10

D ie Erkenntnis, dass es sich bei der in dem ausgebrannten Stall gefundenen Toten um ihre Schwester handelte, brachte die übrigen Geschwister noch einmal zusammen, ohne sie allerdings im Kummer zu einen.

Im Gegenteil, sie gaben ihr die Schuld an dem Brand.

Es war eine Stunde später, wir saßen alle wieder in der Küche, ergänzt durch Arabella und Susan, diesmal beide ungeschminkt. Nur Maria hatte sich entschieden, diesem Palaver nicht beizuwohnen, und ich hielt es für möglich, dass sie selbst morgens um halb neun schon zu angetütert war.

Ich wiederum war einfach dageblieben, und niemand hatte mich aufgefordert zu gehen. Wenn sie so dumm waren, vertrauliche Familienangelegenheiten in meinem Beisein zu besprechen, hielt ich sie nicht davon ab.

»Was hatte Zoe denn überhaupt hier zu suchen?«, fragte Oliver niemand Bestimmten. »Sie hat sich doch jahrelang nicht blicken lassen.«

»Sie war schon immer egoistisch«, bemerkte Declan. »Und völlig plemplem.«

Nur ihr leiblicher Bruder Tony trat für sie ein, wobei auch das ein wenig halbherzig wirkte. »So wie ihr sie behandelt habt, war’s kein Wunder, dass sie Probleme hatte.«

»Probleme?« Ryan schrie ihn beinah an. »Ich hab hier Probleme, und das ist ihre Schuld.«

»Das weißt du doch gar nicht«, sagte Tony.

»Sie ist doch schon wegen Brandstiftung festgenommen worden.« Jetzt schrie ihn Ryan wirklich an. »Was willst du noch? Die blöde Kuh hat den Tod verdient.«

»Ryan!«, ermahnte ihn Susan. »Red nicht so von deiner Schwester. Denk an ihre armen Kinder, die jetzt keine Mutter mehr haben.«

Er schnitt ein Gesicht, als ließe er sich ungern von seiner Frau zurechtweisen.

»Ich rede von ihr, wie’s mir passt«, sagte er. »Noch im Tod ruiniert sie mein Leben.«

»Als hättest du ihr Leben nicht zuerst ruiniert«, sagte Tony.

»Pass bloß auf«, gab Ryan wütend zurück und wedelte Tony mit dem Finger vorm Gesicht herum. »Ohne mich hättest du in dem Fach keine Zukunft.«

»Keine Zukunft wär mir lieber, als dir verpfl‌ichtet zu sein.«

Tony wollte Ryans Finger packen, aber der zog ihn schnell weg.

»Schluss, ihr beiden«, herrschte Oliver sie an. »Habt ihr keinen Anstand? Zoe liegt im Leichenschauhaus, und euch fällt nichts anderes ein, als euch zu zanken.«

Ich persönlich hätte ein stärkeres Wort gewählt, hielt aber den Mund.

Und um nicht übergangen zu werden, trug auch Declan sein Scherf‌lein bei. »Ganz gleich, was sie für Probleme hatte, die toten Pferde sind nicht zu entschuldigen.«

»Zum Teufel mit den Scheißpferden«, sagte Arabella und boxte ihren Mann nicht gerade sanft in den Arm. »Wir reden hier von deinem Fleisch und Blut.« Ausgerechnet Arabella machte als Einzige von ihnen einen traurigen Eindruck, sie hatte sogar Tränen in den Augen. »Hat jemand Yvonne verständigt?«

»Ach, du lieber Gott«, sagte Tony. »Ich sollte bei ihr sein.«

Yvonne, so stellte sich heraus, war eine frühere Mrs Oliver Chadwick. Sie war die Mutter von Tony und Zoe und lebte noch ganz in der Nähe, in einem Dorf sechs Kilometer südlich von Newmarket. Tony wohnte sogar noch bei ihr und war an diesem Morgen von dort nach Castleton House Stables gekommen, um Arab Dancer zu reiten.

»Die Polizei wird es ihr doch gesagt haben«, meinte Oliver.

»Wohl kaum«, erwiderte Tony. »Sie ist nicht die nächste Angehörige. Das ist Peter.«

»Sie erfährt’s noch früh genug«, sagte Ryan gedankenlos. »Das kommt bald in den Nachrichten.«

Tony warf ihm einen Blick zwischen Hass und Mitleid zu. »Du verdammter Idiot«, sagte er. »Ich fahr nach Hause.« Und er ging.

Eine kurze Stille trat ein, als hätte Tonys Aufbruch zu seiner Mutter ihnen allen schließlich das Ungeheuerliche der Situation zu Bewusstsein gebracht. Allen außer Ryan vielmehr, dem die aufkommende düstere Stimmung völlig zu entgehen schien.

»Worauf warten wir?«, sagte er munter. »Ich muss Pferde trainieren und nach York zur Rennbahn.«

»Tony hat recht«, sagte Declan zu ihm. »Du bist ein verdammter Idiot. Komm, Bella, wir fahren. Und wir kommen nicht noch mal.«

Er nahm seine Frau bei der Hand, und auch sie gingen.

Ich fand, ich hatte lange genug den stillen Beobachter gespielt und sollte mich langsam verziehen. Durch den Flur ging ich zum Stallbüro. Dort saß Janie, den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen auf dem Schreibtisch. Die schlimme Nachricht war offenbar auch zu ihr durchgedrungen.

»Tag«, sagte ich.

Sie richtete sich schnell auf.

»Ach, hallo, Harry. Ist das nicht furchtbar?«

»Doch«, stimmte ich bei. »Entsetzlich. Haben Sie sie gekannt?«

»Ja«, sagte sie. »Als wir jung waren, kannte ich sie ganz gut. Ich bin ein Jahr älter als sie, aber wir waren auf derselben Grundschule und sind dann beide in Newmarket aufs College gegangen. Da war sie noch, als ich bei ihrem Vater anfing. Eigentlich hab ich die Stelle sogar durch sie bekommen. Als Kinder sind wir zusammen auf Ponys spazieren geritten, obwohl sie das doof fand.«

»Warum hat sie’s dann gemacht?«, fragte ich.

»Ich glaube, ihr Vater hat sie dazu gezwungen. Reiten war eine Familientradition.«

»Und wie war sie als Mensch?«

»Still«, sagte Janie. »Ziemlich zurückhaltend. Kein sehr glückliches Mädchen. Sie hasste es hier und wollte so schnell wie möglich weg. Eines Tages ist sie dann einfach abgehauen. Kein Tschüss, nichts. Sang- und klanglos verschwunden. Ich erinnere mich an das Riesenbohei damals. Alle dachten, sie sei umgebracht worden, aber Wochen später wurde sie dann in London gesehen, wo sie auf der Straße lebte.«

Kein Wunder, dass DCI Eastwood meine Theorie, Zoe sei das Brandopfer, erst mal angezweifelt hatte.

»Laut Tony hatte sie Probleme.«

»Und ob«, stimmte Janie zu. »Sie tat sich schwer mit Leuten. Die meisten fanden sie etwas merkwürdig, und von den anderen in der Mittelstufe wurde sie ziemlich herumgeschubst. Heute würde man sie wohl als autistisch einstufen, aber ich wüsste nicht, dass man sie damals so genannt hat. Man fand sie einfach komisch. Ich war vielleicht ihre einzige Freundin, das will aber nicht viel heißen. Eng befreundet waren wir nicht, aber wenigstens hat sie mit mir geredet. Sie hat sich immer wieder selbst verletzt, sich die Arme mit Rasierklingen aufgeschlitzt und so, das hat sie mir gezeigt. Beängstigend. Ich dachte, sie will bloß Aufmerksamkeit heischen, aber sie hat behauptet, sie sei depressiv.«

»Wie kam sie in der Schule zurecht?«, fragte ich.

»Ganz gut, glaub ich. Nichts Besonderes, wie bei mir auch. Studiert haben wir dann ja beide nicht, aber auf der Schule ging’s. Und sie ist ohnehin vor dem Abi abgehauen.«

»Hatten Sie sie noch mal gesehen, seit sie nach London gegangen war?«

»Nur einmal. Vor ungefähr fünf Jahren. Sie tauchte einfach auf und wollte ihren Vater sprechen. Einen Mordsstreit gab das. Ich glaube, wegen seiner Hochzeit mit Maria, weiß es aber nicht genau. Aber dass die Fetzen flogen, weiß ich. Ich hab’s im Büro gehört, ohne groß die Ohren aufzusperren. Sie waren einfach zu laut.«

Im Geiste sah ich sie mit ans Holz gepresstem Ohr vor der Bürotür stehen, aber das war vielleicht ungerecht.

»Ich weiß noch, dass Oliver sie angebrüllt hat, sie sei nicht mehr seine Tochter. Es war furchtbar. Ging endlos. Ich wollte es nicht hören. Hab mir sogar die Ohren zugehalten, aber Zoe schrie, dass sie jetzt den DNA -Nachweis vorliegen hätte. Grässlich.«

»Haben Sie ihren Mann mal kennengelernt?«

»Ja, bei der Gelegenheit. Er und die beiden Kinder haben sie begleitet. Ich wusste nicht mal, dass sie verheiratet war, geschweige denn Mutter. Und die Kinder haben die ganze Zeit nur geheult. Das weiß ich noch. Der arme Oliver. Unschön, so die Enkelkinder kennenzulernen.«

»Wie ist ihr Mann?«, fragte ich.

»Älter als Zoe. Ein ganzes Stück älter, würde ich sagen. Und kahl. Ich fand ihn nicht besonders sympathisch. Er war wütend und auch an dem Streit mit Oliver beteiligt. Er hat Geld verlangt.«

»Geld?«

»Ja, Zoe hätte Anspruch darauf oder so. Ihre Erbschaft, glaub ich. Das übliche Problem, wenn ein alternder Vater eine jüngere Frau heiratet. Die Kinder sehen nur, dass das Familienvermögen ihr zufällt statt ihnen.«

In dem Moment kam Ryan ins Büro gestürmt und zeigte sich wenig erfreut darüber, dass ich da mit Janie redete.

Schnell das Thema wechseln, dachte ich, nimm was, das weder mit den Chadwicks noch mit Pferderennen zu tun hat. Aber wie viel hatte er schon mitbekommen?

»War das Geburtstagsessen gestern Abend schön?«, fragte ich.

»Janie«, sagte er laut, bevor sie mir antworten konnte, »sind die Meldungen so weit?«

»Ja«, sagte sie. »Startklar. Die Jockeys auch. Auf Ihrem Schirm. Sie müssen das nur noch prüfen, Ihren Zugangscode eingeben und auf ›Senden‹ drücken.«

Er ging zu dem PC auf einem anderen Schreibtisch und drückte ein paar Tasten auf der Tastatur, anscheinend ohne einen Blick auf die Angaben zu werfen. Dann stiefelte er wortlos, ohne auch nur ein Dankeschön wieder hinaus.

Janie und ich schauten hinter ihm her und schwiegen, bis wir die Küchentür ins Schloss fallen hörten.

»Das Geburtstagsdinner war reizend«, sagte Janie. »Chinesisch, im The Fountain . Wir waren zu acht. Tolle Küche. Ich hab viel zu viel gegessen und getrunken. Wie immer. Was bin ich schwer aus dem Bett gekommen!« Sie lachte, aber nur kurz.

Es war eigentlich kein Morgen zum Lachen.

»Was macht Ihre Schwester?«, fragte ich.

»Ich weiß, was sie gestern Abend gemacht hat. Sie konnte nicht aufhören, von Ihnen zu reden. Sie wollte alles über Sie wissen und was Sie hierherführt. Was ja eigentlich eine sehr gute Frage ist.«

Sie sah mich mit neugierig hochgezogenen Brauen an.

»Ich vertrete Scheich Karim«, sagte ich. »Er möchte, dass ich herausfinde, warum seine Pferde gestorben sind.«

»Und wissen Sie’s schon?«

»Noch nicht.«

»Schnüffeln Sie deshalb noch hier herum?«

»Schnüffeln würde ich das nicht nennen«, verteidigte ich mich.

»Wieso nicht?«, fragte sie. »Genau das tun Sie doch, wenn Sie mich so über Zoe ausfragen.«

Ich wurde nicht recht schlau aus ihr. Ärgerte sie sich wirklich über mich, oder spaßte sie nur?

»Entschuldigen Sie«, sagte ich.

»Ach was. Schnüffeln Sie ruhig. Wir möchten alle wissen, warum die Pferde gestorben sind und auch Zoe. Ich bin zwar loyal, aber so loyal auch wieder nicht. Und ich weiß ohnehin nicht, wie lange mir der Job hier noch erhalten bleibt.«

Jetzt war es an mir, sie fragend anzusehen. »Warum sagen Sie das?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Der ganze Laden geht doch den Bach runter, wie es aussieht. Die sieben verlorenen Pferde dürf‌ten der Todesstoß gewesen sein, wenn wir nicht bald ein paar Sieger kriegen. Mr Ryan hat mir sogar das Gehalt gekürzt. Meinte, er kann sich mich nicht leisten.«

Seltsam, dachte ich. Oliver hatte mir gesagt, ohne sie könne der Betrieb nicht laufen, und doch hatte sein Sohn ihr das Gehalt gekürzt. Ryan war wirklich ein Idiot.

Plötzlich kamen Janie Bedenken, sie könne zu viel ausgeplaudert haben.

»Na ja, so schlimm ist es auch nicht«, ruderte sie heftig zurück. »Wirklich nicht. Ich sollte Ihnen sowieso nichts erzählen, wo Sie doch einen unserer Besitzer vertreten. Ich bin bloß müde und aufgewühlt wegen Zoe. Vergessen Sie, was ich gerade gesagt habe.«

Schwierig, dachte ich.

»Aber deshalb trifft uns der Verlust von Prince of Troy so hart«, schaufelte sich Janie wieder in den Sumpf. »Er hätte garantiert das Derby gewonnen und uns von sämtlichen Sorgen befreit.«

Sie schwieg, und ich sah ihr an, dass sie bereute, mit mir gesprochen zu haben, ganz abgesehen von ihrer rabenschwarzen Vorhersage für Castleton House Stables.

»Hat Kate gestern Abend wirklich von mir gesprochen?«, fragte ich.

»Bitte?« Sie war mit ihren Gedanken woanders, und gern war sie offensichtlich nicht dort.

»Hat Ihre Schwester wirklich das ganze Essen hindurch von mir geredet?«

»Ja, und nicht zu knapp. Klapperdiklapperdiklapp. Ohne Ende. Harry Foster hier, Harry Foster da. Bis wir sie allesamt gebeten haben, den Mund zu halten.«

Ich lächelte.

»Geben Sie ihr meine Telefonnummer, ja?« Ich schrieb sie auf einen Block neben ihrem PC . »Sie soll mich bitte mal anrufen.«

Janie riss das Blatt vom Block und sah es sich an.

»Vielleicht tu ich’s«, sagte sie. »Vielleicht auch nicht.«