Ich hatte genug dubiose Hintereingänge von Clubs gesehen, wenn mein Vater mit mir im Schlepptau Mad Dog von irgendeinem Treffen mit einer Band abholte, oder wenn ich mit Velvet backstage Musikern bei den Proben für ein Live-Album zugesehen habe, das ihr Vater aufnahm.
Aber nie hatte ich das Gefühl gehabt, mitten in der Nacht in zwielichtige Gegenden verfrachtet zu werden. Vielleicht war ich auch einfach nur nervös, in der Dunkelheit mit Fen unterwegs zu sein. Hätte ich doch bloß jemandem gesagt, was ich vorhatte. Nicht, weil ich mir Sorgen wegen Fen machte. Wenn ich es jemandem gesagt hätte, hätte ich kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen.
Ich konnte immer noch jemand eine Nachricht schicken. Nicht meinem Vater. Vielleicht Starla?
»Alles gut?«, fragte mich Fen. »Du checkst dein Handy …?«
Ich schob es in die Tasche. »Nee, alles in Ordnung. Was hat es mit den ganzen Überwachungskameras auf sich? Hier ist kein Menschenschmugglerring oder so? Nur zu deiner Info, ich bin als Kidnapping-Opfer völlig wertlos.«
»Noch was, das wir gemeinsam haben. Mein Vater würde den Kidnappern vermutlich eher was zahlen, damit sie mich wegbringen.« Am oberen Ende der Terrassentreppe drückte er auf einen Summer an der Hintertür. »Yo! Wir sinds, Mann«, sagte er in die Gegensprechanlage. »Lass uns rein.«
»Wo ist die Platte in fast neuwertigem Zustand?«, antwortete eine tiefe Stimme. »Du hast mir Wunder was versprochen, Fennec.«
»Lass uns rein und sie gehört dir.« Und zu mir: »Halt lieber den Hund fest, bis wir wissen, wie Peaches und Herb es aufnehmen.«
Das hörte sich nicht gut an. Als wir durch das Tor traten, blieb Frida unter meinem Arm. Ich entdeckte Peaches und Herb – zwei Langhaarkatzen, die schnell das Weite suchten, als Frida bellte – und ihren Besitzer, einen alten Hippie, der ein wenig dem Mann ähnelte, der das Sierra Mono Indian Museum neben dem Tunnel durch die Riesensequoia leitete. Er schien sowohl Schwarz als Native zu sein.
»Moonbeam Bowland, das ist Jane Marlow«, stellte mich Fen vor und führte uns in ein Wohnzimmer unter freiem Himmel.
»Hab schon viel von dir gehört«, sagte der Mann und lächelte mich zurückhaltend, aber freundlich an.
Viel? Das machte mich nervös. Ich spähte zu Fen. Er spähte zum See. Frida kläffte die Katzen an, die auf einem Bambusregal voller Pflanzen thronten. »Hör auf!«, schimpfte ich sie. »Es ist zehn Uhr abends. Du wirst die Nachbarn aufwecken.«
»Hier gibts keine Nachbarn, die man wecken könnte«, versicherte mir Moonbeam.
»Willkommen im Eremitendasein, Jane«, sagte Fen und setzte sich auf ein Sofa. »Moonbeam ist ein veganer Vampir, der die ganze Nacht den See betrachtet«, erklärte er und deutete auf das Teleskop neben dem Verandageländer, das auf die andere Seite des Sees gerichtet war. »Falls du wissen willst, ob jemand Leichen versenkt, ist er der Richtige.«
»In Condor gab es seit zehn Jahren keine Leichen mehr«, versicherte Moonbeam und bedeutete mir, mich zu setzen. »Alles bestens, seit Mrs Abrams ihren Ehemann versenkt hat.«
Ich war einigermaßen sicher, dass sie Witze machten, aber nicht ganz. »Sollte ich Fragen stellen …?« Ich setzte mich neben Fen und ließ Frida zu unseren Füßen herumschnüffeln, behielt die Leine allerdings weiter ums Handgelenk.
»Abrams hat ihn nicht umgebracht. Sie war bloß geizig«, erklärte Fen. »Kein Geld für die Beerdigung.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Diese Stadt ist so schräg.«
»Das ist ja so toll an ihr«, sagte Moonbeam und setzte sich in einen Sessel uns gegenüber. Er musterte mich, was mich etwas verlegen machte. Hinter ihm fiel warmes Licht aus dem Haus. Ich versuchte, nicht hineinzuspähen, aber da waren Regale voller Schallplatten und auf seiner Anlage spielte etwas, das ich nicht kannte.
»Penguin Cafe Orchestra«, erklärte Fen. »Moonbeam hört sich nichts nach 1985 an. Er ist eine wandelnde Zeitkapsel.«
Der Mann kümmerte sich nicht um die Bemerkung. Vielleicht, weil er zu beschäftigt damit war, mich anzustarren. Dann klatschte er in die Hände. »Außer Atem. Jean-Luc Godard! Wie hieß sie noch mal? Jean Seberg. An sie erinnerst du mich mit deinen Haaren.«
Ich fasste mir nervös in den Nacken, dann merkte ich, was ich tat. »Ja? Den habe ich nicht gesehen, aber davon gehört habe ich. Er ist wichtig, oder? Französisch.«
»Nouvelle Vague«, bestätigte Moonbeam und nickte. »Bahnbrechend und schockierend, über zwei Liebende – einen hässlichen jungen Kriminellen, der sich für härter hält, als er ist, und das Mädchen, das er liebt, schön und scheinbar quirlig, aber in Wirklichkeit wohl ebenso nihilistisch wie er.«
Ich schüttelte den Kopf. Sollte das ein Kompliment sein? »Klingt nicht ansprechend.«
»Jane kann mit Nihilismus nicht viel anfangen. Sie ist für Romantik und Weihnachtsbeleuchtung«, erklärte Fen.
»Was für ein Zufall! Alles, worauf du stehst«, neckte ihn Moonbeam.
Fen zeigte ihm den Mittelfinger und tat, als würde er verschwörerisch mit mir flüstern. Doch er sprach laut genug, dass Moonbeam ihn hören konnte. »So ist er immer, erwarte nicht, dass sich seine Manieren bessern. Aber er teilt deine Philosophie, nicht alles zu Geld zu machen. Er liebt Musik und hasst Geld.«
»Falsch. Ich hasse Geld nicht«, sagte Moonbeam. »Ich bezahle damit, was ich brauche, nicht mehr, nicht weniger. Aber darüber hinaus ist es nutzlos. Wozu brauche ich Stapel davon? Ich gehe hier nicht weg.«
»Nie?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Hat dir Fen nicht von mir erzählt?«
»Was gibts da zu erzählen, Moonbeam?« Fen klopfte sich auf den Schoß, um Frida einzuladen. Sie sprang freudig hoch, stellte sich an seiner Brust auf und leckte ihm das Gesicht. »Whoa! Das ist zu viel, Hündchen.«
»Ganz ruhig, Frida«, beschwichtigte ich sie und berührte aus Versehen Fens Hand, als ich sie wegschob.
Es schien ihn nicht zu stören. Sein Blick war durchdringend heute Abend, er beobachtete mich. Musterte mich. Nahm nie die Augen von mir, selbst wenn ich mit Moonbeam sprach. Ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht, er ließ eine kleine warme Welle von Schaudern über meine Arme laufen.
»Geht doch«, sagte Fen leise und kratzte sie hinterm Ohr, während er mit Moonbeam redete. »Sie weiß, dass du die ganze Nacht auf bist, und dass du unübersehbar ein Hippie bist, der auf seiner Veranda wohnt und sich zu viele alte Filme anschaut. Irgendwann wirst du vermutlich beschließen, dass sie cool genug ist, sich deine Platten anzusehen. Ich hab ihr schon erzählt, dass Victory Vinyl bereits Geschäfte mit dir gemacht hat, bevor es das Festival gab, damals in den Neunzigern. Aber nun hält er möglichst viel Abstand zum Festivalgelände.«
»Fen formuliert es absichtlich vage«, sagte der Mann mit angespannter Stimme, was mich aufblicken ließ. »Ich war der erste Prozess des Condor-Festivals, der Fall wurde außergerichtlich beigelegt.«
Huch. Irgendwas bewegte sich in der eingestaubten Ecke meines Hirns. In den Anfängen des Festivals hatte ich irgendwann mal etwas von einem Vergleich gehört. Ich erinnerte mich aber nur undeutlich an den Grund. Da ich es nicht zugeben wollte, sagte ich bloß: »Hat mir noch keiner von erzählt.« Was der Wahrheit entsprach.
»Dachte ich mir. Weißt du, im zweiten Jahr des Festivals habe ich geheiratet«, erklärte er, »und meine Frau stürzte von irgendwelchen erhöhten Sitzplätzen, die sie auf dem großen Feld errichtet hatten. Die Menge drängte vorwärts, rannte das Ding um und sie stürzte herunter. Ihre Lunge kollabierte. Sie konnte nicht rechtzeitig gerettet werden. Sie versuchten, es auf eine Überdosis zu schieben, aber sie hatte Asthma.«
»Oh Gott. Das ist …« Ich schüttelte den Kopf und konnte das Bild der Massenpanik nicht aus dem Kopf bekommen. »Das tut mir sehr leid.«
Er nickte. »Ich weiß, dass du deine eigene Tragödie am Wehr erlebt hast.«
»Ich hatte Glück«, sagte ich leise. Ich spähte zu Fen und stellte fest, dass er mich ansah.
»Hattest du«, brummte Moonbeam. »Tina leider nicht, und sie fehlt mir immer noch. Musik war unser Ding und sie wollte unbedingt zum Festival. Und so schräg es klingt, auf eine Art ist sie wenigstens bei etwas gestorben, das sie geliebt hat.«
Es klang wirklich schräg. Es war schrecklich und herzzerreißend und es machte mich so traurig für ihn. Aber das konnte ich nicht sagen. Deshalb flüsterte ich bloß: »Es tut mir sehr leid, Moonbeam.«
»Schon gut«, erwiderte er. »Ich habe es dir nicht erzählt, um dich traurig zu machen. Aber es ist trotzdem schön, wenn man es mit jemandem teilen kann.«
Vielleicht half es ihm ein wenig, darüber zu sprechen. So wie er lebte, kannte er bestimmt nicht viele Menschen, mit denen er reden konnte. »Wie lange wart ihr verheiratet?«, fragte ich.
»Zwei Wochen. Sie lebte in Fresno, aber im Sommer kam sie immer an den See, um zu wandern. Sie mochte Vögel und schwamm gern. War gern draußen im Freien. Sie schaute sich auch gern Konzerte im Freien an, so haben wir uns kennengelernt. Ich arbeitete in einer Bar am Strip namens Anchor und sie kam rein, um sich die Bands von hier anzuhören.«
Die Bar kannte ich. Nicht persönlich, aber sie war in der Nähe von Betty’s, meinem Verderben. Einige Bars am See hatten Bühnen auf den Hafenanlagen oder auf Terrassen mit Seeblick.
»Ja, für mich war Tina die Frau meines Lebens«, sinnierte Moonbeam. »Wenn ich jetzt zurückdenke, wusste ich es schon, ein Jahr bevor ich sie das erste Mal nach einem Date gefragt habe, aber ich wollte meine Freiheit. Das bedaure ich am meisten. Nicht das Festival. Sondern dass ich zu lange gewartet habe. Wir hätten mehr Zeit miteinander haben können.«
»Meine Mutter ist an einem Aneurysma gestorben, als ich fünf war«, sagte ich. »Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Nur an kleine Dinge, zum Beispiel, dass sie mir vorgelesen hat, und an den Sessel, in dem sie saß – er hatte ein Kissen mit Rosen drauf. Ihr Gesicht kenne ich eigentlich nur von Fotos.« Ich schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, es ist dreizehn Jahre her, aber mein Vater vermisst sie immer noch. Er sagt das auch oft – dass er sich wünscht, sie hätten mehr Zeit gehabt.«
Moonbeam nickte und musterte mich. »Ja, es ist seltsam, wie sich das hält. Man kommt allmählich darüber hinweg, aber es verschwindet nie ganz. Deshalb bleibe ich hier. Ich gehe nicht zum Festival. Mag die Menschenmassen nicht. Ehrlich gesagt mag ich viele Menschen nicht.«
»Vor allem nicht meinen Vater«, bemerkte Fen. »Wir haben viel gemeinsam.«
»Stimmt«, sagte Moonbeam mit einem kleinen Lächeln. Dann schaute er zu seiner roten Katze hoch. »Ich denke, die bleiben da oben sitzen, du kannst die Kleine ruhig frei herumlaufen lassen. Die Türen sind alle geschlossen, weiter kommt sie nicht. Ich mag es übersichtlich. Trinkst du gern Pfefferminztee?«
»Äh …?«
»Mit Zucker ist er genießbar.« Fen stieß mich leicht mit der Schulter an, bevor er mir vom Sofa aufhalf. Dabei spähte er die ganze Zeit zu seinem Freund, der uns beobachtete. »Komm schon, Moonbeam, ich habe die Platte im Rucksack, die du wolltest. Darf ich ihr deine Beatles zeigen?«
»Ganz ruhig, Mann. Du hast es immer so eilig …«
Es ließ sich leicht nachvollziehen, dass Moonbeam das so empfand, derart abgeschieden mit bloß zwei Katzen als Gesellschaft. Während wir unseren Tee tranken, redete er offen darüber, dass er das Haus, außer für kurze Spaziergänge, seit Jahren nicht verlassen hatte – weil es auch nicht nötig war, da alles zu ihm kam und die Abfindung, die er von Sarafian Events erhalten hatte, ihm bis zu seinem Tod reichen würde. Sein kleiner Rückzugsort hatte etwas Anziehendes. Ich verstand, warum Fen den Mann mochte, und warum er viel Zeit hier draußen verbrachte, um den Kopf klar zu bekommen.
»Musik und Gespräche«, erklärte mir Fen, als wir Moonbeams Plattensammlung durchgingen, die ordentlich in Plastikhüllen verpackt war, um sie gegen Wettereinflüsse zu schützen. »Und die Sterne.«
Aber auch die Traurigkeit. Denn auch die gab es hier. Eine dauerhafte sanfte Traurigkeit, die an den Platten und den Möbeln haftete wie eine Umarmung, die zu lange dauerte. Der See heilte diesen Mann nicht. Moonbeam saß hier und hegte seinen Schmerz, wachte über den Geist seiner toten Frau. Er ließ nicht los.
In diesem Moment verstand ich die schräge Logik von Mad Dogs Bemerkung. »Stell dich wieder aufs Board«, flüsterte ich.
»Was?« Fen warf mir einen seltsamen Blick zu.
Ich schüttelte den Kopf. »Bloß was, was mein Vater immer sagt. Aber … wenn ich dich bitten würde, mich heute Abend irgendwohin zu fahren, würdest du es tun? Es wird dir nicht gefallen.«
Einen Moment lang erwiderte er nichts. »Ich fahre dich überall hin, wo du willst.«
Nachdem wir unsere Teetassen gespült hatten, bedankten wir uns bei Moonbeam und fuhren um den See. Ich checkte mein Handy, ob ich irgendwelche Nachrichten hatte – abends unterwegs zu sein, machte mich ein bisschen paranoid. Keine Ahnung, warum. Niemand schien meine Abwesenheit zu bemerken. Und warum auch? Es war noch nicht mal elf, nicht übermäßig spät, vor allem für einen warmen Sommerabend. Auf dem Strip war immer noch ein wenig Verkehr, als wir durch die Stadt zurückfuhren. Ich entdeckte die Anchor Bar, in der Moonbeam früher gearbeitet hatte, und aus einem anderen kleinen Pub die Straße hinunter war Live-Musik zu hören.
Sonst hatte nicht mehr viel geöffnet: ein Diner bis Mitternacht, die Tankstelle auf dem Weg zum Freeway und ein paar Restaurants. Doch als wir vom Strip abbogen und die dunkle Straße am Blue Snake River entlangrumpelten, fort von den Lichtern der Stadt, wurde vor uns der eine Ort sichtbar, der nicht geöffnet war.
Der Condor-Staudamm.
»Kannst du rechts ranfahren und parken?«, fragte ich.
»Ernsthaft?«
Ich nickte. »Ich will das Wehr bloß sehen.«
»Es ist für die Öffentlichkeit geschlossen«, sagte er und fuhr langsamer. »Man kann im Park daneben herumlaufen, aber über das Wehr kommt man erst morgen früh wieder.«
»Hat mir Dad erzählt. Aber vielleicht könnten wir uns einfach im Park auf eine Bank setzen? Ich muss es tun. Bitte, Fen. Du hast gesagt, dass du mit mir auf Geisterjagd gehen willst. Also …?«
Er zögerte und überlegte, dann fuhr er noch ein Stück die Straße hoch und parkte den Jeep auf dem kleinen verlassenen Parkplatz, den Besucher tagsüber nutzten. Es war kein richtiger Park auf dieser Seite des Damms, eher eine kleine Grünfläche mit ein paar Bäumen und Gras, auf dem man den Hund Gassi führen oder die Beine ausstrecken konnte, während man sich den Staudamm ansah und Fotos machte. Ein paar Bänke und ein Mülleimer. Wenn man das Wehr überquerte, kam man auf eine bewaldete Fläche zwischen Fluss und See, die liebevoll Neverland genannt wurde. Dort gab es Blumen, eine Angelstelle und einen gewundenen Pfad, der zum Condor Visitor Center führte.
Doch um über das Wehr nach Neverland zu gelangen, bedeutete, den überdachten Holzgang zu benutzen.
Vor dem nun ein Tor angebracht war.
Von dem ich heruntergefallen war.
Fen stellte den Motor ab. Ich hielt Frida fest, die aus dem Jeep springen wollte. Wir starrten auf die Rückseite des Wehrs, das mit einem kuriosen Arts-and-Crafts-Wachhaus mit Spitzdach und zehn quadratischen Fenstern verbunden war. Das Wehr war bloß dreißig Meter lang oder so – sehr pittoresk und hübsch, kein gewaltiger Hoover Dam oder dergleichen. Touristen liebten es, Fotos davon zu machen. Neben dem Geländer gab es ein Schachbrett aus Stein und zwei Steinbänke, wo die Anwohner dem ruhigen Plätschern des Wassers lauschen und eine Runde Schach spielen konnten.
Nun war es hier dunkel und still.
»Warst du je wieder hier?«, fragte ich und versuchte, Fridas leises Wimmern zu überhören. Sie wollte losgemacht werden und alles auskundschaften.
»So, so oft«, sagte Fen leise. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Komm. Es gibt eine Stelle neben dem Geländer. Ich zeig sie dir.«
Wir waren allein. In der Ferne raste der Verkehr über die Autobrücke eine Viertelmeile stromaufwärts. In der entgegengesetzten Richtung konnte ich, wenn ich genau hinhörte, Musik hören, die vom Strip über den See hallte. Keine Band bei Betty’s heute Abend, bloß Musik aus ein paar kleineren Bars. Doch ich wollte sie nicht hören, ich konzentrierte mich auf das beruhigende Geräusch des Damms.
Fen und ich liefen über das kurze taufeuchte Gras, Frida schnüffelte im Dunkeln herum, ich wickelte mir die Schlaufe ihrer Leine ums Handgelenk. Er blieb am Geländer stehen, unter dem Holzgang floss das Wasser gemächlich durch ein Dutzend kleine Schleusentore. Das Wehr konnte den See um über drei Meter absenken oder anheben, je nachdem, wie viele Schleusentore geöffnet waren. Die Stadt bot kostenlose Führungen an, wie es funktionierte, Dad hatte mich als Kind zu einer mitgenommen.
»Hast du es so in Erinnerung behalten?«, fragte Fen.
Ja und nein.
Als ich das letzte Mal hier war, hatte ich nicht das Gefühl, dass mein Oberkörper in einem Schraubstock steckt. Dafür sah das Wehr nun hübscher aus, als ich es in Erinnerung hatte. Ein friedlicher Ort, um sich auszuruhen. Ein Dazwischen-Platz. Eine Schwelle.
Es sollte kein Ort für betrunkene Partys und grölende Jugendliche sein, die wie die Verrückten herumrannten und den Bands zujohlten, die sie über das Wasser hörten, während sich ihre Kumpels über den überdachten Gang ins Dunkel von Neverland schlichen und Sex im Wald hatten, wo sie leere Bierdosen und benutzte Kondome zurückließen, die die Parkpfleger am nächsten Tag wegräumen mussten.
»Ich saß dort«, sagte ich und deutete zum Ende des Holzgangs. »Auf dem Geländer. Und dann bin ich runtergefallen. Das wars, oder?« Es war nicht sehr tief.
»Ungefähr drei Meter«, sagte er. »Du bist auf die Steine dort aufgeschlagen und Richtung See getrieben.«
»Wo bist du reingesprungen?«
Er rieb sich das Gesicht. »Dort, in der Mitte des Gangs. Ich bin geschwommen … bis irgendwo da unten.« Er deutete ein Stück weiter. »Zuerst konnte ich dich nicht finden. Ich hatte Angst, dass du in den See getrieben sein könntest. Es war dunkel und verwirrend, und eines der Schleusentore stand offen, deshalb gab es eine leichte Strömung. Nicht stark. Aber du bist an den Steinen hängen geblieben.«
An den Steinen hängen geblieben. Weil ich bewusstlos war.
»Wie hast du mich rausgeholt?«, fragte ich.
»Hab dich getragen … und versucht, deinen Kopf über Wasser zu halten, dann hab ich dich auf die Felsbrocken dort hochgezogen, auf die Insel. Es war die einzige Stelle ohne Geländer.«
»Und du wusstest, wie man jemanden reanimiert?«
Er nickte. »Als mein Vater das neue Boot kaufte, hat Mama uns gezwungen, Kurse zu machen.«
In der Ferne sah man die Lichter des Verkehrs auf der Autobrücke flackern. Der Schraubstock um meinen Oberkörper drückte noch fester zu und ich wusste, dass ich mit dem Wasser erst Frieden schließen konnte, wenn ich das Geheimnis preisgab, das mir in der Kehle steckte und mit aller Macht herauswollte.
»Es ist nicht aus Ungeschicktheit passiert«, gestand ich.
Fens Arm neben meinem erstarrte auf dem Geländer. Er gab weder eine Antwort, noch sah er mich an. Das wollte ich auch nicht, sonst könnte ich ihm den Rest nicht erzählen.
»Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt zu fallen«, fuhr ich kleinlaut fort. »Ich wollte nicht sterben. Eddie und ich waren gerade im Wald gewesen … Es ist nicht wirklich was passiert. Er war zu betrunken. Aber dann ließ er mich dort einfach im Dunkeln zurück, weil er mit seinen Kumpels zusammen sein wollte.«
Fen gab einen Laut von sich, sagte aber nichts.
Ich schaute zu Frida herunter und wischte meine Tränen weg. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. »Ich habe es nie jemandem erzählt, weil es so bescheuert ist. Ein Aussetzer, der mein Leben total verändert hat. Ich wollte nur seine Aufmerksamkeit haben. Was bin ich doch für eine Idiotin.«
Er wiegte den Kopf hin und her, während er mein Geständnis zu begreifen versuchte. Es war zu spät, um es zurückzunehmen. Und vermutlich war ich auch froh, die Bürde los zu sein. Das Geheimnis hatte ein unerwartetes Gewicht, das mich lange heruntergedrückt hatte.
Ich wollte mich bei ihm bedanken, dass er mir zuhörte. Dass er mich nicht verurteilte. Er drehte sich vom Geländer weg und starrte mich an, wilde Gefühle, die ich nicht benennen konnte, verzerrten sein Gesicht.
War er … sauer auf mich?
»Das habe ich noch nie jemandem erzählt«, sagte ich. »Bist du wütend, dass ich es dir erzählt habe?«
»Ich bin irgendwas.«
»Was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet genau das. Irgendwas.«
»Fen –«
»Ja, ich bin sauer, okay? Wenn du das, was du mir gerade erzählt hast, nicht für wichtig halten würdest, hättest du es nicht verheimlicht.«
Wohl wahr. Das ließ sich nicht abstreiten.
»Du hast mich gefragt, warum ich dich gerettet habe?«, fragte er mit einer Stimme, die wie Donnerhall klang. »Weißt du noch? Du konntest nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet ich für dich ins Wasser springen würde.«
»Stimmt, das habe ich mich gefragt.«
»Ich habe es getan, weil ich total verknallt in dich war, alles klar?«
Seine Worte versetzten mir einen Stoß. Das konnte nicht wahr sein. Bis zu diesem Sommer hatten wir nie etwas zusammen unternommen. Kaum ein Wort miteinander gewechselt. Jahrelang nicht. »Wie?« Ich sah ihn fragend an. »Seit wann?«
»Schon immer. Seit wir Kinder waren und ich mich am Bein verletzt habe bei der Benefizveranstaltung. Du warst mit Velvet und Mad Dog da, erinnerst du dich noch?«
Ja. Ich erinnerte mich tatsächlich. Wir waren fünfzehn und uns zwar vorher schon ab und zu begegnet, aber es war das erste Mal, dass wir mehr als ein paar Minuten miteinander verbrachten. »Wir haben über K-Pop geredet … Du hast dir das Bein an einem rostigen Nagel aufgerissen – das war … als mein Vater deine Mutter und dich gefahren hat.«
Er brauchte mir nicht zu antworten. Ich wusste, dass ich recht hatte.
Ich dachte an seine Reaktion, als ich das erste Mal bei Victory Vinyl reingeschaut hatte. Wie seltsam intensiv es zwischen uns war. An sein Ophelia-Tattoo. Warum ich nicht aufhören konnte an ihn zu denken, obwohl ich eigentlich an meinen Freund hätte denken sollen.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, flüsterte ich.
»Wie sagst du jemand, dass er deine ganze Welt ist, wenn sie den Typen neben dir anstarrt?«
»Wie konnte ich deine ganze Welt sein, wenn du mich überhaupt nicht kanntest?«
»Wie konntest du wegen eines Jungen, den du überhaupt nicht kanntest, so traurig sein, dass du seinetwegen ins Wasser gefallen bist?«
Der Schraubstock quetschte meine Brust, bis ich kaum noch Luft bekam.
Fen stürmte davon, lief das Geländer bis zum Wehr hinunter, wo ich nur noch seine dunkle Silhouette im grauen Schatten erkennen konnte. Er beugte sich über das Geländer und brüllte Obszönitäten ins Wasser.
Frida wimmerte zu meinen Füßen. Ich kniete mich neben sie, nahm sie in den Arm und erklärte ihr, dass alles gut war. Damit ich mich besser fühlte. Dann spürte ich Fens Hände, die mich hochzogen.
Er packte mich an den Schultern und starrte mich mit dunklen Augen an, ohne etwas zu sagen. Das hier war nicht auszuhalten. Sein Schweigen.
Ich wollte ihm erklären, dass es mir leidtat.
Dass ich ihn zuvor nicht wahrgenommen hatte. Dass ich sein Leben vermasselt hatte. Und schließlich dafür, dass ich in die Stadt zurückgekommen war und ihn nicht mal erkannt hatte.
Aber ein Teil von mir war auch wütend. Und diesem Teil tat nichts leid. Schließlich hatte ich um nichts davon gebeten.
Ich hatte ihn nicht gebeten, mich zu retten.
Er schüttelte immer wieder den Kopf, sagte aber nichts.
Er ließ die Hände sinken und ich schloss die Augen. Er würde mir gleich erklären, dass es vorbei war – mit uns beiden. Keine Geisterjagd mehr, keine Platten. Wir waren keine Freunde. Wir waren nicht mal … diese Wörter, an die ich mich nicht erinnern konnte. Wir hatten nichts Verbotenes getan.
Wir hatten einfach nichts.
Doch plötzlich schlang er den Arm um mich und zog mich an seine Brust. Er umarmte mich? Es war so seltsam und unerwartet; ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ihn auch umarmen?
Bevor ich entscheiden konnte, wie ich reagieren würde, sagte er leise: »So habe ich dich im Wasser gehalten.«
Ich sackte gegen ihn und konnte mich nicht mehr beherrschen.
Ich weinte.
Er weinte.
Und als ich nicht mehr stehen konnte, ließen wir uns ins dunkle Gras fallen und umklammerten einander. Ich hielt ihn, bis sein T-Shirt von Tränen durchnässt und mit Make-up verschmiert war. Er hielt mich, bis es so kalt wurde, dass er mir die Hände unter dem T-Shirt auf den Rücken legte, um sie zu warm zu halten. Wir hielten einander, bis Fridas Leine sich dermaßen um unsere Beine verheddert hatte, dass sie jeden Befreiungsversuch aufgab und neben mir einschlief.
Aber wir taten nichts Verbotenes.
Nicht in dieser Nacht.