Track [9] »Second Hand News« | Fleetwood Mac

Jane

»Da kommt sie!«, verkündete Velvet aufgekratzt.

Sie warf einen Blick auf das Kleid, das sie mir ausgeliehen hatte. Obenherum war es weit und etwas durchsichtig, sodass meine eh schon bescheidene Oberweite an zwei erschrockene Kätzchen erinnerte, die sich in einem Kissenbezug versteckten. In Sandalen und mit den kurzen Haaren, in den Taschen Walkie-Talkie und Handy, die das Kleid erdenschwer nach unten zogen, hätte man mich für ein verirrtes Straßenkind auf der Suche nach einer Schale Porridge halten können.

Hätte ich geahnt, dass ich die Sarafians treffe, hätte ich eine magische Armee singender Vögel und Käfer herbeigezaubert, die mir geholfen hätten, aus den Gardinen meines Zimmers ein Kleid zu nähen.

»Serj und Jasmine, das ist unsere Jane Marlow«, stellte Velvet mich vor und lächelte alles weg. »Die für heute Abend natürlich von der Walkie-Talkie-Pflicht befreit ist, haha«, fügte sie kaum hörbar und fröhlich hinzu.

Jaa, ich bedauerte auch schon, dass ich es mitgenommen hatte. Normas Stimme in meinem Ohr, die dem Personal Befehle zublaffte, machte alles noch schlimmer.

»Sie ist sozusagen meine kleine Schwester«, erklärte Velvet. »Wir haben uns eine Nanny und so geteilt.« Äh, ja, aber nicht wirklich. Wo war mein Vater? Ich hasste es, wenn sie solche Sachen sagte … »Und jetzt ist sie Eddies Freundin. Die kleinen Heimlichtuer haben sich hinter unserem Rücken zusammengetan – ist das zu fassen?«

Oh Gott. Nein, es ist nicht wahr … dass du das gerade gesagt hast.

Ich wollte Velvet umbringen. Wollte sie so was von umbringen.

»Jane«, sagte Serj, sein Mund bewegte sich unter dem Schnurrbart nach oben. Freundlich. Nett und ziemlich locker, trotzdem lag eine gewisse Formalität in der Art, wie er mich im schwarzen Blazer und Jeans begrüßte. Als er hinter sich griff und ein Glas Wein vom Tisch nahm, musterte er mich kurz von Kopf bis Fuß. Und ich schwöre, er verzog dabei das Gesicht. Wie man es verzieht, wenn man über etwas lachen möchte, aber weiß, dass es gerade ganz und gar unpassend ist.

Entweder war er verwirrt oder er fand die Sache nicht gut. Sein Blick vermittelte mir jedenfalls das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmte – war es das Kleid? Meine jungenhaft kurz geschnittenen Haare? Eine erdrückende Demütigung überkam mich. Ich schenkte ihm das schönste Lächeln, zu dem ich fähig war, und neigte höflich den Kopf, als seine Frau einen Schritt auf mich zu machte.

»Du bist mit Eddie zusammen?«, fragte Jasmine. »Ich fasse es nicht, dass er mir das verheimlicht hat. Ich freue mich so, dich kennenzulernen. Lass dich anschauen, Jane. Das ist keine Kurzform von irgendwas, oder? Wie alt bist du, Liebes?«

Whoa, eine Menge Fragen. Meine Antwort wurde von der Wörterfresserin verschluckt. Ich stand stumm und nervös da, und als Jasmines Arme sich unter dem schwarzen Glitzerschal hervorbewegten, den sie sich umgelegt hatte, starb ich innerlich einen kleinen Tod. Ihre Hände waren weich und warm, als sie meine ergriff.

»Einfach Jane«, kam mir Velvet schnell zu Hilfe, als sie meine Schwierigkeiten mitbekam. »Frisch von der Highschool in L.A. Achtzehn.«

»Fennecs Alter«, murmelte Jasmine und hielt weiter meine Hände. Sie verströmte einen schwachen süßen Blütenduft. Braune stark geschminkte Augen musterten mich forschend, als versuche sie, genau wie ihr Mann, aus mir schlau zu werden. Doch ihr Blick hatte nichts Wertendes. Er war einfach neugierig. »Wie lange geht das schon mit Eddie? Ich versuche das gerade … logistisch zu verstehen. Ihr lebt schließlich nicht in derselben Stadt.«

»Wir haben nach meinem Unfall am Wehr zu reden angefangen.« Ich suchte nach Worten. »Danach. Die Festival-App. Wir haben … einfach geredet.« Privat. Dass Eddie seiner Mutter nicht von mir erzählt hatte, machte mich ein bisschen sauer. Doch welches Recht hatte ich, ihn dafür zu verurteilen? Ich hatte meinem Vater schließlich auch erst von ihm erzählt, als ich sie einander am Flughafen vorstellte.

»Online?«

Ich nickte.

Sie kicherte amüsiert, als könne sie es nicht glauben. »Eddie ist nicht gerade wortgewandt.«

Darüber musste ich lachen. Ich entspannte mich. »Nein, Ma’am. Aber er ist nett.«

Jasmine lächelte sanft. »Das ist er, oder? Manchmal. Egal, was er macht, er strengt sich immer sehr an. Er will immer der Beste sein, wie Serj.«

»Ganz oder gar nicht«, sagte Serj über ihre Schulter und hob sein Weinglas in Richtung der Taylors. »Ist doch so, oder?«

»Konkurrenzkampf ist für junge Leute. Ich hatte einen Schlaganfall. Ich mache jetzt bloß noch Wein«, erklärte Mr Taylor.

Mad Dog hob sein Glas. »Und zwar einen guten. Ich sehe das genauso. Ich will einfach gute Musik machen und damit Geld verdienen.« Er deutete auf Serj. »Und je länger ich nichts von meinem Anwalt höre bei diesem kleinen Trip deines Sohnes über die sieben Meere, umso länger mache ich mir Sorgen über letzteren Teil.«

»Er wird schon anrufen, großer Hund, relax einfach. Meditiere oder was du sonst so machst«, antwortete Serj lachend.

Autsch.

Jasmine nahm den Schlagabtausch über Eddie gelassen. Sie hielt meine Hände vor ihr Gesicht und schnupperte. »Zwiebel.«

Meine Ohren glühten. »Ich … habe in der Küche geholfen, das Abendessen vorzubereiten.«

Velvet wirkte ebenso peinlich berührt, wie ich mich fühlte. »Hier am See muss jeder mit anpacken, Jas. Manchmal helfe sogar ich.«

Nun ja. Sie frühstückte ab und zu in der Küche und schwatzte mit Exie, während diese das Essen zubereitete. Wahrscheinlich zählte das auch.

»Du brauchst dich nicht zu schämen«, erklärte mir Jasmine. »Zwiebeln erinnern mich daran, wie ich in deinem Alter mit meiner Mutter gekocht habe. Wir schnitten ein Dutzend rote Zwiebeln klein, die sie einlegte. Unsere Hände rochen den ganzen Tag danach.« Sie lachte. »Und ich koche immer noch gern mit unserer Haushälterin, Ms Makruhi.«

»Wirklich?« Ich war ziemlich fasziniert von ihr. Vielleicht war es die Reihe tropfenförmiger Diamantanhänger, die ordentlich einer über dem anderen von ihrem Hals baumelten. Vielleicht war es ihr üppiges Haar, die Ringellöckchen. Es erinnerte mich an Fen. Nur sah es bei Jasmine sehr glamourös aus.

»Ich glaube, du wirst Eddie guttun.« Sie drückte meine Hände, dann ließ sie sie mit einem Lächeln los. »Ich freue mich sehr darauf, dich kennenzulernen. Wir werden gute Freundinnen werden. Komm, erzähl mir alles über dich.«

Kann man sich in die Mutter von jemand anderem verlieben? Ich jedenfalls verspürte eine Menge Tochterliebe für Jasmine. Sie hatte eine merkwürdige Anziehungskraft und ich wollte ihr wie ein Welpe hinterhertappen und ihr alles erzählen. Es war mir egal, ob mich die Wörterfresserin stolpern lassen würde. Ich kümmerte mich nicht um das Sackkleid oder dass Velvet uns allein gelassen hatte. Jasmine stellte genau die richtigen Fragen. Mein Hirn löste sich und ich konnte antworten. Ehe ich michs versah, hatte ich ihr schon von Frida und der Abschlussfeier erzählt. Dann führte ich sie zu Dad und stellte sie einander vor.

»Wir haben uns vor ein paar Jahren schon mal bei einer Benefiz-Veranstaltung kennengelernt, an der Mad Dog teilgenommen hat«, sagte sie. »Sie haben mich und meinen Sohn freundlicherweise zur Notaufnahme gefahren. Er hatte sich am Bein verletzt und Serj war nirgendwo zu finden.«

Das hatte ich total vergessen …

»Ich erinnere mich«, sagte Dad. »Sie haben ihm im Wagen vorgesungen. War das Oper? Sie haben eine wunderschöne Stimme.«

»Ich singe bloß im Kirchenchor. Aber mein Sohn wurde damals mit ein paar Stichen zusammengeflickt. Kinder …«

Kinder? Sie redete von Fen. Er hatte damals im Auto meines Vaters gesessen und war im Krankenhaus genäht worden. Jetzt erinnerte ich mich. Ich muss fünfzehn gewesen sein und am Tag zuvor hatte ich mit ihm geredet.

»Sie haben eine tolle Tochter großgezogen«, sagte Jasmine meinem Vater. »Das war sicher nicht einfach.«

»Nein, Ma’am«, antwortete er. »Aber sie ist es wert. Für sie würde ich alles tun.«

Jasmine nickte langsam. »Ja. Was wir für unsere Kinder auf uns nehmen …«

Aber das stimmte nicht ganz, oder? Schließlich hatten sie Fen zu Hause rausgeworfen.

Während sie plauderten, knisterte Normas Stimme in meinem Ohrhörer. Dieses Mal entschieden lauter und nachdrücklicher. »Norma an Jane, wiederhole – Norma an Jane!«

Shit. Ich drehte den Kopf zur Seite und auf Sprechen. »Poolterrasse«, informierte ich sie leise über meinen Aufenthaltsort.

»Vor der Tür des Haupthauses steht ein Besucher für Sie«, fauchte sie missbilligend.

»Wie bitte?« Ich verstand nicht, wie das sein konnte.

»Nicht genehmigter Besucher, Haustür. Beeilen Sie sich.«

Ich kannte niemanden hier und ich wollte nicht von Jasmine weggerissen werden. Es wurde jetzt richtig dunkel und sie trugen gerade die vielen kleinen Gerichte nach draußen, die Velvet sich gewünscht hatte. Wenn ich mich verdrücken wollte, war dies ein guter Zeitpunkt. Ich entschuldigte mich also und überließ Jasmine meinem Vater – der Normas Nachricht über sein Walkie-Talkie gehört hatte und mir die hochgezogene Augenbraue des Jahrhunderts zeigte. Ich antwortete mit einem verwirrten Kopfschütteln und lief schnell ins Haupthaus und an dem riesigen Blumenarrangement vorbei Richtung Foyer.

Ich spähte durch den Fensterschlitz neben der Tür, um zu schauen, ob ich den Besucher erkennen konnte.

Eine dunkle Gestalt stand mit dem Rücken zum Eingang auf der Veranda.

Ich holte tief Luft.

Als ich die Tür einen Spalt öffnete, drehte sich die Gestalt um und das Verandalicht fiel auf ihr Gesicht.

Fen.

»Hier wird wohl eine schicke Party gefeiert?« Er hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und wippte auf seinen abgewetzten schwarzen Sneakers. Er stand in einem seltsamen Winkel, als verberge er etwas. »Muss ja so sein, wenn Mad Dog irgendeinen Möchtegern-Ravi-Shankar rumklampfen lässt. Was ist da drinnen los? Schmeißen sie LSD ein? Und warum bist du angezogen wie ein Sektenmitglied von Charles Manson? Sieht nicht gerade nach Metal aus.«

Der Sturm konfuser Gefühle in meiner Brust ließ Blitze um meinen Körper zucken. Ich hatte gerade eine Viertelstunde mit seiner Mutter geredet. Und plötzlich kreuzt er hier auf?

Hatte ich irgendeinen Gott erzürnt?

Fen sollte nicht hier sein.

»W-was willst …?«, setzte ich an.

»… willst du hier?«, beendete er den Satz und sah mich fragend an, während er die hoffnungslos verstrubbelten Haare zurückstrich. Er deutete mit einem Kopfnicken zu den Autos, die auf der Schotterzufahrt parkten: ganz vorn zwei Luxuslimousinen, dahinter ein weißer Jeep mit schlammbespritzten Reifen und ohne Türen, bloß der blanke Rahmen – aber jede glatte Oberfläche mit Bandstickern bedeckt. »Lustig, dasselbe hab ich mich auch gefragt, als ich hier hochgefahren bin und den BMW meiner Eltern gesehen habe. Hat man vergessen, mich einzuladen, oder ist die Einladung in der Post verloren gegangen?«

»Deine Eltern sind bei Mad Dog zu Gast.« Ich war versucht, es dabei zu belassen und ihm die Tür vor dem dämlichen Gesicht zuzuschlagen, aber er trug ein T-Shirt (PSYCHOKILLER stand in großen Blockbuchstaben über der Brust, und in einer Sprechblase QU’EST-CE QUE C’EST) mit abgeschnittenen Ärmeln – eine Frechheit. Wollte er mit seinen Armen protzen? So nach dem Motto Schau mich an, ich bin dünn und muskulös – es ist nicht mal heiß draußen, trotzdem laufe ich mit bloßen Armen rum wie ein cooles Straßenkid. Argh! Er schaffte es wirklich, dass jede Zelle meines Körpers vor Wut brannte.

»Du hast das Grundstück widerrechtlich betreten«, erklärte ich ihm dümmlich.

»Weil ich auf der Eingangstreppe stehe? Ich habe geklingelt … Eine fiese Frau hat mich angeblafft, dann ist sie dich holen gegangen. Das ist kein widerrechtliches Betreten. Zusteller sind wesentlich widerrechtlicher als ich.«

»Was willst du hier?«

»Das hast du schon mal gefragt.« Er zog eine Papiertüte mit VICTORY VINYL-Aufdruck hinter dem Rücken hervor. Anhand der Form und des herausstehenden Piratenhuts konnte ich erraten, was es war. »Du hast dein Phallusspielzeug bei mir im Laden vergessen.«

»Das ist Captain Pickles. Du brauchst gar nicht so zu tun, als wäre es was Unanständiges.«

»Bitte. Erstens lieben mich Hunde. Zweitens gibt es selbst in dem Sexshop die Straße runter weniger vulgäre Dildos. Vielleicht versucht dir der Kleine was damit zu sagen. Ist er kastriert?«

»Ihr wurden die Eierstöcke entfernt. Sie heißt Frida Kahlo. Das kannst du ruhig mit ein bisschen Respekt sagen.«

»Von mir aus«, sagte er. »Wusste nicht, dass sie die Reinkarnation einer berühmten Malerin ist.«

Ich versuchte, ihm das Spielzeug abzunehmen, aber er hielt es außer Reichweite und ich fiel fast gegen ihn, als ich es zurückholen wollte. »Sie ist nicht mein Hund. Ich hüte sie für Velvet. Das ist mein Job. Ich bin ihre Assistentin.«

»Was du nicht sagst.«

Ich verschränkte die Arme vor meinem Sackkleid. »Was willst du von mir, Fen?«

»Eigentlich nichts. Wäre vielleicht einfach nice, unser Gespräch fortzusetzen.«

»Hatten wir eins? Ich dachte, du hast mich angebrüllt.«

Er hielt einen Finger hoch. »Hab ich und dafür entschuldige ich mich. Ich hab meinen Gefühlen freien Lauf gelassen, da kann nichts Gutes bei rauskommen. Tut mir echt leid, dass ich rumgeschrien habe. Können wir es noch mal versuchen?«

»Was noch mal versuchen? Den Teil, bei dem du mir erklärst, ich wäre deine Feindin, weil ich mit Eddie zusammen bin?«

Sein Kiefer verschob sich, als habe der Klang von Eddies Namen eine Art Macht über ihn.

»Und noch mal«, erinnerte ich ihn, »Eddie hat mir gesagt, ich solle mich von dir fernhalten.«

»Warum sagt er so was?«, fragte Fen. »Irgendwie komisch, findest du nicht?«

Fand ich auch, ehrlich gesagt. »Ich dachte, wir hätten schon geklärt, dass du das schwarze Schaf der Familie bist. Und zu Hause rausgeflogen. Und so weiter. Scheint mir Grund genug zu sein.«

Fen erwiderte nichts darauf. »Weißt du, warum ich rausgeflogen bin?«

»Geht mich nichts an, warum du nicht mit deinem Vater klarkommst.«

»Stimmt. Das tu ich nicht.« Er konnte mir ansehen, dass ich den Grund wirklich nicht wusste. Nach einem Moment Schweigen bot Fen eine Erklärung. »Mein Bruder und ich haben schon immer … konkurriert. So hat uns mein Vater erzogen. Es kann nur einen Gewinner geben. Wer liebt Daddy mehr? Eddie natürlich, also kriegt er den Trip nach Los Cabos. Fen verliert, also kriegt er kein Abendessen. Irgendwann hat Eddie angefangen sicherzustellen, dass er immer den Trip kriegt, verstehst du?«

»Okay?«

»Nach und nach ist es eskaliert. Vor etwa einem Jahr hat Eddie mitgekriegt, dass ich mit jemandem happy war – ein Mädchen, dessen Vater bei Sarafian Events im Marketing arbeitete. Prompt hat Eddie unseren Vater dazu gebracht, ihn zu feuern. Er erfand irgendeinen Scheiß von wegen, er hätte den Vater erwischt, als er was aus den Festivalbüros geklaut hat.«

Mir entfuhr ein leises Wimmern. »So etwas würde Eddie nicht tun.«

»Oh, und wie. Er tut es. Und er hat es getan. Am Ende zog die Familie des Mädchens auf die andere Seite des Landes. Danach wollte sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht bei mir. Von da an bin ich bei meinem Vater und Eddie auf Konfrontation gegangen.«

»Ich glaube –«

»Ich habe eine offizielle Beschwerde bei Eddies Universität eingereicht und erklärt, dass mein Vater Tausende von Dollar an die Uni bezahlt hat, damit sie Eddie an der Zulassungskommission vorbeischleusen. Ich habe damit gedroht, das FBI einzuschalten. Sie haben ihn lieber stillschweigend rausgeworfen, als schlechte Presse zu riskieren. Danach hat mein Vater mich rausgeschmissen. Und nun bin ich im Exil.«

»Das … Das glaube ich dir nicht.«

Er zuckte mit den Achseln. »Es ist die Wahrheit. Frag Eddie, wenn du ihm mehr traust als mir. Ich versteh bloß nicht, wie es so weit mit dir kommen konnte.«

»Wie weit?«

»Dass du ihm mehr traust als mir.«

Ich starrte ihn sprachlos an. »Ich kenne dich kaum.«

»Und genau das regt mich auf. Ich habe, seit du ins Stauwehr gestürzt bist, jeden Tag an dich gedacht.«

Stimmte was nicht mit ihm? Oder spielte gerade die Wörterfresserin verrückt und ich bekam es nicht mit? Hatte ich irgendwas durcheinandergebracht? Sollte ich mir Sorgen machen?

»Wir haben in dieser Nacht etwas geteilt«, sagte er leise. Als wolle er mich daran erinnern, dass wir besoffen rumgemacht hatten. Aber daran würde ich mich definitiv erinnern. Und nein. Nicht mit Fen. Definitiv nicht an dem Abend auf dem Wehr. Alles um meinen Sturz herum fühlte sich wegen meiner Verletzung verschwommen an, aber daran würde ich mich garantiert erinnern.

Ich spähte über die Schulter durch die dunkle offene Tür, konnte aber nicht weiter als bis ins Foyer schauen. »Nicht so laut, ich will nicht, dass dich jemand hört«, flüsterte ich. »Und wovon in aller Welt redest du? Ich habe an dem Abend vor meinem Sturz kein Wort mit dir gewechselt.«

»Ich rede nicht von davor. Sondern von danach. Du erinnerst dich wirklich nicht? Mein Mund, deine Lungen«, sagte er mit verführerischer Stimme. »Das Geschenk des Lebens.«

Ich starrte ihn an. Meine Hände begannen zu zittern.

Unser Blick begegnete sich, einen Moment lang war nur das Quaken der Frösche zwischen den Bäumen am See zu hören. Jetzt war er ernst. Das hier war kein Scherz und er zog mich auch nicht auf.

»Nun fällt es dir wieder ein, oder?«, sagte er sanft.

Fiel mir etwas ein? Ich erinnerte mich an ihn am Wehr … Ich erinnerte mich an ein Gesicht über meinem, als ich Wasser herauswürgte. Ich erinnerte mich daran, dass jemand um Hilfe rief. Aber ich konnte mich nicht erinnern, wer mich gerettet hatte. Ich war nie in der Lage gewesen, mich an jenes Gesicht zu erinnern. Die ganzen zwei Jahre seit dem Unfall nicht.

Ich versuchte, es abzustreiten. »Du hast nicht … hast nicht. Du warst nicht derjenige, der mich aus dem Wasser gezogen hat. Wer hat mich gerettet?«

Es war Eddie. Musste es sein. Als ich ihn meinem Vater vorgestellt hatte, hatte ich gesagt: »Das ist der Junge, der mich gerettet hat.« In den Augen meines Vaters war es Eddies einziger Pluspunkt.

»Ich habe dich aus dem Wasser gezogen«, beharrte Fen ruhig. »Du musst mir glauben, Jane.«

Und ich glaubte ihm. Ich konnte nicht sagen, warum, aber wir wussten es beide. Bei manchen Dingen kann man lügen. Aber dieses Gefühl gerade, dass meine Brust voller Wasser war und die Welt um uns herumwirbelte, als gäbe es nur das Gewicht unserer gemeinsamen Erfahrung … das war real.

Wir standen da und starrten auf den See, dann starrten wir einander an.

»Warum?«, fragte ich mit gepresster Stimme.

»Weil.« Er schüttelte den Kopf und da war wieder dieses Gefühl in seinen Augen. Er war durcheinander. Meinetwegen? »Ich weiß nicht, warum. Du bist ins Wasser gefallen. Ich bin hinterhergesprungen. Es war einfach Reflex. Ich habe tausend Mal darüber nachgedacht. Warum ich? Warum nicht jemand anderes?«

Ich drückte einen Ellbogen an den Körper, damit das Zittern aufhörte. »Du warst … einfach da.«

»Vielleicht.« Er zuckte mit einer Schulter und schüttelte den Kopf. »Ich habe es lange Zeit einfach als Zufall abgetan, für den es keinen Grund gibt. Und dann bist du plötzlich wieder hier. Nun glaube ich nicht mehr, dass es zufällig war. Ich hatte recht beim ersten Mal. Zwischen uns ist etwas, Jane Marlow.«

Er beugte sich vor, um mir zu zeigen, warum er so schief dagestanden hatte. Es war nicht wegen der Tüte gewesen, die er hinter dem Rücken verborgen hatte, sondern wegen des Tattoos auf seiner Schulter. Ein Tattoo, das einem Gemälde der Präraffaeliten ähnelte: ein schönes ertrunkenes Mädchen in einem Fluss, umgeben von Blumen.

Ophelia, aus Hamlet.

»Hab ich mir vor einem Jahr stechen lassen«, sagte er.

»Oh Mann«, murmelte ich, mein Hirn ratterte auf Hochtouren. »Das ist … ein totes Mädchen? Ich bin …«

»Ich weiß. War mir auch peinlich, es dir zu zeigen, aber es ist nun mal da.« Er legte eine Hand auf das Tattoo. »Es ist schräg. Ich bin schräg. Ich bin bescheuert. Es ist nicht fair dir gegenüber. Aber du bist in meinen Gedanken herumgegeistert und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.« Er ging ein paar Schritte und drehte mir den Rücken zu. »Ich sollte vermutlich nicht hier sein, oder?«

»Was willst du von mir?«

Er schüttelte den Kopf. Zuckte noch einmal mit den Schultern. Falls es lässig wirken sollte, Fehlanzeige. Seine Augen verrieten ihn. Wie er mich ansah, hatte überhaupt nichts Lässiges. Ich wusste nicht viel, aber diese Sehnsucht kannte ich, auch wenn ich mich fragte, woher. Denn ich konnte mich nicht erinnern, dass Eddie mich je so angesehen hätte. Konnte mich überhaupt nicht daran erinnern, dass mich schon mal irgendjemand so angesehen hat.

Ich schaute nervös zur Seite. »Ich bin mit deinem Bruder zusammen.«

»Liebst du ihn?«

»Was ist denn das für eine Frage?«

»Was ist denn das für eine Antwort?« Seine Selbstsicherheit kehrte zurück. »Liebst du ihn, ja oder nein? Ist doch eine einfache Frage.«

Ich liebte Eddies Aussehen. Ich liebte es, wie sich seine Arme um mich anfühlten. Ich liebte es, wie mich Leute ansahen, wenn ich mit ihm zusammen war. Doch nichts davon war die richtige Antwort. Außerdem brauchte ich zu lange, um überhaupt zu antworten, weil ich nur daran dachte, dass Eddie mich angelogen hatte, als er behauptete, er hätte mich aus dem Stauwehr gezogen.

Mein Schweigen sagte mehr, als ich beabsichtigt hatte.

Und Fens langsam nach oben wandernde Mundwinkel verrieten mir, dass es ihm auch etwas sagte.

Absätze klackerten, hinter mir war ein süßer blumiger Duft zu riechen. »Fen-jan? Mein Augenstern? Was im Namen der Heiligen machst du denn hier?« Jasmine zog Fen an sich und hinterließ dabei auf seinen Wangen Lippenstiftspuren. »Was ist los? Stimmt irgendwas nicht?«

»Mama«, protestierte er und schniefte kurz. »Ich habe ein Hundespielzeug vorbeigebracht, das, äh, im Plattenladen liegen geblieben ist.« Er überreichte mir mit seinen langen Fingern verlegen Captain Pickles. »Ich wusste nicht, dass ihr hier seid.«

Sie warf einen flüchtigen Blick auf die zerknautschte Tüte in meiner Hand. Ich versuchte, mich zu fassen und meine wilden Gefühle zu verbergen. Aber sie war schnell. Und scharfsinnig.

»Die Welt ist klein«, sagte sie freundlich und drehte sich zu ihrem Sohn. »Wir haben uns eine ganze Woche nicht gesehen, mein Lieber. Du hast noch ein halbes Kilo verloren. Ich komme morgen bei Aunt Zabel vorbei und füttere dich. Erzählt, woher kennt ihr euch?«

»Wir sind uns gerade erst begegnet«, sagte ich.

»Wiederbegegnet«, korrigierte er.

Sie legte den Kopf schief und wollte etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders und biss sich auf die Lippe.

Wie nahe standen sich Jasmine und Fen? Näher, als mir bewusst gewesen war. Er hatte Zoff mit seinem Vater und Eddie, doch zwischen diesen beiden hier gab es eine Bindung. Sie kannte garantiert sein Tattoo – es war ja nicht zu übersehen. Wusste sie, dass er mich aus dem Wasser gezogen hatte?

»Jane hat mir gerade von sich und Eddie erzählt«, sagte Fen mit geheuchelt fröhlicher Stimme. »Und dass sie zusammenziehen werden, sobald er wieder am See ist.«

Ich blinzelte überrascht. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

»Was?«, murmelte Jasmine. »Stimmt das, Jane?«

Captain Pickles lag schwer in meiner Hand. In diesem Moment wünschte ich mir, dass ein Gummihundespielzeug ausreichte, um jemandem eins überzuziehen. Warum hatte er das gesagt? Ausgerechnet nach unserem Gespräch gerade eben?

»Wir … also, äh … Eddie hat es angesprochen, dass …« Oh Gott. Nun schwitzte ich. »Er meinte, er würde gern … etwas am See für uns suchen. Kein Haus. Kleiner.« Zum Teufel mit dir, Wörterfresserin!

»Eine Wohnung?« Sie bekam meine Formulierungsschwierigkeiten gar nicht mit. »Er will ausziehen? Soso. Das ist ja ernster, als ich dachte.«

»Er sagte, er müsse es erst …« Ich versuchte, mich an Eddies exakte Wortwahl zu erinnern. »Es erst mit seinem Vater bereden. Dass der uns vielleicht weiterhelfen wird. Wenn Eddie aus dem Ausland zurückkommt. Dass ich mir überlegen solle, wo ich wohnen will. Aber das letzte Wort hätte Serj.«

Jasmine presste die Hand aufs Herz. »Natürlich wird Serj euch helfen. Aber Serj hat nie das letzte Wort.«

»Typischer Anfängerfehler«, sagte Fen. »Hätte ich dir gleich sagen können.«

Jasmine winkte ab und ließ ein Tsss hören, doch dann wurde sie weich und lächelte. »Eddie ist wie sein Vater. Er hält ihn und sich für den Mittelpunkt der Welt. Leute, die so denken, sind töricht. Aber wir lieben nun mal törichte Menschen, gegen unser Herz kommen wir nicht an, oder?«

»Das Herz ist ein großer dummer Muskel, Mama«, sagte Fen.

Sie lächelte erst ihn, dann mich an. »Hach, das ist alles sehr interessant und unerwartet.«

»Ja, oder?«, fragte Fen.

»Ich muss gestehen, ich habe durchaus Vorbehalte. Mit jemandem zusammenzuziehen ist ein großer Schritt. Zumindest war es das, als ich in eurem Alter war. Vielleicht ist es jetzt anders. Sag, Jane, ist es das, was du dir wünschst?«, fragte mich Jasmine. »Du möchtest eine Wohnung mit meinem Sohn?«

Hmm … Was war das denn für eine Frage? Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Es fühlte sich an, als würde sie mich fragen Willst du mit meinem Sohn schlafen? Deshalb sagte ich: »Wenn Eddie es möchte?«

Fen stöhnte gequält.

Jasmine schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es geht darum, was du willst, Liebes. Du.« Als ich keine Antwort gab, presste sie die Hände aneinander. »Lass es mich anders formulieren. Würdest du gern aus Mad Dogs sehr großem Haus aus- und in dein eigenes kleines Apartment einziehen?«

Ich antwortete: »Ja.«

Fen murmelte einen fiesen anzüglichen Kommentar. Ich warf ihm einen Blick zu, doch seine Augen waren so dunkel und schmal, dass ich nicht erkennen konnte, was er dachte. Ich wusste aber, was ich dachte, und versuchte, es ihm per Gedankenübertragung zu vermitteln. Damit hast du angefangen, Arschloch. Du! Das ist deine Schuld!

»Sehr schön«, sagte Jasmine mit einem knappen Kopfnicken. »Dann gehen wir auf Wohnungssuche.«

»Was?« Feuchtkalte Angst kroch durch meine Gliedmaßen.

Fen lachte, aber es klang freudlos.

In meinem Kopf herrschte völlige Panik.

»Nächste Woche. Gib mir ein paar Tage, um alles zu arrangieren«, sagte sie. »Der Ex meiner Schwester ist Immobilienmakler. Sie finden bestimmt was Nettes für ein junges Paar. Lass uns wieder reingehen, Jane, und es deinem Vater erzählen.«

Nein, nein, nein! Ich war noch lange nicht so weit, es meinem Vater zu sagen.

Fen warf mir einen finsteren Blick zu, den ich nicht deuten konnte, der aber noch ein paar Blitze in meiner Brust knistern ließ – bis seine Mutter unterbrach, was zwischen uns war, indem sie sein Gesicht in die Hände nahm. »Verschwinde jetzt, mein Fennec. Lass dich lieber nicht von deinem Vater hier erwischen, sonst ist die Hölle los. Ich liebe dich bis in alle Ewigkeit, bis die Sonne erlischt.«

»Ich liebe dich so sehr, dass es sich anfühlt, als sei sie schon erloschen«, erwiderte er finster.

Wer waren die Leute?

Sie waren nicht wie Eddie. Überhaupt nicht. Eddie schien voll und ganz Serjs Sohn zu sein.

Und ich war nicht sicher, was das für mich bedeutete.