Track [12] »What If« | Frankie Cosmos

Jane

Wir schlängelten uns durch die Menge und stellten uns in die kurze Schlange vor einem der Foodtrucks. Die beiden näselnden Gitarren von Tell & Show begannen zu spielen – kurz darauf stimmte ein aufgekratzter Sänger ein, der extrem bemüht rüberkam. Wir holten uns einen großen Teller Pommes mit Käse und Carne Asada und zweimal Ananas-Agua-Fresca … und Fen schwatzte einem der Köche ein Tütchen Tylenol für mein Auge ab.

Velvet saß immer noch am Jurypult. Und dort würde sie während der beiden Sets auch bleiben, informierte mich Fen, als wir unser Essen hinter eines der Missionsgebäude trugen, wo ein Pausenplatz für die Festivalcrew abgegrenzt war. Man hörte die Musik nur gedämpft, aber durch eine Lücke zwischen den Bäumen hatte man Aussicht auf den See. Wir setzten uns nebeneinander auf eine Picknickbank, um sie zu genießen.

Ich spülte das Tylenol mit der Hälfte des Ananas-Wassers herunter.

»Shit«, brummte er. »Alles gut mit dir?«

»Die Hitze. Und Stress.«

»Aha.« Er reichte mir eine Plastikgabel und pickte im Carne Asada herum. Er verstummte, aber ich fragte nicht nach dem Grund. Je länger wir schweigend dasaßen, umso mehr raste mein Hirn durch wirre Gedanken – über Velvet und über Fens letzte Bombe zum Thema Eddie. Ob er mir vielleicht nur fieses Zeug über Eddie erzählte, weil er ihn fertigmachen wollte.

»Der Stress wirkt sich auf dein Hirn aus?«, fragte er unvermittelt. Als ich ihn aus dem Augenwinkel musterte, fügte er hinzu: »Ich versuche, das zu kapieren, seitdem du das erste Mal in den Laden gekommen bist. Seither habe ich versucht mich schlauzumachen. Mein Freund Moonbeam meinte, es könnte eine Verletzung des Gehirns sein.«

Er hat mit seinen Freunden über mich geredet? Oh Mann. »Es ist Aphasie.«

»Das war auch meine Vermutung. Hättest du mir sagen sollen. Du brauchst ein T-Shirt oder ein Schild oder irgendwas, damit Leute Bescheid wissen, wenn du dich nicht an Wörter erinnerst.«

Ich zog den Reißverschluss meiner Tasche auf, die ich quer über die Brust trug, und kramte eine Art Visitenkarte heraus. Ich beobachtete sein Gesicht, als er sie las.

Ich leide aufgrund einer Gehirnverletzung an Aphasie. Das bedeutet, dass ich gelegentlich Formulierungsschwierigkeiten habe, und wenn ich unter Druck stehe, fallen mir manchmal bestimmte Wörter nicht ein. Sie können mir helfen, indem Sie deutlich und langsam sprechen und mir mehr Zeit geben.

»Verdammt. Du hasst es bestimmt, diese Dinger rauszuholen«, sagte er.

Ich hielt einen Finger hoch. »Ein Mal. Das wars. Die Miene von dem Typen …« Ich schüttelte den Kopf. »Blankes Mitleid. Ich habe es nicht noch mal über mich gebracht. So was von demütigend … lieber stehe ich es durch.«

»Verständlich«, sagte er und musterte mich aus dem Augenwinkel. »Ich würde mich auch immer für Stolz statt Mitleid entscheiden.«

Das glaubte ich ihm aufs Wort. Fen war definitiv stolz. Es war in seine Gesichtszüge gemeißelt. »Es ging nicht unbedingt um Stolz. Ich bin nicht stark. Ich bin eine Schisserin.«

»Mir kommst du ziemlich stark vor. Die Schisser, die ich bisher kennengelernt habe, taten immer so, als hätten sie keine Angst.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. »Egal, die Karten hat mir mein Sprachtherapeut gegeben, aber ich brauche sie eigentlich nicht mehr. Mittlerweile ist es meistens okay. Aber am Anfang musste ich neu sprechen lernen. Nach Aussage der Ärzte sollte ich mich mittlerweile erholt haben, aber … es ist noch nicht ganz weg.«

»Wie ein Geist.«

»Vermutlich verfolgt uns beide was«, sagte ich mit einem angespannten Lächeln.

Er bohrte seine Gabel senkrecht in den klebrigen Pommesberg. »Ich muss etwas wissen. War es ein Unfall, dass du ins Wehr gefallen bist? Oder warst du traurig wegen Eddie? Hat er dir was angetan? Dich zurückgewiesen? Bist du … absichtlich reingefallen?«

Ich sah ihn fragend an. »Es war ein Unfall.«

»Ich würde dir gern glauben«, sagte er leise und richtete seine dunklen Augen auf meine.

Meine Kehle schnürte sich zu. Ich musste die Wörter herauspressen. »Das brauche ich nicht von dir. Es ist meine Vergangenheit, nicht deine. Nur weil du zufällig aus Reflex ins Wasser gesprungen bist, schulde ich dir keine Antworten. Man baut ja auch keine Beziehung mit dem Notfallchirurgen auf, der einem das Leben gerettet hat. Und er kreuzt nicht vor deiner Tür auf und erzählt dir, wie sehr es ihn mitgenommen hat, dich zusammenzuflicken, und dass es deine Schuld ist, weil du an diesem Tag in der Notaufnahme gelandet bist.«

Er zuckte zusammen, als habe ich ihm körperliche Schmerzen zugefügt, die Stimmung zwischen uns veränderte sich. Ich spürte ihn auf Distanz gehen, ihn und seine intensive Energie. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.

Okay, das war vielleicht wirklich ein bisschen unfair von mir gewesen. Auf jeden Fall unfair genug, um mich schrecklich zu fühlen.

Situationen wie diese wurden in meiner Therapie nicht angesprochen. Im Büro meiner Ärztin gab es kein Flugblatt zum Thema ›Wie verhält man sich dem Jungen gegenüber, der einem das Leben gerettet hat‹. Und ich war ja auch davon ausgegangen, ich hätte bereits mit diesem Jungen zu tun gehabt – Eddie. Er war easy und cool und wollte nie über die Nacht am Wehr oder meine Verletzung reden. Und so haben wir das Thema einfach ignoriert. Was okay für mich war.

Und jetzt kam Fen an. Mein tatsächlicher Retter – weil mich mein Freund aus weeeelchem Grund doch gleich angelogen hatte? Und Fen wollte nur darüber reden. Ich war genervt, weil Fen etwas von mir brauchte. Und genervt, weil ich keine Ahnung hatte, was es war. Er kam mir vor wie einer dieser überdimensionierten Riesenbecher, die man in Fast-Food-Restaurants bekommt – ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn vollkriegen sollte.

Als er vom Tisch aufstehen wollte, legte ich ihm die Hand auf den Arm, um ihn davon abzuhalten, doch dann zog ich sie sofort wieder zurück. Es fühlte sich komisch an, ihn zu berühren, zu vertraut.

Doch er setzte sich wieder hin.

Als ich mich zu ihm umdrehte, achtete ich auf ein wenig Abstand zwischen uns. »Tut mir wirklich leid, dass ich das gesagt habe. Ich hab es nicht so gemeint. Ich will bloß nicht … Das hier ist neu für mich? Ich bin verwirrt.«

»Nein, du hast recht. Es ist nicht deine Aufgabe, mich wieder geradezubiegen. Abgesehen davon, worüber sollte ich mich beschweren? Ich habe meine Probleme schon immer selbst verursacht, woran mich mein Vater mit Vorliebe erinnert.«

Das klang traurig, aber ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. »Dein Vater hat mich überrascht. Als ich ihn bei Mad Dog kennengelernt habe? Vermutlich weil Eddie über ihn wie über einen Gott redet, und weil er Serj Sarafian ist. Eine Legende. Keine Ahnung. Ich hatte irgendwie erwartet, dass er total besonders sein würde. Wie deine Mutter.«

»Er ist ein Verkäufer und ein Hai. Wenn du etwas brauchst, das er verkauft, überschlägt er sich vor Charme. Falls nicht, bist du der Gehweg unter seinen Füßen. Er läuft einfach über dich hinweg.«

»Menschen entsprechen nie den Erwartungen.«

Er warf einen Blick auf mein Gesicht. »Nein, tun sie nicht«, sagte er leise.

»Fen?«

»Jaaaa?«

»Als wir über Velvet und Drogen geredet haben – wie meintest du das, von wegen dein Vater würde Eddie genau deshalb auf die Philippinen schicken?«

Er lachte freudlos. »Alles führt immer wieder zu Eddie.«

»Du hast mich darauf aufmerksam gemacht! Und mich mehr oder weniger herausgefordert nachzufragen. Du hast mich … provoziert.«

»Glaub mir« – er sah mich durchdringend an –, »wenn ich dich provoziere, kriegst du das mit.«

Leichte Wärme stieg in meinem Nacken auf. Ich presste schnell die Hand darauf, bevor sie meine Ohren erreichte. »Ich hatte keine Ahnung. Falls das also der Erfolg war, auf den du mit deinem Kommentar aus warst, hast du gewonnen, okay? Bravo. Ich hatte keine Ahnung, dass er feiern geht. Absolut. Keine. Also erkläre es mir bitte, damit ich mir zu Hause nicht die ganze Nacht den Kopf zerbrechen muss.«

»Nur um das mal festzuhalten, ich wollte dich weder aufziehen noch dir eine reinwürgen. Ich wollte bloß sagen, dass es Eddie beim Feiern manchmal übertreibt. Weihnachten dieses Jahr war richtig hart. Frag ihn einfach, wenn du mir nicht glaubst.« Er holte mit der Hand aus. »Los. Schreib ihm.«

»Kann ich nicht, okay? Ich habe schon das Limit erreicht. Ich habe ihm …« Ich wusste nicht mehr, wie die Zahl hieß. »Übertrieben viele Nachrichten geschickt, und er antwortet nicht.«

»Oh«, sagte Fen, sein Mund war ein Kreis, die Silbe hing in der Luft.

»Lass es, okay? Mein Leben ist seit dem Unfall ein einziger Albtraum – ist es das, was du hören willst?«

»Jane –«

»Leute behandeln mich anders«, erklärte ich ihm. »Die paar Freunde, die ich hatte, wollten lieber mit ihren Liebsten abhängen als mit mir. Das Leben ist ohne mich weitergegangen. Und Schule? Eine Katastrophe, okay? Ich war auf so einer Schule mit lauter superschlauen Strebern, wo ich nach dem Unfall total hinterherhing. Vergiss College, jedenfalls fürs nächste Jahr. Mein Vater kann es sich nicht leisten, deshalb brauche ich bessere Noten für ein Stipendium, aber um ehrlich zu sein, selbst mit vollem Einsatz habe ich gerade mal …« Ich winkte genervt ab. »Das Diplom geschafft.«

»Den Abschluss.«

Ich nickte. »Eddie war im letzten Jahr der einzige Lichtblick in meinem Leben. Und jetzt erzählst du mir, dass das alles nur Schwindel war? Lass mir wenigstens meine Würde und erzähl mir von diesem Vorfall, von dem ich nichts weiß. Ich bin es nämlich leid, dass man mich verhätschelt und wie ein kleines Kind behandelt und bemitleidet – und ja, sogar, dass man mich rettet, Fen Sarafian.«

Sein Adamsapfel ging hoch und runter, aber dann nickte er. »Ich glaube, ich versteh, worauf du hinauswillst. Und es tut mir leid. Lass uns Waffenstillstand erklären und zivilisiert miteinander reden, okay? Ich will nicht mit dir streiten. Es ist viel zu emotional, außerdem mag ich dich zu sehr.«

Das traf mich wie ein sanfter Schlag gegen die Brust. Nicht schmerzhaft, aber mit einem gewissen Gewicht, das ich spürte. »Erzähl es mir einfach.«

»Da ist nicht viel zu erzählen. Am Stadtrand gibt es in der Nähe des Privatkrankenhauses diese Klinik. Wenn ihr über den Freeway hergekommen seid, hast du bestimmt die Schilder gesehen. Condor Wings Clinic?«

»Das? Ich dachte, das wäre für verletzte Vögel. Also, wegen der Wings, der Flügel.«

Er lächelte mich an und schüttelte den Kopf. »Die meisten nennen es nur Wings. Eddies bester Freund heißt Tim Albertson. Tims Eltern haben ihn im Januar für zwei Wochen dorthin geschickt, vielleicht hätte Eddie das auch tun sollen. Nachdem Tim und Eddie an Weihnachten besoffen im Haus meiner Eltern aufgetaucht sind und meine kleine Schwester zum Heulen gebracht haben, sind die beiden vor Silvester drei Tage auf Tour gegangen.«

»Was für ’ne Art von … Tour?« Ich wollte es gleichzeitig wissen und nicht wissen.

Fen kniff die Augen zusammen. »Vor allem Koks und Alkohol. MDMA. Mein Vater hat sie gefunden, nachdem sich eines der Ski-Resorts bei ihm gemeldet hat, weil Eddie und Tim im besten Chalet dort mit einem Baseballschläger einen Schaden von mehreren Tausend Dollar verursacht hatten, und weil jemand um drei Uhr morgens nackt durch die Hotellobby rannte. Das Hotel war kurz davor, die Cops zu rufen, aber dann haben sie mitgekriegt, wer Eddie ist.«

Hitze stieg in meiner Brust auf. Es ist nicht so, dass ich nie mit Drogen in Berührung gekommen wäre, allerdings nicht bei Mad Dog, der nur ab und zu Gras rauchte und nach einem Glas Wein einschlief. Aber jetzt fragte ich mich, ob Eddie in meinem Beisein jemals high war und ich es bloß nicht mitbekommen hatte.

»Ich halte Eddie nicht für süchtig, falls du dich das fragst«, fügte Fen hinzu. »Keine Ahnung. Vielleicht doch? Ich glaube auf jeden Fall, dass er oft zu viel Zeit mit den falschen Leuten verbringt und schlechte Entscheidungen trifft. Wolltest du noch wissen, wer nackt in der Hotellobby gewesen ist, oder …«

Ich hielt die Hand hoch, damit er aufhörte.

Er lenkte achselzuckend ein.

»Vielleicht stand er unter Druck«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Fen. »Vielleicht war es ihm zu peinlich, um es mir zu erzählen. Jeder macht Fehler. Wenn er jetzt nüchtern ist und es bei deinem Vater wiedergutzumachen versucht, indem er den Deal mit dem Festival hinkriegt, hat er dann keine Anerkennung dafür verdient?«

»Klar, okay. Warum nicht«, sagte Fen und klang mental erschöpft. »Eddie bekommt für fast alles Anerkennung, was er tut, und zwar egal, wie übel er es verkackt oder wen er dabei verletzt.«

»Darauf kann ich schwer was erwidern. Er hat mich nicht verletzt, wie er dich verletzt hat.« Sondern offensichtlich nur angelogen. Immer und immer wieder …

Fen warf mir einen durchdringenden Blick zu, als läge ihm etwas auf der Zunge, das er aber doch nicht aussprechen wollte. Dann war er plötzlich abgelenkt. »Hör mal – hörst du das?« Es war die Glocke der Mission. »Die schreckliche Zahnarztclownsmusik ist vorbei. Zeit für Band Nummer zwei. Das bedeutet, Velvet wird zwischen den beiden Sets aufs Klo hechten.«

»Ernsthaft? Nicht schon wieder.« Panisch stieß ich mich von dem Picknicktisch ab. »Das stand nicht in meinem Vertrag! Was, wenn sie eine Überdosis erwischt?«

»Ich denke, das passiert vor allem bei Süchtigen?«

»Aber macht Koks nicht voll süchtig?«

»Schon, ja klar«, räumte er ein und stand ebenfalls auf. »Ich will damit nicht sagen, dass es harmlos ist. Kokain ist riskant und krass.«

»Mad Dog wird mich umbringen, wenn ihr irgendetwas zustößt.« Und ich machte mir auch Sorgen um sie, aber das wollte ich nicht zugeben.

Fen strich zögernd mit den Fingerspitzen über meinen Handrücken. Die Berührung war sowohl beruhigend als fragend, und sie fühlte sich ziemlich dreist an.

Seltsamerweise störte sie mich nicht.

Überhaupt nicht.

»Hey.« Er sah zu mir herunter. »Falls du Hilfe brauchst, um Velvet zu suchen, ich hab frei. Ich weiß, du musst nicht gerettet werden oder so. Aber mein Jeep steht da drüben. Ich kann euch zurückfahren.«

Ich zögerte. »Warum bist du so nett zu mir?«

»Ist es einfacher für dich, wenn ich’s nicht bin?«

»Irgendwie schon, ja.« Ich lächelte verhalten.

Er erwiderte mein Lächeln und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich könnte mich wie ein Arschloch benehmen und uns beiden den Nachmittag versauen, wenn das hilft. Sag einfach Bescheid. Ich kann Monster Fen sein.«

»Oder du könntest noch eine Weile so wie jetzt sein und wir könnten uns überlegen, wie wir uns gegenseitig helfen. Du weißt schon. Unsere gemeinsamen Geister austreiben und so.«

»Ohrwurm, ›If You Have Ghosts‹ von Roky Erickson.«

»Perfekter Song ist perfekt«, sagte ich anerkennend.

Er streckte mir die Hand entgegen, um Frieden zu schließen. »Geisterjägerkumpels? Und vielleicht Freunde?«

Ich nahm seine Hand, lange Finger umfassten warm und sanft meine. Wir schüttelten uns langsam und entschieden zu lange die Hand, ohne den Blick voneinander zu lösen. Ich vergaß die Bands und die Missionsglocke und Velvet. Einen Augenblick lang vergaß ich alles bis auf die schwache Elektrizität, die wir mit diesem Händedruck erzeugten.

Es fühlte sich an, als würde ich wesentlich mehr zustimmen als Freundschaft.

Vielleicht etwas, das ich nicht im Sinn hatte.

Oder etwas, das ich insgeheim wollte, mir aber nicht eingestehen konnte.