Track [4] »Help I’m Alive« | Metric

Jane

Am nächsten Morgen schmollte Dad immer noch wegen Eddie. Es war ihm anzusehen. Als Velvet mich auf meine erste Mission als persönliche Assistentin in die Stadt schickte, um im einzig wahren Friseursalon am See Shampoo zu kaufen – Mandy’s Hair Caboose und Big T’s Barber zählten nicht –, plante ich einen kurzen Zwischenstopp ein, der seine Stimmung vielleicht ändern würde.

Wenn mein Vater nicht zufrieden ist, ist es niemand. Ich war es definitiv nicht. Aber ich brauchte ihn gerade auf meiner Seite. Ich wollte mich im Schein meiner Zukunftspläne mit Eddie sonnen, nicht dem finsteren Blick meines Vaters ausweichen. Und das würde ich mit der einen Sache erreichen, die er noch mehr liebte als alte Autos. Musik.

Genauer gesagt alte Platten.

»Diese Stadt ist so genial wie ein Bucket Fried Chicken«, sagte Starla und bretterte mit dem Hybrid auf den überfüllten Parkplatz neben dem Strip, um mich abzusetzen. »Alle sind so nett. Ich war gestern mit Norma in der Stadt und nach gerade mal fünf Minuten hatte ich schon einen Job bei einem Mann, dessen Hüfte behandelt werden muss. Reizender Mann, nicht irgendein schmieriger Typ, der glaubt, nur weil ich eine Massagetherapeutin bin, gäbe es ein Happy End gratis.«

»Rosa möchte bestimmt nicht, dass du außerhalb der Lodge arbeitest«, warnte ich sie. »Das musst du dir vorher genehmigen lassen, genau wie in Bel Air.«

»Jeder braucht ein kleines Nebeneinkommen«, sagte Starla und lächelte mich verschwörerisch an, als sie ihren Pferdeschwanz über eine Schulter warf. Er war blau-grün gefärbt und ließ sie wie eine Nixe aussehen. »Abgesehen davon kriegt Rosa nicht mit, was ich in meiner Starla-Zeit mache. Ich bin schließlich nicht ihr Eigentum. Hab ich recht, Frida-Hündchen?«, gurrte sie.

Frida hechelte sie von meinem Schoß aus an und versuchte, ihr die Nase abzulecken. Starla Pham war ein paar Jahre älter als ich – einundzwanzig – und arbeitete seit Herbst als PA und Masseurin für Mad Dogs Frau. Sie war gerade dabei, sich auf den Armen und Beinen Akupunkturpunkte tätowieren zu lassen. Ich hätte die Hausregeln auch gern so locker genommen wie sie.

Aber ich lebte schon zu lange bei den Larsens und hatte zu oft mitbekommen, wie Angestellte gefeuert wurden. Mad Dog behandelte sein Personal fair, aber das Tagesgeschäft überließ er der Hauswirtschafterin, Norma, auch Mutter Oberin genannt. Norma duldete weder Idioten noch Leute, die sich nicht an die Regeln hielten. Bisher war Starla ihrem Zorn entgangen, aber es war leicht, hier am See etwas zu vermasseln. Wer wusste das besser als ich.

Nach dem Vorfall am Wehr war ich sicher gewesen, dass Dad und ich rausfliegen würden. Immerhin hatte ich für öffentliches Aufsehen gesorgt und Mad Dog hasste Aufmerksamkeit. Er lebte sehr zurückgezogen und war ein Mann weniger Worte – niemand, der wilde Drogenpartys schmiss oder Hotelzimmer kurz und klein schlug. Er mochte den See, weil er sich hier zurückziehen und aus der Presse bleiben konnte. Diesen Zustand hatte ich definitiv unterbrochen. Als ich in jenem Sommer ins Wasser stürzte, berichteten die lokale Zeitung und der Fernsehsender von nichts anderem als dem Staudamm und Betty’s – unerwünschte Aufmerksamkeit für Mad Dog. Aber vermutlich hatte er zu viel Mitleid mit mir, um uns vor die Tür zu setzen. Vielleicht mochte er auch meinen Vater zu sehr. Wenn man Mad Dogs Level erreicht hat, vertraut man den Leuten nicht so schnell, und Dad ist so loyal, wie man nur sein kann.

»Ach was, ich würde sagen, was Norma nicht weiß, macht Norma nicht heiß«, winkte Starla ab. »Wenn ich diesen Sommer noch ein paar zusätzliche Kunden unterbringen kann, werde ich mir das Geld nicht entgehen lassen. In die Stadt zu kommen ist das Problem. Warum liegt die Lodge so weit draußen? Wäre ich Mad Dog, hätte ich mir eine bessere Lage ausgesucht.«

Da Starla und ich beide PAs waren, würden wir uns über den Sommer diesen Wagen teilen … zusammen mit Exie und der stellvertretenden Hauswirtschafterin. Wir mussten uns eintragen, wenn wir damit das Haus verließen. Starla hatte nicht unrecht. Mit einem Auto für vier Leute und ohne öffentlichen Nahverkehr außer der Bonanza-Straßenbahn war ziemlich viel Jongliererei nötig, um die Fahrten von und zur Lodge zu koordinieren.

Das Benzin wurde mit der Firmenkreditkarte bezahlt. Ich hatte meine erst heute Morgen bekommen. Jeder Einkauf musste notiert und jede Quittung aufbewahrt werden. Ich konnte mir nicht mal eben Lunch davon kaufen. Ließ sich eine Ausgabe nicht erklären, müsste ich sie aus eigener Tasche bezahlen und würde außerdem gefeuert werden. Und damit würde ich dann auch mein Zuhause verlieren.

Alles.

Eines Tages würde ich mir über so etwas keine Gedanken mehr machen müssen. Vielleicht ja schon bald. Eddie sollte sich besser beeilen und von den Philippinen zurückkommen, damit wir über eine eigene Wohnung reden konnten.

»Danke, dass du mich mitgenommen hast«, sagte ich zu Starla.

»Leo holt dich ab, richtig?«

Ich nickte. Wenn er aus den Bergen zurückkam. Er hatte Mad Dog und Rosa heute Morgen für eine Sonnenaufgangsmeditation zu irgendeinem Guru gefahren, mir blieb also ungefähr eine Stunde in der Stadt.

»Alles klar. Mach nichts, was ich machen würde«, ermahnte mich Starla grinsend. »Bis nachher in der Lodge.«

Ich sprang aus dem Auto und lief mit Frida den Strip hinunter. Die Saison fing gerade erst an und es waren nur wenige Touristen unterwegs, aber das Wetter war schön und eine Familie in Shorts mietete gerade Kajaks, alle trugen Sonnenbrillen. Ich machte einen Bogen um sie und erspähte über einem Schaufenster einen halben Block weiter, wonach ich suchte – ein Schild mit glänzender goldener Retroschrift:

VICTORY VINYL

NEUE UND GEBRAUCHTE PLATTEN SEIT 1980

Eine Institution am See, und zwar eine, die mit Eddies Familie verbunden war. Allerdings nicht den Sarafians. Der Plattenladen gehörte Eddies Großvater mütterlicherseits, Großvater Kasabian. Als er ihn gekauft hatte, war Victory Vinyl bloß ein winziger runtergekommener Laden gewesen. Nun wurde er von Eddies Tante geführt – der älteren Schwester von Eddies Mutter, es blieb alles in der Kasabian-Familie – und gelegentlich signierten hier Bands vom Festival oder es gab Überraschungsevents. Ich zog an Fridas Leine und steuerte auf den Ladeneingang zu. Die Spiegeltür war mit einer bunten Sammlung sich ablösender Aufkleber beklebt: Zildjian Cymbals, 2Pac, Dead Kennedys, die armenische Flagge.

An der Wand daneben hing eine Sammlung regionaler Auszeichnungen. Aber auch landesweite: Der Laden stand auf einigen der nationalen Best-of-Listen. Außerdem gab es einen Artikel aus dem San Francisco Chronicle: »Zwei Migrantenfamilien finden über die Musik zueinander«.

»Hey«, warnte ich Frida. »Benimm dich. Wenn du mich nicht blamierst, darfst du Captain Pickles durchkauen, wenn alles vorbei ist, okay?« Wir trafen ein stillschweigendes Abkommen und ich stellte mir schnell den Wecker auf meinem Handy, damit ich das Shampoo nicht vergaß – ein Trick, den ich von meinem Vater gelernt hatte, Mr Militär. Komm niemals zu spät, wenn du für die Reichen und Berühmten arbeitest.

Als ich den rustikalen Laden betrat, drangen Gitarrengeklimper und weiche Trommelbeats aus den Lautsprechern. Entlang der Gänge standen Holzkisten mit LPs. Alte Linolschnitt-Konzertplakate. Hohe Wände. Eine dunkle Galerie über den Deckenbalken, auf der signierte Gitarren hingen. Alles roch angenehm nach muffiger Pappe und altem Plastik. Mich überkam ein gutes Gefühl, als ich schnupperte.

Obwohl nicht viel los war im Laden, war es eng, deshalb musste ich mich auf meinen Größe-37-Sneakers an einem Paar vorbeischieben, das konzentriert die Platten durchging. Ich behielt außerdem das Hündchen im Auge, das jeden Moment einen Ausraster haben und entweder loskläffen oder jemand auf die Schuhe pinkeln konnte.

Vor allem aber hielt ich Ausschau nach Eddies Tante, Pari Kasabian. Eventuell gab es noch eine andere Tante in der Stadt, ich war nicht sicher. Er erwähnte die Familie seiner Mutter nur selten. Mit meinem neuen Haarschnitt würde sie mich zwar vermutlich sowieso nicht erkennen, trotzdem wollte ich nicht überrascht werden.

Der Kassenbereich befand sich im hinteren Teil des Ladens, unter der Galerie mit den Gitarren. Links beim ANKAUF-Schild lehnte eine schlanke Frau am Tresen und plauderte mit einem Kunden – war das Eddies Tante? Ich war mir nicht sicher. Rechts stand eine kleinere Glasvitrine mit einem VERKAUF-Schild. Hier war niemand. Gut. Das war der Bereich, wo ich mich umsehen musste – hier bewahrten sie die guten Sachen auf.

Dad hatte eine Riesensammlung seltener Platten, eine Leidenschaft, die er mit Mad Dog gemeinsam hatte – die Liebe zu altem Vinyl. Es gab ein Album, nach dem mein Vater schon eine Weile suchte, sein heiliger Gral. Eine rare Fehlpressung von My War der legendären L.A.-Punkband Black Flag. Sie waren seine Lieblingsband, seit er so alt war wie ich jetzt; er hatte signierte Exemplare von Henry Rollins’ Gedichtbänden und gerahmte Fotografien, die sie beide zusammen zeigten. Ihr habt noch nie einen erwachsenen Mann so dahinschmelzen sehen, wie es mein Vater in der Nähe von Henry Rollins tat. Er fuhr tausend Stars herum, ohne dass seine muskulösen Arme auch nur zuckten. Aber bei Henry? Da wurde er zum absoluten Fanboy.

Wann immer ich in einem Plattenladen war, hielt ich Ausschau nach dem heiligen Gral.

Als ich die Reihen mit Albumcovern in Plexiglashüllen durchging, kam von der anderen Seite der Vitrine ein Mitarbeiter näher. Kurzes Herzklopfen, aber es war nicht Eddies Tante.

Auch nicht Eddie. Natürlich nicht. Er saß ja gerade im Flieger Richtung Philippinen.

Aber es war ein Junge. Ein gutaussehender Junge, ungefähr so alt wie ich.

Er hatte wild um den Kopf stehendes dichtes braunes Haar und eine Mega-Ausstrahlung. An dem zerknitterten schwarzen Hemd, das er über einem T-Shirt trug, waren mehrere Badges befestigt: ein winziges Emaille-Klavier und ein schallplattenförmiges Namensschild, auf dem FALSCH stand.

Er war definitiv anziehend, auf so eine gequält düstere Art. Nicht dass ich auf der Suche war, neben Eddie hatte keiner eine Chance. Aber das war auch nicht der Punkt. Da war etwas unter seiner Oberfläche, das mir verborgen blieb, spürbar, aber unerreichbar. Wie ein Wort, das mir auf der Zunge lag, das ich aber nicht zu fassen bekam. Und dieses verborgene Ding schaltete sämtliche Lichter in meinem Kopf an, was bedenklich war. Nicht im Sinne von gefährlicher Fremder. Ich hatte eher Angst, dass die Wörterfresserin aufwachte.

Ich vermied es, in seine Habichtaugen zu schauen. Dafür fielen mir seine Hände auf. Ich hatte noch nie zuvor auf die Hände von jemand geachtet, aber seine passten nicht zu dem Rest von ihm – lange elegante Finger, die sich beängstigend bogen, wenn er sie spreizte oder aneinanderdrückte.

Ich starrte und er bekam es mit. Unser Blick traf sich und löste sich nicht mehr. Ein paar Momente zu lang. Ich war ein Fisch, der angebissen hatte, mich überkam Panik. Ich war ertappt.

Meine Verlegenheit verlieh mir schließlich die Kraft, wegzuschauen.

Wörter. Ich brauchte sie. Macht schon.

»Entschuldigung«, nuschelte ich, während Frida am Tresen kratzte.

»Kann ich helfen?« Er kam einen Schritt näher, bis wir uns, nur vom schmalen Glas des Tresens getrennt, gegenüberstanden.

»Ich suche eine bestimmte Platte«, erklärte ich. »Äh … Ich sehe sie aber nicht. Egal. Sie ist superselten, deshalb … Wäre wirklich ein Glücksfall gewesen. Sorry. Danke. Sorry. Ich wollte sagen … sorry.«

Hilfe. Wie oft konnte man sich entschuldigen? Wenigstens hatte ich mich nicht bei den Wörtern vertan. Höchste Zeit, die Suche nach dem heiligen Gral meines Vaters abzubrechen und zuzusehen, dass ich hier rauskam, bevor ich mich voll zur Idiotin machte.

Doch als mich zum Gehen wandte, sprach mich der Junge noch mal an.

»Fuck, du bist es«, sagte er mit tiefer dunkler Stimme. »Du … lebst.«