A uch ohne mein Dossier erfuhr ich bald, um was es ging.
PRINCE OF TROY BEI STALLBRAND GESTORBEN !, verkündeten sämtliche Schlagzeilenbanner an den Kiosken im Bahnhof King’s Cross.
Von Prince of Troy hatte selbst ich schon gehört. Er war das aktuelle Wunderrennpferd, nach vorherrschender Meinung das beste seit Frankel. Manche hielten ihn sogar für noch besser.
Ich schnappte mir die Frühausgabe des Evening Standard und sah mir die Titelseite mit der dicken Schlagzeile PRINCE OF TROY TOT an. Dem Bericht zufolge war das Pferd ein sicherer Tipp für das Derby in knapp zwei Wochen gewesen, nachdem es in seinen acht bisherigen Rennen, darunter das Two Thousand Guineas vor gerade mal neun Tagen, die gesamte Konkurrenz mühelos geschlagen hatte.
Jetzt aber war er tot, offenbar in seinem Stall stehend bei lebendigem Leib gegrillt. Und er war wohl auch nicht allein gestorben. Dem Blatt zufolge waren sechs weitere Spitzenhengste mit ihm ein Raub der Flammen geworden, die, angefacht von einem direkt aus den Fens kommenden starken Nordwind, in der Nacht ein ganzes Stallgebäude verschlungen hatten.
»Ein unermesslicher Verlust für den Rennsport«, schrieb die Zeitung weiter, »und eine menschliche Tragödie für den Trainer der sieben Pferde, Ryan Chadwick, und alle Angehörigen der Familie.«
Ich klemmte die Zeitung unter den Arm, holte mir bei Starbucks einen Kaffee und suchte mir im nächsten Schnellzug nach Cambridge einen Tisch. Da WLAN in Zügen immer noch Glückssache war, versah Simpson White seine Mitarbeiter durchweg mit einem »Dongle«, der jeden Laptop in ein großes Mobiltelefon verwandelte.
Ich lud meine E-Mails herunter, einschließlich der von Georgina mit dem Dossier. Unser Klient war nicht wie erwartet Ryan Chadwick und auch sonst niemand von den Chadwicks. Es war mein alter Freund, Seine Hoheit Scheich Ahmed Karim bin Mohamed Al Hamadi, allgemein schlicht als Scheich Karim bekannt, und ihm hatte Prince of Troy gehört.
Ahmed Karim war ein lebensfroher, sorgloser arabischer Kronprinz gewesen, als sein Vater, der regierende Emir, von den eigenen Generälen ermordet worden war, weil er ihre Versuche, wieder einmal gegen einen Nachbarstaat Krieg zu führen, vereitelt hatte. Der neue junge Herrscher hatte die Mörder seines Vaters aus der Armee entfernt, der Region anhaltenden Frieden beschert und sein ölreiches Land vom Mittelalter ins einundzwanzigste Jahrhundert geführt. Ganze dreißig Jahre später zählte es jetzt zu den führenden Finanz- und Touristikzentren des Nahen Ostens.
Hin und wieder war seine Führung allerdings in Gefahr geraten oder infrage gestellt worden. Er regierte gerecht, aber mit durchaus fester Hand, und verschiedentlich hatte es Wellen geschlagen, wenn übereifrige Beamte seiner Verwaltung gerade im Umgang mit Touristen aus liberaleren Ländern Europas ihre Befugnisse überschritten. Daher hatten er und ich schon zweimal zusammengearbeitet.
Dem Dossier entnahm ich, dass Scheich Karim nach und nach ein Lot hochklassiger Rennpferde zusammengestellt hatte und sich mit der Absicht trug, Besitzern aus anderen arabischen Königshäusern Konkurrenz zu machen. Nur neun Jahre zuvor hatte er dem Trainer Oliver Chadwick seinen ersten Zweijährigen anvertraut, und jetzt hatte er gut zwanzig Vollblüter in mehreren Ländern in Training.
Sein Hauptstützpunkt in England waren nach wie vor die Castleton House Stables der Chadwicks an der Bury Road in Newmarket, und mit Prince of Troy hatte er seinem ersten Derbyerfolg überhaupt entgegengesehen.
Ich hatte Anweisung, als Scheich Karims Vertreter zu handeln und direkt mit Oliver Chadwick in Verbindung zu treten. Er sei auf mein Kommen vorbereitet.
Oliver war offenbar Ryans Vater und das derzeitige Oberhaupt der Chadwick-Rennsportdynastie. Georgina hatte noch ein paar Eckdaten zu den Chadwicks hinzugefügt, darunter einen Link zu einem Artikel aus der Racing Post von vor fünf Jahren, als Oliver sich zur Ruhe gesetzt und Ryan ihn als Trainer abgelöst hatte.
Oliver Chadwick selbst war der Sohn eines gewissen Vincent Chadwick, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Castleton House an der Bury Road gekauft hatte. Er hatte den ersten Stallhof angelegt und 1950 angefangen, Rennpferde zu trainieren.
Ursprünglich hatte Olivers älterer Bruder James die Trainingslizenz übernommen, als ihr Vater Anfang der 1970 er-Jahre bei einem Autounfall ums Leben kam, doch sie war auf Oliver übergegangen, als James nur vier Jahre später nach Südafrika auswanderte.
In den darauffolgenden dreißig Jahren baute Oliver den Ruf der Castleton House Stables aus, bis sie als eines der besten Trainingszentren für Galopprennpferde im Land galten und nicht nur Scheich Karim, sondern die Crème des britischen Rennsports zu ihren Besitzern zählte.
Aber Oliver hatte offensichtlich auch noch anderes zu tun gehabt. Laut Dossier war er dreimal verheiratet gewesen und hatte mit seinen ersten beiden Frauen je zwei Kinder – drei Söhne und eine Tochter insgesamt. Die drei Söhne waren nach wie vor im Rennsport zugange.
Ryan, mit zweiundvierzig der Älteste, war ein zweifacher früherer Champion-Jockey, der mit Siegern im Derby, Oaks, St Leger und im Breeders’ Cup viele große Trainingserfolge Oliver Chadwicks geritten hatte, ehe er verletzungshalber aufhörte und die Castleton House Stables von seinem Vater übernahm.
Declan, der zwei Jahre jüngere zweite Sohn, war zwar auch sehr erfolgreich gewesen, hatte es aber nicht ganz zum Champion-Jockey gebracht, ehe er wie Ryan Trainer wurde. Jetzt betrieb er einen kleinen Stall am Rand von Newmarket und fing gerade an, sich als möglicher Star der Zukunft zu empfehlen.
Danach kam mit zweiunddreißig Tony, und er war der einzige unverheiratete Spross Oliver Chadwicks. Er ritt immer noch Rennen, und obwohl er die schwindelnden Höhen seiner beiden älteren Brüder nie erreicht hatte, war allgemein erwartet worden, dass er beim bevorstehenden Derby Prince of Troy reiten würde.
Mit neunundzwanzig Jahren die Jüngste war Zoe, die einzige Tochter der Chadwicks. Auch als verheiratete Robertson nannte sie sich offenbar noch manchmal Zoe Chadwick. Schon mit achtzehn war sie von Newmarket nach London gezogen, mit zwanzig hatte sie geheiratet, und jetzt lebte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nicht weit vom U-Bahnhof South Ealing.
Georgina hatte im Dossier nur vermerkt, dass Zoes Mann Peter hieß und offenbar Grundstücksmakler war; mehr hatten unsere Rechercheure auf die Schnelle nicht herausbekommen.
Ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück und ließ die Welt mit hundert Stundenkilometern an mir vorüberrauschen. Eigentlich fand ich, das Rechercheteam habe in der knappen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, hervorragende Arbeit geleistet, bloß hatte mir das Dossier nicht verraten, dass in der Familie Chadwick ein handfester Geschwisterkrieg ausgebrochen war.
Das sollte ich erst bei meiner Ankunft in Newmarket herausfinden.
Die Bury Road war in beiden Richtungen gesperrt und von drei großen roten Feuerwehrwagen blockiert, aus denen sich dicke, prall gefüllte Hochdruckschläuche schlängelten. Dazu kamen zwei Ü-Wagen mit großen offenen Satellitenschüsseln auf dem Dach. Kameraleute und Moderatoren liefen wohl in Erwartung des nächsten Stichworts ziellos herum. Der Fahrer, den Georgina mir zum Bahnhof Cambridge geschickt hatte, setzte mich so nah wie möglich am Eingang von Castleton House Stables ab. Er sprang vor mir heraus und hielt mir die hintere Tür des eleganten Mercedes auf.
»Ich versuche hier zu warten, Sir«, sagte er. »Werde ich weggeschickt, parke ich irgendwo in der Nähe.«
»Gut«, sagte ich. »Danke. Wenn ich Sie brauche, rufe ich an. Ich habe aber keine Ahnung, wie lange das dauert.«
»Ich warte«, antwortete er. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich habe ein gutes Buch dabei. Ihre Tasche können Sie gern im Kofferraum lassen.«
»Mach ich. Danke.«
Ich nahm die Zeitung, vergewisserte mich, dass ich mein Handy einstecken hatte, und stieg aus.
Sofort traf mich starker Brandgeruch – nicht das Nasestreicheln eines Gartenfeuers, sondern der beißende Gestank von verbranntem Fleisch, der mir so übel in den Rachen stach, dass ich mich beinah übergeben hätte.
Mit Bränden hatte ich schon zu tun gehabt, und sie waren mir verhasst. Sie hatten etwas Willkürliches, Wahlloses an sich und waren einfach nur zerstörerisch. Bei einer Überschwemmung lassen sich die kostbaren Familienfotos oder Kunstgegenstände wieder trocknen. Sie mögen beschädigt sein, sind aber noch da. Bei einem Brand gehen sie brutal und endgültig verloren. Und meistens sind Brände ein Unfall oder das Ergebnis höherer Gewalt – Blitzeinschlag, elektrischer Defekt oder Funkenflug. Niemand hat es gewollt, aber der Drang, jemanden für sein Unglück verantwortlich zu machen, steckt in uns. Wieso hat keiner die Flammen früher bemerkt? Wieso war die Feuerwehr nicht schneller da? Warum hat man uns einen defekten Heizlüfter verkauft? Warum uns? Warum? Warum? Warum?
Es ist kein Wunder, dass dann vor allem Wut aufkommt und die Betroffenen auf jede Art von Autorität einschlagen. Das Bedürfnis, jemanden zur Rechenschaft zu ziehen, ist stark.
Die Bewohner des vom Brand zerstörten Grenfell Tower in Westlondon forderten lauthals Gerechtigkeit, als würde es irgendwie ihre Freunde und Verwandten zum Leben erwecken, ihre Habseligkeiten zurückbringen und alles wäre wieder gut, wenn erst ein Sündenbock gefunden war.
Und ich hielt ihnen das nicht vor. An ihrer Stelle hätte ich mich genauso verhalten.
Es ist, als wäre jemand eingebrochen und hätte alles mitgehen lassen, was einem lieb und wert ist, nur schlimmer. Nach einem Einbruch weiß man, wohin mit der Wut, hat einen Schuldigen und kann im Stillen hoffen, dass man Verlorenes wiederbekommt. Nach einem Brand bleibt nichts als völlige Verzweiflung.
Vorausgesetzt, der Brand war wirklich ein Unfall.
Ich ging durch das hohe Tor von Castleton House Stables, und sofort trat mir ein junger Polizist in Uniform entgegen, der dahinter stand.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte er.
»Ich suche Oliver Chadwick.«
»Warum? Sind Sie von der Presse?«
»Nein. Ich bin Harry Foster.« Ich gab ihm meine Visitenkarte. »Ich werde erwartet.«
»Warten Sie hier«, befahl er und ging zu zwei ranghöheren Polizeibeamten herüber, die vor dem großen Haus zu meiner Linken standen.
Auch von meinem Standort aus war leicht zu sehen, wo der Brandgeruch herkam. Rauchfähnchen stiegen aus den verkohlten Überresten eines Stallgebäudes auf, neben dem noch zwei baugleiche standen, und den Boden rings um mich bedeckte eine Ascheschicht, die Flocken stoben wie im Wind wehender schwarzer Schnee.
Die drei Gebäude hatten zusammen mit dem großen Haus die vier Seiten eines Quadrats um einen Innenhof gebildet. Vor den Gebäuden verlief ein breiter Gehweg, und in der Mitte lag ein makellos gepflegter Rasen, gesäumt von einer Reihe bunter Frühlingsblumen, deren Rosa, Grün und Rot in scharfem Kontrast zu den schneeweißen Wänden und grauen Schieferdächern der Stallgebäude stand.
Wunderschön.
Bloß waren die weißen Wände auf der mir gegenüberliegenden Seite des Vierecks jetzt brandgeschwärzt und das Schieferdach gänzlich verschwunden. Nur ein Skelett stand noch von dem Stall, ein paar verkohlte Dachbalken zeigten himmelwärts, als wollten sie vor Gott klagen, dass er eine solche Tragödie zugelassen hatte.
Rechts von mir saßen, an die Wand des nächsten unversehrten Stalls gelehnt, fünf Feuerwehrleute auf dem Boden. Ihre gelben Helme hatten sie abgenommen, die schweren feuerfesten Mäntel geöffnet. Ich lächelte sie an und bekam nur Grimassen zurück. Sie waren sichtlich erschöpft, der Schweiß stand ihnen in dicken Tropfen auf dem Gesicht.
»Gute Arbeit«, meinte ich zu ihnen.
»Die armen Pferde«, erwiderte einer von ihnen kopfschüttelnd. »Da konnten wir nichts machen.«
»Immerhin haben Sie die anderen Ställe gerettet«, sagte ich und wies auf die intakten Gebäude. »Und das Haus.«
Tatsächlich sah ich, dass andere Feuerwehrleute noch dabei waren, das Haus an der Seite abzuspritzen, damit es durch die immer noch vom Brandherd ausgehende Hitze kein Feuer fing.
Der junge Polizist kam wieder und hatte von seinen Vorgesetzten offenbar die Erlaubnis bekommen, mich reinzulassen.
»Sie sind in der Küche«, sagte er. »Die Tür da.« Er zeigte hin.
»Wer ist sie ?«, fragte ich.
»Alle miteinander. Die Familie.«
Seinem Tonfall entnahm ich, dass er kein Fan war, aber zumindest blieb er höflich.
Laut Georginas Dossier hatte Ryan zwar das Training der Pferde im Hof übernommen, doch sein Vater bewohnte nach wie vor das Haus, und Ryan und seine Frau waren in dem modernen Haus in der Fordham Road geblieben, das sie im Jahr seines ersten Jockey-Championats gebaut hatten.
Ich trat über die dicken Schläuche hinweg und ging zu der Tür, die mir der Polizist gezeigt hatte.
Ich klopfte an.
Keine Reaktion, sicher auch, weil ich drinnen schwer zu hören war. Die Männer an den Schläuchen riefen, die Löschpumpen an der Straße dröhnten fortwährend, aber auch hinter der Tür ging es laut her.
Ich trat ein und stand in einem Büroraum mit Holzschreibtischen an zwei Wänden und zwei Stühlen mit erneuerungsbedürftigen Sitzpolstern. Auf beiden Schreibtischen stand je ein ausgeschalteter PC , und an Holzhaken darüber hingen reihenweise Renndresse in leuchtenden Farben. Vom hinteren Schreibtisch hatte man durch das Fenster neben der Tür freie Sicht auf den Stallhof.
Da die Stimmen von weiter drinnen kamen, ging ich durch einen kurzen Flur zur Küche, deren Tür einen Spaltbreit offen stand.
»Was kümmert dich das überhaupt?«, hörte ich eine laute, zornige Männerstimme. »Ihr habt mir doch immer nur Knüppel zwischen die Beine geworfen.«
»Das ist unfair!«, verwahrte sich eine Frau mit vor Aufregung leicht zitternder hoher Stimme. »Declan kann nichts dafür, dass der Scheich die Pferde abziehen will. Er hat immer versucht, dir zu helfen.«
»Ha! Das nennst du Hilfe? Du machst wohl Witze. Blöde Kuh!«
»Red nicht so mit Bella.« Eine zweite zornige Männerstimme. »Wenn du mit mir ein Problem hast, lass uns vor die Tür gehen, und wir regeln das von Mann zu Mann.«
»Schluss jetzt!«, rief eine ältere Männerstimme. »Wir haben schon genug Ärger, da müsst ihr euch nicht noch wie die Sandkastenknilche benehmen. Gebt jetzt endlich Ruhe!«
Ich blieb aus zwei Gründen im Flur stehen. Erstens wollte ich die Familie nicht in Verlegenheit bringen, indem ich mitten hineinplatzte, wenn sie sich gegenseitig beschimpften, und zweitens lernte ich vielleicht dazu. Man konnte nie wissen, ob etwas zufällig Mitgehörtes sich nicht einmal als nützlich erwies.
Da aber außer vagem Stimmengewirr zunächst nichts mehr kam, trat ich an die Küchentür und klopfte laut.
Prompt verstummten alle.
Ich wartete.
Einige Sekunden später hörte ich Schritte, und ein kleiner älterer Mann mit vollem, welligem grauen Haar riss die Tür weit auf.
»Mr Chadwick?«, fragte ich. »Oliver Chadwick?«
Er nickte. »Der bin ich.«
»Harrison Foster«, sagte ich. »Von Simpson White. Ich glaube, Sie erwarten mich.« Ich gab ihm meine Visitenkarte.
»Ja«, sagte er nicht sonderlich erfreut. »Kommen Sie rein.«
Sie waren zu siebt in der Küche, vier Männer und drei Frauen.
»Ich bin Ryan Chadwick«, sagte einer der Männer, indem er selbstbewusst vortrat und mir die Hand bot. »Der Trainer hier.« Er war unverkennbar der Sohn seines Vaters, klein und drahtig, mit den gleichen Gesichtszügen und dem gleichen welligen Haar, wobei das seine noch vorwiegend braun war und nur an den Schläfen leicht angegraut. »Das ist meine Frau Susan.«
Susan Chadwick war eine zierliche Brünette, und auch der verheerende Brand am Arbeitsplatz ihres Mannes hatte sie nicht von eleganter Kleidung und rotem Lippenstift abgehalten.
»Declan Chadwick«, sagte der nächste Mann, der vortrat und mir die Hand gab. »Ryans Bruder. Und meine Frau Arabella.«
Arabella war an die zehn Zentimeter größer als ihr Mann und trug die langen, glatten blonden Haare in der Mitte gescheitelt. Auch sie hatte Zeit gefunden, sich zu schminken, inklusive getuschter künstlicher Wimpern und rosa Lidschatten.
»Und ich bin Tony«, sagte der vierte Mann im Vortreten. »Der Zwerg unter den Chadwick-Jungs.« Er lachte dabei, aber die anderen nicht.
Ich wusste zwar, dass Tony über dreißig war, aber mit seiner schmächtigen Statur und den roten Wangen sah er viel jünger aus. Seine dünnen Beine steckten in hautengen Jeans, und ich fragte mich, ob er die in der Kinderabteilung gekauft hatte.
Blieb nur eine Frau noch übrig, und eine verlegene Pause entstand, ehe sie herüberkam. »Maria«, sagte sie. »Die Frau von Oliver.«
Sie machte als Einzige der Frauen den Eindruck, durch den Brand aus dem Bett geschreckt worden zu sein – ihr langes blondes Haar war ungekämmt zum Pferdeschwanz gebunden, und sie trug ein weites graues T-Shirt über der Jogginghose.
Laut Georginas Dossier war Maria Olivers dritte Frau, und offensichtlich war sie weder die Mutter von Ryan noch von Declan. Zum einen sah sie kaum älter aus als die beiden, und beide verzogen keine Miene, als ich ihr die Hand gab. Im Gegenteil, sie wandten sich ab, als wäre ihnen schon ihr Anblick unerträglich.
Die böse Stiefmutter, dachte ich. Eindeutig unbeliebt.
»Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten?«, fragte ich Oliver.
Er sah mich etwas überrascht an. »Es gibt nichts, was Sie nicht vor meinen Söhnen sagen dürften.«
Anders wäre es mir lieber gewesen, aber wenn es ihm recht war, auch gut.
Ich sah sie reihum an. »Mein Name ist Harry Foster. Ich bin Anwalt und fungiere hier als persönlicher Vertreter von Scheich Karim.« Ich teilte weitere Visitenkarten aus. »Dem Scheich liegt sehr daran, dass nichts gesagt oder getan wird, was sich in irgendeiner Weise nachteilig auf ihn oder seinen Ruf auswirkt. Und das bedeutet, dass ihm ebenso Ihr Wohl und das Ihres Stalles am Herzen liegt. Es muss klar sein, dass niemand von Ihnen zu irgendwem – und schon gar nicht zur Presse – auch nur ein Wort sagen sollte, ohne es vorher mit mir abzuklären. Kein Wort bitte – nicht mal ›kein Kommentar‹. Das klingt nur, als hätten Sie etwas zu verbergen. Schweigen ist besser. Haben Sie verstanden?«
Ich sah erst Oliver, dann Ryan, Declan und Tony an.
Es gefiel ihnen nicht. Ich konnte es ihnen von den Gesichtern ablesen: Wer ist denn dieser Piefke, der uns sagen will, was wir in unserem eigenen Haus dürfen und was nicht?
»Haben Sie verstanden?«, wiederholte ich.
»Ja«, sagte Oliver.
Ich schaute die anderen an, und sie nickten.
»Gut. Würden Sie mir dann bitte erzählen, was heute Morgen passiert ist? Wer wusste, dass Prince of Troy zu den Pferden gehörte, die umgekommen sind? Und wie hat die Presse das erfahren?« Ich zeigte ihnen die Titelseite des Evening Standard mit der fetten Schlagzeile.
»Ich habe mit allen erreichbaren Besitzern gesprochen«, sagte Ryan. »Dem Scheich habe ich eine Nachricht hinterlassen.«
Aber die Zeitungen hatte er wohl kaum informiert.
»Und sonst?«
»Ich habe Weatherbys verständigt.«
»Weatherbys?«, fragte ich.
»Die verwalten den gesamten britischen Rennsport. Ich muss sie umgehend benachrichtigen, wenn ein für ein Rennen genanntes Pferd zu streichen ist. Prince of Troy war ja für das Derby genannt. Weatherbys wird eine dringende Pressemitteilung gebracht haben, damit keine Vorwetten mehr auf ihn abgeschlossen werden.«
»Wann haben Sie sie informiert?«
»Um halb neun, da öffnet ihr Rennterminbüro.«
»Haben Sie erklärt, warum Prince of Troy gestrichen werden musste?«
»Natürlich«, antwortete Ryan. »Ich habe ihnen wie vorgeschrieben mitgeteilt, dass er und die sechs anderen gestorben waren. Und dass es hier gebrannt hat, ist nicht gerade ein Geheimnis. Seit Mitternacht sind die Feuerwehrwagen auf der Straße. Um das zusammenzubringen, muss man kein Genie sein.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf die Zeitung, die ich noch in der Hand hielt.
Wer hätte ihm verdenken können, dass er sich aufregte? Sieben seiner besten Pferde waren tot. Sein Derbytraum war buchstäblich in Rauch aufgegangen.
Ein lautes Klopfen an der Vordertür unterbrach uns. Oliver ging hinaus und kam mit einem der beiden hohen Polizeibeamten wieder, die ich schon gesehen hatte. Der Beamte nahm seine silbern bekordelte Schirmmütze ab, als er in die Küche kam.
»Mr Ryan Chadwick?«, fragte er.
»Der bin ich«, sagte Ryan im Vortreten.
»Superintendent Bennett«, stellte sich der Beamte vor. »Ist Ihr Stallpersonal vollzählig?«
»Ich glaube schon«, sagte Ryan. »Wieso?«
»Am Brandort wurden menschliche Überreste gefunden.«