D ie Entdeckung eines toten Menschen neben den toten Pferden änderte alles.
In Minutenschnelle wimmelte es auf dem Gelände von Polizisten, viele in weißen Schutzanzügen, etliche mit Kapuzen und Mundschutz, und überall, auch vor der Tür vom Büro zum Stallhof, spannten sie ihr blau-weißes Absperrband.
Bald darauf erschien ein weiterer Beamter in der Küche und bat Ryan um eine Namensliste seines Personals und eine Bestätigung ihrer Anwesenheit.
Die Liste war kein Problem, sie lag im Büro, doch der Aufenthalt der sechsundzwanzig Personen war weniger klar und nicht so leicht festzustellen.
»Die sind mit den Pferden raus«, erklärte Ryan.
Newmarket hatte sich in der Notsituation offenbar zusammengetan, und die am Leben gebliebenen Pferde waren schnell in Nachbarställen mit freien Plätzen untergebracht worden. Der Aufenthalt der umquartierten Vierbeiner war sorgfältig dokumentiert, doch die Zweibeiner hatten weniger Aufmerksamkeit bekommen.
»Wie viele Ihrer Mitarbeiter wohnen hier auf dem Hof?«, fragte der Polizist.
»Achtzehn«, erwiderte Ryan. »Sechs in Wohnungen über den alten Ställen und zwölf in einem extra Wohnheim hinten im neuen Hof.«
»Neuer Hof?«
»Ja«, sagte Ryan. »Ich trainiere derzeit hundertfünf Pferde, jedenfalls bis gestern. Jetzt sind es achtundneunzig. In die drei alten Stallgebäude beim Haus passen jeweils zwölf, das sind nur sechsunddreißig, und im neuen Hof haben wir vier Ställe mit jeweils vierundzwanzig Boxen, insgesamt also hundertzweiunddreißig Stallplätze. Wir nennen es den neuen Hof, obwohl er größtenteils schon über dreißig Jahre alt ist. Der letzte Stall entstand kurz vor der Jahrtausendwende.«
»Hat in dem abgebrannten Stall jemand gewohnt?«
»Gott sei Dank nicht. Die beiden Dachwohnungen dort haben wir gerade renoviert. Und waren fast fertig damit. So eine elende Verschwendung.« Er beugte sich mit einem schweren Seufzer über den Schreibtisch, als wäre schon das Aufrechtstehen zu anstrengend für ihn.
»Mr Chadwick«, sagte der Polizeibeamte energisch, »jemand liegt tot in Ihrem Stall. Wir müssen dringend den Aufenthalt Ihrer Mitarbeiter klären, um sie als mögliches Opfer auszuschließen.«
»Ja, natürlich. Ich telefoniere.«
Ryan verbrachte die nächsten beiden Stunden damit, sein Personal und seine Nachbarn anzurufen. Unterdessen verließen Declan und Arabella das Haus durch die Tür zur Bury Road und kehrten zu ihrem eigenen Stallhof zurück, während Ryans Frau Susan zu ihrer Mutter fuhr, um die Kinder abzuholen. Schließlich machte sich Tony auf den Weg nach Windsor, wo er am Abend zwei Ritte hatte.
Der Rennsport und das Leben gingen weiter, zumindest für die meisten.
Oliver und ich setzten uns an den Küchentisch, und er besprach mit mir die Ereignisse der Nacht.
»Abends um zehn lieg ich meistens im Bett. Mein Schlafzimmer blickt auf den alten Hof, und um Mitternacht bin ich vom Geschrei der Pferdepfleger aufgewacht. Ich dachte, ich hätte einen Albtraum. Nur war es keiner. Das Gebäude brannte schon wie verrückt, und die Flammen schossen aus dem Dach. Ich spürte die Hitze durchs Fensterglas.«
»Sind Sie zuerst aufgewacht oder Ihre Frau?«, fragte ich.
»Ich«, antwortete er. »Maria und ich haben jetzt getrennte Schlafzimmer.«
Er lächelte gezwungen, halb verlegen. »Sie sagt, mein Schnarchen hält sie wach.«
»Wo liegt ihr Schlafzimmer?«
»Auf der anderen Flurseite«, sagte er.
»Blickt es auch auf den Hof?«
»Nein, auf den Garten. Jedenfalls habe ich sofort die Feuerwehr alarmiert und dann Ryan angerufen. Und an Marias Tür geklopft, um sie zu wecken. Dann bin ich raus, um mit den anderen die Pferde in Sicherheit zu bringen. Die Hölle war los! Die Hölle. Pferde hassen Feuer. Es bringt sie um den Verstand. Wir mussten auf sie losgehen, um sie rauszukriegen. Es war furchtbar.«
Er schluckte schwer und kämpfte mit den Tränen.
»Es war so heiß, dass wir an den brennenden Stall nicht rankamen. Wir hörten nur die armen Pferde drinnen schreien, und den anderen setzte das erst recht zu. Ryan und mir war klar, dass sie alle wegmussten, und die wir retten konnten, schafften wir die Straße runter und banden sie an die Bretterzäune hinter den Severals. Da ließen wir sie einfach und holten die anderen raus. Am Ende hatten wir fast hundert Top-Vollblüter im Zentrum von Newmarket angebunden. Trotzdem mussten wir die Hengste noch von den Stuten fernhalten, besonders von den rossigen. Sie hatten zwar eine Heidenangst wegen des Feuers, aber da ihr Trieb doch recht stark ist, war es ein ziemlicher Kampf.« Er rang sich ein Lachen ab. »Jetzt mag das lustig sein. War es aber wirklich nicht.«
»Nein«, sagte ich mitfühlend. »Was sind die Severals?«
»Trabkreise. Hier am Ende der Bury Road.« Er hielt inne. »Die Leute waren prima. Als sie von dem Brand hörten – und die Buschtrommel funktioniert ganz gut bei uns –, kamen sie uns alle zu Hilfe. Etwa die Hälfte der Pferde wurde beim alten Widgery untergebracht, die anderen auf Ställe in der ganzen Stadt verteilt, wo gerade Platz war.«
»Beim alten Widgery?«, fragte ich.
»Wird Ihnen doch ein Begriff sein. Tom Widgery. Hat an der Fordham Road trainiert. Großes Ding. Steht jetzt leer, seit er vorigen Dezember gestorben ist.«
Ich sah ihn bloß an.
»Haben Sie denn überhaupt keine Ahnung vom Rennsport?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Nein«, sagte ich.
»Tom Widgery war der berühmteste Trainer, der je gelebt hat«, erklärte mir Oliver geduldig, als spräche er mit einem Kind. »Hat alles x-mal gewonnen. Bei den Klassikern hält er nach wie vor den Rekord.«
»Pardon«, sagte ich. »Ich war immer mehr für Cricket.«
Sein missbilligender Blick grenzte an Abscheu, aber dann fiel ihm ein, weshalb ich da war, und er lächelte.
»Ein schönes Spiel«, sagte er sichtlich gegen seine Überzeugung. »Nur im Grunde kein Geschäft.«
Für manche schon, dachte ich, aber es lohnte sich nicht, darauf herumzureiten.
»Was ist mit den anderen Pferden von Scheich Karim, außer Prince of Troy? Sind sie alle in Sicherheit?«
Olivers Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.
»Leider nicht«, sagte er. »Eines der sechs anderen toten Pferde gehörte auch dem Scheich, ein vielversprechender zweijähriger Hengst namens Conductivity. Hat als Jährling im Oktober ein kleines Vermögen gekostet. Sollte am kommenden Wochenende hier in Newmarket debütieren. Für mich war er ein künftiger Champion. Elende Schande.«
»War er versichert?«
»Von uns nicht«, sagte Oliver. »Das liegt in der Verantwortung des Besitzers. Sagen Sie’s mir.«
Ich nahm stark an, dass Conductivity nicht versichert war. Auch Prince of Troy nicht. Jemand wie Scheich Karim war sein eigener Versicherer und trug das Risiko selbst.
»Was ist mit den Ställen? Waren die versichert?«
»Selbstverständlich!«
»Und wem kommt das zugute? Ihnen oder Ryan?«
»Mir. Ryan ist mein Pächter. Gegen Geschäftseinbußen sind wir allerdings beide nicht versichert.«
»Der Hof war ja nicht ausgelastet. Ryan hat also wenigstens Platz, um den Verlust von zwölf Boxen aufzufangen.« Zumal mit sieben Pferden weniger, dachte ich, sprach das aber lieber nicht aus.
»Mag sein«, räumte Oliver ein. »Nicht wie zu meiner Zeit. Da war jeder Platz belegt und die Warteliste ellenlang.«
»Steckt das Geschäft in Schwierigkeiten?«, fragte ich.
»Nein, nichts dergleichen. Es liegt nur … wie soll ich mich ausdrücken? … Er ist nicht ich. Ein Sohn, der die Geschäfte eines erfolgreichen Vaters übernimmt, hat es wohl immer schwer. Ich halte mich nach Möglichkeit raus, aber die Besitzer … sie wollen nach wie vor, dass ich ihn anleite.«
Für mich klang das nach einem Rezept für völliges Desaster.
»Sinkt die Zahl der Pferde im Hof denn immer noch, oder steigt sie an?«
»Es sind schwere Zeiten«, gab Oliver zur Antwort. »Die Leute haben nicht mehr so viel Geld übrig wie früher.«
Demnach gingen die Zahlen immer noch zurück.
Mir fiel ein, was Arabella Chadwick zu Ryan gesagt hatte, als ich draußen vor der Küchentür stand: Declan kann nichts dafür, dass der Scheich die Pferde abziehen will .
Es war höchste Zeit, entschied ich, mit meinem Klienten persönlich zu sprechen.
Bis zum späten Nachmittag waren einige weitere Fakten geklärt, vor allem aber hatten sämtliche Mitarbeiter Ryans ausfindig gemacht werden können. Die Leiche in dem ausgebrannten Stallgebäude blieb also unidentifiziert.
»Haben Sie Videoüberwachung?«, fragte ich, als wir am Küchentisch saßen.
»Jede Menge«, erwiderte Ryan. »Unsere Kameras decken jedes Stallgebäude und jeden Ausgang ab.«
»Und was sieht man?«
»Nichts.« Er warf empört die Arme hoch. »Der Schaltkasten mit dem Festplattenrekorder befand sich im Dachraum des abgebrannten Stalls. Alles futsch. Unglaublich. Vom neuen Hof habe ich die schönsten Bilder. Massenhaft. Der Schaltkasten dafür steht im Wohnheim. Aber vom alten Hof – nichts.«
»Keine Sprinkleranlage?«, fragte ich.
»Im neuen Hof haben wir eine«, sagte Ryan. »Und bei der Renovierung der Wohnungen im alten wollten wir sie nachträglich einbauen. Ich fasse es einfach nicht. Noch acht Tage, und die wäre da angesprungen.«
»Warum stand Prince of Troy denn in einem Gebäude ohne Sprinkler?«, fragte ich. »Das wertvollste Gut gehört doch wohl am sichersten untergebracht.«
»Ich dachte ja, da wäre es am sichersten«, antwortete er schnell. »Es ist nah am Haus. Im neuen Hof hatten wir schon Eindringlinge. Und ich halte sämtliche Hengste im alten Hof. Sie sind leichter zu handhaben, wenn keine Stuten dabei sind. Vor dem Brand hatte ich sechsundzwanzig Hengste – sechzehn Drei- und zehn Zweijährige.«
»Alles andere sind Stuten?«, fragte ich.
Ryan sah mich komisch an.
»Nein. Wir haben auch Wallache, und Stute ist nicht gleich Stute.«
»Wonach wird unterschieden?« Was ein Wallach war, wusste sogar ich.
»Nach dem Alter«, sagte er in einem Ton, als hätte er einen Schwachsinnigen vor sich. »Im britischen Rennsport wird das Stutfohlen an seinem fünften Geburtstag zur Stute.«
»Am ersten Januar«, ergänzte ich stolz, wusste ich doch, dass bei allen Pferden der erste Tag des Jahres unabhängig vom eigentlichen Geburtsdatum als ihr Geburtstag zählt.
»Auf der Nordhalbkugel, ja«, sagte Ryan. »In Australien ist es der erste August.«
»August?«, wunderte ich mich. »Wieso nicht Juli? Das wäre ein halbes Jahr später.«
Jetzt war er seinerseits verblüfft.
»Ich habe keine Ahnung. Aber es ist definitiv der erste August.«
»Was passiert denn dann, wenn ein Pferd von hier nach Australien auswandert oder umgekehrt – wird’s dann ein halbes Jahr älter oder jünger?«
Er zuckte die Achseln. Offensichtlich hatte er sich lange genug mit mir abgegeben.
»Hören Sie«, sagte er, »ist sonst noch was? Ich muss mich auf meine Nennungen konzentrieren. Das ist auch ohne so ein Palaver schwer genug.«
Er stand auf, um zu gehen.
»Nur eines noch«, sagte ich. »Welche Sicherheitsvorkehrungen gibt es nachts? Sind die Tore abgeschlossen?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte er gereizt. »Alles wird verrammelt. Mein Futtermeister wohnt hier, und er kontrolliert das vor dem Schlafengehen.«
»Gestern Abend auch?«
»Bestimmt. Er macht das jeden Abend.«
»Wie ist denn dann jemand reingekommen und verbrannt?«
»Ich hab keinen Schimmer«, sagte er. »Das wird irgendein Penner gewesen sein. Übern Zaun geklettert und auf der Suche nach einem Schlafplatz in den Stall eingebrochen. Mit einer weggeschmissenen Fluppe dann womöglich alles in Brand gesteckt. Zu Recht krepiert, wenn Sie mich fragen.«
Für den Menschen, der in ihrem Stall sein Leben verloren hatte, zeigten die Chadwicks auffallend wenig Mitgefühl. Das brachten sie nur für die Pferde auf.
Die Anrufe der Trainerkollegen, die ihr Beileid wegen der gestorbenen Tiere und insbesondere Prince of Troy bekundeten, rissen den ganzen Nachmittag nicht ab. Das wusste ich, weil ich einige über einen Zweitapparat mitgehört hatte, um sicherzugehen, dass der Anrufer nicht von der Presse war und Ryan nichts Unerwünschtes sagte. Nach einiger Zeit ließ ich ihn aber einfach gewähren.
Die Presse erfuhr aus anderen Quellen, was geschehen war.
Höhere Beamte der Polizei wie auch der Feuerwehr gaben vor dem Tor von Castleton House Stables stehend Interviews, und alle wurden live in den Nachrichten übertragen.
Ich sah es mir mit Oliver, Maria und Ryan auf dem Fernseher in der Küche an.
Zuerst kam der Brandmeister von der Feuerwehr Suffolk zu Wort und erzählte, dass sich neben der Feuerwehr aus dem benachbarten Cambridge sogar Wehren aus Bury St Edmunds und Ipswich an der Brandbekämpfung beteiligt hatten. Jetzt sei der Brand gelöscht, berichtete er und dankte den Feuerwehrleuten für ihre Arbeit. Insgesamt fünf Löschzüge seien eingespannt gewesen, die beiden aus Newmarket würden zum Ablöschen noch für den Rest des Tages am Ort bleiben. Die Brandursache, ergänzte er, sei noch nicht geklärt, die Brandermittler würden aber ans Werk gehen, sobald sie das ungefährdet tun könnten.
Der Einsatzleiter der Polizei lieferte wesentlich mehr Informationen.
Er bestätigte der Presse, dass sieben Pferde in dem Brand umgekommen waren, und enthüllte den gespannten Reportern auch, dass mindestens ein Menschenleben zu beklagen war. Deshalb werde der Stall als potenzieller Tatort behandelt, sagte er, hob jedoch nachdrücklich hervor, dass noch keine Todesursache festgestellt worden sei.
Das aber kümmerte die Reporter wenig. Sie ergingen sich vergnügt in Spekulationen über Fremdverschulden und wer dahinterstecken könnte.
»Das ist doch einfach lächerlich«, schrie Ryan den Fernseher an. »Wer setzt denn absichtlich einen Stall voller Pferde in Brand?«
Da fielen mir eine Menge möglicher Gründe ein, aber ich behielt sie für mich.
Am Nachmittag um fünf verwehrte die Polizei Ryan noch immer den Zutritt zu den Stallgebäuden, sogar zum neuen Hof, der nicht mit Absperrband versehen war.
»Hören Sie mal«, sagte er zunehmend verärgert. »Trotz allem habe ich noch ein Geschäft zu führen. Meine Pferde haben heute noch nicht gearbeitet, außer dass sie am frühen Morgen in die Stadt spaziert sind. Die Rennleitung hat mir zwar erlaubt, meine beiden für Wolverhampton heute Nachmittag zurückzuziehen, aber für morgen in Beverley hab ich auch eins genannt, und gegen Ende der Woche hab ich einen ganzen Schwung Starter in York, Newbury und hier in Newmarket. Ist ja gut und schön, dass sie woanders im Stall stehen, aber ihre gewohnte Streu und ihr gewohntes Futter sind hier. Pferde mögen keine Veränderungen. Auch ohne Prince of Troy hab ich noch zwei fürs Dante am Donnerstag. Wenn ich die heute Abend nicht wieder herhole, haben sie keine Chance.« Und als wäre es ihm gerade noch eingefallen, fügte er hinzu: »Außerdem kommen meine Leute nicht in ihre Wohnungen. Ein paar sind noch im Schlafanzug.«
Nach weiterem hitzigen Hin und Her zwischen Ryan und den Polizeioberen wurde ihm der Zugang zum neuen Hof schließlich gewährt, unter der Bedingung, dass alle das obere Tor zur Straße auf der anderen Seite benutzten, weit genug weg vom alten Hof und vom Haus. Die Pfleger durften auch in ihr Wohnheim, aber die alten Ställe und die Wohnungen darüber blieben tabu.
»Was ist das Dante?«, fragte ich, als die Polizei fort war.
»Das Dante Stakes. Ein Rennen über zweitausend Meter in York am kommenden Donnerstag. Die letzte Probe, sechzehn Tage vor dem Derby. Prince of Troy wäre im Rahmen seiner Schlussvorbereitung vielleicht angetreten.« Er seufzte schwer. »Das brauche ich jetzt nicht mehr zu entscheiden. Fasse immer noch nicht, dass er tot ist. Das beste Pferd, das ich je hatte. Unersetzbar.«
Ich dachte bei mir, dass ich mir an seiner Stelle mehr Sorgen wegen des toten Menschen als wegen der toten Pferde gemacht hätte.