Giđđa ging in Giđđageassi über, Frühling in Frühlingssommer. Früher hatte immer der Fluss krachend die Eisschollen vom Ufer abgebrochen, aber auch der Eisgang war nicht mehr so wie früher. Das Eis ließ einfach los, willenlos und kraftlos. Und jetzt war der Fluss eisfrei, und die Birken hatten vorsichtig auszuschlagen begonnen. Wenn sie Glück hatten, würden die Mücken noch bis Mittsommer auf sich warten lassen.
Elsa schnitt die schlaffen blauen, grünen, gelben und roten Ballons ab, die noch vor den Schulgebäuden hingen und an eine Schulabschlussfeier erinnerten, bei der es in diesem Jahr viel zu kalt gewesen war. Doch die Kinder waren jetzt frei, und keiner zwang sie mehr, in Konflikten Stellung zu beziehen, die aus einer Zeit rührten, an die sich niemand mehr deutlich erinnern konnte. Die neunten Klassen hatten einen Sommer lang Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, zu Hause auszuziehen, um in der Stadt das Gymnasium zu besuchen. Wie immer würden einige nicht den Absprung schaffen, sondern zu Hause im Dorf bleiben oder nach ein paar Monaten wiederkommen. Und vielleicht im nächsten Jahr einen neuen Versuch wagen. Oder auch nicht.
Ihr schwarzer, knielanger Rock flatterte im kalten Wind und schlug ihr gegen die Beine, die von einer Gänsehaut bedeckt waren. Noch war kein Hauch von Sommer zu spüren.
Das Ende des Monats Mai war wie gewohnt eine grässliche Zeit gewesen. Man konnte nicht mehr mit dem Motorschlitten fahren, der Fluss führte so viel Wasser, dass man nicht fischen konnte, und als es in ganz Schweden schon grün wurde, kehrte der Schnee noch einmal zurück. Sie hatten gesehen, wie der Winterschnee schmolz und das Gras hoffnungsfroh aus der Erde lugte. Das Quecksilber kletterte unverhofft für ein paar Tage über achtzehn Grad, um dann wieder auf ein paar armselige Plusgrade zu fallen. Jetzt herrschten gut fünfzehn Grad, aber die eisigen Polarwinde hielten sie unter ihrer Knute.
Doch Miessemánnu war für sie auch der beste Monat, denn jetzt kamen die Kälber. Es war der Beginn des Rentierhalterjahres. Im Mai begann alles von Neuem, und mit den Kälbern kam die Hoffnung auf ein gutes Jahr. Elsa bekam immer Gänsehaut, wenn sie bei der Geburt der Kälber zusah. Wie sie einen Moment lang benommen auf der Erde lagen, bevor sie sich rasch auf wacklige Beine stellten und den Ruovgat ihrer Mutter erforschten.
Elsa ließ den Blick über den Parkplatz schweifen, auf dem ihr Auto allein auf weiter Flur stand. Als die Rektorin sie angerufen und gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könne, in der Schule ein wenig Ordnung zu machen, hatte sie gezögert. Aber im Auto fühlte sie sich sicher, und die Schultüren konnte sie abschließen. Trotzdem blickte sie sich um, ehe sie sich einschloss. Ihre Familie wusste, dass sie das Haus nur verließ, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und nach Möglichkeit nicht alleine. Es tat weh, dass er eine solche Macht hatte. Manchmal setzte sie sich ins Auto und fuhr in die Stadt, um sich frei zu fühlen. Rief ihre Freunde aus dem Gymnasium an und ging mit ihnen Kaffee trinken. Von Robert erzählte sie nie. Nur in der Stadt konnte sie eine andere Elsa sein. Und sie erkannte, dass es vielleicht das war, was Lasse gesucht hatte. Ein Zwischenraum, in dem er ein anderer sein konnte.
Sie stach die Ballons an, aus denen langsam die Luft entwich, ging durch das Lehrerzimmer und goss verwelkte Blumen. Nahm ein paar vergessene Becher aus der Spülmaschine. Knotete die Mülltüte zu. Der Gedanke an Lasse ließ sie nicht los. Die Reisen ans Mittelmeer. Die Sandburgen, die er angeblich gebaut hatte. Sie musste lächeln. Aber das Dunkel in ihrer Brust blieb. Es half nichts, dass es ein anderer Lasse gewesen war, der die Sandburgen gebaut hatte. Schlussendlich half doch gar nichts.
Sie ging hinaus auf den Flur, zur Wand neben der Schulmensa. Das Bild war direkt auf den Beton gemalt. Es zeigte Rentiere, Schneehühner und das Fjäll, aber ganz unten in einer Ecke saß ein Kiwi. Lasse hatte ihn an einem Spätnachmittag hineingemalt, als seine Klassenkameraden schon nach Hause gegangen waren. Die neunte Klasse hatte die Aufgabe bekommen, die Wand zu bemalen. Nachdem sie mehrmals mit Graffiti beschmiert worden war, hatte der Kunstlehrer die Idee gehabt, die Schüler sich künstlerisch betätigen zu lassen, und fast alle aus der neunten Klasse hatten sich abwechselnd vor der Wand gedrängt. Sich über Motive gestritten, aber schließlich doch geeinigt. Elsa wusste das alles, weil der Kunstlehrer sie einmal zu dem Bild geführt hatte, als sie wegen Lasses Tod vor Trauer stumm gewesen war. Er hatte auf den Kiwi gezeigt.
»Rate mal, wer diesen schönen Vogel gemalt hat?«
Jetzt kniete Elsa wieder vor dem Bild und streichelte die kalte Wand. Den kleinen braunen Vogel, der nicht fliegen konnte.
Sie blinkte frühzeitig, bevor sie auf den Hof einbog. Dann blieb sie noch einen Moment lang sitzen. Die Sonne spiegelte sich in dem neuen Küchenfenster, und das Haus war jetzt von einem Zaun umgeben. Tagelang hatten die Hammerschläge gehallt, und dann hatte es sich trotzdem falsch angefühlt. Als ob sie sich verschanzt und allen gezeigt hätten, wo die Angst wohnt.
Der Schock nach Roberts Überfall hatte sie lange verfolgt, aber irgendwie waren die Tage trotzdem vergangen. Ljungblad hatte sich als hartnäckig erwiesen, hatte nach Zeugen gesucht und war bei Robert gewesen. Noch nie hatten die Dorfbewohner so häufig den Polizeiwagen gesehen wie in diesem Frühling. Nur auf Elsas Hof bog Ljungblad nicht ein, denn es gab nie irgendwelche Neuigkeiten, die ihr Hoffnung hätten machen können. Schließlich rief er an. Er sagte, dass nichts zu machen sei, wenn Aussage gegen Aussage stehe.
»Sie hätten nicht auflegen sollen, als Sie mit dem Notruf telefoniert haben. Wenn wir seine Stimme mit draufgehabt hätten, hätten wir ihn vielleicht wegen Bedrohung belangen können.«
So gesehen trug sie am Ende selbst die Schuld.
Sie schloss sich ein. Der Fußboden knarrte unter ihren Schritten, als sie durch alle Zimmer ging. Die Luft in der Küche war stickig, nachdem Mama Gáhkku gebacken hatte, aber wenn sie allein zu Hause war, öffnete sie nie die Fenster zum Lüften. Viel zu häufig ertappte sie sich dabei, dass sie an einem der Fenster stand, um zu sehen, wer vorbeifuhr. Beim Geräusch eines Quads unten am See spannten sich ihre Bauchmuskeln an.
Beim zweiten Klingeln ging Minna dran. Elsas Körper entspannte sich.
»Bist du bereit für das Markieren der Kälber?« Sie versuchte, einen heiteren Ton anzuschlagen.
»Ich habe schon gepackt.«
Das Schweigen dauerte zu lange.
»Wie geht es dir?« Minna klang beunruhigt.
In der ersten Zeit hatte Elsa alles so gemacht wie immer, aus Gewohnheit, aber vielleicht auch aus Verdrängung. Aber dann hatte sie ihn gesehen. Vor der Tankstelle, mit tief ins Gesicht gezogenem Cap und einem Wolfsgrinsen im Mundwinkel. Das hatte ihren Körper an die Angst im Erdkeller erinnert. Sie bekam keine Luft mehr, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Aus dem Abstecher zur Tankstelle wurde nichts, stattdessen machte sie eine Vollbremsung und legte den falschen Gang ein, sodass der Motor aufheulte, bevor es ihr gelang, wegzufahren, und der Schotter am Straßenrand unter ihren Reifen knirschte. Minna war diejenige, die sie anrief. Die sie jedes Mal anrief, wenn es ihrem Körper einfiel, die Panik noch einmal zu durchleben.
»Ich schaue mich die ganze Zeit nach ihm um.«
»Ich glaube, er hat Angst. Er ist derjenige, der dich meidet. Du lebst dein Leben wie immer.«
»Nicht ganz so wie immer.«
In ihren Albträumen sah sie sein Grinsen. Die Stunden, in denen sie schlief, wurden seltener. Ihre Welt schrumpfte.
»Das weiß er aber nicht. Trag den Kopf hoch. Solche Arschlöcher suchen nach Schwächen. Die Blöße solltest du dir nicht geben.«
»Ich bin froh, dass du bald hier bist.«
Nachdem sie aufgelegt hatten, kontrollierte sie noch einmal die Haustür und zog dreimal an der Klinke. Anfangs hatte sie die naive Hoffnung gehegt, dass die Polizei Erfolg haben könnte. Dann kam diese unbegreifliche Scham. Dass man ihr nicht glaubte. Dass sie nicht mehr wert war. Und ihr Papa, der ebenso tiefe Scham empfand, weil er seine Familie nicht beschützen konnte, baute aus einer Verzweiflung heraus, die niemals offenbar werden durfte, einen Zaun. Sie hatte gesehen, wie er mit aller Kraft die Nägel einschlug und mit fliegendem Pinsel malte. Das Gras würde noch lange weiß gesprenkelt sein.
Und Giđđa ging in Giđđageassi über.