies. Durcheinander. Durch den Wind. Und daran war allein Fen Sarafian schuld. Ich wusste, dass er gesehen hatte, wie ich mit dem Finger auf den Counter trommelte. Ich musste was tun, ansonsten hätte ich keinen vollständigen Satz herausgebracht. Mit einem vorgegebenen Rhythmus fällt es mir leichter; meine Wörterfresserin schläft dann ein und lässt mich in Ruhe.
Doch über den aktuellen Zustand meines Hirns mit Mad Dog zu reden war ein weiteres heikles Thema. Denn unsere Krankenversicherung hatte die Ärztinnen und Ärzte, die ich nach meinem Unfall aufsuchen musste, nicht abgedeckt. Als Monate später eine horrende Krankenhausrechnung kam, war mein Vater ein paarmal kurz vor einem Nervenzusammenbruch gewesen – erst, weil er dachte, dass er die Rechnung zahlen musste, und danach, weil er sie nicht zahlen musste.
Ich hatte das Gefühl, dass ich Mad Dog dafür etwas schuldig war. Ein bisschen Ehrlichkeit. Ich musste ja nicht alles rauslassen, aber ein wenig. »Seit gestern hab ich ein bisschen Probleme. Vielleicht stressbedingt. Weil ich wieder hier bin«, antwortete ich.
Er nickte. »Du musst dich eingewöhnen. Der See ist ein reiner Ort. Du hast sein Wasser vollgeblutet, nun musst du Frieden mit ihm schließen. Ihr müsst einander verzeihen.« Er klang sehr Zen-mäßig.
»Äh …«
»Geh zum Stauwehr und schau dir an, wo du reingefallen bist.«
Dad hüstelte auf dem Fahrersitz. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, M.D. Jedenfalls nicht gleich.«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass es heute sein muss.« Mad Dog zuckte mit den Schultern. »Aber bald. Schließ Frieden mit dem See, damit dein Gehirn die Heilung abschließen kann. Dann kannst du es dir in ein paar Wochen mit deinem Pin-up-Boy beim Festival gut gehen lassen.«
Pin-up-Boy? Was zum Teufel …?
Mad Dog warf mir einen Blick zu. »Tu nicht so überrascht. Ich weiß Bescheid über dich und Serjs Jungen.«
Okay, diese Unterhaltung fand also wirklich statt. Ich rutschte nervös auf meinem Platz hin und her, um mein unruhiges Bein vom Zappeln abzuhalten, während das Unausgesprochene zwischen uns schwebte: Eine Hausangestellte, die was mit dem semiberühmten Sohn des Geschäftspartners hatte, verstieß gegen die Klassenregeln. Aber wie ich schon meinem Vater erklärt hatte, als ich ihm das erste Mal von Eddie erzählte: Daddy und ich arbeiteten schließlich nicht in den 1950ern für irgendeinen Milliardär. Mad Dog war Rock ’n’ Roll, pfiff auf Regeln und was weiß ich.
Moderne Zeiten: Man musste mitgehen.
»Serj Sarafian und ich kennen uns schon ewig«, sagte Mad Dog und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. »Wir sind Partner. Ich habe eine Meinung zu unseren Geschäften … Geschäften, bei denen leider dein Pin-up im Zentrum steht. Das trübt mein Bild von ihm. Ich wollte, dass Serj auf die Philippinen fliegt, aber er war zu sehr mit dem Festival beschäftigt.«
»Ach so?« Den Teil hatte ich von Eddie nicht gehört. Andererseits fragte ich mich nach dem Gespräch mit Fen im Plattenladen sowieso, was Eddie mir alles verschwieg.
»Falls Serjs Junge die Verlängerung des Mietvertrags für das Amphitheater auf die Reihe bekommt, kriegt ihr zwei von Leo und mir den päpstlichen Segen und wir werden ihn mit offenen Armen in die Familie aufnehmen«, sagte Mad Dog. »Oder, Leo?«
»Bei allem gebotenen Respekt, Boss, sprich bitte für dich«, knurrte Dad vom Vordersitz.
Mad Dog lachte. »Hey. Ich habs versucht, kattekat.«
»Jawohl, Sir.« Ich heuchelte ein Glucksen, als würde das Gesagte mich nicht berühren. Aber es setzte mir zu. Es klang, als machte Mad Dog es von Eddies Leistung abhängig, ob er meine Beziehung akzeptierte. War Eddie erfolgreich, dann würde Mad Dog … was? Was würde seine Zustimmung bedeuten? Keine Ahnung, aber es passte mir nicht, dass er sich in mein Privatleben einmischte. Ich fühlte mich allerdings zu unbedeutend, um ihm das zu sagen; abgesehen davon war mein Kopf voll mit den ganzen Vorwürfen, die Fen Sarafian erhoben hatte.
Keiner glaubte an Eddie. Weder Fen. Noch mein Dad. Noch Mad Dog. Die geballte Negativität weckte Zweifel in meinem Kopf, über die ich nachdenken musste. Ich musste herausfinden, was davon stimmte.
»In der Zwischenzeit lasst uns gute Miene zu Velvets Überraschungsparty machen«, schlug Mad Dog vor.
»Ich bezweifle, dass es noch für irgendjemanden eine Überraschung ist«, erklärte ich ihm. »Exie hat alles im Griff.«
»Wenn Velvet eine Party plant, gibt es immer eine Überraschung«, sagte Mad Dog geheimnisvoll und kratzte Frida hinterm Ohr. »Hab ich recht, du Zwerg?«
Frida gab nach und legte sich zwischen uns auf den Rücken. Taten Dad und ich das auch – nachgeben?
Und hatten es bloß noch nicht mitgekriegt?