Allmählich dämmerte es in Jokkmokk; trotzdem nahm an den Marktständen das Geschiebe und Gedränge zu. Anfang Februar gab das Tageslicht schon kurz nach drei Uhr auf. Die Dunkelheit hatte tagsüber nach wie vor die Übermacht. Der Tag war klar, wenn auch nicht so kalt wie gestern, als das Thermometer auf minus fünfundzwanzig gesunken war. Es war eine Kunst, sich für den Markt warm und zugleich hübsch anzuziehen. Wegen der Kolts, der Nuvttahat und der besonders warmen Wolltücher, in die Elsa und Anna-Stina sich eingemummelt hatten, drehten sich die Touristen nach den beiden um. Das Rentierschlittenrennen hatte vor ein paar Stunden stattgefunden, und unten am See Dálvaddis hatte es einen Rentierwettlauf gegeben. Aus den Foodtrucks, an denen man Suovas-Kebabs und Hamburger kaufen konnte, dampfte es. Die renommiertesten Kunsthandwerker und -handwerkerinnen die Duojárat, hatten ihre Stammplätze nicht unter freiem Himmel, sondern in den Räumen des Samischen Ausbildungszentrums. Dort herrschte an diesem Freitag fieberhaftes Treiben. Silberschmuck funkelte in Glasvitrinen oder hing an phantasievollen Holzständern. Liinnit, Tücher mit und ohne Fransen. Kunst. Duodji, samisches Kunsthandwerk mit Echtheitsstempel.
Elsa und Anna-Stina schlängelten sich zwischen den anderen Besuchern auf den Treppen nach unten ins Erdgeschoss durch. Sie begegneten Cousins und Cousinen, die sie umarmten und mit denen sie sich für den Abend beim Sami-Tanz verabredeten. Gerade als sie die letzte Stufe hinuntergehen wollten, breitete vor ihnen eine Frau mittleren Alters die Arme aus und lächelte übers ganze Gesicht.
»Was für schöne Kleider! Darf ich ein Foto machen?«
Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern fummelte bereits an ihrem Smartphone herum, zwinkerte ihnen lächelnd zu und bat ihren Mann, die Taschen zu halten.
»Ein bisschen dichter zusammen, so, ja. Wunderschöne samische Tracht!«
Anna-Stina lächelte und stemmte eine Hand in die Hüfte. Elsa seufzte und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. Jetzt waren sie schon zum dritten Mal für Fotos angehalten worden.
»Langsam sollten wir Geld verlangen«, flüsterte sie Anna-Stina zu, als sie endlich weitergehen durften.
Lautes Gemurmel erfüllte die Räumlichkeiten, deren Akustik für eine solche Masse an Stimmen nicht günstig war. Dieser Geräuschpegel erschöpfte Elsa. Sie hatte sich schon seit Monaten auf den Markt gefreut, dachte jetzt dennoch, dass sie lieber woanders wäre. Sie beobachtete die Leute, konnte alle in Schubladen sortieren. Diejenigen, für die es eine Selbstverständlichkeit war, zeigten beim Herumgehen stolz ihre Kolts, an denen sie jedes Detail selbst genäht hatten. An den Ohren der Frauen baumelte Silber, und auf ihrer Brust klirrte die Risku. Die, für die es weniger eine Selbstverständlichkeit war, die ohne Sprache, befühlten die auf Kleiderbügeln hängenden Tücher, die sie kaufen wollten, zögerten aber. Und dann gab es noch die anderen, die Fotos machen wollten, die sich mit den Hierarchien nicht auskannten, die mit dem Nachtzug nach Boden und weiter mit dem Bus angereist waren, oder diejenigen, die mit Touristenbussen gekommen waren, oder diejenigen, die mit dem eigenen Auto gefahren waren. Dann waren da auch noch jene, die nur voller Bewunderung waren und wahrscheinlich nie groß nachdachten, einfach fotografierten und auf Instagram posteten.
Vielleicht kamen sie noch dazu, Rentiere zu streicheln, die auf Jokkmokks Straßen liefen. Und was war hier jetzt los? Gab es hier nicht Streit um ein Bergwerk? Das war doch hier, oder? Ihnen fiel ein Konflikt ein, der die Rentierhaltung in der Region zu vernichten drohte. Sie waren aber nicht in der Lage, den Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu denken, und zahlten stattdessen lieber 1550 Kronen für eine silberne Halskette, die Plättchen hatte wie die Kolt-Broschen. Echte samische Handwerkskunst, sagten sie. Das Label »echt« war wichtig. Und »Lappe« sagte man nicht, das wussten sie. Manchmal vergaßen sie es allerdings, vor allem wenn sie zur älteren Generation zählten.
»Komm, ich will mir neue Ohrringe kaufen«, sagte Anna-Stina und zupfte sie am Ärmel.
Elsa war sich sehr im Klaren darüber, dass sie zu denjenigen gehörte, für die es eine Selbstverständlichkeit war, eine der Frauen, die alles nähen konnten, von Kolt bis Gürtel, die Schuhbänder weben und ihr eigenes Tuch fransen konnten. Nur die Broschen und die runden Silberknöpfe, die dicht an dicht auf dem Gürtel saßen, musste sie kaufen. Und die Ohrringe, die Anna-Stina jetzt durchsuchte.
»Your clothes! So beautiful!«
Die Frau, die sich vordrängelte, war wie für eine Polarexpedition angezogen, und ihrem Englisch nach zu urteilen kam sie aus Großbritannien.
»Thank you.«
»Absolutly amazing«, fuhr sie fort, unfähig, sich zu beherrschen und die Fransen nicht anzufassen.
Elsa wich einen Schritt zurück, es herrschte aber zu großes Gedränge, sodass sie nirgendwohin ausweichen konnte. Sie nickte, drehte sich weg und klammerte sich an Anna-Stina.
»Ich kann die bald nicht mehr ertragen. Jetzt grabbeln die mich auch noch an.«
»Ja, weil wir so hübsch sind«, meinte Anna-Stina grinsend.
Jetzt sollten sie vorgezeigt werden, jetzt war Jokkmokk eine stolze samische Gemeinde, und niemand würde zugeben, die Scheißlappen zu hassen, die in Gállok gegen die Bergbaupläne protestiert hatten.
»Die kapieren nichts.«
»Jetzt chill mal, hilf mir lieber, Ohrringe auszusuchen.«
Elsa dachte, sie hätte die Hand der Britin wegschlagen und ihr von den Dorfbewohnern erzählen sollen, die nicht davor zurückschreckten, sie zu bedrohen, die mit Motorschlitten auf ihren Hof fuhren, um zu zeigen, dass sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Dann wäre der Frau das Lächeln vergangen. In ihrer Phantasie stellte sich Elsa vor, wie sie sie schütteln und ihr beschreiben würde, wie Rentiere zu Tode gequält wurden.
Sie wusste, dass sie sich entspannen sollte und sicher fühlen konnte. Hier waren sie ausnahmsweise einmal in der Mehrheit, zu ihren eigenen Bedingungen. Ihr war klar, dass am schönsten Wochenende im Jahr keiner ihrer Freunde über Unangenehmes reden oder daran erinnert werden wollte, es war aber trotzdem ärgerlich, dass keiner den Artikel über die toten Rentiere auch nur erwähnte. Mittlerweile war es über einen Monat her, und die Polizei hatte sich wegen der Säcke nicht bei ihr gemeldet, und die Handschuhe mit der DNA waren bestimmt verschwunden. Elsa konnte sich nicht dazu durchringen, Henriksson anzurufen, weil sie seine billigen Ausreden nicht mehr ertragen konnte.
Im Gebäude war es kochend heiß, alle knöpften beim Hereinkommen Jacken und Strickjacken auf und keuchten über den Temperaturunterschied zwischen draußen und drinnen. Der Kolt war warm und hatte nichts zum Aufmachen, die Wollsocken waren genauso warm, und die Schuhbänder waren die Waden hoch fest geschnürt. Elsa fächelte sich mit einer Broschüre der samischen Kunsthandwerkerin, die die teuersten Messer herstellte, Luft zu.
Anna-Stina konnte sich zwischen zwei Ohrringpaaren nicht entscheiden, hielt sie sich an die Ohren und schaute Elsa fragend an. Elsa zeigte auf die rechten, die eine kleine blaue Perle in der Mitte des Silbers hatten. Anna-Stina sah nicht überzeugt aus und drehte sich erneut zum Spiegel um.
Leute hinter ihnen drängten nach, um den Schmuck anzuschauen. Elsa ignorierte alle anerkennenden Blicke, drehte ihr Gesicht weg, wenn sie ein Smartphone hochhielten.
»Bist du bald fertig? Ich will hier raus.«
Anna-Stina fuhr herum und sah sie verständnislos an.
»Was ist denn jetzt?«
»Guck sie dir doch mal an. Für sie ist alles so exotisch. Sie kolonisieren unsere Kultur mit ihren Blicken auf uns. Widerlich.«
Anna-Stina lachte laut.
»Hast du schon getrunken?«
»Nein.«
Sie wedelte noch schneller mit der Broschüre und schloss die Augen.
»Manchmal bist du ein bisschen seltsam. Soll ich wirklich die mit der blauen Perle nehmen?« Anna-Stina hielt die Ohrringe wieder hoch.
»Ja. Du, ich muss raus und kurz Luft schnappen. Wir sehen uns später.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging zur Treppe, wo sie zwei Stufen auf einmal nahm, und riss die Tür auf. Die Kälte traf sie sofort, und sie atmete ganz tief durch. Sie nahm den Gürtel ab, denn sie hatte das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen. Alles musste so fest, so perfekt, so richtig an Ort und Stelle sitzen.
Sie erntete Blicke, nicht mehr von den Touristen, sondern von ihren eigenen Leuten. Sie stand mit dem Gürtel in der Hand da, in einem unvollständigen Kolt und mit hochrotem Kopf. Sie setzte sich auf einen verschneiten Tretschlitten, der am Hausgiebel stand. Die Leute dachten wahrscheinlich, sie hätte schon ihr erstes Bier gekippt. Jemand grinste und hielt den Daumen in die Luft. Schneeflocken tanzten um ihr Gesicht, bügelten die Locken glatt, die sie sich am Morgen mit so viel Sorgfalt gemacht hatte. Der Schnee verfing sich in ihren Wimpern und puderte ihre Wangen nass. Sie schaute in den Himmel. Die Wimperntusche verlief an den Seiten zu den Schläfen hin. Wie eine Kriegsbemalung.
Jetzt wollte sich niemand mehr mit ihr über ihren Kolt unterhalten, niemand fragte, ob er ein Foto mit ihr für Insta machen durfte. Jetzt kassierte sie schnelle Blicke von vorbeigehenden Touristen in zu schlechten Winterstiefeln, die ihnen jemand in einem teuren Outdoor-Laden aufgeschwatzt hatte. Sie hätte sie gern gefragt, ob sie wussten, dass das Haus früher eine Volkshochschule gewesen war, gegründet als Wiedergutmachung für alle Übergriffe, die die Samen erlitten hatten. Ein christlicher Versuch einer sinnlosen Vergebung.
»Wisst ihr denn überhaupt, wofür sie sich entschuldigt haben?«
Elsa seufzte und schlang sich den Gürtel wieder um die Taille, schloss die Druckknöpfe und verknotete die Bänder so, dass die Quasten zur linken Seite hingen. Ihre Hände zitterten vor Kälte. Sie konnte nicht wieder hineingehen, obwohl ihre Jacke noch im Haus war, sondern schrieb eine SMS an Anna-Stina, in der sie sie bat, sie mitzubringen. Sie stand auf, verschränkte die Arme, um etwas von der Wärme zu halten, und brach schnell zu dem an das Hotel angrenzenden Wohngebiet auf. Sie schaute nach unten, stellte sich taub, wenn jemand ihren Namen rief. Sie ging einfach schneller, bis sie fast rannte.