Track [1] »Stella Was a Diver and She Was Always Down« | Interpol

Fen

Sommer vor zwei Jahren

Ich war total durch den Wind. Wie wäre ich sonst auf die Idee gekommen, Eddie und ich könnten uns in die Villa schleichen, ohne dass es jemand mitkriegte? Es war fast ein Uhr morgens – ich hätte längst zu Hause sein sollen. Und logisch wartete Mama im Nachthemd auf der Bank an der Treppe. Ich hatte bloß nicht damit gerechnet, dass sie im Dunkeln sitzen würde.

Als sie sich zu uns umdrehte, sah sie aus wie eine Gruselpuppe aus einem Horrorfilm – das Display ihres Handys warf ein unheimliches Licht auf ihr Gesicht. Es war nicht zu erkennen, ob sie wütend oder besorgt war. Kein gutes Zeichen.

»Sag Dad bloß nicht, dass ich dich mit seinem Auto habe fahren lassen«, flüsterte Eddie, als er das schmiedeeiserne Sicherheitsgitter vor der Tür zuzog. »Ich habe den Code vergessen. Stell ihn wieder scharf. Verschärf ihn. Ha! Schaaafmachen.« Er gab ein schnaubendes Lachen von sich, dann schaute er endlich auf die andere Seite der Eingangshalle. »Oh, Shiiit … Mama. Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt. Wie heißt noch mal der Film mit der Horrorpuppe? Du weißt, welchen ich meine, Fen.«

Ich gab keine Antwort, weil er ganz offensichtlich immer noch betrunken war, der Hauptgrund, warum dieser Abend so katastrophal gelaufen war. Der andere bestand darin, dass sich mein Bruder für einen Gott hielt.

»Warum hast du nicht auf meine Nachrichten reagiert?«, fragte Mama mich. Nicht etwa Eddie. Obwohl der achtzehn war und im Herbst aufs College gehen würde. Er war der Älteste von uns Geschwistern. »Ich habe angerufen, als stünde der Weltuntergang bevor. Meinst du, es macht mir Spaß, Sprachnachrichten zu hinterlassen? Macht es nämlich nicht.«

»Mein Handy funktioniert nicht. Es ist nass geworden. Ich muss es in Reis oder so legen. So viel zum Thema wasserfest.«

»Das Telefon ist nur bis zu einer bestimmten Tiefheit wasserfest, weiß doch jeder«, belehrte mich Eddie und schleuderte seine Schuhe beiseite.

»Tiefe«, verbesserte ich müde. Aber von was hatte er schon Ahnung? Von nichts, das war ja das Problem.

Mama eilte mit raschelndem Nachthemd durch die dunkle Eingangshalle auf uns zu. Sie strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und ließ den Blick über uns wandern, von Eddie (angewidert – sie wusste, dass er betrunken war) zu mir (wütend, weil ich mitgemacht hatte), und dann zu den nassen Abdrücken meiner Turnschuhe auf den Terrakottafliesen. »Was hat das zu bedeuten? Du bist klatschnass! Was ist passiert? Alles in Ordnung mit dir? Fennec? Warum antwortest du nicht?«

Wenn Jasmine Sarafian zu viele Fragen stellt, hast du keine Chance. Sie schießt sie wie Pfeile ab, wohl wissend, dass einer aus dem Hagel treffen und dich umbringen wird.

»Er ist ins Stauwehr gesprungen. Klatsch!«, erklärte Eddie. »Als wir uns bei Betty’s eine Band angehört haben, hat er ein Mädchen vor dem Ertrinken gerettet.«

Du verdammter Schwachkopf. Ehrlich … Wie sollte ich ihm helfen, wenn er alles daransetzte, dass es herauskam? Denn genau so fühlte es sich an.

Mama erstarrte. »Ihr wart draußen am Stauwehr?«

»Tut mir leid«, murmelte Eddie achselzuckend. »Ein paar Freunde haben uns überredet. Du weißt ja, wie es läuft.«

»Uns? Du hast Fen mitgenommen? Ich weiß, was da draußen abgeht, Eddie. Junge Leute trinken Alkohol und nehmen Drogen. Dein Bruder ist gerade erst sechzehn geworden!«

»Man ist nie zu jung, um ein Held zu sein«, erwiderte Eddie, als er sie betrunken anstrahlte mit seinem goldenen Grübchenlächeln. »Sei stolz, Mama.«

Oh, wie sehr ich gehofft hatte, diese Unterhaltung zu vermeiden. Wäre Eddie klüger gewesen – aber das war er nun mal nicht –, hätte er gelogen. Denn das Wehr war haargenau der Ort, wo wir uns nicht aufhalten sollten. Und auch nicht im Betty’s, der Bar mit der überdachten Bühne am Ende des Piers. War man alt genug, um den Eintritt zu bezahlen, konnte man sich das Konzert im Open-Air-Pavillon anschauen. Und wenn nicht? Tja … dann zog man sich die Konzerte von Booten aus rein – oder von ein bisschen weiter weg auf dem Condor Dam, dort wo der Blue Snake River in den See mündet. Getränke sind in dem Fall selbst mitzubringen und außerdem ein jüngerer Bruder, damit er das Bier vom Auto anschleppt, während du mit deinen Kumpels abfeierst.

Ist es gefährlich, nachts auf dem Wehr Party zu machen? Ja. Ist es bescheuert? Total. Aber seit Jahren gehen alle dorthin, um sich die Konzerte bei Betty’s anzuhören. Es ist quasi eine Tradition in Condor Lake, und die Cops mischen sich nur ein, wenn sie am Monatsende ihre Quote erfüllen müssen.

»Fennec«, sagte Mama. »Ich denke, du solltest erklären, was es mit dem Mädchen auf sich hat. Stimmt die Sache?«

Ich bemühe mich, möglichst ruhig zu klingen. »Nachts ist das Wehr unbeleuchtet. Sie ist über das Geländer gestürzt und ins Wasser gefallen. Vermutlich ist sie mit dem Kopf auf den Steinen aufgeschlagen – sie trieb Richtung See und niemand hat ihr geholfen.«

»Die Band war laut«, erklärte Eddie wenig hilfreich. »Wir haben sie nicht gehört.«

Haben uns nicht darum gekümmert, wäre zutreffender. Mein Bruder kümmerte sich prinzipiell nur um sich selbst. »Ist ja auch egal, ich bin reingesprungen und hingeschwommen. Ich habe sie gefunden.«

»Sie hat nicht mehr geatmet«, fügte Eddie hinzu.

Sie ist gestorben. Ich glaube, sie ist gestorben. Eine Minute lang. Ein paar Sekunden. Ich bin mir sicher, sie war tot.

Es war kein Atem mehr zu spüren.

Kein Leben.

»Was?«, fragte Mama mit weit aufgerissenen Augen.

Hätte Eddie das doch bloß für sich behalten. Schließlich war er derjenige, der am Strand fast einen Nervenzusammenbruch gekriegt und mich angefleht hat, es nicht unserer Mutter zu erzählen. Und jetzt quatschte er einfach los? Lag es daran, dass er betrunken war? Oder war er einfach nicht der Hellste?

Jedenfalls fiel es mir jetzt zu, Mama den Rest zu erklären. »Es war nicht so dramatisch«, sagte ich mit meiner allerbeiläufigsten Stimme. »Ich hab sie im Wasser gefunden und an Land gezogen. Da sie sich nicht gerührt hat, habe ich sie reanimiert. Es war nicht weiter schwer. Nach ein paarmal Zudrücken hat sie Wasser gespuckt.«

Fest drücken, schnell drücken. Aber sie war keine Erste-Hilfe-Puppe. Sie war ein sterbender Mensch und so klein, dass ich nicht wusste, wie fest ich zudrücken konnte. Was, wenn ich ihr etwas brach? Was, wenn ich es vermasselte?

Es war das Furchterregendste, was ich in meinem ganzen Leben getan hatte.

»Heilige Mutter Gottes«, flüsterte Mama und presste die Hand aufs Herz. »Ich habe eurem Vater gesagt, wie wichtig diese Erste-Hilfe-Kurse sind. Danke, heiliger Georg!«

Jetzt kommen die Heiligen dran. Ich muss das zu Ende bringen, und zwar schnell. »Aber sie blutete am Kopf –« So viel Blut. Ich hielt sie für tot. »– und sie war bewusstlos. Irgendjemand hat einen Krankenwagen gerufen.«

»Da hat die Band dann auch aufgehört, weil Leute den Vorfall mitbekommen hatten«, fügte Eddie hinzu.

»Der Krankenwagen hat sie mitgenommen, aber nur, um sie durchzuchecken, auf Gehirnerschütterung oder so was. Sie meinten, sie würde es gut überstehen«, versicherte ich Mama. Sie sagten auch, sie würde eventuell einen Gedächtnisverlust erleiden.

Und sich vielleicht nicht daran erinnern, dass ich sie aus dem Wehr gezogen hatte.

»Held!« Eddie schlug mir ungefähr zum tausendsten Mal an diesem Abend zu hart auf den Rücken. Ich boxte gegen seinen Arm, dass er schwankte. »Autsch, Mann. Das tat weh, du Idiot.«

»Krieg dich ein«, sagte ich. »Du weckst noch die Zwillinge auf.« Wenn die beiden aufwachten, wäre Dad der Nächste. Und ihn konnte ich gerade echt nicht brauchen.

Mama schüttelte bedächtig den Kopf und presste fassungslos die Hand vor den Mund. »Wer, Fen? Wer war das Mädchen?«

Ich warf Eddie einen schnellen, finsteren Blick zu. Verkack es nicht. »Keine Ahnung«, erklärte ich Mama. »Irgendein Sommermädchen, das fürs Festival hier ist.« Sommerleute: so nannten wir die Touristen, die angeflogen und angefahren kamen, um bis Ende Juli aus uns zweitausend Einwohnern zweihunderttausend zu machen.

»Ihr wisst ihren Namen nicht?« Mamas dunkle Haare kräuselten sich wild an den Schläfen.

Und ab da ging es richtig mit den Lügen los. Denn ich wusste ganz genau, wer sie war. Und ich wusste, warum sie am Wehr abhing: Sie gehörte zu Eddies Verehrerinnen.

Ich kapierte es nicht. Er pupste im Schlaf, erzählte abgedroschene Witze und hatte einen unterirdischen Musikgeschmack. Und trotzdem konnte er nichts falsch machen. Und das galt nicht nur bei den Mädchen. Auch seine Lehrer und Lehrerinnen waren ganz vernarrt in ihn. Den Highschool-Abschluss hat er nur geschafft, weil er sich mit Charme durch die Nachprüfungen gemogelt hat. Ich wette den gesamten Inhalt meines Portemonnaies, dass er nicht weiß, wie der aktuelle US-Präsident heißt. Er hält die Schweiz und Schweden für ein und dasselbe Land.

Aber ein Lächeln genügte und schon hatte er die Note, die er zum Bestehen brauchte, in der Tasche. Mein Vater ist einer der einflussreichsten Leute der Stadt, aber das merkt man nicht, denn der wahre Star ist Eddie Sarafian.

»Wer ist dieses Mädchen, Eduard?«, bohrte Mama. »War sie mit dir dort?«

Ausnahmsweise bewies Eddie genug Grips, nicht noch mehr zu erzählen und sich selbst zu belasten. Er schüttelte bloß den Kopf. Ein bisschen zu heftig vielleicht, aber wenigstens hielt er die Klappe. Wie wir es im Auto geübt hatten. Und worum er mich angebettelt hatte. Ich habe sie gefragt, ob sie zum Wehr mitkommt. Man wird mir die Schuld geben, so läuft es nun mal. Verrat mich nicht, Bro, hatte er gesagt und dabei rumgeheult. Die letzten Tränen hatte ich bei ihm gesehen, als wir noch Kinder waren. Keine Ahnung, ob es am Bier lag oder ob er Schiss hatte, dass man ihn drankriegen würde, oder ob er sich Sorgen wegen des Mädchens machte, weil er sie wirklich mochte. Vielleicht alles drei, aber es war trotzdem seltsam.

Die braunen Augen meiner Mutter schimmerten im Mondlicht, als sie erst ihn, dann mich musterte. Mein Puls beschleunigte. Ich hatte das Gefühl, dass sie uns die Story nicht abkaufte. Warum auch? Alle kannten Eddie und Eddie kannte alle. Auch das Mädchen, das fast ertrunken wäre. Was echt daneben war, denn sie war so alt wie ich – zu jung für Eddie. Aber ich hatte mitbekommen, wie sie früher am Abend miteinander redeten. Später sah ich das Mädchen weinen.

Wenige Minuten bevor sie ins Wasser gefallen ist.

Nur um das klarzustellen. Ich will nicht sagen, dass er schuld ist. Ich hatte ja auch keine Ahnung, was zwischen den beiden gelaufen war. Eddie wollte es mir absolut nicht verraten. Aber mir war klar, dass Mama stinksauer wäre, wenn sie mitkriegte, dass er eine Zehntklässlerin angebaggert hatte. Und wenn sie wüsste, wer das Mädchen war, würde sie einen Tobsuchtsanfall bekommen.

Jane Marlow, die Tochter des Chauffeurs – Mad Dog Larsens Chauffeur.

Und ja, genau dieser Mad Dog. Der berühmte Rockproduzent. Eigentümer von Rabid Records.

Vergiss seine Grammys. Vergiss, dass er ein paar der größten Alben der letzten Jahrzehnte produziert hat. Entscheidend war, dass Mad Dog die Sommer nur deshalb hier in Condor Lake verbrachte, weil mein Vater ihm die Traumvorstellung von dieser Stadt verkauft hat, die er jedem verkaufte. Ein Märchen in der Sierra Nevada.

Mein Vater ist der letzte große Musikpromoter. Serj Sarafian. Und er hat eines der größten Indie-Musikfestivals in Kalifornien ins Leben gerufen.

Doch ohne eine Finanzspritze von einem der großen Player hätte er das Amphitheater und das Gelände, auf dem das Festival stattfand, verloren. Und sein großer Albtraum war, das ganze Ding für die Hälfte seines Wertes an einen nationalen Eventpromoter verkaufen zu müssen.

Deshalb brauchte er jemanden mit einem Haufen Geld, der gewillt war zu investieren. Jemanden wie Mad Dog.

Und der kam. Er brachte seine Familie mit und seinen guten Namen und zog in ein mehrere Millionen Dollar teures Sommerhaus auf der anderen Seite des Sees. Und nach und nach begann er, mit uns zusammenzuarbeiten. Leider musste der Vertrag für das Amphitheater alle zwei Jahre erneuert werden.

Mad Dog hielt sich sehr bedeckt, was seine Familie anbelangte: vier Töchter von drei verschiedenen Frauen. Doch am See kursierte ein Gerücht, dass das Mädchen, das ich heute Abend aus dem Wasser gezogen hatte, seine Tochter mit einer vor Jahren verstorbenen Haushälterin sein könnte – und dass der Chauffeur womöglich nur so tat, als sei sie sein leibliches Kind. Keine Ahnung, ob das stimmte, aber was, wenn es wirklich so war? Aber falls meine Mutter herauskriegte, dass Eddie was mit Mad Dogs jüngster Tochter laufen hatte, als sie vom Stauwehr stürzte und um Haaresbreite gestorben wäre – bitte, bitte, bitte, lass sie auch heute Nacht nicht sterben –, und falls Mad Dog herausfand, dass Eddie sie dorthin gebracht hatte?

Dann konnte meine Familie alles verlieren.

Ich log also für sie – für meine Mutter und die Zwillinge. Löschte Jane Marlow für sie. Nicht für Eddie, den ich heute Abend mit einer drückenden Schwärze verabscheute, die mir wie ein Stein im Magen lag.

Was mich allerdings nicht davon abhielt, an Janes Gesicht zu denken, sobald ich die Augen schloss.

Im Türbogen hinter der Treppe ging ein Licht an. Ms Makruhi, unsere neugierige Haushälterin. Und war das Geräusch über uns das Patschen von Zwillingsfüßen? Bitte nicht! Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch und wollte bloß noch hoch in mein Zimmer, ohne meinen Vater aufzuwecken.

War das zu viel verlangt?

»Mein Baby? Mein Augenstern?«, sagte meine Mutter und umfasste mein Gesicht. »Fen-jan?«

»Ich bin okay, Mama.«

Sie nickte. »Du bist ein guter Junge. So ehrenhaft. Immer denkst du an die anderen.«

Das gab mir den Rest. Es machte mich krank. Ich hasste es, sie anzulügen. Mein Vater konnte von mir aus ins Wehr fallen, aber sie anzulügen war schrecklich. Ich wollte ihr einfach erzählen können, dass es der schlimmste Abend meines Lebens war und dass nichts je wieder okay sein würde. Aber natürlich sagte ich nichts.

»Auf dich kann sich die Familie immer verlassen«, sagte Eddie hinter ihrem Rücken zu mir. Seine Stimme hatte einen Unterton, den ich nicht recht deuten konnte.

Einen Moment lang fragte ich mich, ob mein Bruder doch nicht so blöd war, wie ich annahm.