70 – Čiežalogi

Sie musste raus, sie musste weg, sie musste in den Wald.

Sie zog sich eilig um und durchwühlte die Küchenbank, bis sie die grauen Stricksocken fand, mit denen ihre Füße nicht in den Stiefeln herumrutschten. Mama ging durch die Zimmer und knipste trockene Blätter von den Topfpflanzen, wischte die Griffe des Kühlschranks und des Gefrierschranks ab und warf

»Was willst du mit dem Gewehr?«

Sie folgte ihr, sah zu, wie Elsa aufschloss und die Waffe herausnahm.

»Willst du jetzt jagen?«

Elsa schnaubte und ging in den Flur. Sie steckte die Füße in die Stiefel, nahm das Cap und drückte es sich so tief herab, dass ihre Augen gerade eben noch sichtbar waren.

»Elsa …«

»Ich fühle mich im Wald nicht sicher. Das ist nur zur Sicherheit.«

»Nimm lieber Mattias mit.«

»Nein. Er ist gar nicht zu Hause.«

Sie knallte die Tür hinter sich zu, aber Mama riss sie gleich wieder auf. Sie stand mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern da, als Elsa die Autotür öffnete.

»Bleib nicht so lange. Wir essen heute zeitig zu Abend.«

 

Der Waldweg war uneben, und das Auto schrappte mit dem Unterboden darüber hin. Die Wiese, auf der die Fischer sonst ihre Autos parkten, war leer, und Elsa atmete auf.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Mücken sie entdeckt hatten. Eine große Bremse beschrieb einen engen, brummenden Kreis. Elsa schlug mit der Hand nach dem Insekt und duckte sich vor Ästen, als sie den Pfad entlangstapfte. Das Brausen des Flusses war schon von weitem zu hören, und unter ihren Stiefeln knackten trockene Zweige. Der Ameisenhaufen war voller Leben. Draußen auf dem Moor wusste sie genau, wohin sie ihre Füße setzen musste. Geschickt balancierte sie oder sprang über Wasserlöcher. Schon lange musste niemand mehr unna

Das Gewehr schlug ihr gegen den Rücken. Hier gab es Bären, die sie sicher gerade beobachteten und sie witterten, angstvoll, aber neugierig. Als sie klein war, hatte Áhkku sie gelehrt, im Wald zu singen. Man durfte nie herumschleichen und einen Bären überraschen. Und sie schritt energisch aus, aber wenn es irgendwo im Wald knackte, schwankte ihre Stimme. Sing einfach lauter, sagte Áhkku.

Sie schlug ein rasches Tempo an, und ihr Atem ging immer schwerer. Ihr brach der Schweiß auf dem Rücken aus. Wenn das Gewehr nicht gewesen wäre, wäre sie gerannt und hätte geschrien, bis sie keine Luft mehr bekommen hätte.

Ihr Körper protestierte, konnte nicht mehr. Keuchend wurde sie langsamer, beugte sich dann nach vorn und stützte ihre Hände auf die Knie.

Die Stromschnellen lockten sie mit ihrem Rauschen. Sie hätte die Angel mitnehmen sollen, um in den sich immer wiederholenden Bewegungen Ruhe zu finden, werfen und einholen, werfen und einholen. Das Geräusch des Flusses war immer laut genug, um die Unruhe in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen.

Ihre Atmung ging wieder normal. Und da, in der Stille hörte sie es. Das Winseln eines Hundes? Sie stand still und ließ den Blick über die Baumstämme gleiten, suchte nach einer Bewegung. Dann war es wieder da, ein Geräusch, aber dieses Mal mehr wie das Wimmern eines Menschen. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte, da, wo der Boden besonders weich war,

Ein Hund fuhr herum und bellte. Er schien zu humpeln. Der Wind trug ihm ihren Geruch zu, und der Hund versteifte sich. Sein knurrendes Bellen kam tief aus der Brust.

Sie nahm das Gewehr von der Schulter und trug die Waffe in einer Hand, während sie auf das Quad zuging. Der Hund knurrte immer noch, aber sie ignorierte ihn. Doch sie erkannte ihn, sie wusste, wem er gehörte.

Als sie um das Quad herumging, erblickte sie einen Hinterkopf und zwei auf dem Boden ausgestreckte Arme. Der Oberkörper und die Beine befanden sich unter dem Quad. Ein Stück entfernt lag ein Cap. Der Mann keuchte laut, als ob alle Luft aus ihm entwiche.

Er hatte sie gehört, drehte mühevoll den Kopf und sah sie aus blutunterlaufenen Augen an. Es war Robert Isaksson.

Sie fasste die Waffe fester.

»Hilf mir, verdammt, steh da nicht bloß rum!«, zischte er.

Seine Lippen waren aufgesprungen und trocken.

»Das ist nur mein Bein, das eingeklemmt ist, und du kannst das Quad anheben, das schaffst du.«

Sie rührte sich nicht, spannte nur die Oberschenkel- und Bauchmuskeln an. Ihr Herz hämmerte wild.

»Wenn du mir nicht helfen willst, gib wenigstens das Handy rüber.«

Er nickte nach links, und dort, halb vom Moos verborgen, lag es. Helfen, er bittet mich, ihm zu helfen. Ihm. In ihren Beinen regte sich ein Kribbeln, das sich wie Kohlensäure in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

Sie wollte ihn fragen, ob er sich daran erinnere, wie er Nástegallu getötet hatte. Sie wollte ihn daran erinnern, wie er sie bedroht hatte, ein Kind. Aber ihre Stimme würde ihr nicht gehorchen.

Der Elchhund knurrte immer lauter, zog die Lefzen zurück und entblößte seine scharfen Eckzähne. Da richtete sie die Gewehrmündung auf den Hund. Robert krallte seine Hand ins Moos.

»Du rührst sie nicht an!«

»Ich frage mich, ob es Diebstahl wäre, bloß Diebstahl, wenn ich sie erschieße und den Kadaver mitnehme«, sagte sie leise. »Glaubst du, ein Hund ist mehr wert als ein Rentier?«

Er fluchte, und Speichel sprühte aus seinem Mund.

»Saatanan perkele. Helvetin vittu!«

Er stemmte sich mit den Händen gegen das Quad, in einem Versuch, es vom Fleck zu bewegen.

»Wenn ich dich erschieße, ist das Mord, oder zumindest Totschlag. Dich kann ich nicht mitnehmen. Sie allerdings schon.«

Sie kniff ein Auge zu und richtete abermals die Waffe auf den Hund.

»Verdammt noch mal. Du bist ja total durchgeknallt. Wenn ich erst mal hier rauskomme …«

Er aalte sich hin und her, stöhnte aber und ließ den Kopf wieder fallen.

Ohne nachzudenken, machte sie ein paar Schritte auf ihn zu und setzte ihm die Gewehrmündung an den Hinterkopf. Er zuckte zusammen und keuchte stoßweise.

»Ist es das, was du mit den Rentieren machst? Wenn du sie anfährst und sie langsam zu Tode quälst?«

Der Hund knurrte und humpelte einen Schritt auf sie zu. Sie kickte in die Luft, und er wich zurück.

Mit einer Hand fischte sie ihr Smartphone heraus, aber ihre Hände zitterten so, dass sie es fallen ließ. Sie hob es auf und ging zu Robert zurück. Drückte auf Aufnahme.

»Ich will, dass du alles zugibst, was du getan hast. Alle Rentiere, die du getötet hast. Dass du mich bedroht hast. Dass du das warst, der zu unserem Haus gekommen ist und mich töten wollte.«

Seine Stirn glänzte vor Schweiß, und er war blass. Er lachte krächzend.

»Du verfluchte Lappenfotze.«

Es war wie ein Schlag, eine diabolische Energie, die sie einen Schritt zurücktreten ließ, damit sie nicht hinfiel. Sie wandte sich um, und ihr Gesicht zog sich in kleinen, schnellen Zuckungen um die Augen und den Mund zusammen. Sie sah Nástegallu vor sich, wie sie auf langen Beinen über die nackte Erde und über Schneeflecken stakste. Und Lasse. Der lächelte, ohne zu schielen. Sie ging auf den Fluss und das Brausen zu. Robert rief etwas, aber sie hörte nicht, was. Als sie stehen blieb und auf das Gewehr herunterschaute, war es entschieden. Das, was schon seit langem vorherbestimmt war. Lautlos kehrte sie um. Unna Oabba wusste genau, wohin sie ihre Füße setzen musste. Hier war sie auf ihrem eigenen Terrain.