Track [30] »Into My Arms« | Nick Cave and the Bad Seeds

Fen

Oktober

Die Condor Wings Clinic war so ungefähr der letzte Ort, wo ich meinen Samstagmorgen verbringen wollte. Und mein Vater war ungefähr der letzte Mensch, mit dem ich ihn verbringen wollte. Mein einziger Trost war, dass es ihm unübersehbar genauso ging.

Armselige Idioten, wir beide.

Man hätte uns ebenso gut in Smokings stecken und von uns verlangen können, vor Tausenden einen Stepptanz hinzulegen. Es wäre weniger anstrengend gewesen als die Familientherapie mit Eddie, dem Entzugspatienten.

Er war seit einem Monat im Wings und würde voraussichtlich in ein paar Wochen entlassen werden. Anfangs war er unglücklich dort. Und mit unglücklich meine ich, dass er in der ersten Woche abgehauen ist und mit zwei Cousins eine Spritztour gemacht hat.

Doch mittlerweile ging es ihm besser. Er fand das Essen genießbar, er mochte den Typen, mit dem er sich das Zimmer teilte – einen dreißigjährigen Koch aus einem der Restaurants am Strip. Sie kamen miteinander klar. Sie verehrten beide ihre Ärztin. Sie war es gewesen, die uns die Familientherapie nahegelegt hatte, insoweit konnte ich sie nicht besonders leiden. Aber wenn sie Eddie half, wunderbar. Dann war ich ein Fan von ihr.

»Ich werde einfach hier draußen warten, Sir, um Sie zu Ihrem nächsten Termin zu bringen«, erklärte der Fahrer meinem Vater, als ich vom Rücksitz kletterte.

»Gut, Beck«, antwortete mein Vater. »Wir sind in einer Dreiviertelstunde zurück.«

Nach dem Herzinfarkt hatte meine Mutter Beck als Fahrer angeheuert, er war der Onkel einer der Frauen in ihrer Kirche. Die Garage wurde gerade umgebaut, damit er in einer Wohnung auf dem Grundstück leben konnte. Mama war der Überzeugung, dass Serjs aggressives Fahrverhalten ein weiterer Punkt war, der Stress bei ihm auslöste, und hatte ihm mehr oder weniger die Autoschlüssel weggenommen.

Ups.

»Bringen wir es hinter uns«, brummte er und rieb sich das Gesicht, als wir durch die Automatiktür des Behandlungszentrums gingen.

Außer einem Lavendel-Duftpotpourri grüßte uns eine gutgelaunte Assistentin an der Rezeption. Sie registrierte uns und händigte uns Besucher-Ausweise aus. Die Lobby des Zentrums war piekfein – sehr weiß und ruhig, hier war garantiert eine Menge Geld im Umlauf. Für einen Samstagmorgen war wenig los im Zentrum.

Augenkontakt mit Leuten war hier immer komisch, weil sie eine bunte Mischung aus Verängstigt, Verzweifelt, Supernervös und Hoffnungsvoll boten. Mein Vater hasste es garantiert, weil er erkannt wurde und jeder wusste, dass sein Sohn Entzug machte. Anfangs war das die ultimative Niederlage für Serj Sarafian gewesen und er hätte am liebsten jeden in der Lobby aus blanker Wut umgenietet.

Jetzt? Wollte er bloß noch möglichst schnell wieder in den Behandlungsraum. Rein und raus, erledigt.

Kleine Schritte, du weißt schon.

Heute beinhalteten die kleinen Schritte eine Doppeldosis vertrauliches Geplauder. Sobald wir mit dem Eddie-Termin hier fertig waren, gingen wir geradewegs zu einer Gruppentherapie für Aggressionsbewältigung bei Dr. Sanders. An dieser Sitzung nahmen Mama und die Zwillinge teil. Bloß ein rundum entspannender seelenentblößender Samstagmorgen.

Eine lächelnde Pflegerin führte uns durch verschlungene Gänge zu einem leeren Raum, in dem die Morgensonne auf eine kleine Sitzgruppe aus Sofas und Sesseln fiel. »Sie sind ein paar Minuten zu früh«, erklärte sie uns. »Nehmen Sie Platz, ich werde Eddie und die Therapeutin holen. Okey-dokey?«

»Okey-fucking-dockey«, äffte ich sie nach, als sie die Tür hinter sich schloss. »Wer sich darauf freut, seine Gefühle kennenzulernen, bitte die Hand heben.«

»Diese Pflegerin fasst mich immer am Arm an. Ist das irgendwie therapeutisch?«, fragte mein Vater

»Hmm … Menschliche Nähe?«, fragte ich amüsiert. »Vermutlich ist das einfach ihre Art, nett zu sein.«

»Mir egal, ich mag es nicht«, grummelte er.

»Dann solltest du es in der Sitzung erwähnen.«

Er sah mich an. »Warum machst du das ständig?«

»Was mach ich denn?«

»Das. Deine kleinen Klugscheißer-Kommentare.« Er stach mehrmals mit einem unsichtbaren Messer auf die Luft ein. »Kleine Sticheleien, immer und immer wieder. Auf alles, was ich sage, hast du eine schlaue Bemerkung parat.«

Ich zuckte mit den Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du lieferst mir eben gutes Material.«

»Hmpf.« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Du bist zu schlau, Fennec. Wenn du dieses Rumgeblödel auf irgendwas Wichtiges umlenken würdest, könntest du was draus machen.«

Solche Bemerkungen? Die waren ein Köder, aber ich würde nicht anbeißen. Er wollte einen Streit provozieren. Bis vor Kurzem hatte ich das nie durchschaut. Doch seit ich mehr Zeit in der Villa verbrachte, war es nicht mehr zu übersehen.

Ich wohnte nicht ständig zu Hause – das könnte ich vermutlich gar nicht mehr. Für mich war das in Ordnung. Abendessen mit der Familie am Wochenende und ab und zu mit den Zwillingen abhängen war genug. Das Apartment in der Scheune erfüllte weiterhin seinen Zweck: sorgte für Ruhe zwischen meinem Vater und mir. Doch ein paar Sachen hatten sich geändert.

Die ganze Therapie. Das half. Ein bisschen.

Und meine Musik. Das half sehr viel.

Ich versuchte, alles in mir in neue Stücke hineinzuschreiben und viel zu üben. Ich hatte sogar angefangen, mich selbst aufzunehmen und die Videos zu posten. Nächste Woche hatte ich mit der Dekanin einer Musikfakultät einen Termin: Sie würde sich mit mir unterhalten und mir beim Spielen zuhören.

Ich hatte Jane versprochen, an meiner Musik zu arbeiten. Und genau das tat ich.

Wenn ich die Musik nicht hätte, säße ich in einem tiefen Loch der Verzweiflung ohne Jane. So klammerte ich mich bloß am Rande des Abgrunds fest und versuchte, nicht hineinzufallen.

Aber es ist vermutlich keine Übertreibung, wenn ich sage, dass ich Jane an manchen Tagen so sehr vermisste, dass es sich anfühlte, als würde ich tausend Tode sterben.

Velvet erzählte mir ab und zu, was Jane gerade so machte, aber es war ziemlich oberflächlich; außerdem war Velvet jetzt in Spanien und so musste ich mich auf Janes soziale Medien verlassen, um mir ein kuratiertes Bild von ihrem Leben zu machen. Das, wie sich herausstellte, im Großraum von L.A. stattfand … von Santa Monica bis Burbank. Jedes Mal, wenn sie ein Foto postete, schwirrten Bienen durch meinen Oberkörper. Aber ich blieb auf Distanz. Hinterließ keine Kommentare. Folgte ihr nicht. Keine Überraschungstrips nach Südkalifornien.

Okay, einmal musste mich Moonbeam tatsächlich körperlich zurückhalten, sonst wäre ich mitten in der Nacht zu ihr gefahren. Aber trotzdem. Ich war nicht gefahren, und nur das zählte.

Ich spielte einfach meine Musik. Und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte es sich an, als hätte ich einen echten Grund dafür. Nachts setzte ich mich vor den Flügel und rief jeden Geist herbei, den ich kannte, und hielt eine fucking Séance ab.

Wenn ich fertig war, betete ich zu sämtlichen Heiligen, dass Jane ebenfalls mit ihren Geistern kommunizieren konnte.

»Müssen sie ihn erst aufwecken und anziehen?«, fragte mein Vater und wippte nervös mit einem Bein. »Warum dauert das so ewig?«

»Er kommt bestimmt jeden Moment«, beruhigte ich ihn und scrollte durch mein Handy, um ein Gespräch zu vermeiden.

»Es ist der Song«, murmelte er nach ein paar Sekunden.

»Was?« Als ich aufblickte, sah ich, dass er finster den Deckenlautsprecher anstarrte.

»The National«, erklärte er. »Ich wollte sie vor ein paar Jahren für das Festival buchen, aber der Gitarrist und ich … hatten eine Auseinandersetzung.«

Holla. Sonst redete er nie über seine Misserfolge. Wie viele es wohl davon gab? Wie viele Bands hatte er im Lauf der Jahre angepisst? Schräg, dass es mir nie in den Sinn gekommen war. Vielleicht, weil er ständig nur mit seinen Erfolgen herumprahlte.

»Komisch, dich das sagen zu hören …«, meinte ich zu ihm. »Ich habe letzte Woche für den Laden die Plattensammlung von Mike Winfrey begutachtet. Das meiste waren Wiederveröffentlichungen, aber er hatte alles, was National auf Vinyl rausgebracht haben.«

Mein Vater schnaubte. »Warum überrascht mich das nicht? Mike ist ein sentimentaler Trottel.«

»Musik zieht sentimentale Gefühlsmenschen und Unterdrückte an.« Ich dachte an Janes Bemerkung.

»Stimmt«, sagte er ruhig. »Irgendwas Interessantes in Mikes Sammlung?«

Ich war überrascht, dass es ihn interessierte. »Das Bemerkenswerteste war eine EP von Joy Divison aus 1978. Ein paar Tausend wert. Außerdem hatte er ein paar frühe Punk-Singles – ich hatte schon Hoffnung, dass ich etwas finden würde, wonach ich suche, aber Fehlanzeige.«

Mein Vater strich sich über den Schnurrbart. »Wonach suchst du?«

Führte ich tatsächlich dieses Gespräch mit ihm? Die Wandlung vom Ausgestoßenen zum tolerierten Familienmitglied innerhalb weniger Monate war schräg.

»Ich bin auf der Suche nach einer seltenen Platte mit L.A.-Punk aus den 1980ern«, erklärte ich ihm. »Ich suche seit dem Sommer online danach und hatte schon fast jemanden, der sich von seinem Exemplar trennen wollte, aber dann hat er in letzter Minute seine Meinung geändert.«

»Ist das für den Laden? Also diese Platte? Versuchst du, sie für einen Kunden zu finden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist für Jane. Genauer gesagt für ihren Vater.«

Seine Stirn legte sich in Falten.

»Nicht Mad Dog«, erklärte ich ihm. »Für ihren richtigen Vater, Leo. Den Mann, der meinen Jeep repariert hat. Ich habe letzte Woche in der Therapie von ihm erzählt.«

Ich redete über alles in der Therapie. Jane. Das Wehr. Meinen Denk-Baum. Moonbeam. Meine Musik. Warum noch irgendetwas zurückhalten? Sollte er doch alles hören. Sollte Eddie es doch auch hören. Bei jeder Session sagte ich meinen Teil, stellte den Sachverhalt dar und erläuterte, wie es mir ging. Nicht mehr, nicht weniger. Wenn ich heulte, heulte ich eben.

Die persönlichen Dinge hob ich für Jane und mich auf. Die gehörten nur uns.

Nach einem Moment des Schweigens sagte mein Vater: »Weißt du, wen du wegen deiner Platte fragen solltest? Miss Tiger.«

»Wer ist Miss Tiger?«

»Sie wohnt in dem grünen Chalet auf dem Old Bone Hill.«

Ich hatte schon von ihr gehört, sie war eine ältere trans Frau und lebte auf der anderen Seite des Sees.

»Früher wurde sie Disco Queen genannt«, erklärte mein Vater. »In den Siebzigern hatte sie einen Club in San Francisco, in den Achtzigern eine Bar. Passionierte Vinyl-Sammlerin.«

»Warum wusste ich das nicht? Kennt Aunt Pari sie?«

Er zuckte mit den Schultern. »Miss Tiger ist eine Einzelgängerin, aber wenn du möchtest, kann ich sie anrufen und fragen, ob du dir ihre Sammlung mal anschauen darfst.«

Kopf. Explodiert.

Serj Sarafian … tut … mir … einen Gefallen? Dem Sohn, dem er mal damit gedroht hat, ihn juristisch aus seinem Leben zu entfernen? Irgendwann war sogar ein Hausverbot im Gespräch gewesen, als ich mitten in der Nacht heimlich ein paar Sachen aus meinem ehemaligen Zimmer hatte holen wollen.

»Ja, okay.« Hoffentlich bekam er nicht mit, wie überwältigt ich von seinem Angebot war.

Hoffentlich tappte ich nicht in eine Falle oder fiel auf irgendeinen Trick herein.

Aber er sagte bloß: »In Ordnung. Dann werde ich sie mal anrufen.«

Manche Väter sagten ihren Kindern, dass sie sie liebten. Manche überschütteten sie mit Geschenken. Manche gingen zu jedem Spiel und jubelten vor Stolz. Doch nichts drückt so sehr »Du bist mir wichtig« aus, wie mit seinem Einfluss in der Musikindustrie Türen zu öffnen.

Hey – da sagte ich nicht Nein. Mein Vater war ein riesiger Berg. Man konnte ihn nicht über Nacht versetzen. Sein Angebot war eine minimale Bewegung, aber das reichte mir erst mal.

»Natürlich nur, wenn du noch Zeit darauf verwenden möchtest«, fügte er hinzu. »Erst mal musst du ja davon ausgehen, dass du diese Jane nie wiedersehen wirst. Und vielleicht ist es alles in allem auch besser so. Manche Beziehungen sind einfach zu chaotisch.«

Wenn ich in den Wochen, in denen ich hierhergekommen war und mein Herz ausgeschüttet hatte, eines gelernt hatte, dann die Tatsache, dass alle Beziehungen chaotisch waren.

Wenn ich mit meinem Vater und meinem Bruder in einem Raum sitzen konnte, ohne über fünfzig Methoden zu fantasieren, wie ich sie köpfen würde, dann konnte ich auch zu Jane zurückfinden.

Her mit dem Chaos.