»Meine innere Haltung ist klar,
voller Liebe und voller Empathie für mich,
mein Kind und für andere Menschen.«
Sicher hörst und liest du immer wieder davon, dass es deinem Kind hilft, wenn du eine souveräne und selbstsichere innere Haltung hast. Da dein Kind mit dir in einer symbiotischen Verbindung steht, spürt es sofort, wenn du auch nur einen kleinen Funken Unsicherheit ausstrahlst und nicht genau hinter dem stehst, was du gerade sagst oder tust. Vor allem hat dein Kind einen besonders guten Riecher dafür, wenn du ein schlechtes Gewissen hast oder unsicher bist, ob du gerade richtig handelst.
Hinter deinem schlechten Gewissen verbirgt sich häufig ein bestimmtes Gefühl, meist ist das eine Form von Versagensangst. Deine innere Stimme sagt dann vielleicht so etwas wie: »Bin ich gerade zu streng oder sollte ich besser nachgeben?«, »Geht es mir hier gerade nur ums Prinzip?«, »Verletze ich mein Kind gerade durch mein Verhalten?«, »Darf ich gerade eine Grenze zeigen oder sollte ich mein Kind besser selbst entscheiden lassen?«
Deine Unsicherheit und vielleicht auch deine Angst vor Fehlern können dann dazu führen, dass deinem Kind die Orientierung, der Halt und die Sicherheit fehlen, da du in diesen Momenten nicht in der Lage bist, Klarheit auszustrahlen. Doch du darfst deine innere Haltung immer wieder neu für dich finden und dir in manchen Situationen viel Zeit geben, um wieder eine klare innere Haltung zu finden. Auch wir beide sind bezüglich unserer inneren Haltung immer wieder im Prozess, indem wir Verhaltensweisen reflektieren und überdenken. Wenn Eltern genau wissen, warum sie gerade so handeln, können sie mehr Selbstsicherheit und Selbstvertrauen ausstrahlen und ihrem Kind dadurch Halt und Sicherheit schenken.
Es gibt verschiedene Gründe, warum es Eltern schwerfällt, mit innerer Klarheit liebevoll zu führen. Kinder können auf hervorragende Art und Weise bei ihren Eltern auf bestimmte Knöpfchen drücken und nicht verarbeitete Gefühle aus der Kindheit wieder auslösen. Das machen sie zu keiner Zeit mit böser Absicht. Sie spüren lediglich, dass sie durch bestimmte Verhaltensweisen bei ihren Eltern etwas bewirken und damit ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit stillen können. Auch wenn diese Aufmerksamkeit negativ ist, macht das Kind unter Umständen weiter, weil aus kindlicher Sicht so viel Spannendes bei Mama und Papa zu beobachten ist. Könnte ein Kind bereits reflektieren, warum es sich so verhält, sähe das so aus: »Wow! Wenn ich immer wieder zur Steckdose krabble, macht Papa spannende Dinge. Er schenkt mir Aufmerksamkeit – und zwar sofort. Das finde ich lustig, deshalb lache ich, und wenn er sich dann richtig aufregt, dann versuche ich, ihn durch mein Lächeln zu besänftigen. Schließlich habe ich gelernt, dass Lächeln den Erwachsenen gefällt.«
Der Papa selbst nimmt hingegen das Verhalten des Kindes vielleicht als Provokation wahr, obwohl es keine ist. Vielleicht wurde sein Bedürfnis, gesehen oder gehört zu werden, in seiner Kindheit nicht erfüllt, und genau deswegen triggert das Verhalten seines Kindes ihn jetzt. Er fühlt sich hilflos, verzweifelt oder ohnmächtig wie früher als Kind. In solchen Momenten kann es dann passieren, dass du wie fremdgesteuert reagierst. Hinterher schämst du dich vermutlich dafür, dass du wieder geschrien, geschimpft, gemeckert oder gedroht hast.
Und all das hängt mit deinen eigenen Erfahrungen zusammen. Das Unterbewusstsein des Menschen möchte in diesen Momenten sozusagen verhindern, wieder so empfinden zu müssen wie in der Kindheit. Es handelt sich dabei um einen Schutzmechanismus unseres Nervensystems, der versucht zu verhindern, dass die unerfüllten Bedürfnisse (z. B. Schutz, Wertschätzung, Autonomie, Zuneigung) aus der Kindheit wieder unerfüllt bleiben, weil dir als Kind diese Dinge von deinen Bezugspersonen so sehr gefehlt haben. Hinzu kommen belastende Glaubenssätze, die du unbewusst denkst, wie zum Beispiel: »Ich bin es nicht wert, gesehen zu werden!«, »Ich bin wertlos, unwichtig oder reiche nicht aus!«
Dein Kind löst all das durch sein Verhalten in dir aus. Gleichzeitig ist es nicht dafür verantwortlich, auf deine Gefühle zu achten oder dein Bedürfnis danach, gesehen und gehört zu werden, zu stillen. Dafür wären in der Kindheit deine Bezugspersonen verantwortlich gewesen, und jetzt im Erwachsenenalter kannst nur noch du selbst die Verantwortung für dich und deine Bedürfniserfüllung übernehmen. Auch wir beide durften diese Trigger für uns erkennen:
Martinas Trigger: »Da war dieser Junge in meiner Schulklasse, in welcher ich Klassenlehrerin war, zu dem ich eine sehr enge Beziehung aufgebaut hatte. Er hatte besondere Lernvoraussetzungen und war stark von meiner Nähe und liebevollen Führung abhängig. Immer wieder half ich ihm dabei, seine Wut durch unterschiedliche Strategien zu regulieren, wenn er völlig bindungsleer in die Schule kam. Wenn ich nicht in der Schule war, zeigte er oft aggressives Verhalten auf dem Pausenhof, weil ihm meine Orientierung und mein Halt fehlte. Und dann gab es diesen Moment, in dem er vor meinen Augen ein anderes Mädchen mit ›du blöde Sau‹ beschimpfte und sie trat. Ich war nicht mehr Herrin meiner Sinne und mein Nervensystem reagierte wie fremdgesteuert. Ich schrie ihn laut an, obwohl alles in mir wusste, dass meine Reaktion völlig unangemessen war. Ich ließ ihn sogar von seiner Mutter abholen, weil ich so wütend und ohnmächtig war – wie als Kind – und nicht ertragen konnte, dass er sich so verhielt.
Was war bei mir los? Aus meiner Sicht hatte ich versagt, weil der Junge sich nicht so verhielt, wie ich es für angemessen hielt! Obwohl ich diesem Jungen täglich all meine Liebe schenkte, hatte ich versagt. Ich reichte nicht aus, das, was ich tat, reichte nicht aus, und da sind wir auch schon mitten in meinem persönlichen Thema. Egal, wie sehr ich als Kind strampelte – es reichte für meinen Papa nicht aus, weshalb ich die Überlebensstrategie entwickelte, immer noch besser sein zu wollen. Deshalb drückte er bei mir das richtige Knöpfchen. Heute weiß ich und kann es auch spüren: ›Egal was und wie viel ich tue oder leiste – unabhängig davon –, ICH BIN WERTVOLL, einfach nur, weil ich bin!‹
Diese Erkenntnis erlaubte mir, in weiteren Konfliktsituationen erst einmal mir selbst Einfühlung zu schenken. Ich hielt meine Reaktion zurück, ging kurz aus der Situation, trank ein Glas Wasser oder setzte mich einfach nur an mein Lehrerpult und atmete. Währenddessen sprach ich wie ein Mantra innerlich vor mich hin: ›Ich bin wertvoll! Ich reiche aus! Ich schaffe das!‹
Manchmal – wenn ich andere Kinder vor der Gewalt des Jungen schützte – sprach ich diese Sätze bereits während des Handelns still vor mich hin. Ich war also zunächst viel mehr bei mir als bei dem Jungen, denn hinter dem starken Gefühl der Wut, das der Junge immer wieder in mir auslöste, verbarg sich eine große Versagensangst, auf die ich in den Momenten der Triggersituationen inzwischen liebevoll eingehen konnte. Mein inneres Gespräch sah dann zum Beispiel im Nachgang ungefähr so aus: ›Martina, du möchtest es so gerne perfekt machen und du willst im Umgang mit den Kindern die Beste sein. Wenn der Junge sich so verhält, ist das ganz schwer für dich, weil es nicht perfekt läuft. Weißt du, meine Kleine: Du bist wertvoll, auch wenn der Junge sich so verhält. Du reichst aus, mit allem, was du tust.‹«
Kathys Trigger: »Es war eines Abends im Badezimmer, meine Tochter war damals etwa drei Jahre alt und ich wollte ihr die Zähne putzen. Sie verweigerte das vehement mit ›Nein! Nein! Nein!‹. Der Tag hatte für mich bis dahin gefühlt aus bereits 1 000 Neins meiner Tochter bestanden und mein Zeiger war an diesem Abend im roten Bereich. Ich spürte, wie sich alles in mir zusammenzog, und am liebsten hätte ich sie angeschrien: ›Jetzt ist mal Schluss, du Göre! Was fällt dir eigentlich ein?! Nein gibt es nicht, du machst, was ich sage!‹ In diesem Moment war ich voller Hass – ein Gefühl, das ich in meinem ganzen Körper, in meinen Gedanken und in meiner Seele spürte. Es war grausam und unmittelbar danach schämte ich mich dafür.
Ich schaffte es, eine Exitstrategie anzuwenden, um mein Nervensystem zu beruhigen: Ich zählte in Zweierschritten laut vor mich hin ›2-4-6-8-10-…‹ und sagte zu meiner Tochter: ›Ich kümmere mich gerade um mich!‹ Danach nahm ich sie auf den Schoß, drückte sie fest und sagte: ›Jetzt putzen wir zusammen Zähne mit ganz viel Spaß. Willst du ein Tiger sein oder ein Pferd?‹ Sie wählte den Tiger.
Ich war heilfroh, irgendwie die Kurve bekommen zu haben, und doch beschloss ich noch in diesem Moment, mich meinem Hass zu widmen, sobald sie im Bett liegen würde. Gesagt, getan. Durch verschiedene Tools erkannte ich, dass ich in meiner Kindheit nie Nein sagen durfte und dass ich für meine starken Gefühle – wie beispielsweise Wut – Ablehnung erfahren hatte. Ich erkannte, dass die Situation mit meiner Tochter die kleine Kathy in Alarmbereitschaft versetzt und Panik in Form von Hass in mir ausgelöst hatte.
Ich hasste also nicht meine Tochter, sondern war voller Hass aus der Panik heraus, nicht gesehen und gehört zu werden, weil mir als Kind Empathie gefehlt hat. Ich beschloss, mir dieses Bedürfnis rückwirkend zu erfüllen, Stück für Stück und mit kleinen täglich angewendeten Strategien. Vor allem der Glaubenssatz »Ich bin wichtig!« hat mir geholfen, bei mir zu bleiben, statt mich von meiner Tochter provoziert zu fühlen.
Allein die Erkenntnis, was meine Tochter mit ihrem Nein bei mir auslöste und wo die Ursache dafür lag, half mir am nächsten Tag, wesentlich entspannter mit ähnlichen Situationen umgehen zu können. Die Erkenntnis, dass ich wichtig bin und dass alle meine Gefühle, auch die starken, sein dürfen, war mein Schlüssel, um aus dem Hass aussteigen zu können. Heute kann meine Tochter diese Knöpfe gar nicht mehr drücken, weil ich diese Wunden aus meiner Kindheit geheilt habe.«
Aus der Beratung
Marianne liebte ihren Beruf und war gut in dem, was sie tat. Ihre Kolleg*innen beschrieben sie als selbstbewusst, klar und bestimmt – und bewunderten, mit wie viel Selbstbewusstsein sie ihren Aufgaben nachging. Als Marianne Mama wurde, war diese Selbstsicherheit dahin. Statt klar und bestimmt im Umgang mit ihrer Tochter zu sein, fühlte sie sich häufig so, als würden ihr die Situationen entgleiten, es brannten ihr förmlich die Sicherungen durch. Ein Wutausbruch ihrer Tochter nach einem Nein von Marianne – egal ob zu Süßigkeiten oder zu einer weiteren Folge der Kinderserie – war jedes einzelne Mal eine Herausforderung für beide.
Nach einigen Beratungen erkannte Marianne, welche belastenden Glaubenssätze und Gefühle aus ihrer eigenen Kindheit sie noch mit sich herumtrug und dass sie diese ganz unbewusst in ihre eigene Mutterschaft übernommen hatte. Ihr Vater hatte Marianne nämlich verboten, vermeintlich unangenehme Gefühle wie Wut zu zeigen, auch Traurigkeit wertete er ab. Er schrie sie sogar an, sie solle aufhören zu weinen, wenn sie traurig war. Folgender unbewusster Glaubenssatz schützte sie damals – und blieb bis heute: »Man muss stark sein und Gefühle unterdrücken, und wenn ich das nicht tue, wird es gefährlich!«
All ihre über viele Jahre unterdrückte Trauer und Wut wird nun durch ihre Tochter ausgelöst – ganz besonders dann, wenn ihre Tochter selbst Gefühle wie Traurigkeit und Wut zeigt. Kein Wunder also, dass Marianne regelmäßig rotsieht, wenn ihre Tochter Wutausbrüche hat. Mariannes Nervensystem reagiert bei Wut und Traurigkeit mit großer Angst und Panik, und Marianne fühlt sich – wie damals in ihrer Kindheit – bedroht. Erst mit diesem Verständnis für ihre eigene Geschichte kann sie sich endlich mit Mitgefühl begegnen, anstatt sich für ihr Verhalten zu verurteilen.
Dass Marianne in diesen Momenten wie fremdgesteuert reagiert, liegt an der besonders tiefen Beziehung, die zwischen Eltern und Kind besteht. Wenn du selbst Mama oder Papa bist, begibst du dich auf eine tiefere Beziehungsebene, die dich unbewusst an die Beziehung zu deinen Eltern erinnert. Falls du mehrere Kinder mit unterschiedlichem Temperament hast, ist es vielleicht auch so, dass dich ein Kind mehr und das andere Kind weniger triggert. Auch wenn du als pädagogische Fachkraft arbeitest und über einen längeren Zeitraum eine intensive Beziehung zu Kindern aufbaust, wirst du immer wieder auf sogenannte »Helferkinder« treffen, die durch ihr Verhalten besonders schnell und erfolgreich völlig unbewusst deine Knöpfchen drücken können und dir darüber helfen, deine Themen aus der Kindheit aufzuarbeiten.
Alte Muster aus deiner Herkunftsfamilie, unerfüllte Bedürfnisse aus deiner Kindheit oder sogar traumatische Erfahrungen kommen allerdings oft erst durch deine Elternschaft ans Tageslicht, und du erkennst dich in manchen Momenten vielleicht gar nicht mehr wieder. Dass diese Verletzungen aus der Kindheit plötzlich so »freiliegen«, hängt allerdings nicht nur mit der tieferen Beziehungsebene zusammen. Hinzu kommt, dass deine eigenen Bedürfnisse von den Bedürfnissen deines Kindes oder deiner Kinder überlagert werden und du dich nicht mehr so gut um dich kümmern kannst wie vor deiner Elternschaft. Du bist in vielen Momenten gezwungen, deine Bedürfniserfüllung aufzuschieben.
Vielleicht geht es dir wie vielen anderen Eltern und du gehst an vielen Punkten über deine Grenzen. Obwohl du eigentlich gar keine Lust auf Rollenspiele hast, spielst du deinem Kind zuliebe unentwegt Rollenspiele. Eine Mutter, die wir begleiten, meinte neulich schmunzelnd in der Beratung: »Manchmal weiß ich nach all den Rollen, die mir mein Kind zuschreibt, fast gar nicht mehr, wer ich selbst bin.«
Du kommst also definitiv über einen mehr oder weniger langen Zeitraum zu kurz und darfst in deiner neuen Rolle erst Strategien erlernen, wie du dich um dich kümmerst, obwohl dein Kind dauerhaft etwas von dir beziehungsweise dich braucht. Besonders anspruchsvoll wird es für Eltern, wenn sie zwei Kleinkinder mit kleinem Altersabstand haben, die zeitgleich starke Bedürfnisse haben, oder wenn ein Kind gefühlsstark oder hochsensibel ist oder andere besondere Voraussetzungen mit in die Familie bringt. Da kann es sich für Eltern durchaus so anfühlen, als hätten sie drei Kinder gleichzeitig zu begleiten.
Bevor wir dir drei wichtige Schritte zeigen, wie du in deine innere Klarheit beim liebevollen Führen kommst, möchten wir dir noch zwei typische Hürden vorstellen, die Eltern davon abhalten, liebevoll zu führen.
Kommen dir die folgenden Glaubenssätze bekannt vor?
Ich darf keine Fehler machen!
Ich darf nicht versagen!
Ich muss es besser machen als meine Eltern!
Ich muss perfekt sein!
Solltest du diese Glaubenssätze auch bei dir beobachten, könnte es sein, dass dich diese Hürde vom liebevollen Führen abhält. Vielleicht hast du als Kind durch deine Erfahrungen auch folgenden Satz abgespeichert: Ich schaffe das nicht oder ich kann das nicht, weil dir damals die Unterstützung gefehlt hat, um aus Misserfolgen zu lernen. Möglich wäre auch, dass du selbst machtvolle und strafende Führung erlebt hast und hierarchische Strukturen, in denen du nicht gleichwürdig behandelt wurdest. Dann hast du unterbewusst vielleicht verankert, dass Führung immer Gewalt bedeutet, weshalb du dein Kind unter keinen Umständen in seiner Freiheit einschränken möchtest.
Es kann auch sein, dass dein neu erlangtes Wissen über Bindungsorientierung dich lähmt. Vielleicht hast auch du in manchen Momenten das Gefühl, dich mit der bedürfnis- und bindungsorientierten Elternschaft auf sehr dünnem Eis zu bewegen. Vor allem dann, wenn du immer wieder mit strafenden oder verständnislosen Blicken angeschaut wirst, wenn du zum Beispiel versuchst, dein Kind durch seine Wut oder Aggression zu begleiten, ohne es zu verurteilen. Sätze wie »Da ziehst du dir einen Tyrannen ran, wenn du deinem Kind das durchgehen lässt!« oder »Da musst du jetzt auch mal durchgreifen!« kommen bedürfnisorientierten Eltern sehr bekannt vor.
Wenn dir dein Umfeld kritisch begegnet und dir immer wieder erklärt, dass das alles nicht funktioniert, bist du vielleicht verunsichert und fragst dich an der ein oder anderen Stelle, ob du zum Beispiel zu wenig Grenzen setzt. Denn dass Kinder klare Grenzen brauchen, denkst du auch. Nur über das Wie und Wann bist du vielleicht manchmal unsicher, zum Beispiel wann du dein Kind mitbestimmen lässt und wann nicht. Vielleicht fragst du dich auch, wie viel Frust du deinem Kind zumuten kannst und ab wann du die Steine aus dem Weg räumen solltest, die sich gerade vor euch auftürmen. Denn du möchtest, dass dein Kind belastbar wird und lernt, mit Misserfolgen umzugehen, indem es eine hohe Frustrationstoleranz entwickelt. Möglicherweise erwischst du dich auch dabei, wie ihr mal wieder darauf verzichtet, die Zähne deines Kindes zu putzen oder eine Jacke anzuziehen, die warm genug ist. Dir ist es nämlich wichtig, dass dein Kind sich gehört und gesehen fühlt, und du möchtest seine Meinung respektieren. Und trotzdem bleibt da ein Funken Unsicherheit in dir zurück: »Hätte ich hier jetzt liebevoll führen und konsequent einfordern sollen, dass die Zähne geputzt werden und die Jacke angezogen wird?«
Worauf wir hinauswollen: All dein Wissen über bedürfnis- und bindungsorientierte Elternschaft und der Wunsch, es anders als deine Eltern zu machen, kann dich davon abhalten, ins Handeln zu kommen – insbesondere dann, wenn dich die oben beschriebenen Glaubenssätze oder andere Sätze unterbewusst lähmen.
Dein Wissen über die Auswirkungen einer autoritären Erziehung nimmt dir die Selbstsicherheit, die du vielleicht vor der Zeit mit deinen Kindern viel häufiger gespürt hast. Du möchtest nämlich um jeden Preis verhindern, dass sich dein Kind so fühlen muss, wie du es vielleicht als Kind getan hast, und deswegen lässt du manchmal Dinge lieber geschehen, als liebevoll die Führung zu übernehmen – aus Angst, dein Kind zu verletzen oder seinem Selbstwertgefühl zu schaden. Denn du möchtest, dass es über sich selbst lernt: »Ich bin wertvoll und liebenswert so, wie ich bin!«
Stell dir nun gern die Frage, ob auch dein Wissen dich lähmt, und nimm dir einen Moment Zeit, um dies zu reflektieren. Dafür kannst du folgende Reflexionsübung machen.
Reflexionsübung
Notiere eine Situation, in der du keine liebevolle Führung übernehmen konntest, aus Angst, dein Kind zu verletzen oder etwas falsch zu machen, und frage dich, wie du liebevoll führend hättest reagieren können.
Kommen dir die folgenden Glaubenssätze bekannt vor?
Ich bin nicht liebenswert!
Ich werde nur geliebt, wenn ich die Wünsche anderer erfülle.
Ich reiche nicht aus!
Ich darf nicht zur Last fallen!
Eltern, die diese oder ähnliche Glaubenssätze in ihrer Kindheit gelernt haben, empfinden große Hilflosigkeit, Traurigkeit, Wut oder andere starke Gefühle, wenn ihr Kind beginnt, sich von ihnen abzugrenzen.
Sätze aus dem Mund deines Kindes wie zum Beispiel:
»Du bist die blödeste Kack-Scheiß-Mama!«
»Ich hasse dich!«
»Geh weg! Ich will dich nicht mehr sehen.«
»Ich mag die Oma viel lieber als dich!«
treffen dich dann wie ein Dolch mitten ins Herz, denn Konflikte oder Ablehnung fühlen sich für dich besonders bedrohlich an. Tatsächlich lässt dein Kind seine starken Gefühle ganz besonders ungefiltert an dir, seiner engsten Bezugsperson, aus, weil es sich deiner Liebe sicher ist. Dies könntest du sogar als Kompliment für eure enge Verbindung verstehen und dir immer wieder bewusst machen, dass dein Kind sich durch sein Verhalten entweder …
von dir abgrenzen möchte,
ein Ventil für seine starken Gefühle braucht,
oder nach Hilfe in großer Not ruft und diesen Hilferuf noch nicht anders ausdrücken kann.
Doch die Vernunft ist das eine und deine Kindheitsgeschichte das andere, was dich unbewusst steuert. Denn weil dein Nervensystem alte Verletzungen abgespeichert hat, kannst du deine Reaktion nur bedingt steuern, wenn dein Kind dich durch sein Verhalten zurückweist. Deine Gefühle haben in diesen Situationen deswegen ihre Berechtigung, denn Erfahrungen der Ablehnung und Zurückweisung in der Kindheit, wie im Übrigen auch Mobbing, lösen starke Verlustängste in Verbindung mit Einsamkeit aus. Möglich ist zum Beispiel auch, dass du selbst als Kind Konflikte als sehr bedrohlich wahrgenommen hast, zum Beispiel wenn sich deine Eltern viel gestritten haben.
Um dich zu schützen, entwickelst du eine hemmende Strategie, die dich davon abhält, dein Kind liebevoll zu führen. Eltern, die Angst vor Ablehnung haben, fühlen sich besonders schnell von ihren Kindern zurückgewiesen und versuchen unbewusst, ihrem Kind alles recht zu machen und ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Es fällt Eltern dann auch besonders schwer, Nein zu einem weiteren Schokoriegel oder dem Spielzeug an der Supermarktkasse zu sagen.
Reflexionsübung
Durch welche konkreten Verhaltensweisen im Alltag versuchst du, der Ablehnung deines Kindes aus dem Weg zu gehen, um Harmonie zu wahren?
Die folgenden drei Schritte helfen dir dabei, im Alltag immer wieder in deine innere Klarheit beim liebevollen Führen zu finden. Du kannst diese Schritte in deinem eigenen Tempo gehen, ohne dich dabei unter Druck zu setzen.
1. Schritt: Gewinne ein klares Bewusstsein über deine Kindheitserfahrungen.
Deine eigenen Kindheitserfahrungen spielen für deine innere Klarheit eine entscheidende Rolle. Gefühle, die in deiner Kindheit häufig ausgelöst wurden, unerfüllte Bedürfnisse und unbewusste Glaubenssätze aus deiner Kindheit beeinflussen die Qualität der Beziehung zu deinem Kind und dein Erziehungsverhalten.
2. Schritt: Lerne durch Strategien der Bedürfniserfüllung, dich in deiner Elternschaft selbst liebevoll zu führen.
Deine unerfüllten Bedürfnisse aus der Kindheit und Bedürfnisse, die durch deine Elternschaft plötzlich unerfüllt bleiben, führen dazu, dass du schnell in den Mangel kommst. Deshalb ist es wichtig, dich selbst liebevoll zu führen und Strategien zu finden, um in deiner Kraft und inneren Klarheit beim liebevollen Führen bleiben zu können.
3. Schritt: Finde ein klares Warum für deine liebevolle Führung in der Erziehung.
Wenn du genau weißt, wohin du mit deinem Erziehungsverhalten möchtest und warum dein Verhalten gerade sinnvoll und verantwortungsbewusst ist, kannst du auch voll und ganz hinter dir selbst und deinen Entscheidungen stehen und diese Sicherheit ausstrahlen.
Im Folgenden wollen wir dir zeigen, wie du diese Schritte konkret für dich umsetzen kannst.
Für deine innere Klarheit ist es also zunächst nötig, dass du dich mit dir selbst und deiner Kindheitsgeschichte auseinandersetzt, häufig ausgelöste Gefühle in deiner Kindheit erkennst, alte, belastende Glaubenssätze aufspürst und deine erfüllten und unerfüllten Bedürfnisse herausfindest.
Entscheidend ist, dass du dich mit all deinen Erfahrungen liebevoll annimmst und Mitgefühl für dich entwickelst. So kannst du dir im Alltag verzeihen, dir liebevoll und verständnisvoll gegenübertreten, auch wenn du mal nicht so reagiert hast, wie du es dir von dir wünschst. Durch diese weiche und warme Haltung dir selbst gegenüber kannst du dir schneller verzeihen und deine Kraft dafür nutzen, zu reflektieren, wie du es beim nächsten Mal besser machen möchtest.
Wir sprechen hier von der liebevollen Selbsteinfühlung, die ein wichtiger Schlüssel für dein sicheres liebevolles Führen ist. Dabei fühlst du genau in dich hinein und nimmst bewusst wahr, wie du dich fühlst und wo du dieses Gefühl im Körper spürst. Im weiteren Schritt versuchst du herauszufinden, was du genau brauchst.
Wenn Eltern in ihrer Kindheit zum Beispiel erfahren haben, dass sie schutzlos sind, blieb das bedeutsame Bedürfnis nach Schutz unerfüllt. In der eigenen Elternrolle fühlen sich dann genau diese Eltern ganz schnell ohnmächtig oder sogar bedroht und sehnen sich nach Schutz. Wenn Eltern dies für sich reflektieren, können sie ihr starkes Gefühl von Ohnmacht, das vom eigenen Kind getriggert wird, liebevoll annehmen, anstatt sich dafür zu verurteilen. Gedanken, die von Einfühlung dir selbst und deinem Kind gegenüber geprägt sind, kannst du geduldig und durch viel Übung zum Beispiel durch Meditationen in deinem Unterbewusstsein abspeichern und darüber mehr angenehme Gefühle – auch in deiner Elternschaft – empfinden.
Du könntest dann zum Beispiel denken: »Ich fühle mich zwar gerade ohnmächtig, weiß gleichzeitig, dass ich mein Bestes gebe und wir hier beschützt sind. Auch wenn sich das gerade nicht so anfühlt.« Über diese einfühlsamen Gedanken dir selbst gegenüber kannst du viel ruhiger und sicherer mit deinem Kind umgehen und auch klarer und selbstsicherer hinter deinem Handeln stehen.
Wenn du dein Kind beispielsweise vom Spielplatz mit nach Hause nimmst, obwohl es noch dableiben möchte, würdest du deine in diesem Moment empfundene Ohnmacht liebevoll annehmen und dir sagen: »Ich schaffe das! Ich schenke meinem Kind jetzt Sicherheit und trage es nach Hause, auch wenn es starke Gefühle zeigt und zum Beispiel laut schreit oder um sich schlägt.« Dabei handelt es sich um die sogenannte Stellvertretende Kraft, die Teil unserer FüLi-Erziehung ist. Diese Strategie stellen wir in Kapitel 5 mit vielen konkreten Handlungsmöglichkeiten vor.
Mit der folgenden Checkliste möchten wir dir dabei helfen, dich selbst und deine Kindheitsgeschichte besser zu verstehen. Solltest du kaum Erinnerungen an deine Kindheit haben, hilft es dir vielleicht, darauf zu achten, wie du dich heute fühlst, wenn du dich mit deinen Eltern umgibst. Dieses Verständnis wird dir dabei helfen, innere Klarheit in den Bereichen Gefühle, Glaubenssätze und Bedürfnisse zu gewinnen, wodurch du dich im Alltag selbst liebevoll führen kannst:
1. Unangenehme Gefühle, die dein Kind im Alltag in dir auslöst, die du auch aus deiner Kindheit kennst, schnell wahrnehmen und regulieren.
Kreuze an, welche Gefühle dir aus deiner Kindheit bekannt vorkommen:
Ohnmacht
Unsicherheit
Wut
Aggression
Einsamkeit
Überforderung
Verlust- oder Versagensangst
Hass
Verzweiflung
Hilflosigkeit
2. Belastende Glaubenssätze, die du über dich gelernt hast, im Alltag mit Kind bewusst machen und positiv umformulieren.
Kreuze an, welche Glaubenssätze auf dich zutreffen, und stell dir dabei die Frage, durch welche Bezugsperson diese ausgelöst wurden.
Ich muss mich zurücknehmen und bin anderen zu viel.
Erst die anderen, dann ich.
Die Bedürfnisse anderer sind wichtiger als meine!
Ich muss die Verantwortung übernehmen!
Ich bin verantwortlich für die Gefühle anderer!
Ich bin nicht gut genug!
Ich bin schutzlos!
Ich bin ausgeliefert!
Ich bin nicht liebenswert!
Ich bin hässlich!
Ich bin dumm!
Ich kann und schaffe es nicht!
Ich bin allein und muss es allein schaffen!
Ich bin schwach und klein!
Es muss schwer sein!
Ich muss mir Liebe verdienen!
Notiere hier ein bis drei belastende Glaubenssätze:
Formuliere diese Sätze nun in ein bis drei neue, positive und starke Sätze um, wie zum Beispiel »Ich bin beschützt!«.
3. Unerfüllte Bedürfnisse, die deine Bezugspersonen nicht erfüllen konnten, im Alltag mit Kind stillen.
Kreuze an, welche unerfüllten Bedürfnisse auf dich zutreffen, und ergänze nach Bedarf weitere unerfüllte Bedürfnisse. Wenn du dir deine unerfüllten Bedürfnisse bewusst machst, stell dir die Frage, von welcher Bezugsperson du mehr benötigt hättest, und schreibe V für Vater oder M für Mutter.
Unerfüllte Bedürfnisse |
Unerfüllt durch |
Schutz |
|
Sicherheit |
|
Liebe |
|
Körperliche Nähe |
|
Geistige Nähe/Präsenz |
|
Geborgenheit |
|
Orientierung |
|
Struktur |
|
Freude |
|
Leichtigkeit |
|
Zuverlässigkeit |
|
Freiheit |
|
Autonomie |
|
Bindung |
|
Rückzug |
|
Ruhe |
|
Bei diesen Übungen geht es nicht darum, die Schuld bei einer deiner Bezugspersonen zu suchen. Eine Grundannahme der Gewaltfreien Kommunikation, die wir in Kapitel 1 beschrieben haben, besagt, dass jede Person ihr Bestmögliches gibt. Deine Eltern haben demzufolge auch ihr Bestmögliches getan, und du hast nun die Chance, bestimmte Verletzungen aufzuarbeiten, um sie nicht unbewusst auf deine Kinder zu übertragen.
Die Erkenntnisse aus diesem Kapitel und allen Übungen können dir dabei helfen, dich selbst besser zu verstehen, wodurch auch deine Verletzungen aus der Kindheit mehr und mehr heilen können. Mach dir noch einmal bewusst, dass deine Gefühle da sein dürfen und ihre Berechtigung haben, und versuche, dich mit deinen Erfahrungen und unerfüllten Bedürfnissen anzunehmen. Sorge beispielsweise dafür, dich mit Menschen zu umgeben, die besonders einfühlsam sind, wenn dir als Kind Empathie und Verständnis gefehlt haben.
Achte darauf, dir ein geschütztes Nest zu schaffen, in welchem du dich sicher fühlst, wenn dir als Kind Schutz und Sicherheit gefehlt haben, oder hol dir besonders viel Unterstützung von außen, wenn du dich als Kind oft alleingelassen gefühlt hast. Sei weich, mitfühlend und liebevoll mit dir, denn es war nicht leicht für dich als Kind, wenn wichtige Bedürfnisse bei dir nicht erfüllt wurden. Du hättest genau das verdient gehabt, und du bist es wert, dich jetzt liebevoll darum zu kümmern und deine Verletzungen zu heilen. Um dich im Alltag liebevoll zu führen, brauchst du ganz konkrete Strategien, deine Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn du bei der Bewältigung alter Verletzungen Hilfe brauchst, empfehlen wir dir von Herzen, professionelle Unterstützung zu holen.
In der Elternschaft stehen deine Bedürfnisse so sehr hintenan, dass du ganz neue Strategien brauchst, die vor deiner Zeit als Mama/Papa noch nicht vonnöten waren, um für dich zu sorgen. Wir sprechen deshalb gern davon, dass Eltern in ihrer neuen Rolle als Mama oder Papa sich selbst liebevoll führen lernen dürfen, um dann ihre Kinder liebevoll führen zu können.
Das erfordert viel Kreativität und Umsetzungsstärke von dir. Du hast nämlich nicht nur die unerfüllten Bedürfnisse aus deiner Kindheit, die dir im ersten Schritt bewusst geworden sind, sondern plötzlich noch viele neue unerfüllte Bedürfnisse, die die Elternschaft mit sich bringt. Dein Schlafmangel steigert sich vielleicht bereits über Jahre ins Unermessliche, die fehlende Selbstbestimmung durch Kinder lässt dich immer wieder unfrei fühlen, und all die Verantwortungsbereiche, die seit der Geburt deines Kindes auf deinen Schultern lasten, überfordern dich regelmäßig. Die Unterstützung von außen ist rar, schließlich wohnen Oma und Opa nicht um die Ecke, und die innere Zerrissenheit in dir, weil dein Kind den sechsten Infekt im Jahr hat und du dich nicht schon wieder krankmelden willst, treibt dich fast in den Wahnsinn, weil du in deinem Job zuverlässig sein möchtest. An Zeit für dich, für deine Entspannung und Ruhe traust du dich gar nicht zu denken, weil dies so viel Organisation erfordern würde, dass du lieber weiter funktionierst. Du traust dich vielleicht schon gar nicht mehr, die eine oder andere Freundin anzurufen, weil du dich so lange nicht gemeldet hast, und wenn du an deine Paarbeziehung denkst, kannst du dich kaum mehr daran erinnern, wann ihr euch das letzte Mal innig im Arm gehalten oder Zeit zu zweit verbracht habt.
Es ist also alles andere als leicht, in der Elternschaft gut für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, weil die Rahmenbedingungen dich stark beeinflussen. Deshalb brauchst du selbst, wie dein Kind, liebevolle Führung durch dich. Nimm dir deinen Kalender zur Hand und schreibe dir auf, zu welchem Zeitpunkt du dich um dein unerfülltes Bedürfnis aus der Kindheit, das auch jetzt in deiner Elternschaft noch häufig unerfüllt bleibt, kümmern möchtest. Schreibe genau auf, welche Strategie du dafür wählen wirst.
Wenn dir zum Beispiel Geborgenheit in deiner Kindheit gefehlt hat und/oder du dich auch jetzt immer wieder sehr einsam fühlst, frage dich, was dir im Alltag Geborgenheit schenken könnte. Vielleicht ist das ein Treffen mit einer Person aus deinem Freundeskreis, mit der du dich geborgen fühlst, oder es sind 30 Minuten am Abend, in denen du dir Zeit nimmst, dich in eine Decke zu kuscheln und einen warmen Tee zu trinken, dir Musik und Kerzen anzumachen oder dich unter eine Gewichtsdecke zu legen, die dich entspannen lässt. Welche Strategie dir dabei hilft, dein Bedürfnis nach Geborgenheit zu erfüllen, kannst du am besten durch Ausprobieren und Fühlen herausfinden. Spüre in dich hinein und frage dich, wie erfüllt du bist. So findest du heraus, ob dir beispielsweise beim unerfüllten Bedürfnis nach Geborgenheit die Kuscheldecke hilft oder vielleicht doch eher ein warmes Bad.
Mach dir dann zum Zeitpunkt deiner Bedürfniserfüllung bewusst, warum du gerade etwas tust, um dein Handeln achtsam wahrnehmen und genießen zu können. Sage dir zum Beispiel: »Ich kuschle mich jetzt in meine Decke, genieße meinen Tee und schenke mir Geborgenheit.« Dies kannst du auch bei Aufgaben tun, die dich vielleicht ansonsten anstrengen würden.
Um ins Tun zu kommen, möchten wir einige erfolgreiche Strategien für unerfüllte Bedürfnisse mit dir teilen. Im Downloadmaterial (siehe Seite 262) findest du deshalb zahlreiche Strategien, wie du dir selbst die Bedürfnisse Ruhe/Entspannung, Schlaf, Bewegung, Zugehörigkeit, Freude und Leichtigkeit, Wertschätzung, Schutz, Liebe, Empathie, Orientierung im Alltag erfüllen kannst.
Diese wenden bereits viele Eltern aus unseren Beratungen und Kursen im Alltag an. Betrachte diese Vorschläge als Anregung, dir genau das mitzunehmen, was zu deiner Situation und deiner Persönlichkeit passt, und lass dich gern für einen eigenverantwortlichen Weg und neue Strategien für dich inspirieren.
Nachdem du innere Klarheit über deine Kindheitsgeschichte gewonnen hast und hoffentlich neue Alltagsstrategien für dich mitnehmen konntest, um dich selbst liebevoller führen zu können, hast du die Basis dafür geschaffen, deinem Kind mit innerer Klarheit zu begegnen und in die Liebevolle Führung zu kommen.
Stell dir nun die Frage, wie du deinem Kind begegnen möchtest und welche Erziehungsziele du durch die Liebevolle Führung deines Kindes erreichen möchtest, um dadurch immer wieder ein klares Warum in deinem Erziehungsverhalten definieren zu können. Welche emotionalen und sozialen Kompetenzen sollte dein Kind deiner Ansicht nach durch deine liebevolle Begleitung erlernen? Unserer Meinung nach sind folgende Kompetenzen von besonderer Bedeutung für Kinder.
Aus unserer Sicht ist es sehr bedeutend, dass Kinder lernen, ihre angenehmen und unangenehmen Gefühle zu benennen und diese zu regulieren. Hierzu gehört zum Beispiel, dass dein Kind von dir lernt, wie erleichternd Weinen ist, wenn es traurig ist, und wie heilsam es sein kann, ein Kuscheltier gegen die Wand zu werfen, wenn es wütend ist.
Genauso wichtig ist es, dass Kinder lernen dürfen, ihre Aufregung und Freude zum Ausdruck zu bringen, indem du beispielsweise selbst offen zeigst, wenn du dich freust oder aufgeregt bist. Ebenfalls darf dein Kind durch dich lernen, dass alle Gefühle da sein dürfen und sinnvoll sind, weil sie uns unsere erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisse zeigen. So kannst du mit deinem Kind darüber reden, was es braucht, wenn es gerade völlig überreizt aus Kita oder Schule kommt. Du kannst es durch liebevolle Führung dazu anleiten, sich auszuruhen, obwohl es vielleicht viel lieber auf den Spielplatz gehen würde. Dadurch kannst du verhindern, dass dein Kind ungesunde Kompensationsstrategien erlernt, wie zum Beispiel Gefühle unterdrücken, durch Essen kompensieren, durch Ablenkung kompensieren usw.
Ein weiteres Ziel, das uns in der Erziehung wichtig erscheint, ist, dass Kinder lernen, ihre Bedürfnisse zu benennen, und dass sie gesunde Strategien entwickeln, diese Bedürfnisse zu stillen. Wenn dein Kind aufgeregt ist, lernt es vielleicht, sein Bedürfnis nach Entspannung zu stillen, indem es eine Pause macht. Wenn dein Kind traurig ist, darf es lernen, wie es sein Bedürfnis nach Geborgenheit und Nähe stillen kann, indem es zum Beispiel Nähe bei dir oder einer anderen Person sucht. Wenn Kinder diese Fähigkeiten erlernen, sind sie zunehmend in der Lage, gut für sich zu sorgen, sinnvolle Entscheidungen im Leben zu treffen und ein erfülltes und glückliches Leben zu führen.
Uns liegt auch viel daran, dass Kinder lernen, sich in andere Menschen einzufühlen. Die sogenannte Perspektivübernahme ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Sozialkompetenz, die deinem Kind ermöglicht, sich in einer Gruppe zu integrieren, Kontakte zu schließen und auch mal freiwillig die eigenen Bedürfnisse zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen.
Diese Ziele erreichst du einerseits, indem du deinem Kind gesunde Gefühlsregulation, Strategien zur Bedürfniserfüllung und Perspektivübernahme durch Empathie vorlebst und es selbst seine Erfahrungen machen lässt, und andererseits dadurch, dass du dein Kind in herausfordernden Situationen liebevoll führst.
Manchmal reicht es nämlich nicht aus, dem Kind ein gutes Vorbild zu sein und es selbst Erfahrungen machen zu lassen, sondern es bedarf zusätzlich liebevoller Führung. Wenn du die Ziele im Blick hast, fällt es dir leichter, ein klares Warum für deine liebevolle Führung zu entwickeln. Stell dir also immer wieder die Frage: Warum handle ich gerade so? Warum gehe ich gerade in die liebevolle Führung und nehme meinem Kind eine Entscheidung ab, anstatt es selbst entscheiden oder machen zu lassen?
Dein Warum findest du ganz leicht, wenn du dir bewusst machst, welche Bedürfnisse durch dein Handeln einerseits bei dir selbst und andererseits bei deinem Kind erfüllt werden. Wichtig ist bei der Liebevollen Führung immer, Bedürfnisse wie zum Beispiel jene nach emotionaler Sicherheit und Gesundheit, Führung, Geborgenheit, Grenzen, Hierarchie, Orientierung, Struktur und Schutz deines Kindes zu stillen. Schau hierzu gern noch einmal in Kapitel 1, in welchem wir die Bedürfniswelt von Kindern ausführlich erklären.
Besonders selbstsicher, bestimmt und klar kannst du handeln, wenn du während der Handlung liebevolle und empathische Gedanken über dich und dein Kind hast. All diese liebevollen Gedanken lassen sich wunderbar aus den Grundannahmen der Gewaltfreien Kommunikation, die wir in Kapitel 1 ausführlich erläutert haben, ableiten.
Sätze zum Fliegen, die du aus den Grundannahmen der GFK für dich nutzen kannst, um deine Gedanken liebevoll auszurichten, sind beispielsweise:
Sätze zum Fliegen
Mein Kind tut das für sich, nicht gegen mich.
Mein Kind tut gerade sein Bestmögliches.
Mein Kind löst diese Gefühle in mir gerade nur aus und ich bin verantwortlich für meine Gefühle.
Mein Kind möchte zum Wohl der Gemeinschaft
beitragen.
Durch diese Gedanken kommst du mehr und mehr in eine gelassene und wertfreie Haltung, wenn dein Kind bestimmte Verhaltensweisen zeigt. Du beziehst das Verhalten deines Kindes nicht mehr auf dich, spürst, dass es nicht aus böser Absicht handelt, und fühlst dich nicht mehr provoziert. Dadurch werden Konflikte mit deinem Kind viel leichter und erträglicher, da du dich nicht länger angegriffen oder bedroht fühlst.
Gern möchten wir dir anhand folgender Beispiele zeigen, wie du ein klares Warum für deine liebevolle Führung finden kannst. Du handelst dabei immer aus Fürsorge, Schutz und Sicherheit für dich und für dein Kind, und du achtest durch deine liebevolle Führung darauf, dass sich alle in der Gemeinschaft wohlfühlen können.
Du sagst Nein zum dritten Eis, weil du dein Bedürfnis nach Fürsorge stillst und deinem Kind darüber das Bedürfnis nach körperlicher Gesundheit. Du bleibst in einer liebevollen und empathischen Haltung. Sage dir zum Beispiel innerlich: »Mein Kind ist zu klein, um zu verstehen, dass Zucker schädlich ist. Es handelt für sich, nicht gegen mich.«
Wenn dein Kind ein anderes Kind beschimpft, erfüllst du dein Bedürfnis nach elterlicher Fürsorge, indem du als Schutzschild eingreifst. Damit erfüllst du bei deinem Kind das Bedürfnis nach emotionaler Gesundheit und bei dem anderen Kind nach Schutz. Du sagst beispielsweise: »Braucht ihr Hilfe? Du klingst ganz sauer.« Auch hier bleibst du wieder in deiner liebevollen Haltung, anstatt dein Kind für sein Schimpfen zu verurteilen. »Mein Kind hat gerade noch keine andere Strategie, mit seiner Wut umzugehen. Ich zeige ihm einen Ausweg.« Du nimmst dein Kind beispielsweise aus der Situation, um das andere Kind zu schützen, und hilfst ihm durch deine Co-Regulation, sich zu beruhigen.
Du hältst die Hände deines Kindes fest, wenn es schwere Gegenstände werfen möchte, um deinem Bedürfnis nach elterlicher Fürsorge und dem für die körperliche Gesundheit deines Kindes gerecht zu werden. In dem Fall achtest du zusätzlich auf den Schutz von anderen Menschen und Gegenständen und bleibst auch in diesem Beispiel in liebevollen Gedanken. Sage dir zum Beispiel innerlich: »Mein Kind macht das nicht mit Absicht. Es probiert aus, weil ihm Werfen Spaß macht.«
In den nächsten Kapiteln erwarten dich zahlreiche weitere Handlungsstrategien. Deine innere Haltung konntest du bereits durch dieses Kapitel schärfen und weiterentwickeln. Die folgenden Handlungsstrategien helfen dir dabei, deine innere Haltung zu festigen.
Du möchtest dein neu erlangtes Wissen sichern? Dann springe gern in Kapitel 9 und mache die Übungen ab Seite 246.