»Die Hierarchie in der Familie schenkt Orientierung und Grenzen.«
Wir sind uns bewusst, dass allein der Begriff Hierarchie eine echte Herausforderung darstellt und sich augenscheinlich nur schwer mit einer Erziehung, die die Bedürfnisse aller in den Mittelpunkt stellt, vereinbaren lässt. Hierarchie auf Augenhöhe klingt für viele Eltern erst einmal widersprüchlich, doch wir möchten dir in diesem Kapitel zeigen, wie es möglich ist, diese Strategie zu nutzen, um Entscheidungsprozesse leichter zu machen und einander Halt und Sicherheit zu geben.
Da Kinder aufgrund ihrer fehlenden Hirnreife noch nicht zu jeder Zeit in der Lage sind, vernünftige Entscheidungen für sich und andere zu treffen, können Kinder in einer Familie nicht zu jeder Zeit gleichberechtigt sein. Ein Kind kann noch nicht verantwortungsvoll darüber entscheiden, welche Schule es besucht, ob es in die Kita geht oder nicht oder ob es im Straßenverkehr sicher ist. Deshalb entsteht in der Familie automatisch eine Hierarchie, in der die Kinder in vielen Situationen den Älteren und den Erfahrenen in der Familie folgen. Das heißt: Kinder sind zwar nicht gleichberechtigt, allerdings zu jeder Zeit gleichwürdig und gleichwertig. Sie haben ein Recht darauf, genauso respekt- und liebevoll behandelt zu werden wie Erwachsene. Deshalb sprechen wir von einer Hierarchie auf Augenhöhe.
Bedauerlicherweise werden hierarchische Strukturen auch heute noch viel zu häufig genutzt, um Macht zu missbrauchen. Assoziationen zu willkürlichen Machtstrukturen, die einige wenige Menschen bevorzugen und viele andere benachteiligen, indem sie »von oben herab«, eben nicht auf Augenhöhe, behandelt werden, liegen nahe. Die Entwicklungen in der Arbeitswelt, wo der Wunsch nach flachen Hierarchien oder der Abschaffung ebendieser in immer mehr Unternehmen Einzug hält, veranlassen viele moderne Eltern, auch in der Familie auf hierarchische Strukturen zu verzichten. Genau deshalb wollen wir uns des Themas annehmen und eine neue Sichtweise auf diesen problematischen Begriff eröffnen.
Doch es ist nun einmal so, dass allein durch die körperliche, geistige und seelische Überlegenheit der Eltern in einer Eltern-Kind-Beziehung eine Art Machtverhältnis entsteht. Diese elterliche Macht darf zu keiner Zeit strafend oder gewaltvoll sein oder gar missbraucht werden. So wie wir Hierarchie auf Augenhöhe verstehen, dient diese Macht nur dazu, liebevoll führend für das Kind zu sorgen und Entscheidungen zu treffen. Kinder sehnen sich nach einer erwachsenen und erfahrenen Person in der Familie, die ihnen Halt und Sicherheit gibt. Vergleichbar ist diese Führungsposition von Eltern mit der Rolle des Elefantenweibchens in seiner Herde. Die Weibchen führen die Herde, weil sie besser einschätzen können, was für den Schutz der Herde wichtig ist, und treffen aufgrund ihrer Erfahrung bessere Entscheidungen für die jüngeren Tiere. Die gesamte Herde profitiert somit von den jahrzehntelangen Erfahrungen des meist ältesten Elefantenweibchens und wird durch sein Verhalten vor Gefahren beschützt. Besonders treffend finden wir das Bild der Elefantenherde, wenn es um Hierarchie auf Augenhöhe geht, denn Elefanten sind sehr fürsorgliche Tiere und achten besonders darauf, dass es allen in der Herde gut geht. Elefanten haben viel Feingefühl, sind absolute Familientiere und trösten sich gegenseitig, wenn beispielsweise ein Tier der Herde verstorben ist, indem sie sich gegenseitig Nähe schenken. Mitgefühl und gegenseitige Hilfe sind in jeder Elefantenherde beobachtbar. Gleichzeitig gibt es eine ganz klare innere Ordnung, die der Herde Orientierung und Grenzen schenkt, und doch können alle frei und friedvoll zusammenleben. Hierarchie sorgt also dafür, dass alle Familienmitglieder Orientierung und Grenzen spüren und dadurch die Sicherheit im System Familie gewährleistet ist. Das Bild des Elefantenweibchens kann natürlich genauso auf Väter übertragen werden oder bei gleichgeschlechtlichen Paaren auf einen der Väter oder eine der Mütter oder auf jede weitere wichtige Bezugsperson des Kindes, die sich um das Kind kümmert.
Daher ist es in Familien gut, wenn jeder zu jeder Zeit seinen Platz im System der Familie kennt. Das Kind weiß dadurch, wer für es zuständig ist, dass es sich auf seine Eltern verlassen kann und dass es mit all seinen Bedürfnissen gesehen wird. Allein aufgrund seiner Biografie hat jedes Familienmitglied einen festen Platz im Familiensystem, in anderer Hinsicht ist er flexibel.
Die Hierarchie bleibt grundsätzlich immer bestehen, weshalb diese FüLi-Strategie in der Grafik auf Seite 17 mehr Raum einnimmt als Schutzschild, Schützende Gewalt und Stellvertretende Kraft. Sie hat aber auch eine gewisse Flexibilität, wenn Kinder mehr und mehr an Erfahrung gewinnen und diese auch ins Familienleben einbringen können.
Die Hierarchie im System Familie folgt dem Prinzip »die Jungen folgen den Alten«; wer zuerst im System der Familie war, steht entsprechend an erster Stelle. Mit zunehmendem Alter der Kinder wandelt sich dieses Prinzip hin zu »Die Unerfahrenen folgen den Erfahrenen«, entsprechend der Frage, wer was besser kann oder wer in welchem Bereich mehr Erfahrung hat oder eine besondere Stärke mitbringt. Dazu ein Beispiel aus Kathys Leben: »Mein Sohn ist 2007 geboren, und viele Jahre galt das Prinzip ›die Jungen folgen den Alten‹, das heißt, ich als Mutter gebe den Rahmen vor, mein Sohn folgt und gestaltet altersgemäß mit. Mittlerweile hat sich unsere Hierarchie in manchen Bereichen angepasst und wir folgen dem Motto ›die Unerfahrene folgt dem Erfahrenen‹, beispielsweise dann, wenn mein Sohn mir die Verwendung bestimmter Apps erklärt oder es ums Skateboardfahren geht.«
Wie du in Kapitel 1 bereits gelesen hast, sind eine Ordnung, Orientierung und Gerechtigkeit Teile des Oberbedürfnisses nach Sicherheit. Damit sich Kinder sicher fühlen, Bindung aufbauen und sich frei entfalten und entwickeln können, müssen ihre Bedürfnisse nach einer Ordnung und Gerechtigkeit erfüllt sein. Hierarchie, wie wir sie leben, verstehen und vermitteln, ist auch aus bindungstheoretischer Perspektive unabdingbar, da das Kind so die Möglichkeit hat, seine Eltern als verlässliche, selbstsichere und erfahrene Bezugspersonen wahrzunehmen. Auch Ansätze der systemischen Familientherapie, in welcher sogar vom Gesetz der Hierarchie als Ordnung der Liebe gesprochen wird, zeigen, wie wertvoll diese für die kindliche Entwicklung ist – vorausgesetzt, sie wird auf Augenhöhe gelebt.
Ergebnisse einer Studie (Stotz, 2015) zum kindlichen Gerechtigkeitserleben bei elterlicher Ungleichbehandlung von Geschwistern, in welcher Grundschulkinder und erwachsene Geschwisterkinder befragt wurden, zeigen, dass die Hierarchie von Kindern als Ordnung akzeptiert wird, sofern Eltern diese immer wieder nachvollziehbar erklären. Wird diese Hierarchie in der Familie gelebt, sinkt automatisch das Konfliktpotenzial – ganz besonders zwischen Geschwistern. Findet im System Familie hingegen ein hierarchischer Rollentausch statt, so wird es vermehrt zu Konflikten kommen, da Kinder dann durch ihr Verhalten versuchen, eine neue Ordnung herzustellen, um ihr Bedürfnis nach Orientierung, Ordnung, Gerechtigkeit und Sicherheit zu stillen. Kinder übernehmen dann beispielsweise die Führungsrollen, wenn ihre Eltern keine eigenen Grenzen aufzeigen: Das Kind entscheidet, wer wo sitzt und wer was isst, wer wo schläft, wer was anziehen soll und wann wer ins Bett geht. Außerdem bekommen Kinder die Führungsrolle immer dann zugeschoben, wenn ihnen Fragen gestellt werden, die gar nicht zu ihrem Entscheidungsfeld gehören oder deren Ausmaß sie gar nicht absehen können:
»Wann möchtest du, dass Oma kommt?«
»Was essen wir heute?«
»Wo möchtest du sitzen?«
»Willst du in die Kita gehen?«
Mit solchen Fragen sind sie auf einmal verantwortlich für Entscheidungen, die die ganze Familie betreffen, obwohl sie dies noch gar nicht leisten können. Sie sind schlicht überfordert. Wir beobachten in Beratungen immer wieder, dass Kinder diese verantwortungsvolle Führungsposition übernehmen müssen, worüber das Gleichgewicht in der Familie aus den Fugen geraten kann. Solche und viele weitere Situationen können sich ergeben, wenn diese Strukturen fehlen:
»Unsere beiden Kids streiten sich täglich darum, wer zuerst etwas bekommt oder als Erster irgendwo dran kann. Ich würde mir gern mehr Gelassenheit wünschen, weil es mich manchmal echt nervt.«
»Meine zwei großen Söhne rivalisieren und streiten nahezu andauernd. Das ist so anstrengend, und ich verstehe nicht, warum das sein muss.«
»Mein Mann und ich haben häufig Konflikte über den Umgang mit den Kindern. Oft ist es wie ein Wettkampf gegeneinander, wer es besser machen kann.«
»Wenn mein Mann mit meinen Kindern zu Hause ist, spielen sie meist sehr entspannt. Kaum komme ich zur Tür rein, explodieren alle, die Kindern rangeln um meine Nähe und ich stehe hilflos da.«
»Meine größeren Kinder streiten sehr oft, wer besser ist als der andere, und auf Dauer ist das kaum auszuhalten.«
Da Eltern im Familiensystem zuerst da waren und deshalb erfahrener sind, stehen sie im Familiensystem an erster Stelle. Sie nehmen den wichtigsten Platz in der Familie ein, denn ohne sie könnte das System Familie schlicht nicht existieren. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Bedürfnisse aller Familienmitglieder bestmöglich erfüllt werden. Ohne sie könnten die Kinder nicht lange überleben. Eltern sind also das Familienoberhaupt. Wenn wir diesen Begriff nutzen, gehen wir davon aus, dass dieses Oberhaupt keine willkürliche oder strafende Macht ausübt, sondern lediglich fürsorgliche Entscheidungen trifft. Als Familienoberhaupt tragen Eltern auch die Verantwortung, untereinander zu klären, wer in welchen Situationen mehr oder weniger das Sagen hat. Die Antwort auf die Frage, wer in der jeweiligen Situation zuständig ist, schenkt zusätzlich Orientierung, sowohl für die Kleinen als auch für die Erwachsenen. In manchen Situationen kann die Mama und in anderen der Papa Familienoberhaupt sein, bei gleichgeschlechtlichen Paaren jeweils eine*r der beiden Partner*innen. Ob und wie sich die Eltern aufteilen, entscheiden natürlich die beiden untereinander und nicht die Kinder.
Macht es euch als Paar gern leicht und verteilt eure Leitpositionen so, dass sie euren Stärken entsprechen. Zum Beispiel bringt der Vater das Kind morgens in den Kindergarten, da er morgens schneller fit ist, und abends kümmert sich die Mutter um die Einschlafbegleitung, weil es ihr leichter fällt, dabei die Nerven zu behalten. Oder umgekehrt. Die Eltern stehen also allgemein gesprochen gemeinsam an erster Stelle, und wer in konkreten Situationen an erster und zweiter Stelle steht, klären die beiden untereinander immer wieder neu.
Die Reihenfolge der Kinder entspricht dem Zeitpunkt ihrer Geburten: An dritter Stelle (nach den Eltern) steht das erstgeborene Kind, an vierter Stelle das zweitgeborene und so weiter. Dies gilt auch bei Zwillingen, ein Kind ist zuerst zur Welt gekommen, auch wenn es »nur« zwei Minuten gewesen sind. Diese Ordnung und ihre Verknüpfung mit individuellen Rechten und Pflichten wird von Kindern in der Regel als gerecht empfunden. Je höher der jeweilige Geburtsrang im familiären System, desto größer sind die Pflichten und Verantwortungen und damit einhergehend auch die Rechte, also die Freiräume. Gerechtigkeit innerhalb der Familie hat nichts mit Gleichheit zu tun (vgl. Seite 181). Die Hierarchie in der Familie ist keine Frage der Wertigkeit der Mitglieder (alle sind jederzeit gleichwertig und gleichwürdig), sondern richtet sich einzig und allein nach der Ankunft im Familiensystem.
Noch einmal: Die Bedürfnisse der Eltern stehen immer an erster Stelle, damit diese für das Überleben des Systems sorgen können. Dabei sollten Eltern natürlich darauf achten, ihre eigenen Bedürfnisse so zu erfüllen, dass auch die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt werden. Braucht zum Beispiel der Säugling Nahrung oder ein Kind hat sich schwer verletzt, dann rücken dessen Bedürfnisse selbstverständlich an die erste Stelle.
Mit diesem Wissen sind Sorgen, ob diese Familienordnung ungerecht für die jüngeren Kinder sei oder es für Geschwister harmonischer wäre, immer gleichberechtigt zu sein, obsolet. Kleine Kinder haben beispielsweise im Idealfall mehr Exklusivzeit, in der die Großen sich in Geduld üben dürfen, denn neben Ordnung, Orientierung und Gerechtigkeit dürfen auch alle anderen Bedürfnisse einbezogen werden. Eifersucht darf sein und mitsamt der aufkommenden Frustration begleitet werden.
An dieser Stelle möchten wir auch das Thema Wettkampf unter Kindern aufgreifen. Wir sind der Überzeugung, dass Wettkampf für die kindliche Entwicklung förderlich ist, sofern keine sogenannte unnatürliche Rivalität unter Geschwistern herrscht. Denn dann kann der Wettkampf dazu führen, dass die Qualität der Geschwisterbeziehung leidet.
Mit circa drei Jahren beginnen Kinder, in den Wettkampf mit anderen Kindern zu treten. »Ich will zuerst!«, »Ich bin besser als du!«, »Ich war schneller als du!« sind typische Sätze, die wir in dieser Zeit von ihnen hören.
In der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion wird – wenn es um Erziehung geht – mehr und mehr davon abgeraten, den Wettkampfgeist von Kindern zu fördern. Es soll keinen Ersten mehr beim Wettlaufen geben, Kinder sollen nicht mehr verlieren dürfen, und am besten wäre es, wenn alle gleichermaßen als Gewinner aus Situationen herausgehen könnten. Aber erreichen wir durch diese Veränderungen wirklich, dass Kinder einen gesunden Umgang mit Wettkampf erlernen? Dies wagen wir stark zu bezweifeln und möchten deshalb unsere Sichtweise mit dir teilen, wie Kinder wettbewerbsfähig werden, ohne unter Leistungsdruck zu leiden oder gar zu zerbrechen oder sich machtvoll über andere Menschen zu stellen, denn es liegt uns fern, Wettkampf unter Kindern künstlich zu erzeugen. Zunächst hilft dir vielleicht folgender Vergleich: Bereits kleine Tierbabys trainieren ihre Muskeln und rangeln und kämpfen, um stärker zu werden und sich weiterzuentwickeln. Wettkampf ermöglicht unseren Kindern allerdings nicht nur, stärker zu werden (die Muskeln zu trainieren), sondern ebenfalls, Stärken und Schwächen an sich selbst zu entdecken. Und das ist noch nicht alles: Wettkampf kann als eine Strategie betrachtet werden, wie Kinder sich ihr Bedürfnis nach Autonomie, Selbstwirksamkeit, Entwicklung und Wahrgenommenwerden erfüllen.
Dazu ein Beispiel aus Martinas Schule: »Susi war im Sportunterricht im Bodenturnen besonders begabt und erntete dafür viel Anerkennung und Wertschätzung. Es stellte sich heraus, dass Anna, die sportlich auch sehr begabt war, offensichtlich neidisch auf Susi war und dieselbe Anerkennung erfahren wollte wie Susi. Da sie noch keine bessere Strategie hatte, begann Anna mit ihren Freundinnen über Susis bunte Sporthose zu lachen. Nachdem ich Susi, die verständlicherweise traurig war, aufgefangen hatte, versuchte ich, Anna zu verstehen, und schenkte ihr zunächst Einfühlung. ›Das war gar nicht leicht für dich, oder? Sonst bist du im Sport immer die Beste unter den Mädels, und jetzt warst du bestimmt ganz neidisch, oder? Du freust dich sehr darüber, wenn die anderen sehen, wie leicht dir Sport fällt, und du bist bestimmt immer sehr stolz, zu zeigen, wie du das alles kannst und machst.‹ Anna fühlte sich verstanden und nickte. Nun war es meine Aufgabe, ihr einen anderen Umgang mit ihrem Gefühl Neid aufzuzeigen und ihr zu zeigen, wie sie sich das Bedürfnis nach Anerkennung stillen könnte. Anstatt über Susis Hose zu lachen, versuchte sie zu erkennen, welches Gefühl sich hinter dem Neidmonster verbarg. Wir konnten herausfinden, dass es Bewunderung war, und wir konnten erkennen, dass Anna auch gesehen werden wollte. Anna erkannte darüber hinaus, dass Susi tatsächlich besser war und blieb als sie selbst. Dies konnte sie schließlich neidlos anerkennen, da ich noch einmal mit ihr über ihre Stärken sprach und sie akzeptieren konnte, dass es Bereiche gab, in welchen andere Kinder besser oder stärker waren. Dadurch konnte sie Susis Talent mehr und mehr annehmen und dieses sogar feiern, wenn sie im Sportunterricht mal wieder brillierte.«
Ein persönliches Beispiel aus Kathys Leben: »Als meine Tochter circa drei Jahre alt war, begann sie mit ihrem großen Bruder – die beiden haben achteinhalb Jahre Altersunterschied – beim nach Hause Gehen zu wetteifern: ›Ich bin zuerst an der Tür!‹ Natürlich hatte sie gegen ihren Bruder gar keine Chance und war jedes Mal sehr frustriert und zornig. ›Du bist so ein doofer Bruder!‹, sagte sie dann. Das Ganze zog sich bestimmt ein Jahr lang hin. Mit meinem Wissen über die Bedeutung des Wettkampfs in der Entwicklung eines Kindes und mit viel Einfühlung konnte ich das Ganze entspannt beobachten und meiner Tochter die Erfahrung schenken, wie sie mit ihrem Frust umgehen und vor allem in welchen Bereichen sie ihrerseits einen Wettkampf gewinnen kann.
›Du bist gerade total sauer?! Du wolltest gerne gewinnen?!‹ – ›Ja, nie gewinne ich!‹ – ›Mhhh, und da bist du ganz zornig!‹ – ›Ja!‹ – ›Das sehe und höre ich! Wollen wir mal überlegen, bei welchem Wettkampf du gewinnen könntest?‹ – ›Ja!‹ – ›Okay, hast du eine Idee?‹ – ›Neeee, der ist doch so schnell!‹ – ›Ich hätte eine, magst du sie hören?‹ – ›Ja!‹ – ›Zum Beispiel schläfst du länger als dein Bruder. Und du bist bereits auf einem Pony galoppiert, das kann er gar nicht.‹ Und so kamen wir in den Austausch und fanden immer mehr Bereiche, in denen sie ›Erste, besser oder schneller‹ war als ihr Bruder.«
Wenn dein Kind also Erste*r, Schnellste*r oder Beste*r sein möchte, helfen dir vielleicht folgende Strategien:
Zunächst sollte Kindern der Wettkampfgeist nicht abtrainiert oder abgesprochen werden, sondern entscheidend ist, Kindern zu vermitteln, welche Gefühle und Bedürfnisse sich hinter dem Wettkampfgeist verbergen. Wenn dein Kind also Erste*r, Schnellste*r oder Beste*r sein möchte, sage zum Beispiel: »Ja, ich sehe dich!«, »Ich weiß, dir ist wichtig, stark zu werden!«, »Ja, du bist ganz aufgeregt, weil du gewinnen möchtest.« Schenke deinem Kind also Einfühlung, anstatt ihm seinen Wettkampfgeist abzusprechen.
Sprecht über das Gefühl Neid und findet heraus, welche weiteren Gefühle sich hinter dem Neidmonster verbergen (z. B. Bewunderung oder Traurigkeit). Wenn dein Kind bereit ist, könnt ihr dann gern nach Lösungen suchen, wie dein Kind es schaffen könnte, besser oder auch so gut zu werden. Dabei kannst du deinem Kind natürlich immer wieder helfen, mit Misserfolgen umzugehen. Dazu gehört auch, die eigenen Stärken zu erkennen und weiterzuentwickeln und Schwächen an sich anzunehmen und nur so weit auszubauen wie nötig.
Gerade dann, wenn das Neidgefühl besonders stark ist, fällt es Kindern und auch Erwachsenen schwer, sich über Erfolge, Talente, Gewinne oder Stärken anderer zu freuen. Deshalb dürfen wir genau das unseren Kindern vorleben. In meiner Schulklasse gab es deshalb regelmäßig sogenannte Stärken-Feier-Runden, in denen wir Kinder für ihre besonderen Begabungen feierten. Ich denke da gern an den kleinen Hassan zurück, der aufgrund seines extremen Übergewichtes im Bodenturnen kaum mitmachen konnte. Gleichzeitig erkannte ich, und schließlich durch meinen Hinweis auch die Klasse, wie stark er darin war, anderen Kindern Hilfestellungen zum Beispiel beim Handstand zu geben. Gemeinsam fanden wir heraus, dass Hassan überdurchschnittlich empathisch, hilfsbereit und liebevoll sein konnte. Ich habe jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie die gesamte Schulklasse ihn dann in vielen weiteren Situationen für diese Stärke feierte. All diese Verhaltensweisen helfen deinem Kind und deinen Geschwisterkindern, einen gesunden Umgang mit Wettkampf zu erlernen und das Gefühl Neid für sich und die eigene Weiterentwicklung zu nutzen.
Liebevoll führende Eltern werden ihrer elterlichen Macht gerecht, wenn sie die Rolle als Familienoberhaupt einnehmen und zwischen den Pflichten und Rechten der Mitglieder für Ausgleich sorgen. Das damit erfüllte Bedürfnis aller Familienmitglieder nach Gerechtigkeit kann gleichzeitig bedeuten, dass andere Bedürfnisse, wie beispielsweise die nach Autonomie und Selbstbestimmung, in den jeweiligen Situationen unerfüllt bleiben. Das kann bei Kindern zu Frust führen, der Raum braucht und empathisch begleitet werden darf (vgl. Seite 117). Grundsätzlich wird die langfristig gelebte Hierarchie etwaige Wutausbrüche reduzieren, weil sie Kindern Klarheit, Struktur und Sicherheit schenkt. Wichtig bleibt, wie bei allen Strategien der FüLi-Erziehung, das Bedürfnis des Kindes nach Autonomie im Alltag ganz gezielt zu erfüllen – im Kontext der Hierarchie ist dies beispielsweise wunderbar möglich, indem die Eltern wie oben beschrieben das Was, Wer und Wann festlegen und die Kinder wiederum das Wie mitbestimmen können (vgl. Kapitel 8).
In unseren Beratungen erleben wir oft, dass das Bedürfnis nach Gerechtigkeit beispielsweise aus Angst vor der Eifersucht des jüngeren Kindes beziehungsweise der Angst, die jüngeren Kinder zu benachteiligen, aufgegeben wird. Daraus können Verhaltensauffälligkeiten folgen, die von außen dann folgendermaßen wirken: »Das Kind wirkt wie ein Tyrann«, »Das Kind bestimmt hier alles«, »Das Kind akzeptiert kein Nein«, »Das Kind hat einen Wutausbruch nach dem anderen«. Bei Geschwistern wird es am häufigsten durch andauernde Streitereien und die sogenannte unnatürliche Rivalität deutlich. Die Ursache: Die Kinder versuchen, ihren Platz in der Familie zu finden und diesen willkürlich gewählten Platz zu verteidigen. Sie versuchen, mit ihrem Verhalten darauf aufmerksam zu machen, dass »hier etwas nicht stimmt«, und sie rufen nach einer Ordnung, die ihnen Halt und Sicherheit gibt. Je mehr Ordnung, Orientierung und Gerechtigkeit in einem Familiensystem erfüllt sind, desto weniger Auseinandersetzungen wird es geben. Durch die Einhaltung der Ordnung im Familiensystem lernen Kinder außerdem Geduld, die Bedürfnisse aller im Blick zu haben, und sie entwickeln Frustrationstoleranz. Zusätzlich spüren sie die Verlässlichkeit der Eltern, wodurch wiederum die Bindung gestärkt wird.
Wer zuerst da ist, kann auch als Erster entscheiden oder als Erste etwas bekommen. Das meint entweder, wie oben ausführlich beschrieben, die Ankunft im System der Familie oder ganz konkret die Ankunft in der jeweiligen Situation. Sitzen beispielsweise alle Familienmitglieder gleichzeitig am Tisch, bekommen zuerst die Älteren und dann die Jüngeren. Trudelt einer nach dem anderen am Tisch ein, bekommen sie das Essen in der Reihenfolge ihrer Ankunft am Esstisch. Dies ist nur ein Vorschlag, wie ihr Hierarchie leben könntet. Schaut gern, ob und wie ihr das individuell für euch umsetzen möchtet.
Wenn die Familie beim Essen zusammensitzt, kann man auch einer anderen Regel folgen: Es bekommt der- oder diejenige, der oder die zuerst fragt. So hebelt beispielsweise die Frage des jüngsten Kindes »Kann ich etwas zu trinken haben?« die Reihenfolge entsprechend der Ankunft aus, wenn es zuerst gefragt hat. Viele Eltern haben hier Sorge, dass das Leben der Hierarchie in dieser Form ein Wettkampfdenken zwischen den Kindern verstärkt, weil die Kinder jeweils zuerst in der Situation sein oder zuerst fragen wollen, um der oder die Erste zu sein. Dieser Wettkampf darf sein, weil er die Frustrationstoleranz der Kinder schult und ihnen gleichzeitig dabei hilft, zu lernen, dass die Reihenfolge keine Rolle spielt, weil beispielsweise das zweite oder dritte Kind genauso viel Essen bekommt, wie es braucht, und es keinen Nachteil davon hat, nach dem ersten Kind dran zu sein (vgl. Seite 165).
Kinder streiten sich oft über Spielzeug oder andere Dinge, die sie gerade benutzen wollen. Bei Spielzeug beispielsweise entscheidet das Kind, dem das Spielzeug gehört, darüber, wer damit spielen darf. Es geht nicht darum, wer es zuerst hatte oder wer welche Rangfolge im Familiengefüge hat. Deswegen ist es wichtig, dass innerhalb der Familie klar ist, wem was gehört – ganz besonders bei Spielzeug, das mehrere Geschwister nutzen, oder bei Dingen, die aufgrund des Alters der Kinder an das jüngere Geschwisterkind übergehen. Es sollte auch nicht als selbstverständlich angesehen werden, wenn ältere Kinder ihr Spielzeug an jüngere abgeben, aber wenn sie es tun, kann die »Übergabe« von den Eltern einfühlsam begleitet werden. Außerdem ist es schön, eine Kiste mit gemeinsamen Spielsachen mit den Kindern zu füllen. Bei diesen Spielsachen werden die Kinder immer wieder begleitet, eine gemeinsame Lösung zu finden, wer womit wie lange spielt. Hier kann der Gedanke der Hierarchie in der Familie und die damit verbundene Ordnung und Gerechtigkeit über das Familiensystem hinausgehen. Beim gemeinsamen Spielen mit anderen Kindern, die zu Gast sind, darf das Kind, dem das Spielzeug gehört, entscheiden, ob es sein Spielzeug teilt oder nicht.
Die Reihenfolge kann sich außerdem nach der Bedürftigkeit richten, also danach, wessen Bedürfnisse gerade am dringendsten sind und wer warten kann. Das kann situativ ganz unterschiedlich sein. Diese Form der Hierarchie erfordert insofern etwas Übung, als dass hier alle aktuell unerfüllten Bedürfnisse überblickt und nach Dringlichkeit sortiert werden dürfen. Braucht beispielsweise das ältere Kind etwas zu essen, das jüngere Unterstützung beim Toilettengang und der verantwortliche Elternteil hofft, sich im Gespräch mit allen austauschen zu können, so ist es sicher sinnvoll, die Bedürfnisse in der Reihenfolge zu erfüllen, wie sie am dringendsten sind: Zuerst wird das jüngere Kind auf Toilette begleitet, als Zweites bekommt das ältere Kind etwas zu essen und dabei oder im Anschluss kümmert sich der Elternteil um sein Bedürfnis nach Austausch.
Wir wollen anhand einiger Beispiele zeigen, wie die goldenen Regeln der Hierarchie im Alltag umgesetzt werden können. Sie zeigen anschaulich, wer wann zuerst dran ist, welche Entscheidungen die Eltern treffen sollten und in welchem Rahmen Kinder mitentscheiden können.
Der Vater macht beispielsweise das Abendessen. Dann ruft er alle zu Tisch und verteilt sowohl das Essen als auch die Getränke nach dem Alter der Anwesenden, wenn alle gleichzeitig am Tisch sitzen. Das ältere Kind bekommt sein Essen also vor dem jüngeren Kind. Das ist eine mögliche Strategie, um die innere Ordnung in der Familie zu festigen und das Bedürfnis nach Ordnung und Gerechtigkeit beim Kind zu erfüllen. Ist das jüngere Kind beispielsweise zuerst am Tisch oder fragt: »Kannst du mir etwas zu trinken geben?«, ändert sich die Reihenfolge insofern, dass dieses Kind ja zuerst da war oder gefragt hat und entsprechend auch zuerst bekommt.
Falls aufgrund der hierarchischen Reihenfolge Frust auftritt, könnte dieser wie folgt begleitet werden. Das jüngere Kind könnte beispielsweise sagen:
»Das ist so gemein, immer bekommt mein Bruder zuerst!«
»Hast du den Eindruck, dass das so ist?!«
»Ja.«
»Und das stört dich?!«
»Ja!«
»Du möchtest auch mal zuerst dran sein?!«
»Ja, genau!«
»Es bekommt immer der zuerst sein Essen, der als Erster da gewesen ist – und dein Bruder war zuerst in der Familie. Was könntest du machen, um als Erstes das Essen zu bekommen?«
»Meinen Bruder fragen, ob ich als Erstes bekommen kann – er entscheidet.«
»Genau – oder hast du noch eine andere Idee?«
»Ja, ich könnte als Erstes am Tisch sitzen, dann bin ich als Erstes da gewesen!«
»Genau!«
Auch wenn andere Menschen zum Essen zu Gast sind, kann weiter zuerst nach Familienzugehörigkeit entschieden werden. So bekommt Oma, wenn sie fester Bestandteil im Familiengefüge ist, beispielsweise ihr Essen zuerst, weil sie das älteste Familienmitglied ist. Sind andere Kinder zu Gast, bekommen zuerst die eigenen Kinder entsprechend der Rangfolge das Essen, danach die Besuchskinder entsprechend ihres Alters. Das sorgt für Ordnung und Harmonie untereinander. Wenn dir das unfreundlich vorkommt oder du lieber den Gästen den Vorzug geben möchtest, ist das natürlich auch möglich.
Die Mutter kommt nach der Arbeit nach Hause, während alle anderen Familienmitglieder zu Tisch sitzen. Eine Möglichkeit, die Hierarchie in der Familie einzulösen, wäre, dass sie zuerst ihren Partner oder ihre Partnerin und danach die Kinder begrüßt, zuerst die Großen und dann die Kleinen. Begleitend könnte sie beispielsweise sagen: »Ich begrüße erst Papa/Mama, danach bist du dran!«
Je nach Alter können Geschwisterkinder unterschiedlich lange Medienzeiten pro Woche haben. Beispielsweise darf das zehnjährige Kind drei Stunden pro Woche konsumieren, das siebenjährige Kind zwei Stunden. Das kann beim jüngeren Kind für Frust sorgen:
»Manno, immer darf meine Schwester länger ans Handy als ich, das ist so gemein!«
»Du bist frustriert und möchtest genauso viel Medienzeit wie deine Schwester haben?!«
»Genau!«
»Deine Schwester ist älter, sie darf länger am Tablet spielen. Wenn du so alt bist wie deine Schwester, darfst du genauso lange spielen wie sie. Wollen wir mal überlegen, was wir in der Zeit gemeinsam machen können?«
Bei zwei Geschwistern ist es gut, wenn jedes im Auto seine feste Seite hat, auf der es sitzt. So gibt es keinen Streit um die Platzwahl, das Ein- und Aussteigen geht schneller und die Eltern können sich aufs sichere Fahren konzentrieren. Diese Sitzordnung haben die Eltern so festgelegt, um sich beispielsweise ihre Bedürfnisse nach Leichtigkeit und Sicherheit zu erfüllen. Wenn nun das ältere der beiden Kinder auf der Seite des jüngeren Bruders einsteigen möchte, was dieser allerdings partout nicht will, dann entscheidet der »Besitzer«, also in dem Fall der jüngere Bruder, wer auf seiner Seite ein- oder aussteigt. Als Elternteil gilt es nun, dem anderen Kind dabei zu helfen, auf der eigenen Seite einsteigen zu können. Wenn das Geschwisterkind dabei wütend wird, ist das okay und kann begleitet werden – doch es bleibt dabei, es entscheidet immer das Kind, dessen Seite es ist.
Die Mutter ist allein für ihre zwei Kinder (3 Monate und 4 Jahre) zuständig. Beide Kinder haben zeitgleich Hunger. Entsprechend der Rangfolge in der Familie würde hier das ältere Kind zuerst etwas zu essen bekommen und das jüngere Kind würde warten. Da es sich bei dem jüngeren Kind um ein Baby handelt, dessen Bedürfnis nach Nahrung in Form von Milch gerade nicht warten kann, ist es zuerst dran. Die Mutter könnte das ältere Kind parallel dabei unterstützen, selbst etwas zu essen und sich beispielsweise einen Apfel zu nehmen, doch sie versorgt zuerst das Kind, dessen Bedürfnis dringender ist.
In einer vierköpfigen Familie schläft die Mutter seit mehreren Monaten mit dem älteren Kind in dessen Kinderzimmer, weil dieses nicht alleine schlafen möchte. Sie hat eine Gästematratze auf dem Boden neben dem Bett liegen, auf der sie Rückenschmerzen bekommt. In dieser Konstellation hat also der Wunsch des älteren Kindes, nicht alleine schlafen zu wollen, darüber entschieden, wer wo schläft. Doch wo die Mutter schläft, entscheidet sie ganz alleine, natürlich unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse, der ihrer Tochter und der anderen Familienmitglieder. Dafür gibt es zum Beispiel folgende Möglichkeiten:
Ein Familienbett wird eingerichtet und alle schlafen in einem großen Bett.
Die Matratze der Tochter wird neben das elterliche Bett gelegt.
Die Matratze der Mutter wird in das Zimmer der Tochter gelegt und statt eines provisorischen Schlafplatzes wird ein fester eingerichtet.
Es geht darum, dass die Eltern die Bedürfnisse aller erkennen und dafür Entscheidungen treffen, die für alle okay sind. Möglichkeiten gibt es viele. Die Eltern bestimmen, wo sie schlafen – das Wie dürfen die Kinder im von den Eltern vorgegebenen Rahmen mitbestimmen.
Reflexionsübung
Welche der genannten Strategien zur Herstellung der Ordnung in eurem Familiensystem kannst du dir vorstellen umzusetzen? Findest du weitere? Notiere.
Um Hierarchie in diesem Sinne leben zu können, braucht es vor allem die Haltung folgender Grundannahme der Gewaltfreien Kommunikation: Alle Menschen sind grundsätzlich dazu bereit, zur Erfüllung der Bedürfnisse anderer beizutragen – solange ihre eigenen Bedürfnisse auch berücksichtigt werden. Und Gerechtigkeit ist ein Bedürfnis, welches erfüllt werden möchte. Gerechtigkeit meint dabei aber nicht Gleichheit. Darauf möchten wir kurz näher eingehen:
Im Kontext von Familie würde Gleichheit bedeuten, dass alle Kinder unabhängig von ihrem Alter und den damit einhergehenden Bedürfnissen und Kompetenzen auch gleich behandelt werden. Alle Kinder haben damit, unabhängig von ihren ganz individuellen Unterschieden, die gleichen Rechte und Pflichten. Gerechtigkeit wiederum bedeutet, anzuerkennen, dass die Ausgangssituation und damit einhergehend die jeweiligen Bedürfnisse, Erfahrungen und Kompetenzen innerhalb der Familie ganz unterschiedlich verteilt sind. Gerechtigkeit berücksichtigt, dass Kinder je nach Hirnreife und individueller geistiger und körperlicher Entwicklung in derselben Situation unterschiedliche Voraussetzungen haben, weil sie die Konsequenzen ihres Handelns beispielsweise schon oder eben noch nicht absehen können und vieles mehr. Sie brauchen also unterschiedliche Arten der Zuwendung, um dieselben Bedürfnisse erfüllen zu können und denselben Wert in der Familie zu erfahren. Gerechtigkeit und Gleichheit in der Familie unterscheiden sich insofern voneinander, als bei der Gerechtigkeit die Bedürfniserfüllung der einzelnen Familienmitglieder berücksichtigt wird, statt alle gleich zu behandeln.
Ein beliebtes Bild, um den Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit zu illustrieren, ist das dreier Kinder unterschiedlicher Körpergröße, die hinter einem Zaun stehen. Gleichheit würde nun bedeuten, allen Kindern einen identisch hohen Hocker zu geben, auf den sie sich stellen können. Damit bleibt der Größenunterschied zwischen allen Kindern identisch, jedoch ist der Hocker nur für Kind 1 und 2 ausreichend hoch. Kind 3 kann nach wie vor nicht über den Zaun schauen. Gerechtigkeit heißt, den Kindern drei unterschiedlich hohe Hocker zu geben, die dazu führen, dass alle Kinder über den Zaun schauen können und damit schlussendlich gleich groß sind.
Aus der Beratung
»Meine Kinder sind nur eindreiviertel Jahre auseinander und dürfen bisher fast alles gleich viel oder abwechselnd: gleich viel Süßes, gleich viel Medienzeit, auf dem Lastenrad abwechselnd vorne sitzen, abwechselnd abends als Erstes ›eingesungen werden‹ (dabei halten meine Frau oder ich für die Dauer von je zwei Schlafliedern die Hand jedes Kindes; die beiden schlafen im Stockbett). Trotzdem sagt das ältere Kind oft: ›Du hast mich gar nicht so lieb wie mein Geschwisterchen!‹, und die Streitereien untereinander nehmen im Alltag zu.« Daniel
Beginnen wir mit dem Altersunterschied der Kinder: Wie groß dieser ist, spielt, wie oben bereits erwähnt, keine Rolle. Auch der Unterschied von einer Minute – beispielsweise bei Zwillingen – ist ein Unterschied. Gleichzeitig ist es unserer Erfahrung nach so, dass es für Eltern umso herausfordernder ist, die innere Ordnung der Familie herzustellen, je enger die Kinder beieinander sind.
Nun hat Daniel innerhalb der Familie eine Lösung für seinen Wunsch nach Gleichheit gefunden – die Kinder werden also unabhängig von ihrem Altersunterschied gleichbehandelt und haben genau das auch so gelernt. Damit ist das Bedürfnis nach Gerechtigkeit unter den Kindern nicht erfüllt. Dass das für sie problematisch ist, lässt sich an den von Daniel beschriebenen Streitigkeiten erkennen. Wenn Geschwisterkinder »häufig streiten«, ist das in der Regel ein Zeichen dafür, dass die innere Ordnung unter den Geschwistern und/oder in der ganzen Familie nicht harmonisch ist.
Wir würden Daniel empfehlen, etwas mehr hierarchische Struktur zu etablieren und das auch ganz klar zu sagen, beispielsweise durch Sätze wie: »Wir haben uns etwas überlegt, um die Gerechtigkeit in der Familie besser umzusetzen. Das machen wir ab jetzt so …« Da werden die Kinder natürlich erst mal protestieren, weil sie es anders gelernt haben. Und diese Wut darf da sein, denn dadurch lernen sie Frustrationstoleranz und legen damit den Grundstein für ein starkes Selbstbewusstsein und für Selbstbestimmung, also ein starkes Selbst. Konkret kann das beispielsweise heißen, dass das ältere Kind etwas mehr Süßigkeiten bekommt, ihm mehr Medienkonsum erlaubt wird, weil es älter ist und das schon besser verarbeiten kann. Es geht nicht allein darum, dass das ältere Kind immer mehr darf und es ihm immer besser geht, sondern es wird auch Situationen geben, in denen das ältere Kind warten kann. Beispielsweise wird dem jüngeren Kind zuerst in den Schlaf geholfen und das ältere darf lernen, einen Augenblick zu warten. Noch einmal zusammengefasst: Kinder brauchen Gerechtigkeit statt Gleichheit – und diese wird innerhalb der Familie durch die vorgegebene Hierarchie und die damit einhergehende innere Ordnung hergestellt.
Formulierungshilfen für Hierarchie in der Familie
»Du hast mich gerufen (3), das habe ich gehört. Sobald ich deinen Bruder (7) verabschiedet habe, komme ich zu dir.«
»Einer nach dem anderen.«
»Wir sind: Mama, Papa, Tanja (8), Max (6) und Toni (3).«
»Das gehört deiner Schwester. Sie entscheidet, wer damit spielt.«
»Ich bin da und kümmere mich nacheinander um euch – immer der Reihenfolge nach.«
»Du bist gerade sauer, weil du auch mal als Erste drankommen möchtest?! Lass uns mal überlegen, wann du Erste sein könntest.«
»Ich gebe erst Anne etwas zu trinken, denn Anne hat zuerst gefragt. Danach bist sofort du dran. Eine nach der anderen.»
»Peter darf mehr, da er älter ist. Gleichzeitig hat er auch mehr Verantwortung.«
Diese Glaubenssätze können dich dabei unterstützen, in deine Klarheit für die Hierarchie in der Familie zu kommen:
Sätze zum Fliegen
Ich weiß, was zu tun ist.
Ich entscheide, weil ich für meine Familie
verantwortlich bin.
Ich kümmere mich um die Gerechtigkeit in der Familie.
Erfüllte Gerechtigkeit bringt Leichtigkeit.
Gerechtigkeit bedeutet nicht Gleichheit.
Tipp: Hier findest du drei Strategien, mit denen du im Alltag die Hierarchie in der Familie leben kannst.
Ministerposten
So geht’s:
Ihr erstellt gemeinsam eine Liste (gern mit Symbolen), was es in eurem Familienalltag alles zu tun gibt, damit »der Laden« läuft (Müll rausbringen, Wäsche waschen, saugen, Blumen gießen, Spülmaschine einräumen/ausräumen usw.).
Ergänzt jeweils, wie oft diese Tätigkeiten zu tun sind.
Ihr überlegt gemeinsam, wem welche Tätigkeit am meisten liegt (unabhängig davon, ob ihr der Meinung seid, wer es besser kann). Denn es soll ja auch Spaß machen!
Nun verteilt ihr die Posten gerecht auf. Dabei beachtet ihr, wer wie viel leisten kann: Wer länger da ist, hat auch mehr Verantwortung.
Die Eltern machen am meisten und übernehmen die »schwierigen« Dinge.
Das Erstgeborene hat mehr Aufgaben als das Zweitgeborene oder eine herausfordernde Aufgabe.
Falls ein Kind etwas übernehmen möchte, das es noch nicht alleine kann, helft ihm, es zu schaffen, und verabredet euch zu dieser Tätigkeit.
Überlegt euch für jeden Posten einen entsprechenden Ministernamen (Müllminister*in, Wäscheminister*in, Altglasminister*in usw.).
Besprecht, wann die Ausführung dieser Tätigkeiten am sinnvollsten ist, und erstellt einen Ministerplan. In diesem Plan sind die Aufgaben auf Tage verteilt und mit den Personen gekennzeichnet, die dafür zuständig sind (Wäscheklammer oder Farben). Im Sinne der Autonomie legt ihr zum Beispiel fest: »Montagvormittags Müll« statt »8:00 Uhr Müll«. So kann der/die zuständige Minister*in selbst entscheiden, ob er/sie das vor dem Frühstück, danach oder beim Rausgehen macht.
Nun geht es an die Umsetzung. Hier darf den Kindern unter die Arme gegriffen werden – helft ihnen, es zu schaffen.
Überprüft regelmäßig in einem Treffen, ob die Aufgaben noch für alle okay sind oder ob angepasst/getauscht werden darf.
Ob ihr die Ministerposten für eine Woche oder einen Monat verteilt, entscheidet ihr gemeinsam. Probiert euch aus. Info: Die »Ministerposten« eignen sich zusätzlich sehr gut, um das Bedürfnis nach Autonomie zu erfüllen.
Der Tanz der Namen
Findet gemeinsam eine Melodie, mit der ihr eure Namen in der Reihenfolge der Hierarchie singt: Mama – Papa – Erstgeborenes – Zweitgeborenes – Drittgeborenes – usw. Dieses »Lied« könnt ihr über den Tag verteilt singen und die Kinder einladen, mitzusingen. Irgendwann reicht es schon, allein die Melodie zu summen. Gern könnt ihr dazu auch tanzen. Fühlt euch frei in der Umsetzung. Ob Mama oder Papa zuerst genannt wird, entscheiden die Eltern unter sich. Ihr könnt auch wechseln.
Das Familienbild
Malt gemeinsam ein Bild eurer Familie und platziert die Familienmitglieder nach ihrem »Rang« in der Familie.
Wie steht es um dein Wissen zur Hierarchie auf Augenhöhe? Mach den Test in Kapitel 9 (vgl. Seite 258).