Track [7] »This Town Ain’t Big Enough for the Both of Us« | Sparks

Fen

Nachdem Jane den Laden verlassen hatte, brauchte ich exakt zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden, bis ich mich von der Stelle rühren konnte. So lange dauert »September Gurls« von Big Star, das gerade aus den Lautsprechern kam, während ich die Plattenregale anstarrte und alles katalogisierte, was sie mir erzählt hatte.

All die falschen Dinge, die ich gesagt hatte. Das enttäuschte Gesicht meiner Tante teilte mir unmissverständlich mit, dass ich es vermasselt hatte. Und als ich mir alles durch den Kopf gehen ließ, waren Janes Reaktionen eine weitere Bestätigung dafür.

Momentan schnellte bei mir immer alles von einer entspannten Zwei zu einer angespannten Zehn hoch.

Bedauern nagte an mir.

Als Haley am Ende des Songs hereinkam, um die letzte Kassenschicht zu übernehmen, konnte ich endlich von der Verkaufsfläche verschwinden. Meine Gedanken waren sowieso nicht mehr bei der Arbeit. Sondern bei Janes Gesicht. Und wie unglücklich ich sie in so kurzer Zeit gemacht hatte.

Wie Eddie mir mein beschissenes Leben selbst in Abwesenheit noch schwer machen konnte.

Aunt Pari unterhielt sich gerade mit einem Stammkunden, daher huschte ich, sobald Haley sich registriert hatte, an dem NUR FÜR PERSONAL-Schild vorbei und stieg die Treppe zu der dunklen Fachwerkgalerie über dem Verkaufsraum hinauf. Oben angekommen öffnete ich die Tür und war kurz geblendet.

Die Mittagssonne durchflutete das Büro über dem hinteren Teil des Ladens mit Licht. Es herrschte Chaos: Auf der traurigen Couch, die aussah, als sei sie 1985 gestorben, türmten sich Lieferscheine und Bücherstapel. Der Schreibtisch war vermutlich seit zwanzig Jahren nicht mehr abgewischt worden. Eigentlich sollte ich Aunt Pari helfen, hier oben Ordnung zu schaffen, aber bisher hatten wir gerade mal ein Drittel der vielen Hundert Platten in den Wandregalen durchgesehen – Artikel für unseren Versandhandel oder Raritäten, die wir nicht auf der Verkaufsfläche anboten. Ein paar zerkratzte LPs.

Aber das war alles unwichtig. Was zählte, war das Bürofenster.

Was zählte hier oben, war die perfekte Aussicht.

Die Hälfte der Wand bestand aus Glas und blickte über den See. Man sieht nur blaues Wasser. Himmel. Berge. Die Ausläufer der Stadt, die sich an den See schmiegen. Den Wasserfall. Man sieht alles.

Alles.

Hier oben kommt man sich wie der König der ganzen verdammten Stadt vor. Es hilft, wenn man sich fühlt wie ich gerade: voller Reue und verunsichert.

Aber auch –

Aufgeregt. Überdreht.

Total neben mir.

Ich war ein Nervenbündel.

Schließlich war Jane gerade wieder in mein Leben getreten. Sie verbrachte den Sommer am See. Ich würde sie sehen. Das Mädchen, das seit Jahren durch meine Träume geisterte.

Das Mädchen, das mit Eddie zusammen war.

»Alles Scheiße.« Ich drehte mich mit dem Bürostuhl und stützte stöhnend das Gesicht in die Hände.

»Ich will kein Gejammer im Büro hören.« Aunt Pari kam in den Raum und musterte mich durch ihre Drahtgestell-Brille. »Wenn du da unten rumbrüllst, wirst du uns die Kundschaft vergraulen. Wenn du hier oben rumbrüllst, wird es dir irgendwann das Herz brechen. Ich weiß nicht, was heute unten vorgefallen ist, aber trag es nicht hier hoch. Negativität hat in diesem Büro nichts zu suchen.«

»Tut mir leid«, antwortete ich. »Ich werde sie in mich hineinfressen, bis ich irgendwann platze.«

»So haben wir das in meiner Jugend auch gemacht. Hat mir nicht geschadet.«

Seit mein Vater mich rausgeworfen hatte, verbrachte ich die meiste Zeit mit der Kasabian-Seite der Familie. Ihre schräge Art färbte vermutlich allmählich auf mich ab.

»Als dein Großvater diesen Ausblick sah, wusste er, dass er das Haus haben musste.« Aunt Pari erzählte mir eine Geschichte, die ich schon bis zum Abwinken gehört hatte. »Nicht Bradys Laden zwei Blocks weiter. Es wäre die billigere Wahl gewesen, aber Papa wollte diesen Blick.«

»Weil er der beste war.«

»Der beste. Also zahlte er viel zu viel und genießt nun seinen Ruhestand in Glendale, während wir hier die Aussicht genießen.« Sie drehte sich mit einem milden Lächeln zu mir. »Dieses Büro ist besonders. Der Ausblick ist wunderschön. Lass deine Wut nicht am See ab.«

»Würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Dann frage ich dich auch nicht, warum du dieses Mädchen angebrüllt hast«, fügte sie hinzu und reichte mir das dildoähnliche Hundespielzeug. »Das hat sie übrigens vergessen.«

Oh. Ups. Vermutlich war sie abgelenkt, weil ich sie wie ein wütender Troll angeschrien hatte. Echt jetzt … was war mein Problem?

Aunt Pari kramte auf dem langen Tisch unter dem Fenster einen Stapel Unterlagen durch. Das kleine Goldkreuz um ihren Hals glänzte, als sie eine Telefontaste drückte. »Haley? Wo ist die Liste mit den Bands des Festivals? Und zwar von denen, die ein Event hier im Laden haben?«

»In deiner E-Mail«, brummte ich. »Klick sie einfach an und lies sie auf dem Bildschirm.«

»Ich brauche einen Ausdruck.« Aunt Pari winkte ab. »Ich muss die Liste in den Händen halten. Ihr Kids versteht das nicht. Aber wenn diese ganze Technik zusammenbricht, werde ich immer noch meinen Ausdruck haben.«

Aunt Pari machte sich ständig Sorgen, dass die Technik versagen könnte. Für jemanden, der darauf bestand, dass im Büro alles positiv sein musste, war sie, was das Internet anging, eine ziemliche Schwarzseherin.

Nach einem Moment kam Haleys Stimme aus dem Lautsprecher. »Wenn Sie sie nicht finden können, drucken Sie sich doch eine neue aus Ihrer E-Mail aus. Denken Sie nur daran, dass der letzte Druckauftrag abgebrochen wurde, weil die Etiketten im Drucker festklebten, die müssen Sie erst entfernen. Soll ich Ihnen noch mal zeigen, wie das geht?«

»Nein.« Aunt Pari beäugte den Riesendrucker auf dem Tisch wie ein Raubtier, dann wanderte ihr Blick zu mir. »Kannst du so einen Was-auch-immer-Auftrag von einem Druckerspulendingsbums kratzen?«

Leider wusste ich, was sie meinte. Sie brauchte zwar ungefähr drei Leben lang, bis sie die richtige Mail fand, doch als sie sie endlich hatte, machte ich den Drucker flott und reichte ihr das gewünschte Blatt Papier. Es waren fünf Minuten, in denen ich nicht an Jane dachte. Danach katapultierte mich das Universum allerdings postwendend in mein Elend zurück.

»Okay, danke. Dem Geschrei von vorhin nach zu schließen ist sie Eddies Freundin? Das Mädchen mit dem grünen Hundespielzeug?« Aunt Pari deutete auf die Gummigurke, die neben meinem Ellbogen auf dem Tisch lag.

»Scheinbar«, antwortete ich und versuchte meinen Magen am Verkrampfen zu hindern.

»Wusste gar nicht, dass er jemanden hat.«

»Wusste, dass er eine Menge Jemands trifft. Bloß von dieser einen wusste ich nichts«, verbesserte ich sie.

Nicht diese eine. Nicht Jane. Meine Jane. Nicht, dass sie wirklich jemals meine gewesen wäre. Aber als ich jünger war, hatte ich viel Zeit damit zugebracht, mir zu wünschen, dass sie mal fünf Sekunden in meine Richtung schaute. Danach hat Eddie die Sicht versperrt.

»Ich sehe deinen Bruder momentan allerdings auch nicht oft.« Aunt Pari zuckte mit den Schultern. »Wüsste wirklich nicht, wie es gerade um sein Privatleben steht. Aber merkwürdig, dass deine Mutter es mir gegenüber nicht erwähnt hat. Normalerweise erzählt sie mir jeden Klatsch.«

Meine Mutter erzählte, was sie wollte. Sie wusste ganz genau, was Jane mir bedeutete. Wenn Eddie mit Jane zusammen war, würde mir meine Mutter das garantiert nicht auf die Nase binden. Wahrscheinlich hätte sie Angst, dass ich reagieren würde … wie ich heute reagiert habe.

»Ist Eddie nicht auf die Philippinen geflogen?«, fragte Aunt Pari.

Richtig. Was bedeutete, dass Eddie nicht hier war.

Ich starrte auf das grüne Hundespielzeug.

»Aunt Pari?«, fragte ich. »Glaubst du an eine zweite Chance?«

»Ich glaube an alles, was mit Hoffnung zu tun hat«, erwiderte sie lächelnd.

Ich glaubte an alles, was mit Vergeltung zu tun hatte, daran, einen Groll zu hegen, und an langfristige Rachepläne. Aber vielleicht konnte ich ja ein bisschen Platz für Hoffnung machen. Abwechslungshalber.

Ich war so lange in der Dunkelheit gewesen. Vielleicht war es an der Zeit, aus meiner Höhle zu kriechen und mich wie ein menschliches Wesen zu verhalten. Mich bei Jane dafür zu entschuldigen, dass ich mich wie ein Monster verhalten hatte, könnte der Anfang sein.

Vielleicht waren wir ja gar keine Feinde.

Vielleicht konnten wir Freunde sein. Freundlich? Ohne Geschrei?

Ich wusste nur Eines. Ich konnte nicht mit Jane in derselben Stadt sein und schweigen.

Das ging überhaupt nicht.