Als Jasmine mir drei Tage später eine Nachricht schickte und mich zum Lunch bei sich zu Hause einlud, muss ich mein Handy eine geschlagene Minute wie eine komplette Idiotin angestarrt haben, denn so lange dauerte es, bis sich die automatische Sperre einstellte. Ich war einfach so beschäftigt damit gewesen, mich bei jeder möglichen Gelegenheit mit Fen davonzuschleichen, dass ich sie und ihren Vorschlag völlig vergessen hatte.
Oder die Tatsache, dass sie es womöglich überhaupt nicht guthieß, dass ich die Finger nicht von dem falschen Sohn lassen konnte. Und wenn wir es nicht irgendwann ein bisschen langsamer angingen, würden es bald mehr als die Finger sein.
Nicht dass es irgendeine Rolle spielen würde. Es war sowieso falsch, egal aus welchem Winkel man es betrachtete. Meine immer stärker werdenden Schuldgefühle bestätigten das. Je häufiger wir uns sahen, umso mehr stellte ich mir vor, dass Eddie es herausfand und wie es ihn verletzen würde. Und das war das Letzte, was ich wollte.
Mit ihm zu telefonieren oder zu schreiben hätte so viel geändert. Das war zumindest mein Gefühl. Entweder hätte er eine Erklärung für alles, was Fen mir erzählt hatte, und meine früheren Gefühle für ihn würden zurückkehren – oder eben nicht. Doch in die Funkstille hinein konnte ich dieses Gespräch nicht führen.
Ein Teil meines Hirns erinnerte mich daran, dass Eddie mich schon oft genug geghostet hatte. Und zwar … sehr oft. Er tauchte ein paar Wochen ab und dann war er wieder supernett. Aber hätte Jasmine irgendwas von ihm gehört, hätte sie mir sicher Bescheid gesagt. Und es war auch keine Entschuldigung dafür, dass er mir nicht auf meine Nachrichten geantwortet hatte. Er hatte gewusst, dass ich für den Sommer an den See kommen würde. Er muss ihm klar gewesen sein, dass ich früher oder später in Fen rennen würde – er hatte mich ja extra gewarnt, mich seinem Bruder zu nähern, natürlich war es ihm klar gewesen. Hätte er mich nicht irgendwie darauf vorbereiten sollen?
Oder war mir gerade jede Ausrede recht, damit ich wegen dem, was ich mit Fen tat, kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte?
Vielleicht konnten wir beim Lunch bei Jasmine das Thema Eddie einfach umgehen. Vielleicht konnte ich um ihn herumreden, wie ich bei Norma um Dinge herumredete. Umlenken und ablenken. Darin war ich gut.
Und wer würde bei diesem Lunch überhaupt dabei sein, nur sie und ich und die Zwillinge? Sie hatte ja betont, dass es an einem Tag sein würde, an dem Serj nicht zu Hause war. Vermutlich war das besser so, dann würde er keine peinlichen Fragen wegen des Apartments stellen.
Argh. Log ich mir da selbst in die Tasche? Übertrieb ich mit diesem Lunch?
Ich überlegte, einen Rückzieher zu machen. Ich fragte sogar Fen, was ich tun sollte. Er schrieb bloß zurück: Jasmine Sarafian versetzt man nicht. Zumindest nicht, wenn du deine Zähne und Zehen behalten willst. Scheint dir wohl nix anderes übrig zu bleiben, als mit meiner überkandidelten Familie abzuhängen.
Ich wünschte mir so sehr, dass Jasmine mich mochte. Ich wollte wieder an den Punkt zurück, an dem ich diese Tochterliebe für sie gespürt und sie mir das Gefühl vermittelt hatte, dass alles gut würde. War das möglich?
Ich würde wohl also gehen. Schließlich war es nur ein Lunch. Vielleicht würde es okay laufen. Und wenn es eine Quälerei war, wie lange konnte ein Mittagessen mit einer überkandidelten Familie schon dauern?
Her mit den Verrückten!
Velvet fühlte sich besser – die Krämpfe hatten nachgelassen – und ging wieder mit ihren Freunden aus. Noch mehr Probleme für mich. Doch als ich ihr erzählte, wo ich zum Lunch hinging, lieh sie mir ein gestreiftes Top, das nicht wie ein ausgeleierter Sack aussah – juhu – und außerdem ziemlich gut zu dem weiten Rock und den schwarzen Ballerinas passte, die ich dabeihatte.
Voilà. Total akzeptabel. Ich sah fast aus wie eine Studentin – Exie sprach es sogar aus und lieh mir ein hübsches rotes Armband, um mein Ensemble zu vervollständigen, als ich Frida Starla übergab. Sie hatte sich bereit erklärt, ein paar Stunden auf das Hündchen aufzupassen. Dad erledigte etwas für Mad Dog, ich war erleichtert, nicht seinem stummen vorwurfsvollen Blick standhalten zu müssen. Dafür musste ich den von Norma ertragen, als sie mich beim Hinausgehen erwischte und heranwinkte. »Hey, kommen Sie mal.«
Erst dachte ich, ich bekäme Ärger, weil ich mitten am Tag etwas Privates unternahm, doch sie drückte mir eine Flasche Wein in die Hand. Nicht irgendeine Flasche, sondern eine richtig teure vom Weingut von Mad Dogs Ex-Frau. »Soll ich die Rosa bringen?«, fragte ich.
»Nein, Sie sollen der Mutter des Jungen etwas mitbringen. Das gehört sich so. Aber verraten Sie Mad Dog nicht, dass ich sie Ihnen gegeben habe.« Sie drehte sich um und zeigte auf die anderen im Raum. »Und von Ihnen sagt auch keine was, verstanden?«
Norma brach die Regeln? WAS WAR HIER LOS?
»Das kann ich nicht annehmen.« Ich war verlegen. Zum einen wollte ich Norma nichts schuldig sein. Und zweitens dachten alle, ich ginge wegen Eddie zu diesem Essen. Und in gewisser Weise … tat ich das ja auch. Es war bloß alles wesentlich verworrener, weil ich so viel Zeit mit Fen verbracht hatte.
»Nun gehen Sie schon«, sagte sie und drückte mir die Flasche in die Hand. »Und machen Sie uns keine Schande.«
Exie sah mich hinter Normas Rücken mit großen Augen an: Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
Allmählich wurde es echt schräg und ich wollte nicht zu spät kommen. Nachdem Starla versicherte, dass sie unseren gemeinsamen Wagen nicht brauchen würde, fuhr ich aus der Garage und schrieb Jasmine, dass ich unterwegs war. Sie zu fragen, wo sie wohnte, kam mir blöd vor, ich hatte das Gefühl, ich sollte das wissen. Also schrieb ich Fen. Das war mir auch unangenehm, aber er schien es okay zu finden: Wenn du dich noch einmal entschuldigst, werde ich dich zur Strafe zwingen, Steely Dan in Endlosschleife zu hören. So wie ich den ganzen Morgen im Plattenladen, dank meiner Tante. FML
Er schickte mir die Adresse und ich gab sie ins Navi ein. Andere Seite des Sees, die exklusive Gegend unterhalb des Mission Bluff – wie Jasmine es im Apartment gesagt hatte. Das Navi riet mir, nicht die normale Route in die Stadt zu nehmen, sondern stattdessen über das Grundstück auf irgendeine seltsame Nebenstraße Richtung Niemandsland zu fahren.
Es war wieder ein wunderschöner Tag am See und alle Nicht-Nadelbäume waren saftig grün und dicht belaubt. Überall in dem anheimelnden Wald entlang der Privatstraße glänzten die Zweige im Sonnenlicht. Die Straße wand sich um einige Nebengebäude der Lodge, wie das Haushälterinnen-Cottage und eine kleine Hütte, die Poker Shack genannt wurde. An der Kreuzung zur Grotto Cabin bog ich ab, doch statt zum See zu fahren, nahm ich die andere Richtung – in die ich noch nie gefahren war. Zur Rückseite des Grundstücks. Wo mein Weg auf eine schmale öffentliche Straße stieß, die Bluff Road. Es gab kein Ausfahrtstor, ich konnte einfach weiterfahren. Kein Wunder war Kamal so nervös wegen der potenziellen »Sicherheitslücken« rings um die Lodge. Hier konnte jeder hereinspazieren.
Oder hinausspazieren.
Ich fuhr ein paar Minuten, ohne anderen Autos zu begegnen, dann brach zu meiner Rechten die Sonne durch die Bäume und der See tauchte auf. Komisch, ihn von dieser Seite zu sehen. Er war nur ein paar Meter von mir entfernt, und die Straße verlief eine lange träge Weile parallel zum Wasser. Ich kam an einem alten State-Ranger-Gebäude vorbei und auf meiner Linken an einer Auffahrt mit einem schrägen Briefkasten voller schwarz-weißer Dalmatiner-Punkte. Weiter oben, zurückgesetzt im Wald, war ein rotes Haus zu sehen.
Kurz darauf entdeckte ich rechts hinter einem pompösen Tor die Auffahrt zur steinernen Villa der Sarafians.
Sie war nicht mit der Lodge zu vergleichen, bei Weitem nicht. Aber sie war auf andere Art beeindruckend, weil sie so viel näher am Wasser lag und mit ihrem Obergeschoss eher ein klassisches See-Haus war – umgeben von Kiefern und grüner als grünem Gras und beinahe schon zu vielen Trittplatten.
Instagram-schön, vor allem in der strahlenden Mittagssonne.
Das Tor öffnete sich automatisch, als ich vorfuhr. Ich hielt neben einem weißen Catering-Van in der Auffahrt und atmete tief aus. »Du schaffst das«, machte ich mir Mut. Dann schob ich mein Handy in die Rocktasche, nahm den Wein und stieg aus dem Wagen.
Wie viele der größeren Häuser am See hatte auch dieses hier ringsum gepflasterte Terrassen, um möglichst viel Platz im Freien zu haben – und mehr Zeit draußen verbringen zu können, um auf den See und die Berge zu blicken. Unter einer davon befand sich der Hauseingang, zwei Türen hinter dekorativen schmiedeeisernen Gittern. Auf mein Klingeln wurde eine davon geöffnet. Eine ältere Frau mit kastanienbraun gefärbten Haaren und einem schmalen verkniffenen Mund starrte mich eine Weile unter schwarzen Wimpern hervor an.
»Ja?«, fragte sie ein wenig ungeduldig.
»Oh, hallo. Ich bin Jane Marlow. Mrs Sarafian hat mich zum Lunch eingeladen«, erklärte ich. »Sind Sie Ms Makruhi?« Fen hatte mir erzählt, dass die Haushälterin seiner Familie so hieß. Ich hielt es für einen guten Einstieg.
Sie wirkte überrascht. »Ja, kommen Sie herein. Hier entlang.«
Ugh. Hätte ich das vielleicht besser nicht sagen sollen? Norma würde es nicht gefallen, wenn Leute ihren Namen wüssten. Vielleicht hatte ich gerade einen Fauxpas begangen. Bring nie die Haushälterin oder den Koch gegen dich auf.
Sie führte mich in eine hohe Eingangshalle mit italienischen Fliesen und einem geschwungenen Treppengeländer. Und einem riesigen Glaskronleuchter, der wie ein Seeungeheuer aussah und überhaupt nicht zum Rest des Hauses zu passen schien.
»Das ist unser Chihuly«, sagte eine Stimme vom Ende der Treppe.
Als ich nach oben sah, entdeckte ich Jasmine, die in Jeans, High Heels und einem schulterfreien Top die Treppe herunterkam.
»Falls du ihn scheußlich findest, ich bin unschuldig«, fuhr sie fort. »Vor ein paar Jahren musste Serj unbedingt ein Objekt von diesem Künstler haben, aber mittlerweile sind wir es ziemlich leid, uns jeden Morgen einen explodierenden Oktopus anzuschauen, wenn wir die Treppe runterkommen.« Sie lächelte und streckte mir die Hand entgegen. »Wie geht es dir, Miss Jane? Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen.«
Ihre Finger waren warm, als sie meine Hand drückte. »Mir gehts gut. Vielen Dank für die Einladung … ähm, unter Ihrem explodierenden Oktopus.«
Sie lachte. »Gerne. Oh, ist die für mich?«, fragte sie, als ich ihr die Weinflasche reichte.
»Vom Haus. Ich habe sie nicht geklaut oder so. Norma lässt Sie grüßen.«
»Norma«, wiederholte sie und schubste mit ihrer Schulter gegen meine, wie Fen es immer tat. »Weicher Kern unter der harten Schale, was meinst du?«
Da war ich mir nicht so sicher. Bei etwas anderem schon. Irgendetwas roch ausgesprochen lecker nach Zitrone und Minze und Knoblauch. Bevor ich nachfragen konnte, kam eine dunkle Gestalt aus dem Schatten hinter der Treppe.
»Ani-jan, komm aus deinem Hinterhalt«, rief Jasmine. »Ich möchte, dass du Miss Jane kennenlernst.«
Ein schmales Mädchen trat in die Eingangshalle, sie hielt die Hände vor sich. Ein paar Jahre jünger als ich. Die Haare ebenso dunkel wie meine, aber megagerade und lang. Mit den größten braunen Augen, die ich je gesehen hatte, starrte sie mich an wie ein von Scheinwerfern geblendetes Tier. Ihre Nervosität übertrug sich auf mich.
»Hi«, begrüßte ich sie. »Ani? Du bist eine von den Zwillingen, richtig?«
Außer dass sie fünfzehn waren, wusste ich nicht viel über sie, Eddie sprach nur als »die Rotznasen« von ihnen. Sie sah aber überhaupt nicht wie eine Rotznase aus.
»Es ist kein Oktopus«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme war leise und sie verbarg einen Teil ihres Gesichts hinter dem Wasserfall aus dunklen Haaren. »Er hat hundertfünf Beine. Ein Oktopus hat acht.«
Ich schaute auf. »Echt? Da ist was dran.«
Jasmine schlang den Arm um die Schultern ihrer Tochter. »Ani mag Zahlen.«
»Ich mag Genauigkeit«, korrigierte sie das Mädchen.
»Sie treibt mich gern in den Wahnsinn, mein kleiner Nerd.« Jasmine küsste sie liebevoll auf die Wange, bis das Mädchen verlegen lächelte und sich losmachte. »Komm, Miss Jane. Wir essen draußen im Garten und genießen das schöne Wetter.«
Ich folgte ihnen durch die Halle in ein luftiges Wohnzimmer mit einer hohen Fensterfront und Blick über den See. So was von genial, das Wasser quasi direkt vor der Tür zu haben. Es war nur die Terrasse dazwischen, ein grüner-grüner Abhang und ein Steg. Richtig nah. Und im Gegensatz zur Lodge fühlte sich dieses Haus wie ein Zuhause an. Ich hatte Glamour erwartet – signierte Fotos von irgendwelchen Rap-Stars vielleicht. Aber es gab etwas viel Besseres. Familienfotos an der Wand. Bilder der heiligen Perpetua und der heiligen Felicitas unter einem verschnörkelten goldenen Kreuz. Ein Flachbildfernseher, auf dem gerade stumm irgendeine Anime-Serie lief. Eine über den Stuhl geworfene Jacke. Ein Fußball in der Ecke.
Lebenszeichen.
In der Lodge räumten wir Hausangestellten so was alles weg.
»Beweg dich, Ari«, sagte eine tiefe Stimme aus einem dunklen Flur.
Ari … Das musste Anis Zwillingsbruder sein.
Der Junge ließ ein Brummen hören und taumelte ins Wohnzimmer. »Hey! Fucker!«, beschwerte er sich.
»Keine Kraftausdrücke!«, warnte Jasmine.
Mein Puls ging schneller, als Ari sich zu der Person im Flur umdrehte. Einen Moment lang sah ich nur ein Wirrwarr aus dünnen Jungsarmen, die – so wirkte es zumindest – gutmütig miteinander rangen. Das Ganze spielte sich hinter einer großen Monstera-Pflanze ab, die größer war als ich, deshalb konnte ich nicht viel erkennen. Bloß, dass Ari ebenso schmal war wie seine Zwillingsschwester und dieselben dunklen glatten Haare hatte, die ihm über die Schultern reichten. Sehr Metal.
Mit einem letzten Schubser wurde Ari ins Wohnzimmer geschoben. »Autsch! Lass das, du Blödmann – du hast gewonnen. Mama! Sag ihm, dass er aufhören soll«, beschwerte er sich.
Moment. Wer sollte aufhören?
»Schluss jetzt, Jungs. Versucht ein bisschen unterhaltsamer zu sein, wenn wir Besuch haben«, wies Jasmine den atemlosen Zwillingsbruder und die Person an, die siegreich hinter ihm ins Wohnzimmer stolzierte.
Fen. Die Haare völlig zerzaust vom Ringkampf. Im Ausschnitt des kurzärmligen schwarzen Hemdes, das er locker über weichen grauen Shorts trug, hing schief eine zusammengeklappte Sonnenbrille.
»Das ist mein Bruder«, erklärte mir Ani.
»Äh, ja, schön, dich kennenzulernen«, sagte ich zu Ari, starrte aber Fen an, weil mir ganz schwummrig war an Stellen, wo mir nicht schwummrig sein sollte. In meinem Kopf. Den Füßen. Den Rippen. Oh, ich wäre so gern sauer auf ihn gewesen, weil er mir nicht gesagt hatte, dass er hier sein würde. Wirklich. Aber mein Körper freute sich so, seinen Körper zu sehen – hallo, Freund –, dass ich mich nicht aus dem hypnotisierenden Bann befreien konnte, den er gesponnen hatte.
Wer hatte doch gleich einen Hexenofen? Nicht ich. Er war der dunkle Zauberer. Hätte er die Hand gehoben und mir befohlen, vor ihm auf die Knie zu fallen, hätte ich es womöglich getan.
»Fennec«, befahl Jasmine mit einer Stimme, die von weit her zu kommen schien.
»Du brauchst sie einander nicht vorzustellen, Mama«, bemerkte Ani trocken.
Ich blinzelte und warf dem Mädchen einen panischen Blick zu – sie wusste eindeutig, dass zwischen Fen und mir was lief. Dann spähte ich zu Ari, der zu meiner Erleichterung verwirrt aussah. Schließlich sah ich zu Jasmine, deren Miene sich nur als selbstzufrieden bezeichnen ließ. Keine Ahnung, warum. Jasmine bewegte sich auf einem anderen Spielfeld als wir Normalsterblichen. Aber sie heckte irgendetwas aus, das mein schlechtes Gewissen anfachte und mir Magenkrämpfe verursachte.
Auf meiner Stirn bildete sich Schweiß.
Das hier würde das längste Mittagessen aller Zeiten werden.
Wir gingen nach draußen auf die große Gartenterrasse. Dort gab es eine Außenküche mit Bar und einen langen Esstisch aus Zedernholz. Das grüne Gras darunter erstreckte sich bis zu einem Steg, an dem ein schwarzes Rennboot festgemacht war und auf dem vier Liegestühle auf Sonnenanbeter warteten.
»Wie geht dir es so?«, erkundigte sich Fen geheuchelt formell, als wir hinter dem Rudel zurückblieben. Sie konnten uns immer noch hören, ebenso wie die zwei Caterer, die am Grill das Essen vorbereiteten. Hier gab es keine Privatsphäre. Doch als niemand hinsah, fuhren seine Finger über meine Handfläche.
Ich holte scharf Luft und zog meine Hand weg. »Richtig gut geht es mir. Hallo, übrigens.«
Er gluckste in sich hinein, ein dunkles kleines Lachen. Kaum wahrnehmbar, aber ich hörte es. Ich traf die Luft, als ich nach seinem Arm ausholte, aber irgendwann erwischte ich ihn. Er räusperte sich und sah mich an. Das Lächeln in seinen Augen versetzte mich in leise Aufregung.
Sooo ein langes Mittagessen.
»Ich dachte, du wohnst nicht mehr hier«, brachte ich schließlich heraus. »In diesem …« Verdammt. Mir fiel das Wort nicht ein. »Text?«, flüsterte ich leicht verzweifelt.
»Haus?«, riet er, und als ich bestätigend auf ihn zeigte, redete er weiter. »Der Besitzer des Hauses ist nicht in der Stadt; sobald das der Fall ist, schleiche ich mich wieder ein wie ein armes Bettlerkind.«
»Unser Dad ist ein Idiot«, erklärte Ari auf einen Stuhl gestützt.
Jasmine deutete mit dem Finger auf ihn. »Nein. Dein Vater gibt sich Mühe. Wir lieben und respektieren ihn. Er ist ein guter Mann.«
Ani hielt die Hände hoch. »Er ist ein wichtiger Mann. Lass uns präzisere Wörter benutzen, Mama.«
»Wichtig«, wiederholte Jasmine lächelnd. »Einverstanden.«
»Absolut nicht einverstanden«, brummte Fen.
»Ja, ich bleibe auch bei ›Idiot‹«, stimmte Ari zu.
Jasmine ließ den Kopf hängen. »Heiliger Georg, hilf mir, diese boshaften Kinder zu zähmen.«
»Können wir essen, bevor wir den Zorn der Heiligen auf uns ziehen?«, fragte Ani. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Ja, meine Süße«, sagte Jasmine und winkte mich zu dem Zederntisch.
Ich setzte mich mit dem Rücken zum Haus auf einen Stuhl, sodass der See vor mir lag, und es entging mir nicht, dass Fen um seinen Bruder herumlief, um sich neben mich zu setzen. Im Gegensatz zu Jasmine, die uns gegenüber Platz nahm. Damit sie uns besser beobachten konnte, wurde mir mit zunehmendem Schrecken bewusst.
War das hier ein Test, weil sie den Verdacht hatte, dass Fen und ich zusammen waren? Oder wollte sie Fen provozieren, weil sie wusste, dass er in mich verliebt gewesen war, als wir noch jünger waren? Team Eddie oder Team Fen? Nicht zu wissen, was sie vorhatte, war mehr als frustrierend.
Aber es war nicht nur ihr wachsamer scharfer Blick. Alles war anstrengend. Die Zwillinge waren neugierig und die Caterer brachten große Platten mit Essen und stellten sie auf den Tisch, damit sich jeder nehmen konnte. Es war schön und roch wundervoll, aber ich hatte keine Ahnung, was irgendwas davon war. Falafel? Waren das Salate? Keine Ahnung, aber das war mir auch ziemlich egal, viel schräger fand ich es, bedient zu werden.
Normalerweise war ich diejenige, die andere bediente, die im Hintergrund wartete und nur hier und da einen flüchtigen Blick auf die schöne Aussicht erwischte, obwohl ich lieber am Tisch gesessen und sie von dort genossen hätte.
Ich sollte nicht hier sein, oder? Nicht neben Fen sitzen. Ich hatte eine Affäre, so sah es aus. Ich war eine Hochstaplerin. Eine Schummlerin.
Eine Betrügerin.
Doch selbst als ich mir die schweißnasse Stirn abwischte und kurz vor einem Nervenzusammenbruch war, fiel es niemand auf. Nicht mal Fen. Er war … außergewöhnlich glücklich. Strahlte förmlich. Als er sein nacktes Bein unter dem Tisch gegen meines presste, fuhr ich zusammen. Er bekam es mit. Ohne mich anzusehen, legte er fest die Hand auf mein Knie, nicht sexy, sondern beruhigend. Ich atmete lange und langsam aus und schloss kurz die Augen.
Ich konnte das schaffen.
Er drückte sanft mein Knie und ich legte meine Hand auf seine. Dann schauten wir uns unter gesenkten Lidern an und ließen uns wieder los. Ich blickte über den Tisch. Hatte Jasmine was mitbekommen? Ich konnte es nicht einschätzen.
»Es riecht wundervoll«, sagte ich.
Fen schüttelte den Kopf. »Keine Angst, wir erklären dir, was das alles ist. Hast du in L.A. schon mal libanesisch gegessen?«
Ich entdeckte vertraute quietschpinke eingelegte Gurken. »Du meinst so was wie Zankou Chicken?«
Er hielt den Daumen hoch und seine Mutter jubelte. »Armenisch! Ganz genau, Miss Jane.«
»Mein Vater ist süchtig nach der Knoblauchsauce dort«, sagte ich.
Sie deuteten auf die entsprechende Schale und dann auf die vielen anderen Gerichte, darunter Hummus, Tabbouleh und ein fleischloses Tatar aus Bulgur.
»Den Fattoush rührst du lieber nicht an, es sei denn, du stehst auf vermatschtes Brot«, riet mir Ani, als die Caterer außer Hörweite waren.
Doch als sie Hühnchen- und Krabben-Kebabs brachten, die nach Zitrone und Rauch dufteten, schlugen alle zu.
»Krabben!«, freute sich Fen.
»Ich fang gleich an zu heulen«, stimmte Ari zu und packte sich den Teller mit angekokelten Krabben-Spießen voll.
»Kriegt euch ein«, sagte Jasmine. »Ihr tut ja gerade so, als würde ich euch nichts zu essen geben.«
Fen erklärte es mir. »Mein Vater hasst Krabben und kriegt einen Anfall, wenn er sie hier im Haus sieht – brüllt Caterer mitten während einer Party an, und sein Blutdruck erhöht sich gefährlich, so in der Art, weißt du.«
Jasmine seufzte. »Wir haben alle unsere Marotten. Lassen wir uns nicht diesen schönen Nachmittag verderben. Esst einfach eure Krabben und lasst es euch gut gehen. Und wenn einer von euch es ihm erzählt, werde ich es abstreiten und vergessen, dass ich euch je gekannt habe.«
Ani grinste und nahm sich stumm noch zwei weitere Spieße. »Können Sie bitte alle Garnelen grillen, die Sie dabeihaben?«, rief sie dem Caterer zu. Und zu uns: »Was denn? Das sind nämlich keine Krabben, sondern Garnelen.«
Danach wurde alles besser. Krabbe oder Garnele, der begehrte Kebab hatte es verdient, dass man sich den Teller vollpackte – er war einfach so unfassbar lecker, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Wir ließen es uns schmecken und redeten über Essen … und über Serj, was Jasmine fast verzweifeln ließ. Aber es drängte sie in die Defensive, und solange sie dort war, hatte ich etwas Luft zum Atmen. Die meisten Bemerkungen waren gutgelaunte Frotzeleien. Fen hielt sich mit seiner Wut auf seinen Vater zurück, und Ari war nur gemäßigt gehässig, einfach ein normaler, leicht reizbarer Teenager. Nichts Ernstes.
Doch als Fen mich »eine aus dem Elfenvolk« nannte, weil meine Fersen im Sitzen nicht den Terrassenboden berührten, wandte sich das Gespräch irgendwann dem fehlenden Sarafian-Bruder zu. Ani begann die Körpergröße jedes Familienmitgliedes herunterzuleiern – sie hatte ebenso wie Fen die hochgewachsene Statur ihrer Mutter geerbt.
»Eddie ist ungefähr sechs Zentimeter kleiner als ich«, erklärte sie.
Ups. Nächstes Thema bitte. Doch nun hing es schon in der Luft, und ich konnte spüren, wie Jasmines Augen mein Gesicht musterten. Bitte frag mich nicht wegen der Wohnung.
»Übrigens«, sagte sie leise und ruhig. »Ich hatte eine Rückmeldung von Gordon.«
Mad Dogs Anwalt.
»Ach ja?« Es brachte mich völlig aus dem Gleichgewicht. Ich wollte nicht vor allen darüber reden. Schon gar nicht vor Fen. Ich fühlte mich von ihr in die Ecke gedrängt und gezwungen, die Rolle der geduldigen loyalen Freundin zu spielen, die auf Nachricht von ihrem vornehmen, Kontinente entfernten Verehrer wartete.
Sie nickte. »Sie hatten irgendein juristisches Schlamassel mit dem Zoll. Aber Serjs Anwalt scheint alles geregelt zu haben.«
Äh …? Was?
»Juristisches Schlamassel?«, wiederholte Fen. »Was zum Teufel soll das bitte heißen?«
Jasmine hob die Hände und zuckte langsam mit den Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht, Schatz. Dein Vater trifft sich heute deswegen mit jemandem aus der Bay.«
Oje. Das verhieß nichts Gutes.
»Ist mit Eddie alles in Ordnung?«, erkundigte sich Ani, sie klang besorgt.
»Natürlich«, antwortete Jasmine lächelnd. »Dein Vater wird alles regeln. Keine Sorge.«
Mit einem Mal senkte sich ein Schatten über den Tisch. Ich hörte zwar, was sie sagte, aber ich war durcheinander. Es kam mir vor, als hätte mir gerade jemand erzählt, dass ein lange tot Geglaubter lebend aufgefunden wurde. Plötzlich tat Eddie allen leid, sogar mir.
Die ganzen Nachrichten, die ich geschickt hatte … Vielleicht hatte er mich ja doch nicht absichtlich geghostet?
Ich fühlte mich schrecklich. Grauenvoll.
Wie der letzte Abschaum.
Ich war die schlimmste Freundin aller Zeiten.
Fen schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Scheiß drauf! Da steckt doch mehr dahinter und ich verwette meine komplette Plattensammlung, dass es Eddies Schuld ist.«
»Fennec«, warnte ihn seine Mutter. »Hör auf, deinen Bruder vor Jane schlechtzumachen.«
Er warf ihr einen finsteren Blick zu, seine Muskeln waren angespannt, die Faust auf die Tischkante gestützt. Keiner sagte etwas. Meine Brust fühlte sich an, als würde sie jeden Moment unter dem Druck nachgeben.
Ich musste etwas sagen. Bloß was?
Ich versuchte hier gerade, auf einer Zehenspitze auf einem aktiven Vulkan zu balancieren – und war das etwa besser, als auf dem Geländer des Wehrs zu sitzen?
War es nicht. Ich konnte mich jetzt zu Wort melden und einen Schlussstrich ziehen. Reinen Tisch machen. Jasmine erzählen, dass ich mit Fen zusammen war. Sie wusste es sowieso schon. Oder? Vielleicht? Und falls dem so war, dann war die Einladung heute vielleicht eine Art Unterstützung für Fen. Fen und mich. Der Gedanke – dass noch jemand unser Geheimnis kannte und uns trotzdem nicht ins Gesicht spuckte und erklärte, wie schrecklich wir waren – sorgte dafür, dass mir einen kurzen Moment lang nicht mehr ganz so übel war.
Ich sollte es ihr einfach sagen. Aber ich war eh schon ein Eindringling und alles in diesem Haus fühlte sich so zerbrechlich an. Es gab bereits jede Menge Spaltungen. Das hatte ich vorher gewusst, aber hier in ihrem Zuhause zu sitzen, zusammen mit den Zwillingen? Das machte es plötzlich viel zu real. Vielleicht würde die ganze Familie auseinandergerissen. Und was konnte kostbarer sein? Ich hätte alles gegeben, um nur die Hälfte von dem zu haben, was sie hier hatten, die Familienfotos und das Gefrotzel und die gemütlichen Sofas und die Mutter, die versuchte, alles zusammenzuhalten.
Ich durfte das nicht zerstören. Was sollte ich tun?
»Jane?« Fen runzelte besorgt die Stirn.
»Ich …« Ich sah zu den Augen, die mich rings um den Tisch anstarrten, und fühlte mich wie ein Feigling.
Fens Hand legte sich leicht auf meine Schulter. »Hey. Hast du Lust auf eine Hausbesichtigung?«
Ich schluckte. Warf einen Blick zu Jasmine.
»Das ist eine gute Idee.« Sie klang nicht übermäßig enthusiastisch. »Ihr könnt auch mit dem Boot rausfahren.«
Fen stupste mich an. »Komm«, flüsterte er.
»Ich habe gehört, dass Mad Dog eine Kegelbahn in der Lodge hat«, sagte Ari. »Aber dafür haben wir eine neue Popcorn-Maschine in unserem Heimkino.«
»Da kann man das Popcorn drinlassen und am nächsten Tag schmeckt es immer noch«, erklärte Ani.
Jasmine scheuchte uns mit einer Handbewegung fort, doch ihre Unruhe war unübersehbar. Fen hatte seine dunkle Ernsthaftigkeit von ihr geerbt. Wie sie so mit verschränkten Armen am Tisch saß, schien sich im sonnigen Nachmittagslicht ein Sturm über ihr zusammengebraut zu haben. Ich folgte Fen und den Zwillingen und wir liefen auf einem gepflasterten Weg den Abhang hinunter. Ich war nicht sicher, ob zu schweigen die richtige Entscheidung gewesen war.
Aber was konnte ich jetzt noch tun?
Ich hätte gern mit Fen geredet, doch wir würden in absehbarer Zeit nicht allein sein – das zeichnete sich schon ab. Den tiefen Seufzern nach zu schließen, und wie er zu Aris Kommentaren die Augen verdrehte – der sich unaufgefordert zum inoffiziellen Fremdenführer erklärt hatte –, war Fen das auch klar.
Jedenfalls blieben wir alle zusammen und schlenderten über das Grundstück. Sie zeigten mir ihren Basketballplatz. Die Sauna, die nur an den kältesten Tagen des Jahres benutzt wurde. Das Rennboot ihres Vaters. Eine Feuerstelle am Ufer, wo Ari einmal in einen Nagel getreten war, der sich durch seinen Fuß gebohrt hatte – er zog den Schuh aus, um mir die Narbe zu zeigen.
Oh Mann, diese Zwillinge gaben keine Ruhe. Als wir wieder zum Haus zurückgingen, warf ich Fen einen Blick zu. Das breite Lächeln, mit dem er reagierte, machte mir etwas klar: Er liebte die beiden und er war glücklich, zu Hause zu sein. »Ich glaube, ich sollte dann bald mal gehen«, sagte ich leise, als wir uns die Füße an der Türmatte abwischten. »Dann kannst du Zeit mit deiner Familie verbringen oder was auch immer …«
Er fasste mich am Handgelenk, sanft, aber fest. »Bitte bleib noch.«
Ms Makruhi steckte den Kopf um die Ecke. »Gleich gibt es Dessert. Torte.«
»Magst du Torte?«, fragte Fen.
»In jeder Art und Form«, antwortete ich. »Bin noch nie einer Torte begegnet, die ich nicht mochte.«
»Sie werden meine Torte lieben«, versicherte mir Ms Makruhi. »Mikado. Was Besonderes. Fens Lieblingskuchen.«
Fen legte die Hände wie zum Gebet zusammen und hob sie ihr entgegen. »Der allerbeste. Ich werde die Hälfte davon verdrücken – bereite dich darauf vor, Völlerei in Aktion zu sehen.«
Ms Makruhi winkte ab, aber sie schien sich zu freuen.
Wir gingen nach oben und ich bekam sowohl Aris als Anis Zimmer gezeigt (heilloses Chaos beziehungsweise penibel aufgeräumt). Nach einer Weile im Spielzimmer gingen wir alle in Fens ehemaliges Zimmer.
»Ich muss noch was mitnehmen«, nuschelte er und steuerte auf einen Schrank zu. »Da ich nur alle paar Monate hier bin, muss ich Zeug mopsen, wann immer ich kann.«
Die Zwillinge bewegten sich ungezwungen und ich sah mich um. Der Raum war riesig im Vergleich zu meiner Kammer in der Lodge. Ein Doppelbett und eine kleine Sitzecke mit einem Schreibtisch. Ein Gaming-Sessel und ein Computermonitor, an den allerdings kein Rechner angeschlossen war. An den Wänden hingen Bandposter und Album-Flats, vermutlich aus dem Laden. Viele davon signiert, was mich nicht weiter überraschte. Es war bloß seltsam, sie so nachlässig mit Reißzwecken an der Wand befestigt zu sehen, als wären sie nichts Besonderes.
In der Ecke stand neben einem Sitzsack ein Bass, außerdem der leere Ständer eines Keyboards. Im Regal neben mir stapelten sich Noten, Trophäen und Bänder. Ich beugte mich vor, um die Beschriftung zu lesen. Sie stammten aus der Grundschule und der Junior High.
»Du warst im Orchester?«
Er nuschelte etwas in den Schrank, dann zog er den Kopf heraus und sah mich an. »Was? Ja.«
Ani ließ sich aufs Bett plumpsen. »Lass dir nichts weismachen. Fennec ist ein Virtuose.«
»Nerd trifft es eher«, stichelte Ari.
Ich wollte Fen gerade fragen, welches Instrument er gespielt und warum er aufgehört hatte, als wir Geschrei hörten.
Fen richtete sich auf. »Fuck.«
»Oh nein«, murmelte Ari.
»Schleich dich aus der Seitentür«, schlug Ani vor und sprang aus dem Bett. »Ich geb dir Rückendeckung.«
Was war hier los? Aber eigentlich war es schon klar, denn Fen ließ, was immer er aus dem Schrank hatte abstauben wollen, fallen.
Serj.
Fen streckte mir die Hand entgegen. »Komm. Ich bring dich nach Hause. Wir müssen jetzt los.«
»Ich bin mit dem Auto hier.«
»Fuck. Ich muss verschwinden.« Er ging auf Ari zu und drückte seinem Bruder einen Kuss aufs Ohr. »Bye, du Pfeife.«
Ani rannte zu ihm und schlang wie ein Äffchen die Arme um seinen Hals. »Sei vorsichtig. Stirb nicht.«
»Werd mir Mühe geben«, versprach er und drückte sie fest. »Lasst nicht zu, dass er euch scheiße behandelt, okay?«
Ich bekam Panik, als würde Fen auch mich verlassen. Gleichzeitig hatte ich das dringende Bedürfnis, ihn rauszuschaffen.
»Was kann ich tun?«, fragte ich.
»Lenk ihn ab«, sagte er. »Rede mit ihm, während ich abhaue. Shit. Meine Schlüssel! Ich muss mich erst noch ins Wohnzimmer schleichen. Hoffentlich haben sie ihn bloß abgesetzt und er hat den Jeep in der Garage nicht gesehen.«
»Ich bring dich runter«, erklärte Ani, dann zu Ari: »Du gehst mit Fen und hältst Wache.«
Wir verließen das Zimmer, aber als wir das Ende der Treppe erreichten, dröhnte eine laute Stimme durchs Haus.
»FENNEC.«
Wir wirbelten geschlossen herum. Da stand Serj im Rahmen der Wohnzimmer-Terrassentür. Jasmine zog an seinem Arm.
Serj. Wütend wie ein Bulle, Fen im Visier.
»Verschwinde aus meinem Haus!«, brüllte er und deutete mit dem Finger auf seinen Sohn.
»Schönen guten Tag auch«, sagte Fen mit dunkler Stimme.
»Was bildest du dir ein? Du hast hier nichts zu suchen. Ich sollte die Polizei rufen. Ich wusste, dass ich ein Hausverbot hätte durchsetzen sollen.«
»Serj!«, fuhr Jasmine ihn an. »Ich habe ihn eingeladen. Nimm dich zusammen. Denk an deinen Blutdruck und was der Arzt gesagt hat.«
»Und was ist das?« Serj deutete in meine Richtung.
»Hast du dein Hirn in der Stadt vergessen?«, fragte Jasmine. »Das ist Eddies Freundin, Jane. Du hast sie in der Lodge kennengelernt.«
Serj runzelte die Stirn und knurrte: »Ich weiß, wer Mad Dogs Mädchen ist –«
»Ich bin nicht –«, versuchte ich zu widersprechen, doch meine zaghafte Stimme hatte keine Chance gegen seine.
»– aber ich weiß nicht, warum sie hier ist.« Er hob übelgelaunt den Kopf. »Und warum in aller Welt riecht es hier nach Krabben?«
»Wir haben bloß zu Mittag gegessen.« Jasmine klang gereizt. »Mach dich nicht lächerlich.«
»Ich möchte nur Frieden und Normalität, wenn ich nach Hause komme«, kläffte er.
»Keine Sorge, Mama. Ich gehe«, sagte Fen und nahm einen Schlüsselring von einem Beistelltisch. »Mr Wichtig hier kann sich dann wieder damit beschäftigen, seinen Lieblingssohn aus dem juristischen Schlamassel rauszuholen, in das er sich im Ausland gebracht hat.« Seine Stimme triefte vor Säure.
Serj hatte sich schon abgewandt, doch jetzt drehte er sich wieder um. »Könntest du vielleicht ein einziges Mal Mitgefühl mit deinem Bruder haben?«
»Mitgefühl?«, schnaubte Fen.
»Vielleicht könntest du ausnahmsweise mal ein bisschen Klasse zeigen. Versuche, an ihn zu denken statt an dich.«
»Oh, ich platze fast vor Mitgefühl für Eddie. Ich fließe geradezu über. Genau genommen halten wir es vor Spannung kaum aus, endlich zu hören, in welche Schwierigkeiten sich der charmante Dreckskerl dieses Mal gebracht hat.«
»Er sitzt auf den Philippinen wegen Drogenbesitz im Gefängnis«, brüllte Serj Fen an. »Macht dich das glücklich? Dann nur zu – genieß es.«
Fen sah so erschrocken aus, wie ich mich fühlte. Es war wie ein Schlag ins Gesicht.
Gefängnis. Eddie saß im Gefängnis. In einem fremden Land.
Alles, was Fen mir erzählt hatte, war wahr. Über Eddie.
Über Serj, der ein brüllender, wütender Idiot war.
Aber vor allem über Eddie.
Serj zuckte mit den Schultern und machte eine dramatische Handbewegung, als sei sein aufgestauter Ärger verbraucht und er einfach nur noch sehr müde. »Wie gefällt dir das? So was von scheißpeinlich«, brummte er und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Drogen. Natürlich waren wieder Drogen im Spiel. Er hat mir versprochen, dass er die Finger davon lässt, aber das war eine Lüge.«
Oh mein Gott.
»Papa«, warnte Jasmine ihn und sah dabei mich an. Die Zwillinge. Ms Makruhi, die mit einer Kuchenplatte hinter ihnen hereingekommen war und wirkte, als würde sie gleich umfallen.
Doch Serj redete weiter, mehr mit sich selbst als mit Fen. »Weißt du, was sie dort mit Amerikanern machen, die mit illegalen Drogen erwischt werden? Ihm drohen zwölf Jahre Gefängnis. Minimum!«
»Zwölf?« Jasmine presste die Hand auf die Brust.
»Man geht nicht einfach in ein fremdes Land und ignoriert die Gesetze dort«, sagte Serj. »Wie oft haben wir darüber geredet? Es ist Regel Nummer eins bei Reisen!«
Schweigen legte sich über den Raum.
Mein Kopf war komplett leer. Nichts als Weiß. Ich war wie betäubt. Total geschockt.
Dann legte sich eine schreckliche Traurigkeit über alles. Eddie hatte ein Drogenproblem. Von dem ich nichts geahnt hatte, weil ich ihn überhaupt nicht kannte. Obwohl ich seine Freundin war.
Seine Freundin, die ihn mit seinem Bruder betrog.
Ich war ein schrecklicher Mensch.
Armer Eddie.
Mein Gott.
Als wären wir alle miteinander verbunden und würden dasselbe fühlen, atmete Serj tief aus. Er sackte in sich zusammen und schüttelte den Kopf. »Warum?«
»Mein Baby«, flüsterte Jasmine und wischte sich die Augen. »Mein dummes schönes Baby.«
»Ich werde es in Ordnung bringen, Mama«, versprach Serj mit sanfterer Stimme. »Ich habe mit der Frau im Konsulatsbüro geredet und mit dem Anwalt, von dem ich dir erzählt habe. Ich fliege heute Abend rüber und treffe mich mit Joe und Gordon. Ich werde den Vertrag unterzeichnen und Eddie aus diesem Schlamassel rausholen.«
»Ja, das wirst du«, sagte Jasmine. Sie war verletzt und besorgt, aber nun auch wütend. »Er hätte nicht ohne dich reisen sollen. Er hat schon oft genug bewiesen, wie unreif er ist. Das hier ist die Neuauflage von Weihnachten. Der Vertrag und das Festival sind mir egal – von mir aus kannst du alles an Live Nation übergeben. Aber unser Kind ist auf Abwege geraten.«
Serj schüttelte den Kopf. »Ich schmeiße nicht mein Lebenswerk weg, weil mein Sohn seine Nase nicht im Griff hat. Ich werde ihn rausholen, das Festival wird weiterlaufen und damit ist das Gespräch beendet.«
Ein Stein hatte den Platz meines Magens eingenommen. Mir war übel und komisch und ich kapierte überhaupt nicht, was vor sich ging. Ich drehte mich zu Fen, aber er stand nicht mehr da. Als ich durch den düsteren Flur zur Eingangshalle schaute, schloss sich gerade die Haustür.
Er war weg.