Die Rückfahrt zur Lodge dauerte ewig. Dad setzte Mad Dog am Eingang des Haupthauses ab, wir parkten die Heckflosse sicher in der Garage und verloren kein Wort über Mad Dogs Bemerkung, ich solle meinen Frieden mit dem See machen. Aber es arbeitete in Dad, das sah ich. Als er den Wagen abschloss, flüsterte ich seinem Rücken zu: »Ich werde nicht in die Nähe des Wehrs gehen.« Er streckte die Hand nach hinten, tätschelte mir den Arm und nickte stumm.
Vielleicht hatte das geholfen. Wenn Gefühle im Spiel sind, wird man manchmal schwer schlau aus ihm.
Als ich Frida Kahlo im Kutschenhaus von der Leine ließ, raste sie durch die schmale Eingangshalle zu ihrer Wasserschale in der Anrichteküche – und verursachte dabei beinahe einen Zusammenstoß. Es wurden Flüche in ihre Richtung ausgestoßen. Offenbar waren sämtliche Hausangestellten gerade mit Velvets wilder Party beschäftigt. Einschließlich unserer Chefin, der Hauswirtschafterin.
Ich wollte mich verdrücken, war aber nicht schnell genug.
»Ich habe Sie überall gesucht«, beschwerte sich Norma Dewberry, eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen fächelte sie sich Luft zu. Norma war immer heiß, auch wenn niemand sonst die Hitze spürte, und sie hatte immer schlechte Laune.
»Wow, hier hinten ist ja echt was los. Ich hole mir bloß Futter zum Lunch, dann bin ich aus dem Weg«, sagte ich.
»Futter« war das Geheimwort für Personalessen, das sich von den Mahlzeiten unterschied, die Exie für die Familie zubereitete. Unterschiedliches Essen für unterschiedliche Menschen. Unterschiedliche Zutaten, die in unterschiedlichen Kühlschränken aufbewahrt wurden, für alles gab es ein striktes Budget.
Norma musterte mich stirnrunzelnd unter ihrem grauen Bob. Sie trug die vorgeschriebene Uniform des Larsen-Hauspersonals: Khaki-Hosen und ein schwarzes Polo-Shirt mit dem aufgestickten Emblem von Mad Dog auf der Brust. »Haben Sie Ihre Firmenkarte benutzt? Wo ist die Quittung?«
»Sie haben gesagt, ich solle Buch führen und dann die Quittungen einreichen …« Vergiss es. Mit ihr zu streiten war sinnlos. Frida rannte uns zwischen den Füßen herum, während ich in meiner Handtasche nach dem Kassenbon herumkramte. »Hier, bitte.«
Sie warf einen kurzen Blick darauf. Sie wollte ihn gar nicht jetzt. Sondern lediglich den Beweis, dass ich ihn aufbewahrt hatte. »Warum ist Ihr Funkgerät nicht eingeschaltet? Ich verstehe Sie zwar sowieso die meiste Zeit nicht, aber trotzdem.«
Exie ging mit einem Topf Wasser hinter Norma vorbei und zeigte ihr heimlich den Mittelfinger. Danke, antwortete ich der Köchin schnell mit den Augen. Norma bekam zu viel mit.
Von sämtlichen Angestellten wurde erwartet, dass sie von morgens bis abends ein Funkgerät dabeihatten. Es diente allerdings hauptsächlich dazu, dass Norma allen Befehle zublaffen konnte. Stundenlang Gelaber übers Kloputzen oder irgendwelche Vorratsnotfälle in der Küche mitzuhören war aber ziemlich anstrengend. Meine Wörterfresserin konnte das Funkgerät nicht leiden. Deshalb vergaß ich es praktischerweise oder schaltete den Ohrhörer ab.
»Und warum tragen Sie Straßenkleider?«, fragte Norma. »Wo ist Ihr Polo-Shirt?«
»Brauchen Sie mich, damit ich Exie bei der Vorbereitung des Abendessens helfe?«, fragte ich freundlich zurück. Ein Lächeln, aber nicht zu breit. »Ansonsten sollte ich nämlich zu Velvet, damit ich ihr vor der Party mit Assistentinnenkram helfe. Bei der ich dann ja auch dabei sein soll. Ich muss ihr dieses Shampoo bringen … jetzt gleich.«
Das ist meine Taktik. Ablenkung und ab und zu ein kleiner Wink sind die Dreh- und Angelpunkte, wenn man sich mit einer Spaßbremse wie Mutter Oberin herumschlägt.
»Ach, richtig.« Als Norma ihren Ohrstöpsel zurechtrückte, fiel Licht auf die Narbe auf ihrer Wange. Bevor Dad und ich in Mad Dogs Haus kamen, hatte Norma einmal Einbrecher in die Flucht geschlagen, die das Studio in Bel Air ausräumen wollten. Bei dem Gerangel bekam Mad Dog einen Messerstich ins Bein und Norma endete mit zehn Stichen auf der Wange. Von den Einbrechern hingegen büßte einer ein Auge ein und der andere brach sich das Bein, als sie durchs Fenster zu flüchten versuchten, und beide durften viel Zeit im Gefängnis verbringen.
Norma war negativ. Fies. Tough. Einschüchternd. Aber für Mad Dog nahm sie im wahrsten Sinne des Wortes das Messer im Gesicht auf sich, und sie führte das Haus, als wäre ihr diese Aufgabe von einer höheren Macht übertragen worden. Sie würde nie woanders hingehen.
Wenn ich mich nicht bis in alle Ewigkeit Mutter Oberin unterwerfen wollte, musste ich irgendwann den Dienst quittieren.
»Velvet ist mit Rosa am Pool«, rief eine Stimme durch die Küche. Kamal Reddy. Er war ein indischstämmiger Amerikaner Mitte dreißig und seit ungefähr fünf Jahren für die Security bei Mad Dog verantwortlich, den Job hatte er von seinem Vater übernommen, der im Haus in Bel Air geblieben war. Obwohl von Haus aus eher ein nerdiger Techie – Kameras, Computer –, war er durchtrainiert und immer bis an die Zähne bewaffnet. Der Messervorfall hatte Mad Dog paranoid gemacht. »Ich gehe gleich raus. Wenn du möchtest, kann ich es ihr bringen«, schlug er vor und deutete mit einem Kopfnicken auf die Shampoo-Tüte. »Ich habe dir gerade was in dein Zimmer gelegt, sie wollte, dass ich es aus dem Haupthaus rüberbringe. Ein Kleid für heute Abend. Vielleicht willst du es dir mal anschauen … jetzt gleich«, neckte er mich.
Kamal konnte nett sein. Ich hatte eigentlich darauf gehofft, dass Velvet ihren Vorschlag, mir etwas zu leihen, vergessen hatte. Es war mir unangenehm. Aber zumindest entkam ich so Norma. Ich reichte ihm das Shampoo und er signalisierte mir mit einem Blick, dass er auf meiner Seite stand.
»Das gefällt mir nicht. Ich werde mit Velvet reden müssen. Ich borge mir schließlich auch keine Kleider von Rosa«, nörgelte Norma. »Und warum in Gottes Namen fiept dieser Hund die ganze Zeit? Wo ist ihr Spielzeug? Bringen Sie sie nach oben, sonst sorge ich dafür, dass Exie sie zum Abendessen serviert.«
Ich nahm mir ein Sandwich und etwas zu trinken aus dem Personalkühlschrank und pfiff nach Frida. Und bevor Norma ihre Meinung ändern konnte, ließen wir zwei das Chaos hinter uns und rannten die kurze Treppe hinauf, die auf die Etage über der Garage führte.
Personalunterkunft. Ruhe, zumindest ein paar Momente lang.
Es gab nicht viel zu sehen hier oben, lediglich einen Gemeinschaftsraum mit einem Fernseher und ein paar Sofas und in der Ecke Fridas Laufstall – ein Hundebett und ein Friedhof von ungeliebten Plüschtierkadavern. Da ich sie im Verdacht hatte, dass sie den Leichenhaufen zur Flucht benutzte, indem sie Walking Dead-mäßig darüberkletterte, verteilte ich die Tiere erst mal strategisch, bevor ich Frida in den Pferch setzte. Anschließend trat ich in den schmalen Gang, von dem unsere Zimmer abgingen.
Na ja. »Zimmer« war eine wohlwollende Bezeichnung dafür. Andere haben sie auch als Gefängniszellen bezeichnet wegen der grau gestrichenen Wände und der passenden grauen Bodenfliesen. Ich schaute mich einmal kurz in dem Raum um, der mir für diesen Sommer zugewiesen worden war, aber er war genau wie alle anderen: Nachttisch und Einzelbett an der Wand, ein winziges Fenster mit Blick auf den Schotterweg zur Garage. Der Fliesenboden war pflegeleicht, aber ziemlich kalt bei nackten Füßen, vor allem morgens, wenn ich zum Gemeinschaftsraum rannte, wo sich Toilette und Dusche befanden.
Aber immerhin hatte ich mein eigenes Zimmer. Und bevor mir Fen den Tag (den Sommer, das Leben) vermiest hatte, konnte ich davon träumen, hier rauszukommen und mit Eddie in meine eigene Wohnung zu ziehen. Ich checkte mein Handy, ob ich Nachrichten von ihm hatte, aber nope. Ich überlegte, meinen Leuten in L.A. zu schreiben, womit ich mich gerade herumschlug, aber sie würden es sowieso nicht verstehen. Wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis, aber wir standen uns nicht so nah, dass sie sich schräge Beziehungsprobleme anhören würden. Unter Mad Dogs Dach Freundschaften aufrechtzuerhalten, war schon schwierig genug, aber durch die Sprachtherapie und das versäumte halbe Schuljahr war die Distanz noch größer geworden.
Das Kleid, das Kamal vorbeigebracht hatte, lag tatsächlich da, doch statt mich darum zu kümmern, aß ich mein Sandwich. Kaum war ich fertig und in meine Arbeitsklamotten geschlüpft, zitierte mich Norma auch schon wieder nach unten. Und als sie mich erst mal in ihren Fängen hatte, gab es kein Entrinnen mehr. Es kam eine Sache nach der anderen, niedere Tätigkeiten, die kein Ende nahmen. Das Anwesen war weitläufig, über den überdachten Weg vom Kutschenhaus zum Haupthaus zu laufen, dauerte also seine Zeit. Ganz zu schweigen von den vielen Treppen.
Irgendwie schaffte ich es trotzdem noch, Velvet bei der Kleiderauswahl und beim Frisieren zu helfen. Dass ich auch für Hairstyling unterschrieben hatte, war mir nicht bewusst gewesen. Oder dafür, im Hintergrund zu sein, wenn sie Video-Calls mit Freunden führte. Eine halbe Stunde bevor die Gäste erwartet wurden, merkte ich, dass ich weder geduscht noch mich angezogen hatte und dass Frida noch gefüttert werden und rausmusste. Noch nie war ich so zufrieden über meinen neuen Schnitt gewesen, die Haare trockneten in ungefähr einer Minute und frisierten sich quasi von selbst.
Trotzdem war ich spät dran. Ich raste vom Kutschenhaus zum Haupthaus, steckte ein Walkie-Talkie in die Tasche des Kleides und befestigte den durchsichtigen Ohrhörer, damit ich die Küche schnell informieren konnte, wenn Velvet beim Dinner etwas brauchte – meines Wissens die einzige Aufgabe, die eine Assistentin bei solchen Partys hatte. Das hatte mir Starla erklärt. Und trotzdem war ich nicht schnell genug, denn schon vibrierte das Handy in der anderen Tasche und meldete eine Nachricht von Velvet:
Wo bleibst du Sis??
Mist. Von draußen waren Gelächter und Musik zu hören, als ich durch ein Wohnzimmer mit modernen Bücherregalen hastete. Die großen Glastüren zur Terrasse standen offen, ein nierenförmiger Pool wand sich um Naturstein, der Himmel war ein weiches Ombré aus Orange und Purpur – es war schon fast dunkel, aber nicht ganz.
Überall standen Tische mit Kerzen darauf, und auf der Seite zupfte ein indischer Sitar-Spieler hypnotische Melodien, die ringsum widerhallten. Einen Moment lang überlegte ich, ob er die »Überraschung« bei Velvets Party war. Dann sah ich mir die Gäste an.
Dad stand seitlich neben ein paar Büschen. Mad Dog saß mit Rosa in ihrem Rollstuhl an einem Tisch. Sie hatte Skoliose und deshalb häufig Rückenschmerzen. Daher auch Starla und ihre heilenden Hände. Apropos Starla, sie plauderte gerade fröhlich mit jemandem, den ich nicht kannte – einem uninteressanten weißen Typen um die dreißig –, und ein paar Leuten, die mir ein Begriff waren: die Taylors, ein Schwarzes Paar mittleren Alters, denen ein Weingut im Sonoma County gehörte. Sie waren mit Mad Dog befreundet und kamen jeden Sommer zum Abendessen in die Lodge – er kannte die beiden durch seine Ex-Frau Nummer zwei.
Danach entdeckte ich Velvet und ihre Partygäste. Es war ein Paar um die vierzig, die dunklen Haare mit Grau durchzogen. Die Frau war größer als der Mann und ihre üppige Lockenmähne und die hohen Absätze betonten den Unterschied noch. Hätte man mir gesagt, ich stünde vor Frank Zappa mit Hufeisenbart und Unterlippenbärtchen, hätte ich es geglaubt.
Mit Schrecken wurde mir klar, wer sie waren.
Die Sarafians. Also Serj und Jasmine.
Eddies und Fens Eltern. Ihre sehr wichtigen Musikindustrie-Eltern. Die ich noch nie kennengelernt hatte. Und Eddie war nicht hier, um uns einander vorzustellen.
»Überraschung«, flüsterte ich.