80 – Gávccilogi

Sie sollte das lieber nicht tun, aber sie konnte nicht anders. Elsa wählte seine Nummer, und er ging nach dreimaligem Klingeln dran. Respektgebietende Stimme. Er meldete sich mit vollständigem Namen, Alexander Ljungblad. Sie fragte sich, ob seine Freunde ihn Alex nannten. Sein Ton wurde weicher, als er hörte, dass sie es war. Nachdem sie höfliche Floskeln ausgetauscht hatten, erläuterte sie ihm ihr Anliegen.

»Haben Sie Roberts Smartphone gefunden? Darauf müssen Beweise sein, dass er Rentiere getötet hat. Vielleicht finden Sie seine Kontaktpersonen, Leute, die Rentierfleisch gekauft haben.«

»Ich vermute, dass die Sache nicht als dringend eingestuft wurde, weil er tot ist.«

»Sie ist trotzdem als dringend eingestuft worden.« Er verstummte. »Nachdem wir ihn gefunden hatten.«

»Wie meinen Sie das?«

Ihr Puls beschleunigte sich, und sie musste sich gegen die Wand lehnen. Hatte sie etwas verloren? Hatte sie am Quad Spuren hinterlassen?

Er hielt das Mikrophon, zu und sie hörte ein Murmeln, dann war er wieder da.

»Entschuldigen Sie, eine Kollegin. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Elsa, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«

»Aber in den Zeitungen stand doch …«

»Ja, ich weiß, aber die Situation hat sich verändert.«

»Inwiefern?«

»Wir können darüber reden, wenn wir uns treffen.«

»Treffen?«

»Ja, wir kommen heute Nachmittag ins Dorf. Wir müssen mit Ihnen reden.«

»Mit wem?«

»Mit Ihrer Familie.«

Er verstummte. Sie hörte, wie er sich fokussierte, wie seine Stimme wieder den respekteinflößenden Ton annahm.

»Sehr gut, dann sehen wir uns in einer Stunde. Es wäre gut, wenn Sie dann alle zu Hause wären.«

»Hatten Sie vor, anzurufen und uns Bescheid zu sagen, oder wollten Sie einfach vorbeikommen?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Das wissen Sie doch.«

Sie hörte seine Atemzüge, und er hörte sicher auch ihre.

»Wir sind zu Hause«, sagte sie schließlich.

 

Ihre Eltern schenkten zum zweiten Mal Kaffee nach, und Papa starrte ins Schneetreiben hinaus. Es war ganz plötzlich gekommen und über einen Monat früher als sonst. Liegen bleiben würde der Schnee aber nicht. Doch heute vermischte er sich mit leuchtendem Gelb. Zwei von acht Jahreszeiten kämpften miteinander darum, viel zu früh Einzug zu halten. Noch sollte der Herbst, Čakča, nicht in den Herbstwinter, Čakcadálvi, übergehen.

Sie riefen Mattias an, aber er ging nicht ans Telefon. Sein Auto stand auf dem Hof, und die Jalousien waren heruntergelassen.

»Er wird schon kommen, wenn er das Polizeiauto sieht«, sagte Papa.

»Sie haben bestimmt keine Winterreifen«, sagte Mama.

»Es ist doch nicht glatt, der Schnee schmilzt sofort. Schau dir nur die Straße an.«

Elsa umklammerte ihre Tasse und schenkte sich nicht nach, obwohl der Tee kalt geworden war. Sie betrachtete ihre Eltern. Enná und Isa setzten so große Hoffnungen in Mattias und sie. Sie erwarteten, dass sie ihr Lebenswerk weiterführten.

Doch bald würde dieser Moment vorüber sein. Bald würde ihre Tochter in einen Polizeiwagen steigen. Sie trank einen Schluck von dem kalten Tee und wunderte sich über ihre klaren Gedanken. Sie war überzeugt, dass sie ausschließlich ehrliche Antworten geben würde.

Ja, ich war bei dem Quad.

Ja, ich habe ihn dort liegen lassen.

Nein, da war er noch nicht tot.

Warum ich das getan habe?

Dann würde es um den Tisch herum still werden. Aller Blicke würden auf ihr ruhen. Was sollte sie darauf antworten? Was für ein Mensch tat so etwas?

»Vielleicht wollen sie sich bei uns für all die Rentierdiebstähle entschuldigen, die sie nicht untersucht haben«, sagte Papa.

»Sie haben bestimmt sein Haus durchsucht und dabei Rentierfleisch gefunden«, ergänzte Mama.

In Papas schwieligen Händen wirkten Mamas zarte geblümte Kaffeetassen klein. Er konnte den Henkel nicht mit Daumen und Zeigefinger halten, sondern umschloss die Tasse mit seiner Faust und trank mit allen Sinnen, vor allem geräuschvoll, wobei er für eine Sekunde die Augen schloss.

Dann fuhr das Polizeiauto auf den Hof, Rücken strafften sich, und Papa räusperte sich.

»Es ist Henriksson, dann ist es Ernst.«

Als sie anklopften, rief er »Kommen Sie rein«, und dann standen sie im Flur, Henriksson und Ljungblad. Mama sagte,

Sie hatte Minna angerufen, hatte sich aus dem Haus geschlichen und frierend unten am See gestanden, der unter den dunklen Wolken ganz schwarz aussah. Sie hatte sie gefragt, ob es strafbar war, eine verletzte Person allein zu lassen, und Minnas Stimme klang angespannt, als sie fragte, was geschehen war. Das konnte Elsa nicht aussprechen, nicht einmal Minna gegenüber, und sie hatte gesagt, sie müsse auflegen. Sie hatte Minnas besorgte Stimme weggedrückt und ihr Smartphone auf lautlos gestellt.

Ljungblad hatte seinen Bart wachsen lassen, der jedoch bis zu den Ohren hinauf gepflegt war. Er schien in seiner Uniform zu schwitzen.

Henriksson wies ihn an, Notizen zu machen. Warum bestellten sie sie nicht einfach zu einer Einzelvernehmung in die Stadt? Hatten sie den Verdacht, dass die ganze Familie involviert war?

»Wie ist es? Haben Sie seine Gefriertruhen durchsucht?«

Papa klang so selbstsicher, dass es ihr wehtat. Ganz körperlich, wie ein Krampf im Zwerchfell. Nie saß er am längeren Hebel, aber jetzt glaubte er, er täte es. Er lehnte sich entspannt zurück und umschloss die Kaffeetasse mit der Hand.

»Wusst’ ich’s doch, dass ich gestern auch schon einen Streifenwagen gesehen habe. Wir haben gerade eben davon gesprochen, dass wir hier im Dorf noch nie so ein Polizeiaufkommen erlebt haben. Aber es wurde ja auch Zeit, dass Sie hergefunden haben.«

Henriksson schien das nicht lustig zu finden. Ljungblad nippte vorsichtig an seinem Kaffee, aber Henriksson hatte seine Tasse mit der Hand bedeckt, als Mama ihm einschenken wollte.

»Mein Kollege und ich untersuchen Roberts Tod noch einmal eingehend …«, sagte er.

»Aha, war es etwa doch kein Unfall?«

Papa beugte sich vor und wandte ihm die linke Seite zu. Er wollte nicht zugeben, dass sein Gehör sich verschlechtert hatte.

»Doch, vermutlich schon, aber um ganz sicherzugehen, wollen wir ein paar Ungereimtheiten überprüfen.«

Elsa warf Ljungblad einen Seitenblick zu, aber der verzog keine Miene.

»Wir haben uns die Kleidungsstücke angeschaut, die Isaksson getragen hat, und dabei sind ein paar Fragezeichen aufgetaucht. Zunächst würde ich Sie gern fragen, ob Sie diese Telefonnummer kennen?«

Henriksson nahm den Block vom Tisch, blätterte einige Seiten zurück und schob ihn Papa hinüber. Eine Nummer mit Vorwahl, die sie alle auswendig kannten, die sie aber schon seit mehreren Jahren nicht mehr gewählt hatten.

»Das ist die Festnetznummer meiner Eltern, zum Haus hier nebenan. Die haben wir aber schon vor langer Zeit abgemeldet. Heutzutage braucht man ja nur noch ein Handy, auch wenn man nicht immer und überall Empfang hat«, sagte Papa.

»Und diese Initialen, sind das die Ihres Vaters?«

»Anscheinend, ja.«

»Die Initialen und die Telefonnummer standen in der

Papa fiel die Kinnlade herab, dann sah er Mama an, die die Augen aufgerissen hatte. Elsa und Ljungblad schauten einander an, aber sie sah ihn nicht, ihr Blick ging geradewegs durch ihn hindurch.

»Was? Wirklich? Aber …« Papa hob ratlos die Schultern. »Hatten wir die nicht schon längst weggeworfen?«

Mama schien mit ihrem Stuhl verwachsen zu sein. Sie schaute zuerst nach unten und dann zu Elsa. Beide schrien lautlos, ohne dass man ihnen etwas ansah, aber in ihrem Inneren herrschte Chaos. Mattias.

»Vielleicht hat er die auch gestohlen, vom Recyclinghof«, sagte Papa nachdenklich.

»Robert?«

»Ja, das ist die einzige Erklärung, die mir einfällt. Oder was meinst du?«

Mama antwortete zögerlich, so als müsse sie über jedes einzelne Wort nachdenken.

»So muss es gewesen sein.«

»Wir haben die Hose jedenfalls weggeworfen«, stellte Papa fest.

»Sie war ja alt und kaputt«, fuhr Mama genauso zögerlich fort.

»Das ist genau der Punkt. Wir haben sie uns etwas genauer angeschaut, und sie war eine Todesfalle. Eine alte Wathose ohne Gürtel. Wenn Wasser in die Hose eindringt, fällt man um und gerät schnell mit dem Kopf unter Wasser. Da hat man kaum eine Chance, sich wieder hochzurappeln.«

»Ja, darum haben wir sie ja auch weggeworfen«, sagte Papa.

Verstört schaute er Elsa an, die ihm auswich und aus dem Fenster sah. Sie konnte Mattias’ Anwesenheit spüren. Ljungblad folgte ihrem Blick.

»Nein.« Elsa und Mama antworteten gleichzeitig.

»Dann ist er also in dieser Wathose gestorben?«

Papa legte wieder seinen Kopf schräg und schaute Ljungblad auf die Lippen, als der antwortete.

»Ja, so war es. Und wir haben einen Stiefel am Ufer gefunden, darum gehen wir davon aus, dass er sich umgezogen hat. Warum, wissen wir nicht. Er hatte keine Angel dabei.«

»Seltsam«, sagte Papa.

»Ja, es passt alles nicht richtig zusammen«, sagte Henriksson.

»Ja, aber wie sollen wir das erklären? Die Hose haben wir wie gesagt weggeworfen.«

»Sind Sie sicher, dass Sie sie zum Recycling gegeben haben? Wo haben Sie sie aufbewahrt, bevor Sie sie weggeworfen haben?«

In Mattias’ Haus. Elsa biss sich auf die Wange, bis es wehtat.

»Im Schuppen, oder, Marika?«

Mama nickte.

»Möchten Sie noch Kaffee?«, fragte sie dann.

Sie hatte sich schon erhoben und ihnen den Rücken zugewandt. Sie füllte Wasser in den Kaffeekessel, maß mit ruhiger Hand das Pulver ab, brauchte aber lange dafür.

»Wir müssen sie zum Recycling gegeben haben. Ich habe ja mehrere Müllsäcke hingebracht«, sage Papa.

»Es war Ihnen bewusst, dass die Hose eine Gefahr darstellte?«

Die Frage kam von Ljungblad. Mama warf einen raschen Blick über ihre Schulter, ohne jedoch jemanden dabei anzuschauen.

»Wir wussten, dass der Gürtel fehlte, und deshalb hat sie niemand benutzt.«

»Sie war ziemlich alt und unmodern«, sagte Papa.

Er klang immer noch selbstsicher, allerdings jetzt auch

»Vielleicht möchten Sie lieber Tee? Es trinkt ja nicht jeder Kaffee«, sagte sie zu Henriksson.

»Machen Sie sich keine Umstände. Es ist zu spät am Tag für Koffein.«

»Ich habe auch roten Tee.«

Mama und Elsa standen Seite an Seite und lehnten sich mit den Schultern aneinander. Heute sollte niemand stürzen. Der Kessel pfiff, und Mama zog ihn von der Herdplatte. Sie goss den Kaffee durch ein Sieb in eine Tasse, schüttete ihn dann in den Kessel zurück, hängte das Sieb auf die Thermoskanne und füllte sie bis oben hin mit Kaffee. Mit den letzten Tropfen kam auch das Pulver und türmte sich im Sieb zu einer Pyramide auf, die sie mit einer schwungvollen Bewegung in die Mülltüte beförderte. Sie schenkte Ljungblad, Papa und sich selbst ein. Elsa nahm eine gestreifte Teetasse, füllte sie zur Hälfte mit Wasser und tauchte den Teebeutel mit afrikanischem Rooibostee hinein.

»Es hat zu schneien aufgehört«, sagte Mama, als sie sich wieder hinsetzte.

Es wurde still um den Tisch, während sie darauf warteten, dass sich auch Elsa hinsetzte. Henriksson rührte den Tee, den sie vor ihn hinstellte, nicht an.

»Werden wir wegen irgendetwas verdächtigt?«, fragte Papa schließlich. »Mir kommt es allmählich so vor.«

Jetzt erklang tief in ihm ein Grollen. Elsa kannte das, und sie presste die Beine zusammen und legte die Arme dicht an den Körper.

»Wir finden es nur merkwürdig, dass er eine Hose anhatte, die Ihnen gehört, und da niemand gesehen hat, wie er in die Stromschnellen gefallen ist, müssen wir versuchen, herauszufinden, was sich abgespielt hat.«

»Merkwürdig«, ahmte Papa ihn nach. »Das Einzige, was merkwürdig ist, ist, dass Sie hier auftauchen und uns wegen eines ganz gewöhnlichen Todesfalls durch Ertrinken verhören, sich aber praktisch nie hierherbemüht haben, wenn eines unserer Tiere getötet wurde. Und Sie haben ihn laufen lassen, als er meine Tochter bedroht hat!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Nur Elsa schreckte zusammen.

»Wer hat die Wathose zuletzt gesehen?«, fragte Ljungblad.

»Ich«, sagte Mama rasch.

»Wo war das?«

»Ich habe den Schuppen aufgeräumt und sie auf den Müllhaufen geworfen, den wir dann ins Nachbardorf gebracht haben. Dort gibt es einen Recyclinghof, bei uns aber nicht, also muss man dort hinfahren, und das tun wir ziemlich oft.«

Sie plapperte, und Elsa wollte ihr eine Hand auf den Arm legen, um sie zum Schweigen zu bringen. Stattdessen drückte sie unter dem Tisch leicht ihr Bein gegen Mamas.

»Und man weiß ja nie, ob irgendwelche Leute im Müll wühlen«, schloss sie.

»Dieser nichtsnutzige Versager hat da bestimmt herumgewühlt«, murmelte Papa, ohne sie anzuschauen. Er hatte die Arme verschränkt und kniff fest in seine Armmuskeln. »Falls Sie glauben, dass Robert Isaksson ein Mann war, den man dazu zwingen konnte, Wathosen anzuziehen, täuschen Sie sich. Das sollten Sie wissen, Henriksson. Er hat sie aus freien Stücken angezogen. Und seinen eigenen Tod verursacht.«

»Wir haben bei ihm zu Hause eine Wathose gefunden. Darum ist es seltsam, dass er Ihre alte angezogen hat«, sagte Ljungblad.

»Sie haben nichts außer Vermutungen. Woher sollen wir wissen, warum er nicht seine eigene Wathose angezogen hat?«

»Er könnte getäuscht worden sein«, sagte Ljungblad. »Haben Sie etwas Dringendes vor?«

Papa blickte nicht auf und schnürte ruhig weiter.

»Ich muss mich um meine Arbeit kümmern.«

Henriksson sah ihn missbilligend an. Seine Augen verengten sich, aber er hatte offensichtlich nicht vor, eine Diskussion anzufangen.

»Und was ist mit Mattias, würden Sie bitte noch einmal versuchen, ihn anzurufen?«

Ljungblad schaute Elsa an, die gehorsam die Nummer wählte und den Lautsprecher einschaltete, damit alle das Klingeln hörten.

Mama saß mit geradem Rücken da und schaute von dem einen Polizisten zum anderen. Lächelnd erkundigte sie sich, ob sie gern noch Zimtschnecken hätten. Ljungblad hob abwehrend die Hände.

»Würden Sie Mattias bitten, uns anzurufen?«

Mama nickte, immer noch lächelnd.

»Selbstverständlich.«

»Ja, dann sollten wir jetzt auch los.«

Henriksson stand als Erster auf. Sein Tee war unberührt und kalt. In Ljungblads Bart hingen Zuckerkrümel.