Die Packliste war ordentlich und in Kategorien unterteilt: Lebensmittel, Kleidung und notwendige Ausrüstung, um die Rentiere bei der Scheidung zu zählen. Auf dem Küchenfußboden standen die Lebensmittelkisten offen, und Hanna hatte sie mit Thermoskannen voller Kaffee, Brot, Butter und Wurst, Hotdog-Brötchen, Ketchup, Zimtschnecken, die sie in der Vorwoche gebacken hatte, dem letzten Stück getrocknetem Rentierfleisch, Gurpi, und fünf PET-Flaschen mit Limo gefüllt.
Vom Küchenfenster aus beobachtete sie, wie Jon-Isak seinem Vater nicht von der Seite wich. Ante zeigte, und der Kleine hob an, zog, schnallte fest, leinte los wie ein kleiner Mann. Er reichte seinem Vater bis zur Schulter und streckte sich immer, um noch einen Zentimeter größer zu werden. Die Bindung der beiden war stärker als die von Hanna und ihm.
Sie hatten sich nach einem weiteren Kind gesehnt, und Ante war überglücklich gewesen, als der Test schließlich positiv ausfiel. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Dann starb Lasse, und Hanna machte dicht. Sicher hatte sie rein körperlich das Strampeln direkt über dem Schambein gefühlt, das später in Saltos übergegangen war, und auf dem gespannten Bauch bildete sich ein Netz aus bläulich violetten Dehnungsstreifen. Aber das Kind konnte sie nicht annehmen. Es konnte keinen Gott geben, der sie zerschmetterte und ihr dann den Sohn schenkte, auf den sie all die Jahre gewartet hatten. Wie sollte sie sich freuen, wenn es sich anfühlte, als hätte sie mit einem Leben für ein anderes bezahlt? Ein Trost, sagten jene, die es nicht besser wussten, ein Trost in der Trauer. So war es nicht. Lasse war wie ihr Sohn gewesen, nicht wie ein Bruder, er war ihr Kind gewesen.
Und die alten Schachteln im Dorf guckten ihr genau auf den wachsenden Bauch und entwarfen nach dem Selbstmord ihre eigene, religiös gefärbte Mathematik. Sie hatten an ihre Tür geklopft, um ihr Beileid auszusprechen wie alle anderen auch, sie hatte ihnen aber nicht aufgemacht. Zum ersten Mal hatte sie die Tür abgeschlossen. Sie hatte keine Angst, sie über die Sünde sprechen zu hören, sie hatte jedoch Angst, sie totzuschlagen. Nie hatte sie jemanden verurteilt, nie hatte sie sich am Klatsch und Tratsch beteiligt, wenn einer der Dorfjugendlichen beschlossen hatte, seinem Leben eine Ende zu machen, und hatte sich somit den Rücken freigehalten. Darum konnte sie die Tür abschließen und kerzengerade am Küchentisch sitzen, während die da draußen hin und her wanderten, um hineinzulinsen, sich erschreckten, wenn sie sie mit der Kaffeetasse am Mund sahen. Ohne aufzumachen. Ohne sich zu verstecken. Nein, ein paar alte Schachteln, die so taten, als wollten sie nur ihr Bestes, um dann darüber zu lästern, dass ihr Bruder die allergrößte Sünde begangen hatte, die wollte sie nicht im Haus haben. Ein Selbstmord war nicht zu verzeihen. Die Pforten zur Hölle hatten sich aufgetan, um ihn zu empfangen. Und dort schmorte er. Immer noch.
Nein, sie war nicht in der Lage gewesen, das kleine Kind anzunehmen, obwohl es im Kreißsaal auf ihrer Brust liegend so flach und schnell geatmet hatte. Ante hatte geweint und geschluchzt. Das war der Sohn, auf den er gewartet hatte. Das würde er natürlich nie laut aussprechen, und bestimmt liebte er Anna-Stina, aber ein Sohn hatte ihm gefehlt. Sie hatte ihn dafür verachtet, ihm aber gesagt, er solle den Jungen nehmen, weil sie schlafen musste. Irgendwo hatte sie gehofft, dass sie Lasse in die Augen schauen würde, wenn ihr das Neugeborene auf die Brust gelegt wurde. Dass er zurückkehren würde. In einem kleinen Jungen, der besser für das Leben gerüstet war als er. Aber nein, der Blick war ein eigener gewesen. Er war ein kräftiger Junge, der seinen Kopf hob und direkt die Brust suchte. Es tat weh, und sie weinte, und Ante verstand es falsch und dachte, sie sei glücklich. Aber sie würde nie wieder glücklich sein. Anna-Stina sah es schon, bevor der kleine Bruder geboren war, sie schlich durch die Zimmer, bedachte sie mit langen Blicken, traute sich nicht mehr so nah heran wie früher. Hanna fühlte sich aber deswegen nicht schuldig. Sie hatte ihren Bruder verloren, ihr Kind, und das hätte sie verhindern müssen. Aus dem Grund machte sie nachts kein Auge mehr zu. Davon und dass später Jon-Isak das Leben aus ihr zu saugen versuchte, magerte sie mit jeder Woche mehr ab.
Dennoch hatte sie getan, was von ihr erwartet wurde, sie hatte einen Sohn zur Welt gebracht. Sie hatte die Zukunft gesichert. Bestimmt hätte ein Mädchen reichen können, aber sie hatten beide früh festgestellt, dass Anna-Stina das Erforderliche fehlte. Sie hatte weder den Blick noch das richtige Gespür. Aber alles würde gut werden, Hanna hatte sich nie Sorgen gemacht. Ihre Tochter hatte eine große Klappe und würde in ein paar Jahren dem Dorf den Rücken kehren.
Nie hatte sie es laut ausgesprochen, dass Kinder einen unterschiedlichen Stellenwert hatten. Kaum hatte sie es zu denken gewagt, ohne von tiefster Abscheu darüber erfüllt zu werden, dass sie auch nicht besser als andere war. Aber dann und wann war alles egal. Sie hätte unverblümt sagen können, dass sie einen Sohn brauchten, und sie hätte das Küchenfenster aufreißen und die alten Schachteln anschreien können, dass es keinen Gott gab.
Die Leute im Dorf machten einen Umweg, wenn sie sie kommen sahen. Sie betrat den Laden im nächsten Dorf hochschwanger und mit roten Augen nach einem weiteren Morgen mit hemmungslosem Weinen, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern. Aber das schlug diese Tanten mit ihren Körben in alle Richtungen in die Flucht. Sie konnte an den Briefkasten gelehnt stehen bleiben und weinen, wenn dort ein Brief an ihn lag. Und sie hatte Autos gesehen, die auf dem Weg zu den Briefkästen waren, aber vorbeifuhren, wenn sie dort stand.
Jon-Isaks helle Jungenstimme rief über den Hof, und ihr Mann drehte sich lächelnd um. Natürlich war sie dankbar, er war alles, was der Junge brauchte. Die Bindung der beiden war so stark, dass sie kaum ohneeinander sein konnten. Jon-Isak weinte jeden Sonntag, wenn er wusste, dass die Schule wieder auf ihn wartete. Er wollte seinem Vater auf den Fersen folgen und bei den Rentieren sein. Sie hatte den Verdacht, dass es bei den Tränen um mehr ging als nur um seinen Vater, aber daran zu rühren, schaffte sie nicht. Sie atmete, sie bereitete Essenspakete vor, sie sprach und lachte, als ob alles wie immer wäre, und obwohl einige merkten, dass nichts echt war, war es einfacher, sie in Ruhe zu lassen.
Für Jon-Isak gab es nur diese eine Mutter, und er fand sich damit ab. Er kroch manchmal zu ihr aufs Sofa, und sie legte tatsächlich einen Arm um ihn. Aber es war Anna-Stina, die eine Mutter mit einem Vorher und einem Nachher hatte, und ihretwegen sollte sie ein schlechtes Gewissen haben. Das hatte sie aber nicht. Und so kam es, wie sie es vorausgesagt hatte. Ihre Tochter zog es immer mehr von zu Hause weg, zum Gymnasium in der Stadt, zu Freunden und den Jungen in den Dörfern. Und am Ende war sie in die kleine Einzimmerwohnung im nächsten Dorf gezogen, und Hanna hatte aufgeatmet.
Auf dem Küchentisch lag die Zeitung vom Vortag, und sie hatte das Bild von Elsa studiert, die mit verschränkten Armen den Blick fest auf die Person geheftet hatte, die sie fotografiert hatte. Die Säcke waren auf einem großen Foto abgebildet, der Kopf und die Eingeweide eines Rentiers waren zu sehen, das Foto konnte man fast nicht anschauen.
Die Polizei wies Elsas Vorwurf zurück, dass sie kein Interesse hatten, Rentierdiebstahl und Tierquälerei aufzuklären. Sie meinten, es sei schwierig, eine Aufklärung ohne Verdächtige oder relevante Hinweise vorzunehmen. Außerdem mussten sie Prioritäten setzen, und eine einzige Streife in einem riesigen Gebiet konnte keine Wunder vollbringen. Ante hatte die Zeitung mit geballten Fäusten gehalten. Über so etwas war nicht im Sameby diskutiert worden – hatte das Mädchen eine eigene Entscheidung getroffen?, fragte er sich laut.
»Es ist gut, dass sie sich traut«, sagte Hanna.
Und sie meinte das ernst. Sie hatte immer gesehen, dass Elsa aus anderem Holz als Anna-Stina geschnitzt war. Obwohl ihre Tochter in all den Jahren versucht hatte, weil sie die Ältere war, Elsa unterzubuttern, wusste sie, dass es früher oder später zu einer Machtverschiebung kommen würde. Sie hatte seit ihrer frühsten Kindheit die Spiele der beiden verfolgt, in der Teenagerzeit beobachtet, wie sie zu jungen Frauen heranwuchsen, und es war klar, dass Elsa erreichen würde, was sie sich zum Ziel gesetzt hatte. Es waren keine Söhne nötig, um die Rentierhaltung an die nächste Generation zu übergeben. Es brauchte ein Kind, das bereit und fähig war, den Rucksack zu tragen. Aber so weit waren sie noch nicht, noch standen die Söhne höher im Kurs. Elsa jedoch könnte es ihnen allen zeigen, davon war Hanna überzeugt.
Manchmal hatte sie sich gewünscht, Elsa wäre ihre Tochter. Sie hätte ihr die Voraussetzungen mitgeben können, besser als Marika. Sicher, Marika hatte es nicht leicht gehabt, es war schwierig, von außerhalb ins Dorf zu kommen. Man musste schon eine bestimmte Art von Mensch sein, um klarzukommen. Es ging nicht nur darum, die Sprache zu lernen und einen Kolt zu nähen. Sie war zu empfindlich und verstand ihre Geschichte nicht.
Hanna und Lasse hatten die Sorge um Elsa geteilt, aber als es ihn nicht mehr gab, kümmerte sie sich auch darum nicht mehr. Und das Mädchen war wohl zurechtgekommen. Sie glaubte es, sah es an dem Blick in der Zeitung. Hanna würde ihr sagen, dass sie es richtig gemacht hatte, zur Polizei zu gehen, dass es an der Zeit war, die Mörder aus ihren Löchern zu scheuchen.
Jon-Isak hüpfte mit rosigen Wangen und außer Atem in die Küche. Natürlich konnte sie Zuneigung für ihren Kleinen, ihren Reaŋga, empfinden. Sie zerzauste sein schweißnasses Haar und kniff ihn leicht ins Ohr. Er war ein kleines Kraftpaket, das darauf wartete, allen zu zeigen, dass er so gut war wie sein Vater und die anderen Männer. Er hatte das grüne Lasso fest umgeschlungen, es hing von seiner rechten Schulter und umrundete Taille und Rücken.
Er hob die Essenskiste an, bog den Rücken so weit wie möglich zurück und stolperte zur Haustür. Sie zog ihm die Mütze weiter über den Kopf, bevor er wieder in die Kälte ging. Reaŋga, der kleine Bursche, und sein Vater, sie würden einander immer haben. Für ihn waren die Rentiere das pure Glück. Hanna und Ante waren sich nicht einig darüber, von welchen Schwierigkeiten er wissen sollte. Vor Lasses Tod war Hanna der Meinung gewesen, dass man die Kinder aufklären sollte. Aber jetzt fragte sie sich manchmal, ob nicht doch alles, was ihnen widerfahren war, alle getöteten Rentiere und all der Hass, ihren Bruder in den Selbstmord getrieben hatten. Das durfte nicht wieder vorkommen. Früher oder später würde ein älterer Freund Jon-Isak zu viel erzählen. Sie würden ihn niemals schützen können, und er hörte in der Schule bestimmt schon einiges. Aber sie war dankbar für ihren Mann, dem es ungeachtet der Probleme immer gelungen war, beide Kinder mit Hoffnung und Liebe zum Leben mit den Rentieren zu erfüllen. Na ja, zumindest den Sohn. Manchmal dachte sie, auch für ihren Mann wäre es anders gewesen, wenn sie eine Elsa im Haus gehabt hätten, ein Mädchen, das Vollzeit-Rentierhalterin werden wollte. Das hätte ihm gutgetan. Aber es ging nicht nur darum, dass Anna-Stina ein Mädchen und Jon-Isak ein Junge war, sie wollten schlicht und einfach unterschiedliche Dinge.
Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht. Aber woher sollte man den Mut nehmen, sich für etwas anderes zu entscheiden, als die Geschichte der eigenen Sippe zu tragen und das Erbe weiterzuführen? Ein Schlag traf sie in der Magengrube. Lasse hatte es versucht, wollte ihn und schleppte ihn mit sich herum, hatte jedoch am Ende keine Kraft mehr gehabt. Aber es wurde nicht akzeptiert zu sagen, dass man etwas anderes wollte. Und sie hatte nicht zugehört, so war das. Sie war von ihm beeindruckt gewesen, von seiner Lust auf die anderen Möglichkeiten im Leben, sie hatte gedacht, dass er einer war, der sich etwas traute, was sich sonst niemand traute. Aber sie hatte es falsch verstanden, und alles war ihre Schuld. Wie viel auch immer sie seine letzte Zeit drehte und wendete, sie kam immer wieder zum gleichen Schluss: Sie hätte es sehen müssen und hätte helfen müssen. Bei Jon-Isak würde sie nicht scheitern, weil sie ihre Hand von ihm abgezogen, den Säugling ihrem Mann überlassen hatte und ganz sicher war, dass er wissen würde, was der Kleine brauchte.
Sie zog die schwarze Skihose an, band sich einen blauen Wollschal in einem Dreieck über die rote Daunenjacke und zog die Mütze in die Stirn, fast bis zu den Augen. Juovlamánnu. Dezember. Bald hatte sie ein weiteres Jahr überstanden.