Der säuerliche Geruch in der Luft kam von den nassen Skihosen und verschwitzten Fleecepullis, die vor dem Klassenzimmer an den Haken hingen. Durch das Fenster waren vom Schulhof Stimmen, Lachen und Rufe zu hören. Auf Samisch und Schwedisch. Elsa zog sich langsam an, zerrte den kratzigen grauen Pullover über den Kopf, sodass die Haare wie ein schwebender, elektrischer Heiligenschein um ihr Gesicht abstanden. Der Pony klebte an ihrer Stirn.
Sie sah ihn da draußen. Markus, der mit ihm verwandt war. Montag war am schlimmsten, weil sie zur gleichen Zeit Pause hatten. Vielleicht wusste er, was sie gesehen hatte. Das Blut am Messer und das Ohr im Mund. Was machte man mit denen, die zu viel gesehen hatten? Sie hatte gelesen, was jemand auf Papas Facebook gepostet hatte: Nur ein toter Lappe ist ein guter Lappe. Danach las sie nichts mehr auf Papas Seite. Obwohl sie gern sehen wollte, wenn er schöne Bilder aus dem Rentierwald einstellte.
In der Küche lagen in der dritten Schublade neben der Spülmaschine Papiere von der Polizei, das hatte Mattias ihr gesagt. Dort war alles, was bei Notfällen unterschiedlichster Art gebraucht werden könnte: Heftpflaster, Klebeband, Scheren, Alvedon, Lupe, Angelköder, Schorfpflaster und Flaschenöffner. Man musste mit den rotgelben Angelködern aufpassen, damit man sich keinen Haken einfing. Elsa hatte gesehen, wie Papa Mama operiert hatte, als sie beim Angeln im Fluss mit dem Daumen an einem Köder hängen geblieben war. Der Trick beim Entfernen der Widerhaken war, dass man erst die Biegung des Hakens mit einer Kneifzange abknipste und ihn anschließend am geraden Teil, der im Finger steckte, herauszog.
Elsa hatte die Polizeipapiere nicht gesehen, dachte aber jetzt, dass sie vielleicht hineinschauen sollte. Einmal war ein Polizist zu ihnen nach Hause gekommen und hatte etwas in ein Notizbuch geschrieben. Es ging um einen Schlachtplatz, und das fand sie seltsam, weil gar keine Schlachtzeit war. Bei dieser Gelegenheit hörte sie den Namen, der immer wieder auftauchen sollte. Er war gefährlich, aber auf welche Weise, wurde ihr nicht erklärt. Jetzt wusste sie es. Robert Isaksson aus dem Nachbardorf war ein Rentiermörder.
Sie hatte Mama und Papa nach dem Polizisten in ihrer Küche gefragt, und beide hatten gelacht, leicht angestrengt, und geantwortet: Da war nichts, unna Oabba. Unna Oabba, kleine Schwester. Wenn man die Kleinste war, brauchte man nicht alles zu wissen. So einfach war das. Sie nannten sie selten Elsa, weder ihre Eltern noch Mattias. Sie war ihre unna Oabba.
Markus starrte zum Fenster, und Elsa rutschte auf der Bank schnell zur Seite. Ihr Herz klopfte wie wild. Er suchte nach ihr! Wenn Mattias doch nur noch zur Schule gehen würde. Er hätte sie beschützt. Sie wusste, dass Mattias und Markus sich voriges Jahr einmal geprügelt hatten. Markus hatte viele Freunde mitgebracht, und sie hatten Mattias getreten. Eine ganze Woche lang hatte er eine dicke Lippe gehabt. Papa hatte bei der Polizei Anzeige erstattet und in der Schule angerufen, bekam aber nur zu hören, dass doch jeder weiß, wie Jungs sind.
Mit zittrigen Fingern band sie sich die Schnürsenkel zu. Die Minuten tickten dahin, und bald war die Pause zu Ende. Vielleicht musste sie überhaupt nicht mehr nach draußen gehen.
Markus war inzwischen auf die Schneewehe vor dem Fenster gestiegen, und als er ans Fenster hauchte, bildete sich ein Nebel, der langsam verflog, und danach war er wieder sichtbar. Sein Blick war finster. Unterm Kinn hatte er ein Gewirr aus Pickeln. Er machte keine Drohgebärden, nein, er starrte sie nur an, bis sie nach unten auf ihre Schuhe schauen musste.
Ein Schneeball donnerte mit solcher Wucht an die Scheibe, dass es im Flur dröhnte und sie zusammenzuckte. Markus drehte sich lachend um und verschwand unterhalb der Schneewehe. Elsa kickte die Schuhe aus, zog die Beine auf die Bank und rollte sich zu einem kleinen Bündel zusammen. Sie schlang die Arme um die Schienbeine und drückte so fest, dass die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Sie lehnte die Stirn an die harten Kniescheiben.
»Was machst du da?« Anna-Stina stand am Ende des Korridors.
»Mein Bauch tut weh.«
»Soll ich die Lehrerin holen?«
Elsa schüttelte den Kopf.
»Ist was passiert?«
Elsa sah ihr Ren vor sich. Sie bedauerte, dass sie das Ohr nicht in die Schule mitgenommen hatte. Sie hatte das Bedürfnis, das Flaumige in der Hand zu fühlen. Und auf einmal kamen die Tränen. Ihre Wangen wurden nass, ihr lief der Rotz, und es schmerzte weit unten im Hals, verkrampfte.
Anna-Stina machte zögernd ein paar Schritte auf sie zu. Elsa legte sich auf die Bank, als hätte sie zum Sitzen nicht mehr genug Kraft. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn, es war anstrengend, so viel zu weinen.
Eine Klassenzimmertür öffnete sich, und Marja kam heraus. Sie sank auf die Knie und strich Elsa eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Mii lea dáhpáhuvvan? Anna-Stina? Was ist passiert?«
»Weiß ich nicht. Ich bin gerade eben erst hergekommen.« Anna-Stinas Stimme war weinerlich.
Elsa war klein für ihr Alter. Marja hob sie ohne Probleme hoch und trug sie den Korridor entlang zum Lehrerzimmer. Elsa ließ die Arme fallen, als wäre alles Leben aus ihr gewichen. Marja roch leicht nach Zigarettenrauch. Elsa hatte immer den Verdacht gehabt, dass die Lehrerin im Klassenzimmer heimlich rauchte. In den Pausen lüftete sie andauernd mit weit aufgerissenen Fenstern, obwohl es draußen eiskalt war. Elsa fröstelte ständig, wenn sie sich dort auf ihren kalten Stuhl setzte.
Als Marja sie auf die rote Couch im Lehrerzimmer legte, huschten viele besorgte Gesichter vorbei. Sie hörte Stimmen, die Samisch und Schwedisch sprachen. Jemand sagte, man müsse ihre Eltern anrufen. Elsa schüttelte heftig den Kopf. Marja streichelte ihr übers Haar. Und dann musste sie den Tränen wieder freien Lauf lassen.
»Aber Liebes, meine Kleine, was ist denn passiert?«
Elsa hielt Marjas Nacken fest und zog sie näher zu sich. Sie flüsterte: »Mein Ren wurde getötet.«
»Wie denn? Wurde es überfahren?«
»Nein. Es wurde ermordet.« Als sie die Worte aussprach, kamen sie ihr so unglaublich vor und taten ihr leid, sodass sie sie am liebsten in den Mund zurückgesaugt hätte. Doch Marja riss schon die Augen auf, und es war zu spät.
»Ermordet?«
»Sag das nicht laut. Sag es niemandem!«
Marja wischte Elsa mit der Hand die nassen Wangen ab. Sie hatte auch Rentiere, sie verstand es. Nicht alle taten es, aber Marja schon.
»Ich weiß nicht, ob es getötet wurde. Aber es war voller Blut. Und tot.« Sie konnte der Lehrerein beim Lügen nicht in die Augen schauen.
Marja ballte eine Faust, entspannte sich aber schnell wieder und streichelte Elsa die Stirn.
»Du bist heiß. Du hättest heute zu Hause bleiben müssen.«
Elsa nickte, und plötzlich war sie so müde, dass sie die Augen schließen musste.
»Kann ich hierbleiben, bis der Bus kommt?«
Sie blinzelte und sah, dass Marja auf ihre Uhr schaute.
»Soll ich nicht lieber deine Eltern anrufen, damit sie dich abholen?«
Elsa schüttelte den Kopf, öffnete aber nicht die Augen.
»Na gut, dann ruh dich ein bisschen aus, ich hole dich später ab.«
Sie hielt Marja am Handgelenk fest.
»Sag nichts von meinem Rentier. Zu niemandem.«
Das Gemurmel im Lehrerzimmer war einschläfernd und betäubend. Elsa versuchte, wach zu bleiben, aber es war unmöglich. Es war, wie unter dem Küchentisch zu liegen, wenn die Erwachsenen sich unterhielten. Und das Sofa, das nach Staub roch, war so weich.