Ich entschuldigte mich und überließ die Sarafians ihrer Trauer. Ich gehörte nicht dorthin.
Ich war eine Fremde. Ein Eindringling.
Eine Betrügerin.
Als ich von der Villa wegfuhr, konnte ich mich gerade noch zusammennehmen, bis ich weit genug auf der Bluff Road war, um an den Straßenrand zu fahren. Und zu weinen.
Ich weinte für Eddie, weil er sich mir nie nahe genug gefühlt hatte, um von seinen Problemen zu erzählen. Und ich weinte, weil ich mich genau wie vor zwei Jahren fühlte, als ich nach seiner Zurückweisung im Wald auf dem Wehr gesessen hatte.
Weil ich offenbar nicht genug für ihn war.
Vielleicht war ich es nie gewesen.
Vielleicht hätte ihm ein anderes Mädchen helfen können. Hätte die Zeichen gesehen. Hätte ihn gedrängt, sich zu öffnen. Ich jedoch hatte, als ich seine Lügen herausfand, einfach aufgegeben und mit seinem Bruder weitergemacht.
Es waren allerdings große Lügen. Nicht nur, was die Drogen anging, sondern auch über den Vorfall, der mein Leben verändert hatte. Das war unverzeihlich. Und was er auf den Philippinen verbockt hatte, war mehr als dämlich. Trotzdem tat mir das Herz für ihn weh.
Die Vorstellung, welche Angst er gerade haben musste, machte mich ganz krank.
Eddie.
Mitten im Schluchzen blickte ich auf und stellte fest, dass ich vor dem Dalmatiner-Briefkasten gehalten hatte, an dem ich auf dem Hinweg vorbeigekommen war. Auf der Seite war in kleiner Schrift ein Firmenname aufgemalt: KASABIAN HUNDERETTUNG.
Es fuhr mir so in die Knochen, dass ich mich aus meiner Gedankenspirale lösen konnte. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und spähte die lange, steile Auffahrt hoch. Und in der Tat parkte ein weißer Jeep vor einem Zwinger.
Hunde lieben mich.
»Mist«, brummte ich, mein Herz raste. Hier wohnte Fen bei seiner Tante Zabel, eine Meile oder so von der Villa entfernt. Fast hatte es den Anschein, als würde uns das Universum immer wieder zusammenführen.
Schlechtes Timing, Universum.
Ein Teil von mir wollte zu ihm gehen und sich vergewissern, dass er okay war. Es hatte ihn wirklich mitgenommen, und für ihn war es bestimmt doppelt so schlimm, weil er auch noch mit seinem Vater aneinandergeraten war. Ich verstand die Familiendynamik dahinter nicht, aber ich wusste genug über Fen, um zu erkennen, dass ihm das alles schwer zusetzte.
Aber wollte er mich sehen? Das Mädchen, das im Mittelpunkt des ganzen Durcheinanders stand? Nach allem, was passiert war, konnte er mein Gesicht vielleicht gerade nicht ertragen.
Vielleicht brauchte ich auch ein bisschen Abstand.
Ich legte den Rückwärtsgang ein, bog wieder auf die Straße und fuhr schnell zur Lodge zurück, wo ich in der Garage den Kopf aufs Lenkrad legte. Zum Glück war mein Vater nicht in der Nähe – seine steinerne Miene, die mich für meine Entscheidungen verurteilte, wollte ich gerade nicht sehen.
Denn sie waren schlecht gewesen. Allesamt. Was sollte ich nun tun?
Ich schlich mich die Treppe in den Personaltrakt hoch und zog meine Uniform an. Auf dem Weg nach unten rannte ich in Norma.
»Sie sind schon zurück?« Sie musterte mich kritisch. »Was ist los?«
»Nichts.«
»Lief es okay?«
Norma würde ich garantiert nichts anvertrauen. Exie vielleicht, aber ich wusste nicht, wo sie war. Und so antwortete ich knapp: »Mrs Sarafian lässt Ihnen für den Wein danken.«
Norma nickte und spähte über die Schulter, als sei sie ertappt worden, dann ging sie ohne ein weiteres Wort davon. Nachdem ich mich mit einem Walkie-Talkie ausgerüstet hatte, entnahm ich dem Stimmengewirr in meinem Ohrhörer, dass Norma noch immer in heller Aufregung war wegen eines toten Eichhörnchens, das im Pool herumschwamm, und sie sich nicht entschließen konnte, ob sie die Poolfirma anrufen sollte oder die Tierrettung, oder ob sie es selbst herausfischen sollte.
Eddie würde womöglich auf den Philippinen im Gefängnis sitzen, bis er über dreißig war, doch hier bei den Larsens machten wir uns den Kopf wegen eines sauberen Pools.
Nachdem ich Frida gefunden hatte, stellte ich meinen Ohrhörer ab und versank, endlich allein, in meinen ängstlichen Gedanken über die Sarafians. Bis die eine Person in die Anrichteküche kam, die ich nicht ignorieren konnte.
»Ruhig hier. Wo sind sie alle?«, fragte Mad Dog, der keine Ahnung von dem Eichhörnchen im Pool hatte. Der König kümmerte sich nicht um alle Details in seinem Schloss.
»Draußen. Brauchten Sie etwas, Sir?«
Er seufzte. »Da fühl ich mich so was von alt, wenn du mich so nennst.«
»Sir?« Ich brauchte einen Moment, bis ich es kapierte. »Oh, sorry. Äh, Mad Dog.«
»Klingt schon besser.«
Er trug ein T-Shirt und weiße Leinenhosen und einen schweren professionellen Studio-Kopfhörer um den Hals. Auf seinem Arm war ein roter Fleck. Zumindest hielt ich ihn für rot. Es war schwer zu sehen wegen der vielen Tattoos. Unübersehbar hingegen waren die länger gewordenen Augenfalten.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Schlafen Sie draußen in der Grotto Cabin?«
»Fuck, nein«, sagte er. »Ich hab eine neue Matratze, die wird morgen geliefert. Falls du also an die Tür gehst, schick die Leute damit runter. Das jetzige Teil hat Flöhe oder irgendwas. Ich wurde bei lebendigem Leib aufgefressen. Schau dir das an.«
Er zeigte mir den Fleck auf seinem Arm, man sah, dass er gekratzt hatte.
»Wir haben eine Creme für so was«, erklärte ich ihm. »Ich werde sie holen.«
»Danke, kattekat.« Während ich mich umdrehte und in der Schublade mit der Erste-Hilfe-Ausrüstung herumkramte, sagte er: »Du siehst aber auch nicht besonders gut aus. Allergien?«
»Nein.«
»Aha. Wie geht es deinem Hirn? Hast du Frieden mit dem See geschlossen, wie ich vorgeschlagen habe?«
Ich hielt über der Schublade inne. Vielleicht lag es daran, dass wir allein war, was nicht oft vorkam. Vielleicht lag es daran, dass ihn die Stiche nicht mehr ganz so riesenhaft wirken ließen. Vielleicht lag es an dem verwirrenden Nachmittag bei den Sarafians, ich musste einfach mit irgendjemand reden.
»Ja.«
»Wie lief es?«
»Es war schwierig, aber Sie hatten recht.« Ich zog die Schublade weiter heraus und spähte hinein.
Er schnalzte hinter mir leise mit der Zunge. »Ah-ha. Freut mich zu hören.«
»Aber heute geht es mir nicht besonders. Ich habe geweint«, gab ich zu.
»Verstehe …« Nun klang er peinlich berührt. »Hm. Tut mir leid. Kann ich irgendwie helfen?«
Ich drehte mich um. »Ich komme gerade von den Sarafians. Serj ist aus San Francisco zurück.«
»Oh.« Er atmete aus. »Das. Er hat dir von dem Jungen erzählt.«
»Sie wussten Bescheid? Über Eddie? Dass er im Gefängnis sitzt?«
Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln. »Ich habe es gerade erst erfahren. Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass wir die Sache alle so schnell wie möglich geklärt haben wollen. Es wird ein bisschen was kosten, aber wir kriegen das hin.«
Klang nicht gerade, als wäre alles unter Dach und Fach. Oje. »Entschuldigung, dass ich gefragt habe. Ich will gar nicht mehr hören.«
»Wir werden uns kümmern und den Jungen nach Hause bringen.«
Hinter meinen Lidern brannten Tränen, aber ich unterdrückte sie, ich hatte Angst, vor ihm loszuheulen. Das hatte ich noch nie getan. Könnte ich auch nicht. Ich sollte nicht mal so mit ihm reden. Er war der Boss. Der Mann. Der König. Von mir wurde erwartet, dass ich mich im Hintergrund hielt.
Ich weiß, wer Mad Dogs Mädchen ist.
Und dann hallte Serjs Frage ›und was ist das‹ in meinem Kopf nach.
Ich hatte keine Ahnung, wo mein Vater gerade steckte. Aber ich wollte nicht von ihm dabei erwischt werden, dass ich mich an Mad Dogs Schulter ausweinte. Leo der Löwe mochte keine Emotionen zeigen, doch das bedeutete nur, dass er seine Gefühle tief vergraben hatte. Es würde ihm unglaublich wehtun.
»Hey, hey.« Mad Dog streckte mit einem seltsam zärtlichen Blick die Hand nach meinem Gesicht aus. »Min skattepige.« Doch in letzter Sekunde änderte er seine Meinung und zog verlegen die Hand zurück.
Ich hörte kurz auf zu atmen, dann machte ich mich kleiner und wich vor ihm zurück.
Ich wusste nicht, was genau er da gesagt hatte, aber ich hatte oft genug Dänisch gehört, um zu wissen, was das erste Wort bedeutete.
Mein.
Mein!
Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten. Vielleicht war es bloß ein hohler leerer Reflex. Vielleicht betrachtete er mich wortwörtlich als Eigentum, weil ich seine Angestellte war.
Alles davon konnte zutreffen.
Und trotzdem …
Die vielen merkwürdigen Blicke, die ich mitbekommen hatte, diese ganze komische konkurrierende Energie, die ich zwischen ihm und meinem Dad spürte, all die Gerüchte, die ich gehört hatte. Ich hatte immer alles abtun können, weil sich Mad Dog nie wie ein Vater angefühlt hatte. Er hat mich nie anders behandelt als die anderen. Er war nie vernarrt in mich gewesen. Mad Dog hatte noch nie versucht, mich zu trösten. Nicht mal nach dem Unfall am Stauwehr.
Aber jetzt tröstete er mich.
Während uns diese merkwürdige, zu vertraute Nähe einhüllte, wurde mir etwas Größeres klar: Ob es stimmte oder nicht, Mad Dog hielt er für möglich, dass er mein Vater war.
Deshalb hatte Serj von mir als Mad Dogs »Mädchen« gesprochen. Serj redete regelmäßig mit Mad Dog. Sie waren Kumpels.
Wenn Mad Dog also davon ausging, dass eine hypothetische Chance bestand, dass er mein Vater war, bedeutete es, dass er mit meiner Mutter geschlafen hatte. Einer Haushälterin.
Jemandem wie mir.
Wut flammte in mir auf.
»Wie haben Sie mich gerade genannt?«, fragte ich vorwurfsvoll.
Er schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch. »Nichts weiter. Das lässt sich nicht übersetzen.«
Von wegen. »Wissen Sie, wie Serj mich heute Nachmittag bezeichnet hat? Als Ihr Mädchen. Ihres.«
»Hey«, sagte er und hielt die Hände vor den Oberkörper, als würde ich ihn körperlich angreifen. »Keine Ahnung, warum Serj das gesagt hat, aber bestimmt meinte er damit nur, dass du zum Haushalt gehörst.«
»Klang für mich nicht so.«
»Jane –«
»Ich bin nicht Ihr Mädchen«, erklärte ich ihm. »Leo ist mein Vater. Ich weiß nicht, was Sie mit meiner Mutter gemacht haben, aber ich gehöre nicht Ihnen.«
»Solange du unter meinem Dach lebst, habe ich die Verantwortung für dich. Insoweit bist du schon zu einem Teil meins.«
Was sollte das wieder bedeuten?
»Du bist in meinem Haus aufgewachsen, mit meinen Kindern. Ich habe dich gern. Mehr ist da nicht.« Mit einem Mal war er sehr stoisch. »Und ich bin ganz sicher, mehr hat Serj auch nicht gemeint.«
Ich glaubte ihm nicht. Doch jetzt war er wieder unnahbar, sein altes königliches Ich.
Und errichtete eine Mauer. Herr und Dienerin.
»Als Angestellte in Ihrem Team, die Ihnen zum Teil gehört, frage ich Sie hier gerade nicht um einen Gefallen.« Ich reichte ihm die Hydro-Kortison-Creme und wappnete mich. »Nur um das klarzustellen. Es ist mir nicht egal, was mit Eddie passiert, aber das hat nichts mit Ihnen zu tun.«
Er musterte mich verwirrt. »Okay? Ich dachte bloß –«
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen … Sir?«
Mad Dog ließ den Kopf hängen. »Du brauchst keinen Kniefall vor mir zu machen«, brummte er theatralisch. »Das habe ich nicht verdient.« Es klang, als lese er den Text eines Theaterstücks ab.
»Sir?«
»Nichts. Danke.« Er klopfte mit der Cremetube auf seine Handfläche und verließ die Küche.
Als seine Silhouette durch den Türrahmen verschwand, sackte ich vor Erleichterung zusammen. Ich bedauerte ein paar Sachen, die ich gesagt hatte … und ein paar, die ich nicht gesagt hatte.
Dieses Haus fühlte sich nicht mehr wie ein Zuhause an. Vielleicht war es das für mich nie gewesen. Ich wusste bloß, dass ich mich von jetzt an nicht immer so fühlen wollte, wenn er in der Nähe war – dass ich mich nicht fürchten wollte, mit ihm zu sprechen. Ich musste aus diesem Haus weg, fort von ihm.
Noch an diesem Abend.