Alles war perfekt.
Der Mond schien durchs Fenster. Jane in meinen Armen. Ihre kleine Hand auf meiner Brust, ihr Körper an meine Seite geschmiegt. Nichts zwischen uns. Wir waren uns so nah, dass wir quasi den Herzschlag des anderen hätten teilen können. Atemzüge, Gedanken.
Hätte ich diesen Moment aufnehmen können, wie Rillen in Vinyl pressen, in eine Hülle schieben und zu den wertvollsten Platten meiner Sammlung stellen können, hätte ich es sofort getan.
Ich wollte die ganze Nacht wach bleiben und diese Freude auskosten – sie so ausgiebig wie möglich in die Länge ziehen. Doch dann fühlte sich ihr Körper an meinem leichter an, wie ein Farn, der sich entrollt, und ich stellte überrascht fest, dass sie eingeschlafen war. Noch mehr Glückseligkeit.
Ehe ich michs versah, zeigte der Wecker zwei Uhr morgens an und ein kleiner Hund schnupperte an meinem Ohr. »Wie bist du denn hier reingekommen?«, flüsterte ich. Doch Frida schien keine Menschenwörter zu verstehen, denn sie interpretierte es als »kuschel dich zu uns ins Bett«. Wenigstens war sie klein.
Und ehe ich michs noch einmal versah, war es Morgen und sowohl Hund als Jane waren weg.
Nicht weg. Bloß aufgestanden. Im Bad ging die Toilettenspülung, sie hatte ihre Kleider mitgenommen. Meinem müden Hirn ging der Grund auf: Frida bellte die Wohnungstür an.
»Scheiße«, sagte ich.
»Wortwörtlich«, bestätigte Jane und kam aus dem Bad geeilt. »Und zwar die Hundesorte. Frida muss raus. Und ich muss zur Lodge zurück, bevor sie einen Suchtrupp nach mir losschicken.«
»Neiiin«, wimmerte ich.
Sie schob ihr Handy in die Tasche und beugte sich über das Bett, um mir einen Kuss zu geben. »Darf ich heute Abend wiederkommen?«
»Du kannst verdammt noch mal einziehen«, erklärte ich ihr. »Vielleicht verlangt meine Tante Miete von dir. Aber da fällt uns was ein.«
»Lass uns nichts überstürzen«, sagte sie grinsend.
»Ich bin dir um Jahre voraus. Wir haben schon Kinder. Wir reisen um die Welt und lassen sie bei Ms Makruhi. Und jedes Wochenende gibt es Torte. Frida schläft nicht bei uns im Bett. Mein Knöchel ist ihretwegen eingeschlafen«, beschwerte ich mich.
Sie lachte. »Ich komme heute Abend wieder. Du kannst mir deine Plattensammlung zeigen. Lass uns damit anfangen, ja?«
Immerhin ein Anfang.
Ich schwebte auf Wolken. Im Weltraum. Flog durch fucking Galaxien. Meinen Vater und Eddie vergaß ich völlig. Fast. Mama war aufgelöst, ich rief sie an, um zu hören, dass es ihr gut ging. Aber sie war zäh wie Leder und tat, als wäre alles bestens.
Eddie war jetzt in den Händen meines Vaters. Und in Mad Dogs. Was vermutlich genauso gut war wie die Hände Gottes. Und falls nicht, war es die Schuld meines Bruders, weil er die falschen Idole anbetete.
Jane und ich verbrachten drei himmlische Nächte miteinander, ohne uns um den Rest des Sees zu kümmern. Am vierten Abend lud uns Aunt Zabel zu einem späten Abendessen zu sich ein. Was in Ordnung war. Ihr Zuhause. Sie wollte das Mädchen und den kleinen Hund kennenlernen, die ständig hier auftauchten und die ganze Nacht blieben. Jane machte sich, glaube ich, Sorgen, dass jemand es herausbekam. Aber Aunt Zabel war cool – wesentlich gechillter als Mama. Ich versicherte Jane, dass Aunt Zabel keine Klatschtante war und nicht zu Mama rennen würde.
Aus dem Abendessen wurde irgendwann eine Tour durch den Zwinger und wenn meine Tante erst mal loslegte über Hunderettung, nahm das gewöhnlich kein Ende …
Kein Mensch will von Kastrationen hören, die schiefgelaufen sind, schon gar nicht, wenn der Plan lautet, gleich im Anschluss die Tür zum Apartment zu schließen und hirnschmelzende Orgasmen auszutauschen. Will man einfach nicht.
Am meisten nervte mich, dass meine Tante damit die magische Grenze um unser kleines Paradies durchbrochen hatte. Und sobald das geschehen war, schien das Universum zu beschließen, die Schleusentore zu öffnen und einfach alles hereinzulassen. Denn genau in dem Moment, in dem wir endlich, endlich entlassen wurden und auf mein Apartment zusteuerten, bekam Jane einen völlig aufgelösten Anruf von Velvet.
»Sie redet wirres Zeug«, sagte Jane und legte auf. »Irgendwas über einen Streit gerade, oder einen Streit, der bevorstand? Sie hat Angst. Erika Jones und sie zoffen sich. Sie kommt nicht weg und will meinen Vater nicht anrufen.«
»Sie muss abgeholt werden«, sagte ich unglücklich.
Jane nickte. »Ich glaube, sie ist …«
»Nicht nüchtern?«
Jane nickte.
»Gut. Und wo ist sie?«, fragte ich seufzend.
»Das ist das Allerschlimmste.« Jane warf mir einen freudlosen Blick zu. »Sie ist bei Betty’s.«
Ich erstarrte. »Ernsthaft? In der Bar?«
»Genau.«
»Shit.« Na ja, Betty’s war nicht das Wehr, aber es war vermutlich der andere Ort in der Stadt, zu dem Jane nicht wollte.
Ich verband Betty’s eigentlich nicht mehr damit, dass Jane fast ertrunken war. Ich hasste den Laden bloß wegen der Leute, die dort abhingen. Leute wie Velvet und Erika Jones. Eddies Freund Tim Albertson, mit dem er das Ding im Ski-Chalet abgezogen hatte. Betty’s war zur Party-Zentrale verkommen.
»Wir können Frida in meiner Wohnung lassen«, schlug ich vor. Das Hündchen hatte sich dort mittlerweile eingewöhnt. Ich brachte sie schnell hoch und schloss ab, dann nahmen wir den kleinen Hybrid, mit dem Jane aus der Lodge hergefahren war. Im Gegensatz zu meinem Jeep hatte er ein Dach und Seitenwände; falls Velvet völlig hinüber war, konnte sie so wenigstens nicht auf die Straße fallen.
Es war eine warme Sommernacht und auf dem Parkplatz herrschte Gedränge. Man hörte die Band bis hier, die Gruppe klang verdächtig nach den Clowns, die die Battle of the Bands verloren hatten. »Ist das Tell & Show?«, fragte ich. »Wie schaffen die das, noch Gigs hier in der Gegend zu kriegen?«
»Keine Ahnung, ist mir auch egal.«
»Hey. Alles gut?« Ich machte mir ein bisschen Sorgen, dass Jane Flashbacks wegen des Wehrs erleben würde, aber sie versicherte, alles sei gut. »Falls ich fahren oder irgendwelche Geister verjagen soll, ich bin hier.«
»Ich bin bloß angepisst wegen Velvet«, erwiderte sie und lenkte auf dem Schotterplatz in eine Parklücke. »Diesen Sommer ist es wirklich bergab mit ihr gegangen. Es kommt mir vor, als würde sie zehn Schritte zurückgehen. Dabei ist sie besser als das, was sie gerade hier abzieht.«
Sie schaltete den Motor ab und schrieb Velvet seufzend eine Nachricht. Dann schaute sie mich müde lächelnd an.
»Nicht sauer sein«, sagte ich, »aber du klingst eher wie eine Schwester als ihre Assistentin.«
»Bloß wie jemand, die sich selbst zerstören wollte und nicht zusehen möchte, wenn andere dasselbe tun.«
Das konnte ich verstehen.
Wir stiegen aus dem Wagen. »Sie antwortet nicht auf meine Nachrichten und mein Handy-Akku ist gleich leer«, sagte Jane. »Wie soll ich sie heimbringen, wenn sie nicht ins Auto steigt? Was sollen wir tun? Einfach warten?«
»Schick ihr meine Nummer, falls dein Handy den Geist aufgibt«, schlug ich vor. »So kann sie auf jeden Fall einen von uns erreichen.«
Ich sah mich auf dem dunklen Parkplatz um. Vor dem Haupteingang, wo ein Türsteher Ausweise kontrollierte und Hände stempelte, standen die Leute Schlange. Keine Spur von Velvet, aber dort würden wir sowieso niemals reinkommen. Aber ich kannte einen anderen Weg. »Folg mir.« Ich nahm Jane an der Hand. »Wir gehen durch den Lieferanteneingang.«
Ich mochte aus dem Sarafian-Haus geflogen sein, aber ich hatte immer noch den Namen. Als wir auf die Seitentür zugingen, wo gerade ein Typ aus der Küche eine Zigarette rauchte, brauchte es nur ein bisschen dummes Gelaber.
»Klar, Mann. Geht einfach durch die Küche. Ich hab euch aber nicht gesehen«, sagte er lachend.
Wir liefen Hand in Hand durch die Küche, als sei nichts dabei. Nur der Tellerwäscher blickte auf, doch als ich ihm zuwinkte, wirkte er zu müde, um zu reagieren.
Dann ging es durch eine Schwingtür. Und nach ein paar Schritten durch einen Gang mit Büros und Toiletten standen wir an der Bar. Hier war es laut und lärmig, und es roch nach Ananas und Bier. Alles war mit Kiefer verkleidet und überall funkelten mehrfarbige Strahler, die Menge war eine Mischung aus reichen Partyjungs Mitte zwanzig und traurigen, alten Trinkern im Alter meines Vaters, die noch mal ihre Jugend aufleben lassen wollten.
Draußen, auf dem langen Pier hinter der Bar, war die Bühnenbeleuchtung auf Tell & Show gerichtet, die gerade einen neuen Song anspielten. Der Bass ihrer Verstärker ließ die Dielenbretter penetrant vibrieren. Noch penetranter war das Paar, das sich an der Bar, wo alle sie sehen konnten, Koks reinzog.
»Wir werden uns nicht aufteilen«, brüllte ich Jane über die Musik hinweg zu. »Lass uns V suchen und den Abflug machen.«
Jane nickte.
Wir suchten immer noch in dem Kiefernalbtraum nach Velvet, als ich eine Nachricht von einem unbekannten Anrufer bekam: Wo bist du?
»Hast du Velvet meine Nummer gegeben? Ich glaube, das ist sie«, sagte ich zu Jane.
»Endlich! Mein Handy hat noch ein bisschen Saft, keine Ahnung, warum sie dir geschrieben hat. Vielleicht hab ich sie verwirrt.«
War ja nicht weiter schwierig. Ich schrieb Velvet zurück: Im Betty’s. Ich konnte mir gerade noch verkneifen Auf der Suche nach dir, du Chaotin dazuzuschreiben. So rappelvoll, wie es war, konnte man kaum jemanden erkennen, wir entschieden deshalb, an der Bar zu bleiben. Als ein Hocker frei wurde, besetzten wir ihn und Jane kniete sich darauf, um über die Köpfe der Leute zu schauen. Ich hielt sie an den Hüften und warf einem runzligen alten Drecksack neben uns einen finsteren Blick zu.
»Dort hinten!«, sagte Jane. »Bei den Toiletten!«
»Fuck.« Ich half ihr herunter und wir drängten uns dorthin zurück, wo wir angefangen hatten.
»Da kannst du nicht rein«, sagte sie. »Damentoilette.«
»Ich bin kein Spanner. Das hier ist ein Notfall«, rief ich. »Velvet Larsen? Wir kommen jetzt rein. Also seht zu, dass ihr was anhabt.«
Ein paar megabetrunkene Collegemädchen unterhielten sich neben dem Waschbecken, und da war auch Velvet und schwitzte wie eine olympische Läuferin.
»GOTT SEI DANK«, rief sie und torkelte in Janes Arme. »Shit, Jane, bring mich nach Hause. Nicht in die Lodge. Sondern nach L.A. Ich hasse es hier. Bitte.«
»Steh auf«, sagte Jane. »Boah, du stinkst. Was hast du getrunken?«
»Wasser? Ich bin gerannt. Da war ein Mann mit einem Bärenkopf, der Leute umbringen wollte, und Erika hat mich für irgendeinen Sommerboy sitzen lassen. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll.«
Wow, sie war echt high bis unter die Haarwurzeln. »Wie wollte er dich denn umbringen?«
Eines der Mädchen neben dem Spiegel meldete sich zu Wort. »Das ist das Maskottchen von Grizzly Craft Beer. Er hat Coupons verteilt. Erika wurde aus dem Club geworfen, nachdem Velvet und sie Streit angefangen haben, und ist mit irgendeinem Touri abgezogen. Velvet ist herumgerannt und hat versucht, der Security aus dem Weg zu gehen.«
»Halt die Klappe, Dana«, blaffte Velvet. »Keiner hat dich gefragt.«
Jane hielt sich die Hände vors Gesicht und seufzte. »Schluss jetzt. Lass uns einfach gehen, okay?«
Damit war Velvet mehr als einverstanden, und sie war definitiv völlig hinüber, wenn auch nicht schlimmer als die meisten anderen Gäste. Wir brachten sie durch die Küche nach draußen, bevor uns jemand entdecken konnte. Alles war gut, außer dass Velvet eine Menge Quatsch redete, der Jane aussehen ließ, als würde sie Erika keinen Vorwurf daraus machen, dass sie Velvet hatte sitzen lassen.
»Hey«, unterbrach ich sie. »Ist gut. Du hast geschrieben. Wir sind gekommen. Lass uns nach Hause fahren.«
Velvet wischte sich das Gesicht ab und blinzelte mich an. »Was? Ich hab dir nicht geschrieben. Hast du mich angerufen?«
»Du hast mir geschrieben«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Vielleicht war sie einfach zu hacke, um sich daran zu erinnern, sagte ich mir, als wir auf Janes Hybridauto zugingen und aus der schwarzen Limousine daneben eine dunkle Gestalt ausstieg.
Und genau in diesem Moment sagte mir mein Bauchgefühl, wer die Nachricht geschrieben hatte.
Denn mein Bauchgefühl kannte die Gestalt, die gerade aus der schwarzen Limousine stieg.
Groß. Blondierte Haarspitzen. Breite Schultern.
Mein Bauch wusste es, bevor mein Hirn den Schock verarbeiten konnte, machiavellische Grübchen und das charmanteste Gesicht von Condor Lake zu sehen.
»Eddie?«, fragte Velvet benommen. »Ich dachte, du sitzt im Gefängnis?«
Jane schnappte nach Luft.
Aber Eddie würdigte sie keines Blickes. Ich glaube, er bekam überhaupt nicht mit, dass sie da war. Oder Velvet. Er starrte mich bloß mit megaerschrockenem Gesicht an. Diesen Blick hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Sämtliche Selbstsicherheit war verschwunden. Da war nichts mehr. Kein Stolz.
Nichts.
Hatte die Festnahme ihn derart fertiggemacht? Was zum Teufel?
»Was machst du hier?«, fragte ich, als er mich reglos anstarrte wie ein seelenloser Außerirdischer im Anzug. »Warum hast du diese Klamotten an? Ist das der Flughafen-Transfer? Bist du gerade angekommen? Wo ist Dad?«
Er öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Dann schluckte er und versuchte es noch mal. »Ich soll dich holen kommen. Papa liegt im Krankenhaus. Er hatte in dem Privatflieger von L.A. hierher einen Herzinfarkt. Er wird gerade im Krankenhaus außerhalb der Stadt operiert. Sie wissen nicht, ob er es schafft.«
War das ein Witz?
»Was zur Hölle ist mit dir los?« Ich rannte auf ihn zu und schubste ihn so hart, dass er mit dem Rücken gegen den Wagen knallte. Er stöhnte und klappte vor Schmerz zusammen. »Bist du krank im Kopf? Warum erzählst du so was?«
Eddie entfuhr ein Schluchzer – so entsetzlich und tief aus der Kehle, dass ich ihn in meiner eigenen Brust spürte.
Mit einem Mal war mir sehr kalt.
Er machte keine Scherze.
»Oh mein Gott«, flüsterte Jane hinter uns.
Eddie kauerte zusammengekrümmt zu meinen Füßen und heulte. »Ich habe Mist gebaut, er kam, um mir zu helfen, und dann brach er im Flugzeug zusammen und einer der Piloten hat den Defibrillator eingesetzt. Er wäre fast gestorben. Er stirbt vielleicht trotzdem!«
»Wo ist Mama?«
»Mit den Zwillingen auf dem Weg zum Krankenhaus«, heulte Eddie. »Sie hat mich hergeschickt, um dich zu holen. Ich tauge nichts. Das hier ist meine Schuld, Fen. Es tut mir so leid.«
Ich wusste nicht, was ich sagen oder fühlen sollte. Da war nur noch Benommenheit und Reflex.
Ich kniete mich neben Eddie, legte die Arme um seine Schultern und weinte mit ihm.