Kapitel 8

Liebevolle Führung mit Freiraum im Familienalltag

Die FüLi-Strategien Schutzschild, Schützende Gewalt und Stellvertretende Kraft lassen im Moment des Konflikts häufig wenig Raum für die Autonomie des Kindes, da das Bedürfnis nach Sicherheit beim Kind durch Liebevolle Führung Vorrang hat. Deshalb stellen wir dir nun die sechste FüLi-Strategie vor, die aus unserer Sicht im Alltag mit Kindern am häufigsten zum Einsatz kommt: die Strategie Freiraum. In der Grafik auf S. 17 erkennst du, dass die Strategie Freiraum am meisten Platz einnimmt, da sie für die gesunde Entwicklung deines Kindes so bedeutungsvoll ist. Wenn das kindliche Bedürfnis nach Autonomie nicht ausreichend gesehen wird, kann das die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes hemmen. Deshalb ist es von großer Bedeutung, die fürsorglichen Machtstrategien Schutzschild, Schützende Gewalt und Stellvertretende Kraft nur dann einzusetzen, wenn dies im Alltag zwingend für die Sicherheit und den Schutz des Kindes erforderlich ist.

Mit dem Bedürfnis nach Autonomie meinen wir konkret, dass Kinder in Entscheidungen miteinbezogen werden und mitbestimmen dürfen, gewisse Dinge selbst entscheiden dürfen, gefragt werden, bevor Entscheidungen getroffen werden, dass ihre Meinung gehört und ernst genommen wird und nicht zuletzt, dass Kinder Dinge selber machen dürfen, sich ausprobieren und dadurch eigene Erfahrungen sammeln und manchmal auch Misserfolge erleben. Am Ende dieses Kapitels geben wir dir deshalb anhand von typischen Alltagskonflikten zahlreiche Strategien an die Hand, wie du das Bedürfnis nach Autonomie bei deinem Kind stillen kannst.

Konkret bedeutet die Strategie Freiraum, dass du in diesen Situationen mit deinem Kind gemeinsam eine Lösung finden kannst, im Dialog mit deinem Kind über Kompromisse nachdenken darfst und ihr schließlich zu einer friedvollen Lösung kommt, welche die Bedürfnisse aller in der Familie oder der Gemeinschaft berücksichtigt. Bei der Strategie Freiraum entscheidest du das Was, und beim Wie darf dein Kind mitentscheiden. Fest steht beispielsweise, dass die Zähne geputzt werden, nur wie, darf dein Kind mitbestimmen. Je älter dein Kind wird, desto größer wird der Freiraum für dein Kind und desto weiter kann der Rahmen gesteckt werden.

Du kannst dir den Rahmen wie ein Gummiband vorstellen, das du mal enger und mal weiter dehnen kannst. Die Konfliktlösung braucht Geduld und Zeit, und nicht immer gibt es eine schnelle und einfache Lösung. Dies ist im Alltag manchmal schwer auszuhalten. Es bedeutet aber auch, dass du als Mama/Papa nicht starr bei deiner Meinung bleiben musst, sondern dich auch mal von der Meinung deines Kindes überzeugen lassen kannst. So entsteht viel Selbstwirksamkeit für dein Kind, und du hast während der Konfliktlösung die Möglichkeit, in der Leichtigkeit und in Verbindung mit deinem Kind zu bleiben. Im Folgenden beleuchten wir typische Konflikte mit Kindern, in denen die Strategie Freiraum sinnvoll ist.

Solche Aussagen begegnen uns in der Beratung immer wieder, und wir möchten dich einladen, dein Bedürfnis nach Achtung in der Familie genauer zu hinterfragen und zu verstehen. Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt (vgl. Seite 26), können Bedürfnisse in Ober- und Unterbedürfnisse unterschieden werden. Respekt gehört zum Oberbedürfnis nach Achtung, das folgende weitere Unterbedürfnisse hat: Anerkennung, Wertschätzung, Würde, Freiheit, Vertrauen, Integrität usw. Das Oberbedürfnis nach Achtung entspricht der Haltung: »Ich behandle andere so, wie ich auch behandelt werden möchte!« Handele ich selbst dementsprechend, erfülle ich mir das Oberbedürfnis nach Achtung und damit auch die Unterbedürfnisse wie Respekt, Rücksicht, Integrität usw. Denn voller Achtung bin ich erst, wenn ich nach meinen eigenen Werten handle, ohne die Verhaltensweisen anderer zu verurteilen. Wenn dein Kind dich beispielsweise beschimpft, würde Achtung bedeuten, dass du selbst ihm gegenüber achtungsvoll bleibst, anstatt zurückzuschimpfen. Frage dein Kind beispielsweise: »Bist du sauer, weil du das gerade selbst entscheiden wolltest?«

Als Unterstützung empfehlen wir, dir noch einmal die in Kapitel 1 (vgl. Seite 35) erwähnte Grundannahme Nummer 4 der Gewaltfreien Kommunikation bewusst zu machen. Du kannst dein persönliches Richtig oder Falsch haben und dies deinem Kind vermitteln und ihm gleichzeitig seinen Freiraum lassen, dieses Richtig oder Falsch für sich selbst neu zu definieren – je älter dein Kind wird, desto mehr Einfluss kann dein Kind auf eure gemeinsamen Familienwerte haben. Gleichzeitig hört die Freiheit und Autonomie eines Kindes dort auf, wo die Freiheit anderer Menschen stark eingeschränkt wird oder die Bedürfniserfüllung einer Gemeinschaft durch das Verhalten des Kindes auf der Strecke bleibt. Ein sozial kompetentes Kind lernt Achtung zu leben, indem es sich einerseits an die Bedürfnisse anderer anpassen kann und sich gleichzeitig achtungsvoll abgrenzt. Doch wie viel achtungsvolles Verhalten dürfen wir Erwachsene von Kindern bereits erwarten? Werfen wir dafür einen Blick auf die kindliche Entwicklung:

Bereits im Alter von circa zweieinhalb Jahren sind Kinder in der Lage, die sogenannte emotionale Perspektivübernahme zu leisten. Damit ist gemeint, dass ein Kleinkind in diesem Alter im Gesicht seines Gegenübers erkennen kann, in welchem Gefühlszustand sich die Person befindet. Oft ist dies an Zweiwortsätzen wie zum Beispiel »Mama traurig?« oder »Papa böse?« erstmals beobachtbar. Die sogenannte kognitive Perspektivübernahme, also die Fähigkeit des Kindes, zu verstehen, dass andere Menschen andere Gedanken und Meinungen haben, beginnt erst mit circa vier bis viereinhalb Jahren (vgl. Haug-Schnabel und Bensel). Die Sozialkompetenz geht noch über diese emotionale Entwicklung hinaus und bezieht sich vor allem auf das Handeln des Kindes in einer Gruppe. Gefördert wird das Sozialverhalten, wenn Kinder lernen, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen. Dies verlangt dem Kind häufig ein hohes Maß an Frustrationstoleranz ab. Damit ist gemeint, dass ein Kind lernt, mit Misserfolgen, unangenehmen Gefühlen wie Enttäuschung, Trauer, Frust und eigenen Fehlern umzugehen. Es ist für ein Kind insbesondere bis zum Schulalter sehr herausfordernd, die eigenen Wünsche hintanzustellen und abzuwarten, da es in dieser Phase noch in erster Linie impulsgesteuert handelt, um für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Wir können die Frustrationstoleranz unserer Kinder fördern, indem wir nicht alle Frustmomente im Alltag von ihnen fernhalten. Vielleicht trinkst du noch drei Minuten in Ruhe deinen Tee aus, während dein Kind bereits mit dir spielen möchte. Andererseits braucht der Frust des Kindes liebevolle Begleitung in Form von Empathie. Diese Begleitung kann im genannten Beispiel zum Beispiel so aussehen: »Ich weiß, du möchtest jetzt spielen. Gleichzeitig möchte ich noch meinen Tee austrinken. Danach bin ich für dich da.«

Momente des Frusts entstehen im Alltag, wenn Kinder erfahren, dass auch die anderen Familienmitglieder Bedürfnisse haben. Bereits ab dem dritten Lebensjahr können Kinder mehr und mehr verstehen, dass andere Menschen genau wie sie selbst auch Bedürfnisse haben und dass man immer wieder nach Kompromissen suchen kann, damit alle sich wohlfühlen. Denn gerade dann, wenn du mehrere Kinder hast, wirst du nicht immer alle Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen können. Aus entwicklungspsychologischer Sicht steht fest, dass Kinder etwa bis zum 20. Lebensjahr aufgrund ihrer fehlenden Hirnreife nicht zu jeder Zeit vernünftig und sozial verträglich reagieren können. Der präfrontale Kortex, der für Vernunft, Moral und Perspektivübernahme zuständig ist, ist noch nicht vollständig ausgebildet. Es fehlen also im Gehirn noch wichtige neuronale Verbindungen, die ein vernünftiges Verhalten zu jeder Zeit möglich machen.

Gerade in bestimmten Entwicklungsphasen, den sogenannten Autonomiephasen, meistern Kinder große Entwicklungssprünge und erbringen große Anpassungsleistungen. In der ersten Autonomiephase (ca. 1,5 bis 3 Jahre) entdecken Kinder erstmals die Welt alleine und streben nach Unabhängigkeit. In der Wackelzahnpubertät (ca. 5 Jahre bis 7 Jahre) kommt dein Kind in die Schule und wird von neuen Anforderungen überflutet. Und dann kommt da noch die herausfordernde Teenagerzeit (ca. 12 bis 16 Jahre), in der sich Kinder mehr und mehr mit ihrer Identitätsentwicklung beschäftigen und eigene Wertevorstellungen entwickeln. Die Altersangaben gelten nur als grobe Orientierung; jedes Kind entwickelt sich individuell.

Besonders schwierig ist es für Kinder, sich jederzeit achtungsvoll zu verhalten, wenn sie sich in einer solchen Entwicklungsphase befinden. Hinzu kommt, dass insbesondere für Kleinkinder Übergangssituationen noch sehr herausfordernd sind, was leicht durch »die Langsamkeit des kindlichen Gehirns« zu erklären ist. Kinder brauchen einfach noch länger, um eine Veränderung verarbeiten zu können. Deshalb brauchen sie gerade in Übergangssituationen besonders viel liebevolle Führung und dabei viel innere Klarheit ihrer Bezugsperson, was und warum etwas passiert. Achtungsvolles Verhalten ist also keine Selbstverständlichkeit, die wir Kindern einfach so abverlangen können.

Die folgenden Beispiele zeigen deutlich, wie wir Achtung im Alltag täglich vorleben und gemeinsam mit unseren Kindern leben können.

Aus der Beratung

Die Nachbarn sind zu Besuch zum Abendessen. Susanne wünscht sich, dass ihr achtjähriger Sohn sich zum Abendessen dazugesellt. Als Susanne die Kinderzimmertür öffnet und ihren Sohn bittet, zum Tisch zu kommen, sagt ihr Sohn: »Hau ab, auf die habe ich keinen Bock!«

Zunächst wäre wichtig, dass Susanne ihre klare und empathische Haltung nutzt und ihre eigenen alten Muster wahrnimmt. So kann es ihr gelingen, ihre Überlebensstrategie, immer jedem gefallen zu müssen – diese konnte sie in der Beratung erkennen –, zu überwinden. Dies schafft Susanne, indem sie sich selbst Einfühlung schenkt, beispielsweise in einem einfühlsamen Selbstgespräch mit ihrem inneren Kind. Anstatt ihren Sohn emotional zu manipulieren: »Dein Verhalten macht mich und die Nachbarn wirklich traurig«, könnte Susanne folgendermaßen reagieren:

1. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit

»Du hast grad gar keinen Bock und brauchst gerade deine Ruhe, oder?!«

»Ja!«

»Du möchtest gerne in deinem Zimmer bleiben, oder?!«

»Ja, ich kann das gerade echt nicht gebrauchen!«

»Das habe ich gehört. Und du musst ja auch nicht dazukommen. Gleichzeitig ist mir Gemeinschaft so wichtig und ich hätte dich gerne dabei. Hast du eine Idee, wie wir da zusammenkommen?«

»Na ja, ich könnte ja später dazukommen.«

»Das wäre eine Möglichkeit, ja. So bekommst du erst deine Ruhe und dann wir beide noch Gemeinschaft.«

»Cool, ich komme dann zum Essen, okay?!«

»Total okay, ich freue mich auf dich!«

2. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit

»Du möchtest selbst entscheiden, ob du dich dazusetzt, oder?!«

»Ja!«

»Und du möchtest auch gefragt werden, ob du bereit für Besuch bist?!«

»Genau, das sind ja gar nicht meine Gäste!«

»Das habe ich gehört. Und du musst ja auch nicht dazukommen. Gleichzeitig ist mir Gemeinschaft so wichtig und ich hätte dich gerne dabei. Hast du eine Idee, wie wir da zusammenkommen?«

»Na ja, du kannst ja jetzt mit den Nachbarn zusammen essen, und wir setzen uns danach zusammen hin.«

»Okay, das wäre auch eine Möglichkeit. Dann esse ich jetzt mit den Nachbarn und du später mit mir alleine?!«

»Ja genau, ich habe gerade auch noch gar keinen Hunger.«

»Okay, und beim nächsten Mal planen wir den Besuch gemeinsam.«

»Das wäre cool!«

Jetzt denkst du vielleicht: »So lernt mein Kind ja nie, dass man sich zum Essen gemeinsam an einen Tisch setzt, vor allem wenn Besuch da ist.«

Gerade das Thema »Essen am Familientisch« sorgt bei vielen Eltern für starke Reaktionen, denn sie haben in ihrer Kindheit viele Erfahrungen gemacht, die in Verbindung mit Druck und Zwang standen. Wir empfehlen dir daher von ganzem Herzen, beim Thema Essen Freiwilligkeit in deiner Familie Einzug halten zu lassen und alte Muster wie:

  • Das gehört sich so, dass man immer zusammen isst!

  • Was auf den Teller kommt, wird aufgegessen!

  • Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!

  • Beim Essen muss man still sitzen!

  • Beim Essen wird nicht geredet!

hinter dir zu lassen. Susanne bringt in den Formulierungshilfen klar zum Ausdruck, worum es ihr geht: um Gemeinschaft, genauer um die Gemeinschaft beim Essen. Gleichzeitig möchten wir darauf hinweisen, dass Essen nur eine Möglichkeit ist, um das Bedürfnis nach Gemeinschaft zu stillen, und dass Susannes Sohn nicht verantwortlich dafür ist, dass ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft in diesem Moment gestillt wird. Deshalb darf sie ihrem Sohn in diesem Moment viel Freiraum schenken, um selbst zu entscheiden, wie er das mit dem Essen und dem Besuch handhaben möchte. Diesen Freiraum kann Susanne ihrem Kind allerdings erst geben, wenn sie erkannt hat, welche unwahren Glaubensüberzeugungen sie mit sich herumträgt. Erst dann hat sie die Möglichkeit, das Verhalten ihres Sohnes nicht mehr als respektlos zu empfinden, und kann mit ihrem Sohn in Verbindung kommen. Außerdem entsteht Achtung ja bereits dadurch, dass Susanne achtungsvoll auf das Verhalten ihres Sohnes reagiert.

Aus der Beratung

Max möchte seine fünfjährige Tochter von ihrer besten Freundin abholen und hat es ziemlich eilig, pünktlich nach Hause zu kommen. Max’ Tochter, die gern weiterspielen möchte, schreit wutentbrannt: »Du blöder Kack-Papa!«

Max könnte sich zunächst selbst Einfühlung schenken und sich dadurch beruhigen. Anstatt seine Tochter zu ermahnen: »So redest du nicht mit mir!«, könnte Max folgendermaßen reagieren:

Friedvolle Reaktionsmöglichkeit

»Du sagst ›Blöder Kack-Papa‹. Bist du sauer, weil du noch spielen möchtest?!«

»Ja! Es ist so cool hier!«

»Du hast gerade total Spaß mit deiner Freundin?!«

»Ja! Ich will noch bleiben!«

»Das habe ich gehört. Du hast gerade so einen Spaß, und gleichzeitig entscheide ich, dass wir jetzt gehen, weil ich für dich verantwortlich bin. Hast du eine Idee, was wir da jetzt machen können?«

Sie könnten sich auf fünf Minuten einigen. Hier braucht es die Führung durch den Papa, dass seine Tochter das schaffen kann. Oder sie einigen sich beispielsweise darauf, beim Anziehen eine Anziehstraße auf dem Boden auszulegen, was etwas Leichtigkeit in die Konfliktsituation bringen würde.

Du hast vielleicht schon häufiger gelesen, dass Kinder genau das lernen, was sie in ihrem Umfeld beobachten. Das sogenannte Beobachtungslernen oder auch Lernen am Modell, begründet durch den Psychologen und Forscher Albert Bandura, gilt als Basis für soziales Lernen.

Dein Kind imitiert dabei sein Umfeld, doch macht es wirklich alles nach, was ihm vorgelebt wird? Bedankt sich wirklich jedes Kind genauso wertschätzend für ein Geschenk, wie es dies bei seinen Eltern beobachtet? Hält wirklich jedes Kind dem Nachbarn freundlich die Tür auf, nur weil es dies bei seinen Eltern gesehen hat? Das können wir nicht bestätigen. Es gibt einige Kinder, die durch Beobachtungslernen sehr viel aufnehmen und imitieren, doch ist das unserer Erfahrung nach abhängig vom Temperament des Kindes.

Wir dürfen Kinder nicht zu Höflichkeit und Rücksichtnahme zwingen. Da jedes Kind ohnehin ein soziales Wesen ist und anderen Menschen gern eine Freude macht, ist Zwang an dieser Stelle auch überhaupt nicht nötig. Dein Kind darf zu jeder Zeit frei entscheiden, ob es höfliche und rücksichtsvolle Verhaltensweisen zeigen möchte, und es darf zu jeder Zeit Nein sagen. Gleichzeitig können wir Kinder aber liebevoll anleiten und ihnen dadurch schöne Zaubermomente verschaffen. Die Vorstellung, dass unsere Kinder durch unser Vorbild und durch liebevolle Anleitung dafür sorgen, unsere Welt zu einem friedvolleren Ort zu machen, ist einfach wunderbar. Dabei denke ich, Martina, gerade an eine schöne Situation während meines Weihnachtseinkaufes. Ich hatte beide Hände voll mit großen Taschen, weil ich mal wieder auf den letzten Drücker am 22. Dezember alle Geschenke auf einmal besorgte. Ein etwa fünfjähriges Mädchen erkannte, dass ich auf den Ausgang zuging, und rannte freudestrahlend zur Tür, um sie mir aufzuhalten. Ich freute mich riesig über ihre Unterstützung und bedankte mich voller Wertschätzung bei ihr. Die Mutter des Mädchens platzte beinahe vor Stolz, und das Mädchen erlebte sich darüber selbstwirksam. Kinder wollen aus sich heraus dazu beitragen, dass sich andere Menschen wohlfühlen. Sie erleben sich genau in solchen Momenten als selbstwirksam und wichtig, worüber wundervolle Momente mit anderen Menschen entstehen können.

Dein Kind lernt also einerseits am Modell seiner Bezugspersonen und in der Interaktion mit Geschwistern und anderen Kindern und andererseits durch dein liebevolles Anleiten und deine Ermutigung, der dein Kind freiwillig folgen darf. Durch das liebevolle Anleiten gelingt es dir, deinem Kind Familienwerte zu vermitteln, mit denen es sich mehr und mehr identifizieren wird, sofern es sich damit wohlfühlt. Liebevolle Führung bedeutet zum Beispiel auch, dass du mit deinem Kind Perspektivübernahme übst, das heißt, dass ihr gemeinsam überlegt, wie sich andere Menschen fühlen und was sie brauchen. Darüber entsteht bei deinem Kind eine intrinsische Motivation, sich achtungsvoll zu verhalten. Es beginnt, deine Werte zu übernehmen und zu leben. Das Mädchen, das mir die Tür aufgehalten hatte, wurde von mir nicht gelobt, sondern spürte, wie sehr ich mich über seine Unterstützung freute und dass es mir durch seine Unterstützung wirklich half. Diese Form von Wertschätzung verschaffte uns beiden einen Zaubermoment, in welchem wir miteinander in Verbindung waren.

Fazit: Lass deinem Kind so viel Freiraum wie möglich und gib ihm durch dein Vorbild, dein Ermutigen und Gespräche einen Rahmen vor, wie Achtung gelebt werden kann. Wenn du möchtest, setze dich mit deinem Partner/deiner Partnerin zusammen und notiert euch Dinge, die ihr euren Kindern vorleben möchtet, um Achtung, Respekt und Integrität zu vermitteln.

Nutzt hierfür gern unsere Ideen, wie ihr Achtung in der Familie vorleben könnt (zu finden im Downloadmaterial, siehe Seite 262).

Die Rahmenbedingungen in Kindertagesstätten und Schulen sind bedauerlicherweise nicht immer so, wie wir uns das vorstellen oder wünschen. Häufig sind die Fachkräfte überlastet und wissen sich nicht anders zu helfen, als mit Belohnung und Bestrafung zu arbeiten. Doch es gibt zahlreiche weitere Gründe, warum Kinder nicht in die Kita möchten. Häufig fällt Kindern, je nach Temperament und Entwicklungsphase, die Trennung von den Eltern schwer, da sich die Kleinen bei ihren erstgewählten Bezugspersonen und im Familiennest am sichersten und am wohlsten fühlen. Auch sind Übergänge für Kinder eine große Herausforderung. Deswegen ist es oft an Montagen oder nach den Ferien für Kinder besonders schwierig, da sie sich erst einmal wieder auf die Anforderungen in der Kita einlassen müssen. Dennoch sind wir der Überzeugung, dass du als Mama/Papa entscheidest, ob beziehungsweise dass dein Kind in die Kita geht und dass dein Kind dabei mitbestimmen darf, was es braucht, um diesen Schritt schaffen zu können.

Aus der Beratung

Linas vierjährige Tochter hat die Eingewöhnung nach starken Trennungsschmerzen gemeistert und geht nun schon seit eineinhalb Jahren täglich in die Kita. Nach den Sommerferien kommt sie in die Einrichtung und der Gruppenraum ist in einen anderen Stock umgezogen. Angst und Panik machen sich breit und Linas Tochter möchte nicht in den Gruppenraum gehen. Sie klammert und wehrt sich gegen die Trennung. Daraufhin beschließt Lina, mit ihrer Tochter nach Hause zu fahren. Auf dem Heimweg weint Linas Tochter und schreit ihre Mama an: »Ich will zurück in die Kita. Ich will nicht nach Hause!« An den darauffolgenden Tagen zeigt Linas Tochter ein ähnliches Verhalten. Sie will sich nicht trennen und gleichzeitig tobt sie auf dem Heimweg, dass sie doch wieder zurück in die Kita möchte.

In der Beratung zeigte sich ganz deutlich die große Angst von Lina, ihr Kind könnte sich von ihr im Stich gelassen fühlen, wenn sie geht, weshalb sie voller Angst und Anspannung mit ihr in der Garderobe sitzen bleibt und darauf wartet, dass ihre Tochter bereit für einen tränenfreien Abschied ist. Ihre große Angst, etwas falsch zu machen, kennt sie bereits aus ihrer Kindheit. Sie selbst sehnt sich nach Sicherheit und Klarheit und möchte einfach nur das Richtige für ihre Tochter tun. Nachdem sich Lina in sich einfühlen konnte und dabei erkannte, wie viel Urvertrauen sie ihrer Tochter schon mitgegeben hat, beruhigte sie sich. Sie erkannte ihre Versagensangst als alte Angst aus ihrer Kindheit, die nichts mit der Beziehung zu ihrem Kind zu tun hat. Auch half es Lina, zu erkennen, dass Trennungsschmerz beim Abschied sein darf und die Tränen und die Trauer auch von der Bezugserzieherin begleitet werden können. Lina konnte plötzlich auch erkennen, dass ihre Tochter den Schritt eigentlich schaffen möchte. Bisher hatte sie versucht, ihrer Tochter in der Garderobe ganz viel Empathie zu schenken und sie mit Mamaliebe aufzufüllen, doch genau in diesen Situationen wurde ihre Tochter unruhig. Ihrer Tochter fehlte die liebevolle Führung. Durch die Einfühlung in sich selbst und die Einfühlung in ihre Tochter fand Lina innere Klarheit.

Folgendes Vorgehen half Lina schließlich, ihre Tochter selbstsicher abzugeben.

Friedvolle Reaktionsmöglichkeit

Zunächst sprach Lina noch einmal mit der Erzieherin und erzählte ihr von ihrem Entschluss, dass sie ihre Tochter morgens auch bei ihr abgeben möchte, wenn sie in der Garderobe weinen sollte. Als die Erzieherin ihr die Sicherheit gab, ihre Tochter liebevoll zu trösten, und ihr versprach, anzurufen, wenn ihre Tochter sich nach kurzer Zeit nicht beruhigen würde, hatte Lina die Sicherheit, die sie benötigte. Der Austausch mit der Erzieherin und die Vereinbarung gaben ihr den nötigen Halt. Sie nahm sich morgens bewusst mehr Zeit zum Kuscheln und Spielen, um das Bindungsbedürfnis ihrer Tochter zu stillen, das sie sonst in der Garderobe zu stillen versucht hatte.

Zusätzlich überlegten sich Lina und ihre Tochter Strategien, um das Bedürfnis nach Geborgenheit zu stillen. Sie packten jeden Morgen einen kleinen Rucksack mit einem T-Shirt, das nach Mama/Papa riecht, einem Stein der mit Mama-/Papaliebe aufgeladen wird, und einem kleinen Foto, auf dem die ganze Familie abgebildet ist. Bereits während dieser Zeit erzählt Lina immer wieder sehr selbstsicher davon, dass heute Kita-Tag ist. Vor der Kita setzen sich die beiden noch mal auf eine Bank und essen gemeinsam ein kleines zweites Frühstück. Über all diese Bindungsstrategien erfüllt Lina ihrer Tochter das Bedürfnis nach Bindung, worüber sich der Trennungsschmerz von Linas Tochter beruhigt.

Lina kündigte ihrer Tochter an, dass sie in der Garderobe nur kurz Tschüss sagen wird. Um ihrem Kind zum Abschied Verbindung und Orientierung zu schenken, spricht sie den genauen Ablauf mit ihr durch und sagt: »Du hast alles, was du brauchst, in deinem Rucksack. Wir schauen noch mal in den Rucksack. Wozu hilft dir der Stein …?« Die Gewissheit, dass auch das Bindungsbedürfnis ihrer Tochter erfüllt war, gab Lina zusätzlich Sicherheit. Auf ein »Ich will nicht reingehen. Ich will bei dir bleiben« reagierte Lina nun mit Einfühlung: »Ich weiß, du würdest viel lieber bei mir bleiben, oder?! Bei mir fühlst du dich besonders sicher, mhhh?! In deinem Rucksack hast du alles, was du für deine Sicherheit brauchst. Du schaffst es, reinzugehen. Ich bin da und helfe dir, dass du das schaffst!« Indem Lina ihrer Tochter Raum für ihr Bedürfnis nach Sicherheit schenkt und sie sich auch davor Zeit nimmt, auf das unerfüllte Bedürfnis nach Sicherheit einzugehen, ermöglicht Lina ihrer Tochter Freiraum. Gleichzeitig spürt Lina, dass ihre Tochter ihre liebevolle Führung braucht.

Deshalb öffnete sie nach der Einfühlung die Tür zur Garderobe, übergab ihre Tochter direkt an die Erzieherin und verabschiedete sich mit einem Abschiedskuss und den Worten: »Ich hole dich nach dem Mittagschlaf ab. Laura kümmert sich um dich.« Ihre Tochter weinte zwar noch, beruhigte sich allerdings innerhalb von wenigen Minuten durch die liebevolle Begleitung von Laura. Voller Stolz erzählte Linas Tochter beim Abholen, was sie alles in der Kita erlebt hatte.

Fazit: Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass du dein Bedürfnis nach Sicherheit stillst und ein klares Warum für dich brauchst, um liebevoll die Führung übernehmen zu können, wenn dein Kind überfordert ist. Hinterfrage deshalb gern, welche Angst bei dir ausgelöst wird, wenn dein Kind nicht in die Kita möchte, und wie du dir und deinem Kind Sicherheit schenken kannst, um in die liebevolle Führung zu kommen. Diese Erkenntnisse brauchen manchmal viel Austausch, vielleicht auch nur mit einer guten Freundin und/oder der Erzieherin.

Wenn du jetzt glaubst, dass diese Art zu begleiten sehr viel Zeit kostet, möchten wir dir gern aus unserer Erfahrung heraus sagen, dass ein Wutausbruch am Morgen und das völlige Verweigern des Kindes häufig zeitintensiver und vor allem kräftezehrender sind als die Bedürfniserfüllung beim Kind mithilfe der Strategien, die wir hier aufgezeigt haben. Freiraum für dein Kind schenkt also auch dir Freiraum.

Immer wieder berichten uns Eltern, dass ihr Kind überhaupt nicht anstrengungsbereit ist und es insbesondere bei Hausaufgaben zu großen Machtkämpfen kommt. Vielen Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder leistungsfähig sind, da sie in ihrer Kindheit gelernt haben, dass ihr eigener Wert an Leistung geknüpft ist. Aus unserer Perspektive ist Leistung an sich kein Wert, da wir Werte mit Bedürfnissen gleichsetzen; wir sprechen stattdessen vom Bedürfnis der Selbstwirksamkeit. Da Eltern oft in großer Sorge sind, ihr Kind würde die Schullaufbahn nicht erfolgreich meistern, greifen sie – wenn es um fehlende Leistungsbereitschaft des Kindes geht – schließlich zu Erziehungsmethoden wie Bestrafung und Belohnung. Uns liegt viel daran, dass Kinder auch in Bezug auf schulische Themen liebevoll geführt werden, und wir möchten dir im Folgenden zeigen, wie du auch dabei mit deinem Kind auf Augenhöhe bleiben kannst.

Aus der Beratung

»Jeden Tag ist es das gleiche Theater und ich gerate mit meiner neunjährigen Tochter beim Hausaufgabenmachen in einen Machtkampf«, erklärt uns Nina in der Beratung. Ninas Tochter besucht die vierte Klasse und weigert sich, ihre Schulaufgaben zu machen. »Erst nach viel Geschrei und Tränen erledigt sie schließlich mehr schlecht als recht, was von der Schule gefordert wird«, berichtet Nina frustriert.

Nina ist selbst in einer Familie aufgewachsen, in der Leistung eine große Rolle gespielt hat. »Wenn du nichts lernst, sitzt du später auf der Straße«, pflegte ihr Vater stets zu sagen. Aus Angst, zu versagen, und um Lob und Anerkennung von ihrem Vater zu erfahren, tat Nina alles dafür, überall die Beste zu sein. Für dieses Streben nach Perfektion erfuhr Nina in ihrer Kindheit vermeintliche Sicherheit und Liebe. Dabei handelte Nina nicht intrinsisch motiviert aus sich heraus, weil ihr Leistung und Erfolge Freude bereiteten. Ihr innerer Motor war ihre Angst – die Angst, die Liebe ihres Vaters zu verlieren, und gleichzeitig die Angst, zu versagen und auf der Straße zu landen. In der Psychologie sprechen wir von der sogenannten extrinsischen Motivation. Wenn Menschen extrinsisch motiviert handeln, agieren sie nicht für sich selbst, weil ihnen eine Tätigkeit Freude macht. Dabei kann es passieren, dass Menschen völlig ausbrennen und verlernen, auf das zu achten, was ihnen guttut.

Ninas Überlebensstrategie war deshalb »Ich muss perfekt und die Beste sein!«, und diese Überlebensstrategie bringt Nina nicht selten völlig an ihre Belastungsgrenze, weil sie ihr Bedürfnis nach Ruhe und Erholung nicht mehr spüren kann. Was aber haben Ninas Versagensangst und ihre Überlebensstrategie, immer perfekt sein zu müssen, mit den Konflikten mit ihrer Tochter beim Hausaufgabenmachen und Lernen zu tun?

Vielleicht kennst du die Antwort, nachdem du in unserem Buch bereits so viel über Prägungen in der Kindheitsgeschichte erfahren hast. Für Nina fühlt es sich bedrohlich und unsicher an, wenn ihre Tochter beim Lernen nicht funktioniert, so wie sie früher funktionieren musste. »Du wirst schon sehen. Du landest auf der Straße, wenn du nicht lernst«, tönt es laut in ihrem Unterbewusstsein. Als Nina in der Beratung ein fantasievolles Bild für diese innere Stimme finden darf, hat sie plötzlich ein kleines völlig aufgebrachtes Männchen vor Augen, das sie panisch anschreit und ihr vermitteln möchte, dass ihre Tochter in Gefahr ist, wenn sie so weitermacht. Unverarbeitete Gefühle aus ihrer Kindheit wie zum Beispiel Stress, Hilflosigkeit und Verzweiflung werden in ihr ausgelöst, wenn ihre Tochter sich weigert, noch eine Matheaufgabe zur Übung zu rechnen. Schließlich signalisiert ihr Nervensystem: »Es geht hier um deine Existenz, Mädchen. Reiß dich zusammen!«

Nachdem Nina diese Erkenntnis hatte, war sie in der Lage, ihr unerfülltes Bedürfnis nach Sicherheit und/oder Liebe zu erkennen. Sie nahm sich fest vor, ihrer Tochter zu vermitteln, dass sie sicher und geborgen ist und unabhängig davon, was sie leistet, geliebt wird. Gleichzeitig konnte sie ganz neue Ziele für sich formulieren, wie sie ihrer Tochter Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft vermitteln möchte. In einer Sitzung konnten wir erarbeiten, dass der Wert Leistung für sie eine große Rolle spielt, was ja vollkommen in Ordnung ist. Gleichzeitig möchte Nina aber nicht, dass ihre Tochter lernt: »Du bist nur wertvoll, liebenswert und sicher, wenn du etwas leistest!« Zunächst formulierte Nina also völlig neue Erziehungsziele für sich, die folgendermaßen lauteten:

  • Mir ist wichtig, meinem Kind vorzuleben, dass Leistung und Anstrengung Freude machen können.

  • Mir ist wichtig, dass mein Kind Anstrengungsbereitschaft entwickelt, um später ein erfülltes und glückliches privates und berufliches Leben führen zu können.

  • Mir ist wichtig, dass mein Kind seinen Wert spürt, auch wenn es sich gerade ausruht und eine Pause macht.

  • Mir ist wichtig, dass mein Kind lernt, mit Misserfolgen und Frust umzugehen und neuen Mut zu finden, es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal zu versuchen.

Um diese Ziele zu erreichen, ist es wichtig, zu verstehen, dass Kinder durch ihre natürliche Autonomieentwicklung aus sich heraus anstrengungsbereit und wettbewerbsfähig werden und bleiben. Wir nennen diesen Teil der Autonomieentwicklung die Selber-machen-Phase.

Werfen wir dazu noch einmal einen Blick auf die kindliche Entwicklung. Bereits in der ersten Autonomiephase wollen Kinder sich unbedingt weiterentwickeln und vorankommen. In dieser »Selber-machen-Phase« kann besonders gut beobachtet werden, mit wie viel Freude Kinder aus sich heraus etwas leisten wollen. »Selber machen!«, »Ich will alleine!«, »Ich will das machen!« sind Sätze, die Eltern schon hören, wenn ihre Kinder gerade erst sprechen gelernt haben. Ab dieser ersten Autonomiephase ist es für Kinder deshalb sehr wichtig, dass Eltern wenig Kontrolle und viel Freiraum für Exploration schenken. Wenn Eltern es schaffen, ihre Kinder nicht mit stark kontrollierenden Verhaltensweisen oder Sätzen wie »Pass auf!«, »Vorsicht!«, »Achtung!« einzuschränken, wird in dieser Phase eine gute Basis für Anstrengungsbereitschaft gelegt. Kinder tragen Leistungsbereitschaft also in sich – es dient ihrem Überleben, Dinge selbst zu erlernen, Zusammenhänge zu verstehen. Begleiten Eltern diese intrinsische Leistungsbereitschaft führend liebevoll, so wird sie über die Kindheit hinaus erhalten bleiben.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht können Eltern auch noch auf weitere Verhaltensweisen achten, um Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft bei ihrem Kind zu fördern. Zunächst ist es wichtig, Kindern so viele Erfahrungen wie möglich und die damit verbundenen Misserfolge und den Frust zuzumuten. Jede Erfahrung, die Kinder durch Ausprobieren machen können, jeder kleine Misserfolg und Fehler führen dazu, dass ein Kind stärker wird und aus seinen Fehlern lernen kann. Es ist also nicht immer nötig, Kindern zum Beispiel Schritt für Schritt zu erklären, wie es den Turm aufbauen soll, damit er nicht umfällt, oder darauf zu pochen, dass die Steckperlen genau so gesteckt werden müssen, damit das Bild danach perfekt aussieht. Kinder dürfen aus ihren eigenen Erfahrungen, Erfolgen und Misserfolgen dazulernen. Es ist lediglich unsere Aufgabe, Kinder durch den Frust zu begleiten, der durch kleine Misserfolge im Alltag entsteht. »Du ärgerst dich, weil der Turm umgefallen ist, stimmt’s? Du hast dir so viel Mühe gegeben, dass er stehen bleibt. Das habe ich gesehen. Komm, wir machen eine Pause, und später kannst du es gleich noch mal probieren.«

Wichtig ist natürlich auch, Kindern immer wieder in kleinen Schritten dabei zu helfen, dass aus kleinen Misserfolgen Erfolge werden können. So lernt dein Kind einerseits, mit Misserfolgen umzugehen, und andererseits erlebt es sich durch kleine Erfolge im Alltag fähig und selbstwirksam. Hierzu gehört auch, Kinder nach Niederlagen erneut zu ermutigen und sie wieder liebevoll in herausfordernde Situationen zu führen – allerdings erst, wenn sich die starken Gefühle wie zum Beispiel Frust und Traurigkeit wieder beruhigt haben. Deshalb hilf deinem Kind immer wieder, Erfolgserlebnisse zu haben, indem du herausfindest, was deinem Kind leichtfällt und wo seine Stärken und Interessen liegen. Kinder strengen sich mit großer Freude an, wenn sie sich dabei selbstwirksam erleben, ihre Stärken ausleben können und sich für das Thema interessieren, für welches eine Leistung erbracht werden darf.

Kommen wir nun darauf zurück, wie Nina ihre Tochter beim Lernen begleiten könnte. Fest steht, dass Nina keinerlei fürsorgliche Machtstrategie benötigt, um ihre Tochter zum Hausaufgabenmachen zu bewegen. Um sich in ihr Kind einfühlen zu können, benötigt Nina zunächst ganz viel Selbstempathie. Sie redet sich nun in jeder Lernsituation mit ihrer Tochter gut zu und schenkt sich selbst Verständnis. Dann folgt Nina diesen drei Strategien.

Besonders erleichternd war es für Nina, sich in der Beratung klarzumachen, dass es nichts mit Versagen zu tun hatte, wenn sie ihre Tochter nicht sofort davon überzeugen konnte, mit den Hausaufgaben zu beginnen. Sie erkannte, dass es manchmal mehrere Wege braucht und sie durchaus mehrere Strategien ausprobieren durfte, bis ihre Tochter freiwillig damit begann, ihre Aufgaben zu erledigen. Folgende Reaktionsmöglichkeiten haben ihr geholfen:

1. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit: Bedürfnis nach Autonomie stillen

Wenn hinter dem Verhalten ihrer Tochter Autonomie steckt, könnte das Gespräch ungefähr so ablaufen:

»Hast du den Eindruck, dass ich dich kontrolliere?!«

»Ja – immer sitzt du mir im Nacken.«

»Und du kannst gar nicht selbst entscheiden, wann du welche Aufgabe machst und wie?!«

»Genau – das nervt!«

»Okay, ich bedauere sehr, dass du den Eindruck hast, ich würde dich kontrollieren, denn mir ist ja Unterstützung wichtig. Dir ist wichtig, dass du dich selbst ausprobieren kannst mit deinen Hausaufgaben, stimmt’s?!«

»Genau.«

»Und hast du eine Idee, wie ich dir dabei helfen kann?«

»Na ja, lass mich doch diese Woche einfach mal alleine probieren, und wenn ich Hilfe brauche, frage ich dich?«

»Okay, so können wir es ausprobieren, und dann sehen wir weiter!«

In den nächsten Tagen machte ihre Tochter die Hausaufgaben zwar jeweils erst abends kurz vor dem Schlafengehen, und einmal schrieb die Lehrerin, dass etwas fehlte. Gleichzeitig waren diese Erfahrungen sehr wertvoll für Ninas Tochter, und sie bat Nina sogar, noch mal mit ihr zu überprüfen, ob sie alles erledigt hatte. Ninas Tochter fühlte sich ernst genommen und durfte mitbestimmen und einige Dinge bei den Hausaufgaben selbst entscheiden, worüber ihr Bedürfnis nach Autonomie erfüllt wurde.

2. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit: Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung stillen

Wenn Nina hinter dem Verhalten ihrer Tochter das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung wahrnimmt, weil ihre Tochter überfordert ist, könnte sie so in das Gespräch einsteigen:

»Ich habe den Eindruck, du bist mit der Anzahl der Aufgaben gerade überfordert, kann das sein?!«

»Ja, total – da blickt ja keiner durch, und ich habe auch keinen Bock darauf!«

»Das ist dir alles zu viel?!«

»Ja!«

»Du brauchst Unterstützung, da durchzublicken, oder?!«

»Ja – das ist einfach zu viel!«

»Okay, darf ich dir helfen, die Aufgaben zu sortieren, und dann schauen wir, wie du es am besten machen kannst?«

»Ja.«

»Ich helfe dir gerne – wir schaffen das! Und wenn es alles in allem zu viel ist, kann ich auch mit der Lehrkraft sprechen! Lass uns doch erst mal schauen, was es für Aufgaben sind.«

Sicherheit und Orientierung bekam Ninas Tochter durch kleine Lernpakete, die sie gemeinsam erstellten und auf Karten schrieben. Jede Karte, die erledigt war, wurde in eine Schatzkiste gelegt. Außerdem half es Ninas Tochter, die Hausaufgaben in zwei kleinere Zeitpakete zu schnüren und feste Zeitpunkte für diese Lernpakete festzulegen. Ein Lernpaket durfte 25 Minuten nicht überschreiten, und alle Aufgaben, die bis dahin nicht erledigt waren, wurden am Wochenende nachgearbeitet, wenn Nina das in Absprache mit der Lehrkraft als sinnvoll erachtete. Der Fokus lag also nicht auf der Menge der Aufgaben, sondern auf der Zeit, in der Ninas Tochter fokussiert arbeitete.

Als sich eine Routine ergab, begann das erste Lernpaket direkt nach der Ruhepause nach dem Mittagessen um 14 Uhr und das zweite Lernpaket um 17 Uhr. So konnte sich Ninas Tochter dazwischen draußen an der frischen Luft austoben und wieder motivierter starten. Eine weitere Strategie, die half und Sicherheit gab, war die Vorbesprechung der kleinen Aufgaben auf den Kärtchen. Ninas Tochter lernte so, sich die folgenden Fragen zu stellen: Was genau ist zu tun? Welche Hefte und Bücher benötige ich?

3. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit: Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit stillen

Wenn Schulaufgaben langweilig sind und Kinder sich deshalb unterfordert fühlen, kann es durchaus zur Verweigerung bei den Hausaufgaben kommen. Deshalb ist es gut, herauszufinden, ob dein Kind die geforderten Aufgaben vielleicht bereits im Schlaf lösen kann. Sollte dies der Fall sein, braucht dein Kind komplexere Aufgaben. Ihr könntet euch stattdessen ein Lernvideo zum Thema anschauen, in welchem das Thema noch einmal auf eine andere Weise erläutert wird, oder du schreibst deinem Kind schwierigere Aufgaben auf. In solchen Fällen kannst du mit deinem Kind immer wieder eigenverantwortlich entscheiden und Hausaufgaben auch mal weglassen. Hierzu empfehlen wir dir, das Gespräch mit der Lehrkraft zu suchen, um gemeinsam eine Lösung für dein Kind zu finden. Es gibt zum Beispiel auch die Möglichkeit, ein sogenanntes Forderheft für dein Kind zu besorgen, in welchem es anspruchsvollere Aufgaben bearbeiten kann.

4. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit: Bedürfnis nach Entspannung/Ruhe stillen

Dein Kind saß morgens bereits sechs Schulstunden auf seinem Stuhl und hat im schlimmsten Fall wenig Bewegung gehabt und sich extrem angestrengt, den Anforderungen in der Schule gerecht zu werden. Sollte dein Kind die Hausaufgaben am Nachmittag zu Hause erledigen und dabei von Mama oder Papa begleitet werden, sind Konflikte vorprogrammiert. Die Kooperationsbereitschaft ist dann bei vielen Kindern aufgebraucht, und dein Kind bringt dann eventuell jede Menge Überreizung und Müdigkeit ungefiltert zum Ausdruck.

Dieser Stressabbau kann sich auch in starken Wutausbrüchen zeigen. Da dein Kind vermutlich genau spürt, wie grenzenlos und bedingungslos deine Liebe ist, zeigt es sich von seiner verletzlichsten Seite. Gerade dann ist es abhängig davon, dass du ihm seine Liebe zeigst. Diese Strategie half auch Nina mit ihrer Tochter. Sie schenkte ihr nach dem Mittagessen zunächst ganz viel Freiraum, sich auszuruhen und zu entspannen. Liebevolle Führung durfte Nina allerdings übernehmen, indem sie darauf achtete, dass ihre Tochter auch wirklich zur Ruhe kam. Anstatt eine Stunde Hörspiel zu hören oder fernzusehen, einigten sich die beiden darauf, dass Ninas Tochter draußen mit den Freunden spielen, lesen, Musik hören, malen oder basteln konnte.

All diese Strategien halfen Ninas Tochter, ihre Gefühle zu verarbeiten und das Bedürfnis nach Entspannung und Ruhe zu stillen. Da auch das Bedürfnis nach Austausch an einem Schulmorgen meist zu kurz kommt, kann es auch helfen, mit deinem Kind über eine lustige Geschichte oder die Planung von schönen gemeinsamen Aktivitäten in Verbindung zu kommen. Denn vielleicht geht es dir so wie fast allen Eltern, die wir begleiten – von Kita oder Schule erzählen viele Kinder nicht allzu gern. Deshalb suche gern einen anderen Zugang, um das Bedürfnis nach Austausch bei deinem Kind zu stillen. Ihr könnt zum Beispiel auch versuchen, einen Freund oder eine Freundin zum Hausaufgabenmachen oder Lernen einzuladen.

Tipp: Wenn du selbst ein Mensch bist, der Leistung stark mit seinem Wert verknüpft, versuche immer wieder mal auszuhalten, wirklich nichts zu tun. Mit jeder Wiederholung wirst du mehr und mehr erkennen, dass du auch in Sicherheit bist, wenn du gerade nichts leistest.

Kerstin kommt mit den Getränken aus dem Keller und der dreieinhalbjährige Laurenz hat überall Schokolade im Gesicht und an den Händen. Auf die Frage, ob er heimlich Schokolade gegessen habe, antwortet er überzeugt mit: »Nein! Habe ich nicht!« Vermutlich kannst du schmunzelnd auf diese kleine Lüge reagieren, da es sich dabei um eine Notlüge handelt.

Kinder lügen auch, wenn sie sich in der magischen Phase befinden. Dies zeigt sich meist zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr und manchmal auch noch darüber hinaus. Mit felsenfester Überzeugung erzählen Kinder in dieser Phase von Monstern, Hexen, Gespenstern oder unsichtbaren Freund*innen, da sie in ihrer kindlichen Vorstellung diese Wesen wirklich wahrnehmen. Doch gibt es durchaus schwerwiegendere Lügen, bei denen Eltern nicht so entspannt und gelassen reagieren können, vor allem dann nicht, wenn diese weitreichende Folgen haben und andere Menschen durch die Lügen Schaden nehmen.

Wenn Kinder beispielsweise in der Schule Lügen erzählen und andere Kinder dadurch verletzt werden, würden wir diese als folgenschwere Lügen bezeichnen. Hierzu gehört auch das Stehlen von Gegenständen, das mit einer Lüge abgestritten wird. Gerade in solchen Situationen brauchen Eltern und pädagogische Fachkräfte klare Handlungsstrategien, wie sie liebevoll führend reagieren können, um Kindern das zu geben, was sie in diesen Momenten brauchen. Gern möchten wir zunächst wieder zeigen, was mit dem inneren Kind passiert, wenn das eigene Kind lügt. Danach beschreiben wir häufige Ursachen und unerfüllte Bedürfnisse, die sich hinter Notlügen und folgenschweren Lügen verbergen, und zeigen, wie du bedürfnisorientiert auf Lügen deines Kindes reagieren und deinem Kind Freiraum für seine Persönlichkeitsentfaltung schenken kannst.

Wie reagiert dein inneres Kind, wenn dein Kind lügt? Schreit es vielleicht laut auf: »Lügen haben kurze Beine!«, »Du musst immer die Wahrheit sagen!«, »Du musst ehrlich sein!«, »Man lügt nicht!«, »Wenn du lügst, dann …!« Dann was? Was ist passiert, wenn du als Kind gelogen hast? War das vielleicht gefährlich für dich? Welche Bedürfnisse wurden dir als Kind nicht mehr erfüllt, wenn du einmal gelogen hast?

Viele Eltern wurden in ihrer Kindheit für Lügen verurteilt oder durch Liebesentzug bestraft, und vielleicht erging es dir genauso oder so ähnlich. Diese Bestrafung ging vielleicht nicht nur von den Eltern aus, sondern vielleicht auch von Lehrkräften oder von der Freundesgruppe in der Schule. Wer lügt, wird auf dem Pausenhof in der Schule gern mal ausgeschlossen, und wer lügt, dem glaubt man in Zukunft nicht mehr. Eltern haben deswegen verständlicherweise mit starken Gefühlen zu kämpfen, wenn ihre Kinder lügen. Schließlich ist ihnen wichtig, dass ihr Kind ein ehrlicher Mensch wird, damit es enge Freundschaften und gute Beziehungen führen lernt. Die eingebrannten Glaubenssätze lösen Angst, Scham und Schuld aus, wenn die eigenen Kinder lügen. Versuche also, die Vogelperspektive einzunehmen und hinter das Verhalten deines Kindes zu schauen. Stell dir dann gern die Frage, aus welcher Not heraus dein Kind eine folgenschwere Lüge erzählt hat. Gern möchten wir dir zeigen, warum du dich entspannen darfst, wenn dein Kind lügt, und dir die Sicherheit geben, dass dein Kind durch deine liebevolle Führung ein zutiefst ehrlicher Mensch sein und bleiben kann.

Die sogenannte emotionale Perspektivübernahme beginnt bei Kindern schon ab zwei bis zweieinhalb Jahren, was bedeutet, dass Kinder bereits erfühlen können, dass sein Gegenüber anders fühlt. Ab dem dritten Lebensjahr können sie sich mehr und mehr in andere Menschen einfühlen. Und etwa ab dem vierten Lebensjahr erlernen Kinder die kognitive Perspektivübernahme. Kinder sind dann in der Lage, zu verstehen, dass andere Menschen andere Gedanken haben und dass ihr eigenes Handeln die Gedanken und Gefühle anderer Menschen beeinflussen kann. Sie verstehen deshalb auch, welche Verhaltensweisen und Handlungen andere Menschen verletzen könnten. Da Kinder soziale Wesen sind, beginnen sie in dieser Phase, Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen. Sie möchten niemandem wehtun und niemanden enttäuschen. Deshalb kann es durchaus sein, dass Kinder bereits ab diesem Alter lügen, um andere Menschen vor unangenehmen Gefühlen zu schützen. Insbesondere dann, wenn Kinder zu Hause lernen, dass sie die Verantwortung für die Gefühle anderer tragen. Durch Sätze wie »Das macht die Mama aber traurig, wenn du das machst!«, »Schau mal, wie wütend Papa jetzt wegen dir ist« können Kinder schnell zu kleinen Menschen werden, die besonders häufig Notlügen verwenden. In Kapitel 3 findest du zahlreiche Anregungen, wie du mit deinem Kind sprechen kannst, ohne ihm Schuldgefühle zu machen. Hintergrund ist also, dass manche Kinder schon sehr früh gelernt haben, mehr auf die Gefühle und Bedürfnisse anderer als auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen.

Friedvolle Reaktionsmöglichkeiten auf Notlügen

1. Vermittle deinem Kind: Jede*r ist für seine Gefühle selbst verantwortlich

Vermittle deinem Kind bereits ab dem vierten Lebensjahr, wenn es die kognitive Perspektivübernahme beherrscht, dass es nicht verantwortlich für die Gefühle anderer Menschen ist. Wenn es dir möglich ist, lebe deinem Kind vor, wie du ehrlich und klar Grenzen zeigst, anstatt Notlügen zu erfinden, um andere Menschen zu schützen.

2. Auf Geheimnisse verzichten

Pflegt in eurer Familie einen offenen Umgang miteinander und versucht, euch gegenseitig nichts zu verheimlichen, um Konflikte zu vermeiden. An eurem Vorbild lernt euer Kind, dass durch Offenheit auch Konflikte entstehen können und diese danach friedvoll gelöst werden dürfen.

3. Gespräche über Alternativen zu Notlügen

Wenn du dein Kind dabei beobachtest, wie es Notlügen anwendet, versuche zu einem passenden Zeitpunkt ganz in Ruhe mit ihm über seine Notlügen zu sprechen.

»Ich habe heute Bauchweh und kann nicht zu deiner Geburtstagsparty kommen«, erklärt der sechsjährige Friedrich seinem Freund, obwohl er sich eigentlich nur nicht traut, ohne seinen Papa auf eine Party zu gehen. Offensichtlich möchte Friedrich seinen Freund einerseits nicht verletzen, und andererseits schämt er sich dafür, dass er sich noch nicht traut, alleine auf eine Party zu gehen. Friedrichs Papa kann ihm jetzt dabei helfen, sich selbst besser zu verstehen, indem er mit ihm über seine Gefühle und Bedürfnisse spricht. Besonders wichtig ist bei diesem Gespräch, dass ihr über Alternativen sprecht, die sich auf die Zukunft beziehen. Ansonsten hat dein Kind das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Wenn ihr allerdings Lösungsvorschläge für die Zukunft besprecht, kann dein Kind diese viel leichter annehmen. Gib deinem Kind also gern das Gefühl, dass es sein gerade Bestmögliches gegeben hat, auch wenn es eine Notlüge verwendet hat.

Diese Möglichkeiten hättest du beispielsweise:

»Dir ist wichtig, dass Friedrich glücklich ist, weil er dein Freund ist, stimmt’s?!«

»Ja.«

»Deswegen hast du ihm gesagt, dass du Bauchschmerzen hast?!«

»Ja.«

»Mhm, hast du Sorge, dass er sonst enttäuscht wäre und nicht mehr dein Freund sein möchte?!«

»Ja genau!«

»Okay, kann es sein, dass du es gerne schaffen möchtest, auf den Geburtstag zu gehen?!«

»Ja, ich würde schon gerne hingehen.«

»Wie fühlt es sich an, Friedrich nicht die Wahrheit zu sagen?«

»Doof.«

»Hm, hast du eine Idee, was wir machen könnten, damit du dich wohler fühlst?«

Sollte dein Kind keine Idee haben, darfst du es gern fragen, ob du einen Vorschlag machen darfst, und wenn dein Kind dann bereit ist, den Vorschlag anzuhören, könnte dieser so aussehen:

1. Alternative: Offen über Gefühle und Bedürfnisse sprechen: »Wie wäre es, wenn du deinem Freund beim nächsten Mal sagst: ›Ich möchte sehr gern auf deinen Geburtstag kommen. Wäre es okay, wenn meine Mama am Anfang mit dabei ist? Dann fühle ich mich sicherer. Ich war noch nicht so oft alleine auf einem Geburtstag‹, oder ich spreche mit deinem Freund. Was denkst du?«

2. Alternative: Unterstützung annehmen, um es zu schaffen: »Wie wäre es, wenn ich mit Friedrichs Mama spreche und sie frage, ob ich ihr beim Geburtstag helfen darf? Dann bin ich mit dabei und du fühlst dich sicherer. Bestimmt würde sich Friedrichs Mama über meine Unterstützung freuen.«

Solltest auch du manchmal zu Notlügen greifen, weil du niemand vor den Kopf stoßen möchtest, versuche deinem Kind ab sofort vorzuleben, zu deinen Handlungen zu stehen. Erlaube deinem Kind gleichzeitig, sich auszuprobieren, und verurteile es nicht, wenn es eine Notlüge anwendet. Der Freiraum für dein Kind entsteht, wenn ihr offen darüber sprechen könnt und du ihm Akzeptanz für seine Gefühle schenkst, die sich hinter der Notlüge verbergen.

Wenn Kinder folgenschwere Lügen erzählen, ist das meist ein Zeichen dafür, dass Kinder sehr verzweifelt sind und nur die Strategie der Lüge wählen können, um für sich zu sorgen.

Anna, die ihrer Mitschülerin Mira vorwarf, sie hätte ihre Uhr geklaut, war in Wirklichkeit vor allem sehr verzweifelt. »Mira hat mir meine Freundin Luisa weggenommen!«, erklärte sie mir, als ich mit ihr über ihr Verhalten sprach. »Sie schließen mich immer aus und ich darf nicht mehr mitspielen.« Anna war also einsam und hatte große Angst, ihre Freundin zu verlieren, und sie spürte Hass gegenüber Mira, die aus ihrer Sicht ihre Freundin in Beschlag nahm. Dabei war es ihr so wichtig, dazuzugehören. Aus dieser Verletzung heraus hatte sie die Lüge mit der Uhr in die Welt gesetzt.

Immer wieder lügen Kinder auch, weil sie große Angst vor Verurteilung haben. Sie haben Angst, ausgeschimpft oder für ihr Verhalten bestraft zu werden, und erzählen deshalb nicht die Wahrheit, um sich selbst vor Liebesentzug, Meckern, Nörgeln, Vorwürfen oder Schreien der Eltern zu schützen.

Friedvolle Reaktionsmöglichkeiten auf folgenschwere Lügen

Wenn du in dir die Bereitschaft spürst, mit deinem Kind zu sprechen, sorge für einen geschützten Raum, in dem ihr euch beide wohlfühlen könnt. Vielleicht kuschelt ihr euch aufs Sofa oder ihr sprecht abends, wenn dein Kind im Bett liegt und ausreichend Ruhe für ein Gespräch ist. Es ist nicht zielführend, dein Kind sofort mit der Lüge zu konfrontieren, sobald du davon erfährst, weil dein Kind dann eine Abwehrhaltung einnehmen wird. Wichtig ist auch, das Gespräch nicht vor anderen zu führen, sondern für ein vertrauensvolles Umfeld zu sorgen, da dein Kind nicht beschämt werden sollte.

Sage zum Beispiel in einem vertrauensvollen Moment: »Mir ist wichtig, zu verstehen, warum du das erzählt hast. Ich bin für dich da und wir finden eine Lösung.« Anstatt dein Kind zu belehren, versuche, dich zurückzunehmen und deinem Kind ganz genau zuzuhören. Achte beim Zuhören darauf, welche Gefühle du bei deinem Kind wahrnimmst und welche unerfüllten Bedürfnisse dazu geführt haben, dass dein Kind gelogen hat. Versuche, während du zuhörst, eine offene und zugewandte Körperhaltung einzunehmen. Du könntest dich auf Augenhöhe deines Kindes begeben und ihm immer wieder verständnisvoll zunicken. Hilf deinem Kind mit nur wenigen Sätzen, sich selbst besser zu verstehen. So könntest du zum Beispiel sagen: »Kann es sein, dass du ganz verzweifelt und hilflos warst, weil du deine Freundin vermisst?«

Sobald sich dein Kind mit seiner Not gesehen fühlt und spürt, dass es nicht für sein Verhalten verurteilt wird, ist es vielleicht bereit für eine Lösung. Zeige deinem Kind, dass es sein Verhalten bedauern und wiedergutmachen kann. Kinder sind nämlich häufig sehr beschämt, nachdem sie gelogen haben, weil sie selbst keinen Ausweg aus der Situation sehen und sich ohnmächtig fühlen. Natürlich kannst du ihm auch helfen, zu verstehen, welche Folgen seine Lüge für andere Menschen und auch für es selbst hatte, indem ihr euch gemeinsam überlegt, wie sich die Betroffenen fühlen. Sprich in diesem Moment gern auch noch einmal darüber, dass alle Gefühle in Ordnung sind und sein dürfen, dass Lügen jedoch Konsequenzen haben können, wie zum Beispiel, dass andere Menschen das Vertrauen verlieren könnten, und es deshalb wichtig ist, andere Wege zu finden, mit den Gefühlen umzugehen.

Die folgenden Formulierungshilfen geben dir eine Orientierung, was du sagen oder tun könntest. Diese Formulierungshilfen sind etwa ab dem achten Lebensjahr geeignet. Davor kannst du diese gerne kindgerecht anpassen und darauf achten, dein Kind nicht mit zu vielen Informationen zu überfordern.

Formulierungshilfen

  • »Kann es sein, dass du deine Lüge bedauerst und es wiedergutmachen möchtest? Wollen wir uns gemeinsam überlegen, was du tun könntest?! Ich helfe dir gerne dabei.«

  • »Du hast dich … gefühlt und hättest … gebraucht. Was glaubst du, wie es … ging, nachdem er/sie gehört hat, was du erzählt hast?«

  • »Lügen können dazu führen, dass andere Menschen das Vertrauen verlieren. Ist es dir wichtig, deinen Freunden vertrauen zu können und zu wissen, dass sie dir die Wahrheit erzählen?«

  • »Was könntest du beim nächsten Mal tun, wenn du ganz verzweifelt bist und … brauchst? Hast du eine Idee?«

Tipp: Bedanke dich von Herzen für die Ehrlichkeit. Sprich gern aus, wie du dich fühlst, wenn dein Kind offen mit dir über seine Lüge spricht, und sage zum Beispiel: »Vielen Dank, dass du mir alles so offen erzählt hast. Ich freue mich sehr, da es mir ganz wichtig ist, dass wir beide ehrlich zueinander sind.« So schenkst du deinem Kind Wertschätzung.

Gerade wenn Lügen sehr schwerwiegend sind, braucht dein Kind deinen Halt und die Gewissheit, dass es weiterhin von seinen Eltern geliebt wird. Ganz besonders wichtig ist natürlich auch, dass du Ehrlichkeit vorlebst. Dein Kind lügt zu keiner Zeit aus böser Absicht, sondern es hat einfach noch keine bessere Strategie, um einen inneren Konflikt zu bewältigen. Da Kinder aufgrund ihrer fehlenden Reife noch sehr impulsgesteuert handeln, benötigt es viel liebevolle Begleitung und viele Gespräche, damit es alternative Strategien für das Lügen umsetzen kann. Wenn Kinder konsequent leugnen, was sie getan haben, liegt das oft daran, dass sie große Angst vor unverhältnismäßigen Konsequenzen haben. Deshalb haben Kinder auch große Wertschätzung verdient, wenn sie sich überwinden, die Wahrheit zu sagen.

Regeln helfen einer Gemeinschaft dabei, sich wohlzufühlen. Durch Regeln werden menschliche Bedürfnisse nach Ordnung, Struktur und Orientierung und nach Ritualen erfüllt. All diese Bedürfnisse gehören zum Grundbedürfnis nach Sicherheit. Eltern leiden oft darunter, wenn sich ihre Kinder nicht an gewisse Regeln halten, da sie selbst als Kind funktionieren mussten und, wenn sie dies nicht taten, Bestrafung oder Belohnungsentzug erfuhren. Deshalb fühlt es sich für Eltern bedrohlich an, wenn ihre Kinder gegen Regeln aufbegehren.

Auch hier möchten wir dich einladen, in eine klare und empathische innere Haltung zu kommen. Hierzu darfst du wie immer zunächst einen Blick darauf werfen, wie es dir selbst als Kind mit Regeln erging. Was wäre passiert, wenn du dich nicht an vorgegebene Regeln gehalten hättest? Und was ist passiert, wenn du dich wirklich nicht an Regeln gehalten hast? Hattest du Angst vor Strafe oder den Entzug von Belohnung, wenn du gegen Regeln verstoßen hast? Hat das vielleicht sogar dazu geführt, dass du dich nur an die Regeln gehalten hast, wenn die erwachsene Person dich kontrollieren konnte? Durch die Fragen wird dir wahrscheinlich bewusst, dass du dich als Kind vermutlich häufig an Regeln gehalten hast – aus Angst vor Strafe oder aus Angst, keine Belohnung zu erhalten.

Da du in deiner Erziehung auf Belohnung und Bestrafung verzichten möchtest, ist es wahrscheinlich dein Ziel, dass dein Kind sich aus freier Entscheidung heraus an Regeln hält. Deswegen verwenden wir gern das Wort Vereinbarungen oder auch Abmachungen anstatt Regeln. Denn wenn Kinder im Dialog mit ihren Bezugspersonen vereinbaren oder abmachen, was es für das Wohl der Gemeinschaft braucht, fühlen sie sich ernst genommen, gehört und gesehen und sind freiwillig bereit, sich an das zu halten, was gemeinschaftlich vereinbart wurde. Das Erfreuliche daran ist, dass Kinder dann selbst hinter der Vereinbarung stehen können und sich viel wahrscheinlicher auch an die Vereinbarung halten, wenn du nicht dabei bist.

Erinnere dich an dieser Stelle an deine empathische Grundhaltung und hab Vertrauen, dass dein Kind ein großes Interesse daran hat, dass es jedem in einer Gruppe gut geht. Wie das genau aussehen kann, zeigen wir nach einem kurzen Exkurs zur kindlichen Entwicklung.

Aufgrund der fehlenden Reife von Kindern ist es ihnen allerdings noch nicht möglich, sich jederzeit und in jeder Situation an Vereinbarungen zu halten. Weiter oben haben wir bereits erklärt, dass Kindern dies insbesondere in den drei Autonomiephasen, in Übergangssituationen und auch dann, wenn andere Bedürfnisse beim Kind unerfüllt sind, schwerfällt (vgl. Seite 192). Deswegen ist es hilfreich, den Anspruch loszulassen, dass dein Kind sich jederzeit an Vereinbarungen hält. Kinder reagieren nämlich in vielen Situationen – je nach Entwicklungsphase und aktuellem Zustand – sehr impulsgesteuert und brauchen deshalb viele Erinnerungen an Vereinbarungen oder neue Absprachen, die besser zur aktuellen Situation passen. Grundsätzlich gilt auch hier, dass dein Kind an deinem Vorbild lernt, sich an Vereinbarungen zu halten. Deshalb achte darauf, zu deinem Wort zu stehen und konsequent danach zu handeln, was du deinem Kind versprichst. Andererseits darfst du dein Kind immer wieder an Vereinbarungen erinnern und ihm damit einen klaren Rahmen vorgeben, in welchem dein Kind eure Vereinbarungen frei mitgestalten kann. Auch hier gilt: Wenn dein Kind sich nicht an die Vereinbarung hält, macht es das niemals aus böser Absicht, sondern braucht schlicht deine Hilfe, um in die Umsetzung zu kommen. Eventuell braucht es sogar eine neue Vereinbarung.

Um Vereinbarungen auf Augenhöhe zu finden, braucht es also immer wieder neue Gespräche mit deinem Kind. Je älter dein Kind ist, desto mehr Freiraum kannst du ihm schenken. Je jünger dein Kind ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass du es mit zu vielen Worten überforderst. In diesen Momenten hilft dann das Vorleben und Handeln. In welchen Situationen du deinem Kind Freiraum schenken kannst, wenn es um Vereinbarungen geht, zeigen wir an folgendem Beratungsbeispiel.

Aus der Beratung

Laras Sohn ist elf Jahre alt, und aus ihrer Sicht herrscht in seinem Kinderzimmer ein großes Chaos. Immer wieder versucht sie, ihr Kind dazu zu bringen, dass er sein Zimmer aufräumt, doch vergebens. Sie stellt die Regel auf, dass er mindestens einmal pro Woche sein Zimmer in Ordnung bringen soll. Auch im Wohnzimmer verteilt ihr Sohn seine Sachen, ohne sie danach wegzuräumen. Lara ist verzweifelt und hilflos, weil er sich einfach nicht an die Regel zum Aufräumen hält.

Lara hat ein großes Bedürfnis nach Ordnung, worüber sie sich auch das Oberbedürfnis nach Sicherheit erfüllt. Ihr Sohn fühlt sich auf Rückfrage in seinem Chaos wohl und möchte selbst entscheiden, wie es in seinem Zimmer aussieht (Bedürfnis nach Autonomie). Gleichzeitig geht es bei der Ordnung im Wohnzimmer um einen Gemeinschaftsraum, in dem sich ja auch andere Menschen wohlfühlen möchten. Solange im Kinderzimmer nichts verschimmelt oder andere gesundheitsgefährdende Dinge passieren, kann Lara ihrem Sohn weiterhin Freiraum in einem vorgegebenen Rahmen schenken und beispielsweise folgende friedvolle Reaktionsmöglichkeiten wählen:

1. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit: Gespräch über das Kinderzimmer

Lara könnte das Gespräch mit ihrem Sohn suchen und wertfrei beschreiben: »Fühlst du dich wohl, so wie es in deinem Zimmer aussieht und riecht? Du möchtest selbst über dein Zimmer bestimmen, oder?! Es ist dein Zimmer. Wenn ich das sehe, bin ich ganz genervt, weil mir Ordnung wichtig ist. Mir gibt Ordnung Sicherheit, gleichzeitig ist das dein Zimmer. Du entscheidest.« Wenn ihr Sohn ihr entgegnet, dass er sich in seinem Zimmer so wohlfühlt, ist es aus unserer Sicht nicht zielführend, den Jungen zum Aufräumen zu zwingen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Lara immer wieder mit ihrem Sohn ins Gespräch geht und ihm die Möglichkeit gibt, selbst Lösungsvorschläge zu finden, damit sich alle wohlfühlen können. Sollte ihr Sohn keine Lösungsvorschläge haben, könnte sie ihren Sohn fragen, ob er ihre Ideen hören möchte.

Sie könnte ihn zum Beispiel fragen, ob er Hilfe benötigt, wenn er etwas nicht findet, oder ob sie das Zimmer gemeinsam aufräumen wollen und dabei ein Ordnungssystem schaffen, das ihm hilft, selbstständig Ordnung zu halten. Die lockere Vereinbarung könnte lauten: »Wir sprechen regelmäßig darüber, wie du dich in deinem Kinderzimmer fühlst, und ich bin bereit, dir beim Aufräumen zu helfen, wenn du so weit bist.« Auch könnte Lara ihren Sohn fragen, wie er sich fühlt, wenn ein Freund zu Besuch kommt und er in seinem Zimmer die Spielsachen nicht findet. Wichtig ist in jedem Fall, dass Lara ihrem Sohn hilft, ins Fühlen zu kommen, damit er aus sich heraus die Bereitschaft entwickelt, dafür zu sorgen, sich in seinem Umfeld wohlzufühlen. Hierzu braucht es viele Gespräche und liebevolle Führung.

2. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit: Ordnung im Wohnzimmer

Im Wohnzimmer geht es ja um die Bedürfnisse aller Familienmitglieder. Lara braucht sofort Ordnung, und ihr Sohn würde auch dort gern alles frei herumliegen lassen, was er zum Spielen benutzt. Lara könnte nun folgendes Gespräch führen: »Du möchtest die Sachen liegen lassen oder selbst bestimmen, wann du sie wegräumst, stimmt’s?! Mir ist wichtig, dass es im Wohnzimmer ordentlich ist, das gibt mir Sicherheit. Über dein Zimmer darfst du bestimmen, es ist dein Zimmer. Was machen wir jetzt mit dem Wohnzimmer?« Der Vorschlag ihres Sohnes könnte lauten: »Ich räume es immer vor dem Abendessen weg und bestimme bis dahin selbst den Zeitpunkt des Aufräumens.« Wenn sich Laras Sohn dann nicht an die Vereinbarung hält, braucht er Unterstützung in Form einer Erinnerung: »Denkst du an unsere Vereinbarung? Im Wohnzimmer liegen noch die Sachen und es gibt gleich Abendessen.« Sollte ihr Sohn seine Spielsachen dann immer noch nicht vor dem Abendessen wegräumen, hat Lara die Möglichkeit, erneut das Gespräch zu suchen und dranzubleiben. Eventuell kann die Vereinbarung dann noch einmal verändert und gemeinsam neu überdacht werden. Eventuell braucht er Hilfe, wie er sich beim Erledigen seiner Aufgabe sein Bedürfnis nach Spiel und Spaß erfüllen kann. Vielleicht hilft ja Musik, Aufräumen als Düsenflieger oder gemeinsames Aufräumen um die Wette. Durch den Freiraum, den Lara ihrem Sohn schenkt, macht er wichtige Erfahrungen, fühlt sich ernst genommen, darf selbst ins Spüren kommen, was sein Bedürfnis nach Ordnung betrifft, und lernt dadurch: Ordnung ist in unserer Familie wichtig, weil sie uns Sicherheit schenkt.

Lara könnte sogar so weit gehen und an bestimmten Tagen ausnahmsweise für ihren Sohn vor dem Abendessen aufräumen. So würde sie Unterstützung und Kooperationsbereitschaft vorleben. Sie könnte sagen: »Ich sehe, du bist gerade richtig müde und hast in der Schule richtig viel Stress. Ich übernehme das heute mal für dich.« So lernt Laras Sohn, sich gegenseitig in herausfordernden Zeiten zu unterstützen. Und dann könnte es Abende geben, an denen gemeinsam entschieden wird, dass die Sachen liegen bleiben und am nächsten Morgen aufgeräumt wird. Gleichzeitig kann Lara wertschätzen, wenn ihr Sohn sich an die Vereinbarung hält, indem sie ihre Gefühle beschreibt und ihm erklärt, welches Bedürfnis er ihr gerade durch sein Verhalten erfüllt hat. Das könnte beispielsweise so aussehen: »Heute war das Wohnzimmer vor dem Abendessen aufgeräumt, wie wir es besprochen haben. Das war ich heute echt erleichtert, weil ich einen anstrengenden Tag in der Arbeit hatte. Danke für dein Mitmachen und deine Unterstützung!«

Formulierungshilfen, um gemeinsame Lösungen zu finden

  • »Du möchtest selbst bestimmen, wann du das machst, weil das dein … ist. Gleichzeitig ist mir wichtig, … Hast du eine Idee, wie wir das lösen?«

  • »Du möchtest gefragt werden, oder?! Deine Meinung ist mir wichtig, gleichzeitig ist auch mein Bedürfnis wichtig. Wie würdest du das jetzt lösen?«

  • »Mir ist wichtig, dass sich alle hier wohlfühlen. Du brauchst … Deiner Schwester braucht … und ich brauche … Wer hat Ideen, wie wir das lösen?«

  • »Ich habe einen Vorschlag. Möchtest du ihn hören?«

Das Thema Streit und Gewalt unter Geschwistern wurde schon in den vorausgehenden Kapiteln immer wieder aufgegriffen, da es bei vielen Konflikten entweder den Schutzschild, die Schützende Gewalt, die Stellvertretende Kraft oder die Einhaltung der Hierarchie erfordert. Es gibt allerdings auch zahlreiche Konflikte unter Geschwistern, die mit viel Freiraum und einem vorgegebenen Rahmen gelöst werden können. Je älter deine Geschwisterkinder sind, desto mehr kannst du sie bei Lösungsfindungen miteinbeziehen und Geschwisterkonflikte sogar als Chance sehen, damit deine Kinder sich selbst besser kennenlernen. So lernen Kinder nämlich insbesondere in Interaktion mit ihren Geschwistern die gesamte Bandbreite ihrer Gefühle kennen und erfahren recht früh, dass andere Familienmitglieder auch Bedürfnisse haben. Die folgenden Anregungen kannst du auch auf das Thema Streit mit anderen Kindern übertragen. Wichtig ist uns bei Streit unter Kindern, dass Kinder lernen, ihre eigenen Grenzen zu wahren, und dass Eltern darauf achten, dass ihre Kinder nicht Verantwortung für die Bedürfniserfüllung des anderen Kindes übernehmen müssen. Konkret heißt das, dass du als Mama/Papa dafür sorgst, dass jedes Kind sein Bedürfnis erfüllt bekommt – und dass die Kinder dann mitbestimmen dürfen, wie das aussehen könnte.

Wenn sich (deine) Kinder streiten, schau gern zunächst darauf, was bei dir innerlich passiert. Fühlt sich das bedrohlich für dich an? Fühlst du dich unsicher oder hast du Angst? Viele Eltern, die wir begleiten, empfinden Versagensangst, wenn ihre Kinder streiten. Sie gehen davon aus, dass sie schuld am Streit der Kinder sind. Andere Eltern empfinden eine Verlustangst, da sie in ihrer Kindheit gelernt haben, dass Streit unter den Eltern zu Trennung oder Liebesentzug führen kann. Du kannst zunächst klären, was in dir starke Gefühle wie Wut, Ohnmacht, Hass oder Verzweiflung hervorruft, wenn (deine) Kinder streiten, und was dein inneres Kind in diesem Moment braucht.

Um in eine klare und empathische Haltung zu kommen, kannst du dir bewusst machen, dass Rivalität und Streit unter Geschwistern sogar wichtig und nötig für die kindliche Entwicklung sind. Lies gern noch einmal oben nach, warum Kinder sich durch ihren evolutionär bedingten Wettkampfgeist weiterentwickeln (vgl. Seite 170). Erst wenn die Rivalität unter Geschwistern unnatürlich wird, das heißt, wenn deine Kinder die meiste Zeit destruktiv miteinander streiten, bedeutet dies, dass du genauer hinschauen solltest, ob eventuell die Hierarchie in der Familie nicht eingehalten wird oder sich ein Kind von dir vielleicht mehr oder weniger geliebt fühlt. Wenn sich allerdings Konflikte mit prosozialem Verhalten, wie beispielsweise gemeinsamem Spielen, Kuscheln, gemeinsamem Lachen und Gesprächen, unter Geschwistern abwechseln, dann kannst du Ja zu den Geschwisterkonflikten sagen und gemeinsam mit deinen Kindern friedvolle Lösungen erarbeiten, anstatt sie für den Streit zu verurteilen.

Fest steht, dass deine Kinder nicht verantwortlich dafür sind, sich gegenseitig Bedürfnisse zu erfüllen, und sie dürfen auch nicht verantwortlich dafür gemacht werden, wie das andere Kind sich gerade fühlt. In der Lösungsfindung können Kinder lediglich mitbestimmen und dann freiwillig entscheiden, inwieweit sie nach einem Streit bereit sind, dem anderen Kind bei seiner Bedürfniserfüllung zu helfen.

Aus der Beratung

Anton hat zwei Mädchen im Alter von vier und sieben Jahren und lebt mit seinem Partner Franz zusammen. Am Wochenende kommt der sechsjährige Nachbarjunge gern zu Besuch. Er geht mit der älteren Tochter in die erste Klasse, sie sind dicke Freunde. Die vierjährige Tochter möchte immer dabei sein und mitspielen. Doch das ältere Mädchen und der Nachbarjunge schließen im Kinderzimmer die Tür ab, damit sie in Ruhe spielen können. Franz und Anton verlangen von ihrer älteren Tochter, die jüngere mitspielen zu lassen und die Tür aufzuschließen. Sie wollen nicht, dass die Kleine ausgeschlossen wird.

Es stellt sich nun die Frage, ob Franz und Anton ihrer Tochter Sozialkompetenz, Empathie und Mitgefühl vermitteln können, indem sie sie dazu zwingen, die Tür zu öffnen. Die Antwort lautet, wie du schon vermutest: Nein. Denn die älteren Kinder würden dann nicht freiwillig aus sich heraus handeln, sondern nur aus Angst, von den Eltern verurteilt zu werden. Deshalb empfehlen wir bei diesem Konflikt folgende friedvollen Reaktionsmöglichkeiten:

1. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit

Franz und Anton könnten den älteren Kindern den Freiraum im Kinderzimmer schenken und den Frust und die Traurigkeit des jüngeren Kindes liebevoll auffangen. Erst braucht die jüngere Tochter hierzu viel Einfühlung und ist dann vielleicht bereit, mit Franz oder Anton zu spielen. Sobald sich die Kinderzimmertür öffnet, könnte entweder Franz oder Anton mit den beiden älteren Kindern sprechen und ihnen zunächst Einfühlung schenken: »Ihr hattet da drin nur zu zweit gerade richtig viel Spaß, oder? Ihr konntet ganz alleine entscheiden, was ihr spielt, stimmt’s? Deine Schwester war ganz traurig, weil sie auch gerne mitspielen möchte. Sie liebt es, mit euch zu spielen. Wärt ihr bereit, auch eine Zeit lang mit ihr zu spielen?«

Wenn die beiden älteren Kinder darauf mit Nein antworten, wäre das völlig in Ordnung, denn die Eltern sind dafür verantwortlich, das jüngere Kind in seinem Frust zu begleiten und seine Bedürfnisse zu stillen, indem sie dann zum Beispiel mit ihm spielen.

2. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit

Franz oder Anton könnte für die jüngere Tochter ebenso einen Freund oder eine Freundin einladen, damit sie ihr Bedürfnis nach Spiel und Spaß stillen kann. Hierbei braucht es dann die Begleitung der Eltern, damit klar ist, wer mit wem spielt. Vielleicht kann dieses Kind ebenfalls etwas älter sein, sofern es gern Zeit mit dem jüngeren Kind verbringt. Denn häufig möchten jüngere Kinder von den älteren Kindern lernen und lieben es, von diesen geführt oder gefordert zu werden. Es gibt viele ältere Kinder, die sich aus einem gewissen Fürsorgebedürfnis heraus gern mit jüngeren Kindern beschäftigen. So werden im besten Fall also gleichzeitig mehrere Bedürfnisse erfüllt: Weiterentwicklung beim jüngeren Kind, Fürsorge beim älteren Kind und Spiel und Spaß bei beiden Kindern.

Formulierungshilfen für die Lösung von Streit unter Geschwistern

  • »Ich höre dich, und ich höre auch dich. Du möchtest …, und du möchtest … Wir finden immer eine Lösung. Was könnten wir tun?«

  • »Wir atmen erst mal und warten, bis wir uns alle zuhören können. Dann beginnt …, und ich höre genau zu.«

  • »Du hast eine andere Meinung, als … Das ist okay. Wir finden einen Kompromiss.«

Tipp: Macht eine Familienkonferenz. Wenn deine Kinder bereits etwas älter sind, könnt ihr regelmäßig Familienkonferenzen durchführen und darin Konflikte, die immer wieder auftreten, besprechen. So könnt ihr Konflikten vorbeugen. Zum Beispiel könntest du sagen: »Immer wenn es um Aufgaben im Haushalt geht, gibt es Streit. Ich bin genervt, weil mir Harmonie wichtig ist. Habt ihr eine Idee, was wir da verändern könnten?«

Das Zähneputzen ist eines der häufigsten Themen in unseren Beratungen. Doch auch wenn es hier um die körperliche Gesundheit deines Kindes geht, braucht es beim Zähneputzen keine Stellvertretende Kraft, sondern vor allem deine Klarheit darüber, dass die Zähne geputzt werden, und deine Bereitschaft, deinem Kind Einfühlung zu schenken und gemeinsam einen Kompromiss zu finden, der für alle okay ist.

Um deinem Kind beim Zähneputzen mit viel Klarheit begegnen zu können, frage dich gern mal, wie es deinem inneren Kind geht, solange ihr Zähne putzt. Fühlt es sich nicht gesehen oder ist es in der Haltung »Da musst du jetzt durch, denn ich als Kind musste da auch durch und wurde festgehalten«? Das ist aber noch lange kein Grund, hier Stellvertretende Gewalt einzusetzen. Denn es ist körperliche Gewalt, die Zahnbürste gegen den Willen des Kindes in seinen Mund zu stecken, da damit seine körperlichen Grenzen überschritten werden. Anders ist dies zum Beispiel im Fall von Krankheit oder der Gabe von lebensnotwendiger Medizin oder wenn einem Kind gesundheitlicher Schaden droht. Hier wird auch ein Fieberthermometer oder Zäpfchen in den Körper des Kindes eingeführt – dies nicht zu tun, wäre schlicht gefährlich für das Kind. Wenn aber ein Kind die Zähne ein paarmal nicht putzt, passiert erst einmal nichts Bedrohliches.

Sollten die Zähne durch fehlendes Putzen bereits sehr angegriffen sein, empfehlen wir unbedingt eine Erziehungsberatung, bevor die Stellvertretende Kraft angewandt wird. Unsere Erfahrung ist, dass wir dann eine friedvolle Lösung ohne Stellvertretende Kraft mit Eltern erarbeiten können. Tagtäglich wenden sich Eltern an uns, die sehr herausgefordert vor genau dieser Situation stehen – viele von ihnen jeden Abend. Sie sind es leid, diesen Konflikt wieder und wieder zu begleiten, und würden am liebsten das Kind festhalten, ihm die Zahnbürste in den Mund stecken und so das Zähneputzen in wenigen Minuten erledigen. Und doch fühlt sich genau das eben nicht gut an, weil es sich dabei um Machtmissbrauch und Grenzüberschreitung handelt.

Zunächst braucht es also deine elterliche Klarheit. Warum ist das Zähneputzen so wichtig? Wofür bist du verantwortlich? Die Antwort lautet: für die körperliche Gesundheit deines Kindes. Jetzt ist die Frage: Was will dein Kind dir mit dem »Nein« zum Zähneputzen sagen? Denn bevor es an konkrete Strategien geht, braucht es für die Kooperation deines Kindes erst mal dein Wissen, was genau es braucht, um mitmachen zu können. Das kann sehr unterschiedlich sein. Dazu ein Beispiel aus unserer Beratung:

Aus der Beratung

Melanies und Tanjas dreijährige Tochter verweigert das Zähneputzen vehement. Die beiden bekommen schon Schweißausbrüche, wenn sie ans abendliche Zähneputzen denken, denn sie möchten ihre Tochter nicht festhalten oder zum Zähneputzen zwingen.

Melanie und Tanja sind bereits in einem sehr gestressten Zustand, wenn es ums Zähneputzen geht. Ein liebevolles Gespräch mit ihrem inneren Kind und Entspannungsstrategien vor dem Zähneputzen sind deshalb für beide Elternteile als Vorbereitung schon mal sehr hilfreich. Doch schauen wir nun, was ihre Tochter für ein Bedürfnis haben könnte. Möglicherweise möchte sie selbst entscheiden, wann, wie, wo und mit welcher Zahnpasta oder Zahnbürste sie putzt – es geht also um Autonomie. Hier gibt es eine Vielzahl an Strategien, um dein Kind altersgerecht mitbestimmen zu lassen. Wichtig bei Wahlmöglichkeiten ist es, das Kind nicht zu überfordern. Vielleicht hat dein Kind auch Angst und braucht das Vertrauen, dass es in Sicherheit ist, dass nichts passiert. Es braucht also Wege, das Zähneputzen so zu gestalten, dass es okay für dein Kind ist und es sich geborgen fühlen kann.

1. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit für mehr Autonomie

Sollte das unerfüllte Bedürfnis nach Autonomie hinter dem Nein zum Zähneputzen stehen, so kann das Kind beispielsweise zwischen zwei Zahnbürsten oder zwei Zahnpasten wählen oder das Wie und Wo bestimmen. Ihr könnt verschiedene Zahnputzhüte aufsetzen oder euch lustige Jacken anziehen, die dein Kind aussuchen kann, und darüber gleichzeitig das Bedürfnis nach Spiel und Spaß stillen.

2. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit für mehr Sicherheit

Sollte dein Kind Angst haben vor Schmerzen, weil das Putzen ihm vielleicht wehtut oder die Zahnpasta nicht schmeckt? Dann braucht es eine weichere Zahnbürste oder eine neue Zahnpasta. Vielleicht hilft es auch, das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Berührung über eine Massage oder gemeinsames Kuscheln vor dem Zähneputzen zu stillen.

3. Friedvolle Reaktionsmöglichkeit für mehr Leichtigkeit

Vielleicht braucht dein Kind auch Leichtigkeit – also Spiel und Spaß, indem beispielsweise die Zahnbürste zum Mikrofon wird oder dein Kind sich vor dem Zähneputzen in ein Tier verwandeln darf und ihr dann Essensreste findet, die nur das Tier verspeist haben könnte. So könntest du sagen: »Oh, da sehe ich eine kleine Schnecke. Die hat bestimmt gut geschmeckt, kleiner Bär.« Vielleicht hilft es auch, wenn ihr auf einem Aladinteppich vom Wohnzimmer ins Badezimmer fliegt, um deinem Kind den Übergang zu erleichtern und in Verbindung zu kommen.

Formulierungshilfen für deine Klarheit

Da gerade beim Zähneputzen deine Klarheit entscheidend ist, möchten wir dich durch folgende Formulierungshilfen unterstützen. Entscheide selbst, mit welchen Formulierungen du dich wohlfühlst.

  • »Ich bin da und wir putzen Zähne. Ich helfe dir.«

  • »Wir kriegen das hin.«

  • »Ich sehe dich und bin bei dir. Die Zähne werden jetzt geputzt!«

  • »Ich habe die Verantwortung für deine Zähne. Sie werden jetzt geputzt.«

Tipp: Gerade beim Zähneputzen empfehlen wir dir, einen Zeitpunkt zu wählen, an dem du noch Kraft und Energie hast, weshalb es vielleicht auch mal in Ordnung ist, die Zähne am Nachmittag zu putzen und dann erst wieder am nächsten Morgen. Hilfreich kann es auch sein, wenn du nur einmal am Tag die Zähne nachputzt und dein Kind einmal vollständig alleine Zähne putzen lässt oder ihr den Mund nur mit Zahnpasta ausspült. Vielleicht könnte auch immer der Elternteil das Zähneputzen übernehmen, der gerade mehr in seiner Kraft ist und besser die Nerven behalten kann, denn Machtkämpfe beim Zähneputzen entstehen auch oft, weil das Kind deine innere Anspannung und deinen dysregulierten Zustand wahrnimmt und durch das Verweigern nach Verbindung sucht.

Bei allen folgenden Konflikten ist deine innere empathische Grundhaltung entscheidend, wie du in unserer Grafik zur FüLi-Erziehung (siehe S. 17) immer wieder deutlich erkennen kannst. Frage dich also immer zuerst, wie es dir und deinem inneren Kind in dieser Situation geht und wie du es schaffst, dein inneres Kind zu beruhigen, damit du wieder in einen regulierten Zustand kommst. Danach finde dein klares Warum für dein Handeln. So kommst du in deine empathische und klare Grundhaltung. Erst im nächsten Schritt versuchst du, hinter das Verhalten deines Kindes zu schauen und das unerfüllte Bedürfnis hinter seinem Verhalten zu erkennen.

Aufgrund fehlender Reife sind viele Kinder noch nicht in der Lage, abzuwarten oder andere Menschen ausreden zu lassen. Sie handeln aus ihren Impulsen heraus und erfüllen sich dadurch ihr Bedürfnis, gehört zu werden. Achte also in diesem Fall darauf, ob du nicht zu viel von deinem Kind erwartest, wenn es ums Ausredenlassen geht. Geh vor allem mit gutem Vorbild voran und höre deinem Kind aktiv zu. Denn oft werden Kinder von ihren Eltern genauso häufig beim Sprechen unterbrochen. Bedaure beispielsweise, wenn du dein Kind nicht ausreden lässt. Zeige gleichzeitig sanft und liebevoll eine Grenze und biete deinem Kind eine andere Aktivität an, solange du mit einer anderen wichtigen Person sprechen möchtest, oder findet einen Kompromiss: »Du möchtest dringend etwas erzählen. Ich höre dir jetzt zu, und danach möchte ich zehn Minuten in Ruhe mit … reden. In der Zeit könntest du entweder … oder … spielen.« Versuche dann das Gespräch kurz zu halten und lebe deinem Kind Verlässlichkeit vor.

In diesem Kapitel konntest du sehen, wie vielfältig Strategien sein können, um Konflikte mit Kindern zu lösen. Hier sind keine Machtstrategien nötig, sondern es geht vielmehr darum, gemeinsam mit dem Kind eine friedvolle Lösung zu finden, und das darf manchmal auch Zeit brauchen. Gedanken wie »Wir werden eine Lösung finden – später!«, »Wir schaffen das gemeinsam!« oder »Ich bin da und sehe/höre dich!« können in solchen Momenten sehr wertvoll sein. An den oben genannten typischen Alltagskonflikten kannst du gemeinsam mit deinem Kind wachsen und immer wieder authentisch deine Gefühle zum Ausdruck bringen. Denn dein Kind spürt ohnehin mit sehr feinen Antennen, wie es dir geht, und kann gut damit umgehen, wenn du ihm zeigst, was du innerlich spürst.

Teste nun gern dein Wissen zu Kapitel 8, indem du dich mit einem Stift an unser letztes Kapitel setzt, und feiere, wenn dir danach ist, den Prozess, den du angestoßen hast.

Sichere dein Wissen zur FüLi-Strategie Freiraum nun gerne durch die Übungen, die dich in Kapitel 9 erwarten.