15

N atürlich ließ die Polizei Declan nicht nach Hause, weder an diesem Abend noch am nächsten Tag.

»Wer kümmert sich denn um die Pferde?«, fragte mich Declan, kurz bevor er abgeführt wurde, um zum ersten Mal eine Nacht in der Zelle zu verbringen.

»Bestimmt kriegt Chrissie das alles geregelt«, sagte ich.

»Sie ist doch nur die Sekretärin.«

»Egal. Sie scheint mir sehr kompetent zu sein. Und Arabella hilft sicher auch mit.«

Er sah mich ungläubig an. »Arabella kennt sich mit Pferden überhaupt nicht aus. Die ist doch immer nur mit ihrem Scheiß-Make-up beschäftigt.«

Ich wusste nicht, ob das im Scherz gesagt war. Seinem Tonfall nach eher nicht.

»Ich rufe sie trotzdem an. Damit sie weiß, was los ist.«

Die Aussicht stimmte ihn offenbar nicht froh.

»Sagen Sie ihr, es tut mir leid«, bat Declan.

Was denn?, fragte ich mich.

»Können Sie nicht einspringen?«, sagte er. »Sie könnten doch morgen früh erst mal nach den Pferden schauen.«

»Ich?« Jetzt war es an mir, ihn ungläubig anzusehen. »Ich habe keine Ahnung vom Pferdetraining. Haben Sie keinen Assistenten?«

»Der ist in Schottland. Seine Großmutter ist gestorben. Morgen ist die Beerdigung.«

»Ich werde aber doch hier gebraucht«, wandte ich ein. »Bei Ihnen.«

»Nicht vor halb zehn«, antwortete er. »Sie haben dem Kripomann selbst gesagt, dass ich Anspruch auf genügend Schlaf habe und erst wieder um halb zehn befragt werden darf. Um sechs müssen Sie am Hof sein. Um halb zehn wären Sie dann wieder hier.«

Ich sah auf die Uhr. Es war fast schon Mitternacht. Ich seufzte.

»Können Sie niemand anderen fragen?«

»Nein«, sagte er entschieden. »Chrissie ist gut, aber sie braucht Anleitung. Sagen Sie ihr, sie soll den ganzen Bestand zu einem leichten Galopp rausschicken. Für einen Tag geht das schon. Natürlich nicht die, die morgen laufen. Und Joe soll mit meinen beiden für York spätestens um Viertel nach sieben losfahren, sonst haut das nicht mehr hin, und für Newmarket morgen Abend hab ich auch noch zwei, aber die können hingeritten werden.«

»Wer ist Joe?«

»Mein Futtermeister.«

»In Ordnung«, sagte ich resigniert.

»Und Chrissie soll bis um zehn die Samstagsmeldungen erledigen. Die Nennungen mach ich morgen dann später.«

»Declan«, sagte ich. »Sie werden morgen überhaupt nichts machen können.«

Er starrte mich an. »Die müssen mich doch gehen lassen, wenn sie sehen, dass ich die Wahrheit sage.« Ich schwieg. »Oder?«

»Man darf Sie vierundzwanzig Stunden lang festhalten, sechsunddreißig, wenn es von oben genehmigt wird.« Wovon ich ausging. »Ein Richter kann die Frist dann noch weiter verlängern. Auf insgesamt sechsundneunzig Stunden. Das sind vier Tage.«

»Vier Tage?« Auf einmal sah er entmutigt und sehr verletzlich aus. »In vier Tagen kann mein Trainingsstall komplett den Bach runtergehn.«

Mit meiner 40 -Pfund-Derbywette auf Orion’s Glory hatte ich womöglich doch zu viel gewagt.

Auf der Rückfahrt im Taxi nach Bedford Lodge rief ich Arabella an, und zu behaupten, sie sei in einem Zustand starker Erregung gewesen, wäre eine Untertreibung.

Betrunken obendrein, dachte ich.

Sie hatte in den drei Stunden, seit die Polizei mit ihrem verhafteten Mann davongefahren war, offensichtlich schwer dem Alkohol zugesprochen. Declan mochte recht damit haben, dass sie als Aushilfe bei den Pferden nicht zu gebrauchen war, doch was ihr Sorgen bereitete, war nicht so sehr die Zukunft der Pferde oder Declans Zukunft, es war ihre eigene.

»Was mach ich denn jetzt, wenn Declan im Gefängnis sitzt?«

»Er sitzt nicht im Gefängnis«, hob ich hervor.

»So gut wie«, sagte sie. »Wie soll ich noch irgendwem ins Gesicht sehen?«

Ihre frühere felsenfeste Überzeugung, dass Declan unschuldig sei, hatte sich in Luft aufgelöst.

»Die Polizei hat seinen Audi abgeholt«, sagte sie. »In weißes Plastik gehüllt und auf einen Laster geladen.«

»Keine Sorge«, sagte ich. »Das ist normal. Er soll kriminaltechnisch untersucht werden, weiter nichts.«

»Kriminaltechnisch? Auf was? Auf eine Leiche im Kofferraum?« Jetzt weinte sie unverhohlen, sicher auch dank des stetigen Alkoholkonsums.

»Ziehen wir mal keine voreiligen Schlüsse«, sagte ich, um Beruhigung bemüht. »Im Augenblick wird er ja nur befragt.«

»Worüber denn eigentlich? Was sagen die?«

Gespräche zwischen Klient und Anwalt sind streng vertraulich; nicht mal das Gericht konnte mich zwingen preiszugeben, was Declan mir dort im Beratungsraum gesagt hatte. Wie viel sollte ich also seiner Frau erzählen?

Ich entschied, dass ich ihr alles sagen konnte, was Declan bereits der Polizei erzählt hatte. Das würde über kurz oder lang Gemeingut sein, zumal, wenn es als Beweismittel in einem Prozess diente.

Erst aber hatte ich selbst ein paar wichtige Fragen an sie.

»Wieso nennen Sie Peter Robinson ›Pete‹?«

Es folgte eine kurze, aber merkliche Stille am anderen Ende. Vielleicht war sie weniger betrunken, als ich angenommen hatte, jedenfalls wahrte sie ein gewisses Maß an Kontrolle.

»Warum denn nicht?«, sagte sie. »Zoe hat ihn immer Pete genannt.«

»Woher wissen Sie das denn? Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«

»Ach, das weiß ich nicht. Schon länger her.«

»Wie lange genau?«, fragte ich. »Das ist wichtig. Hatten Sie regelmäßig Kontakt?«

»Warum ist das so furchtbar wichtig?«

»Weil Declan sie am Sonntagmorgen in Cambridge am Zug abgeholt hat.«

»Was? Zoe? Jetzt am Sonntag?«

»Ja«, sagte ich. »Am Tag, an dem sie gestorben ist.«

Diesmal war es an ihrem Ende viel länger still.

»Ist er deshalb festgenommen worden?«

»Mit ziemlicher Sicherheit«, sagte ich. »Die letzte bekannte Person, die ein Opfer lebend gesehen hat, wird unweigerlich zum Hauptverdächtigen.«

»O Gott!«, schrie sie auf. Ich hörte sie laut schluchzen. »Unsere Computer und Declans Handy hat die Polizei auch mitgenommen. Ich dachte, sie würden noch seine Kleider mitnehmen, aber sie haben den Ankleideraum einfach abgesperrt.«

»Den Ankleideraum?«

»Wir nehmen leer stehende Zimmer zum Ankleiden. Jeder hat eins.«

Keine Kinder, dachte ich.

»In Declans Zimmer haben sie ein zweites Handy gefunden. Rosa. Sie haben gefragt, ob’s mir gehört.«

»Was haben Sie geantwortet?«

»Ich hätte es noch nie gesehen.« Sie zögerte, als wollte sie die Antwort auf ihre nächste Frage gar nicht hören. »War es Zoes Handy?«

»Ja«, sagte ich. »Declan behauptet, er hat sie Sonntagnachmittag am Bahnhof Newmarket abgesetzt, sie hat aber ihr Handy bei ihm im Wagen liegen lassen. Hat er Ihnen nichts davon gesagt, dass er sie treffen wollte?«

»Kein Sterbenswort.«

»Was dachten Sie denn, wo er den ganzen Tag war?«

»Mir hat er gesagt, er wollte sich einen Jährling ansehen. Das macht er im Sommer oft sonntags, wenn’s auf die Herbstverkäufe zugeht.«

»Wann kam er zurück?«

»Das weiß ich nicht. Ich war nicht hier. Ich habe in einem Hotel übernachtet.«

»Allein?«

Ich hörte mich wohl erstaunt an.

»Ja. Allein. Ich war bei einer Show im Potters Resort bei Great Yarmouth. Ich kenne die Besitzer. Dort habe ich übernachtet. Vier- oder fünfmal im Jahr treten da sonntagabends bekannte Fernseh- und Westend-Stars auf. Ich fahre öfter hin, aber Declan will nicht. Er hat’s nicht so mit Livemusik.«

»Sie waren aber doch am Montag mit Declan bei Oliver, als ich ankam.«

»Weil Declan mich am frühen Morgen wegen des Brands angerufen hatte, bin ich gleich zurück.«

Aber nicht, ohne erst noch Make-up aufzulegen, dachte ich.

In dem Moment kam das Taxi am Bedford Lodge an.

»Ich muss Schluss machen«, sagte ich. »Von Declan soll ich Ihnen ausrichten, dass es ihm leidtut.«

»Was denn?«, fragte sie säuerlich. »Dass er seine Schwester umgebracht hat oder dass sie ihm draufgekommen sind?«

Ich hatte es nur gedacht. Arabella hatte es ausgesprochen.

»Ziehen Sie doch keine voreiligen Schlüsse«, sagte ich noch einmal. »Declan besteht felsenfest darauf, dass er nichts Unrechtes getan hat. Wahrscheinlich gibt es eine ganz harmlose Erklärung.«

»Mir zu verheimlichen, dass er sich mit Zoe getroffen hat, ist nicht harmlos.«

Sie weinte wieder.

»Hören Sie«, sagte ich. »Soll ich jemanden kommen lassen, der bei Ihnen bleibt?« Allein die Götter wussten, wo ich den um diese Zeit hernehmen sollte. Susan oder Maria vielleicht. Für beide hatte Arabella sicher nicht viel übrig.

Konnte ich Kate anrufen? Würde sie überhaupt rangehen?

»Nein«, sagte Arabella. »Danke. Ich könnte wirklich keinem gegenübertreten. Es wäre zu beschämend. Ich komme allein zurecht.«

»Schlafen Sie ein bisschen. Wir unterhalten uns morgen früh noch mal.«

Ich legte auf und betrat das Hotel.

Erst als ich ins Bett ging, fiel mir ein, dass sie meine Frage, warum sie Zoes Mann Pete statt Peter nannte, nicht beantwortet hatte. Ich nahm mir vor nachzuhaken, wenn ich sie das nächste Mal sah.

 

Als um kurz nach fünf mein Wecker klingelte, war ich überzeugt, nur wenige Minuten geschlafen zu haben. Doch die Uhr widersprach mir, und es war schon hell draußen, die ersten Strahlen der Morgensonne drangen durch einen Vorhangspalt.

Widerwillig schleppte ich mich aus dem Bett.

Ich war erschöpft.

War ich wirklich erst vor vierundzwanzig Stunden aufgestanden, um mir Ryans Pferde bei der Arbeit anzusehen? Es kam mir eher wie eine Woche vor als wie ein Tag.

Warum schlafe ich nicht noch tief und fest?, fragte ich mich, als ich unter der Dusche stand und mir die Müdigkeit aus den Augen zu waschen versuchte. Keine Sekunde begriff ich, warum ich mich bereit erklärt hatte, auf Declans Hof mit Chrissie zu sprechen. Ich musste verrückt sein.

Mehr um wach zu bleiben als sonst was, schaltete ich die die Nachrichten auf BBC ein und staunte nicht schlecht, Aufnahmen von mir selbst zu sehen, wie ich am Abend zuvor aus dem Ermittlungszentrum der Polizei kam und in ein Taxi stieg.

Weder das Fernsehteam noch den Moderator, der als Nächstes direkt in die Kamera sprach, hatte ich am Abend bemerkt.

»Laut Polizei wurde im Zusammenhang mit den beim Stallbrand in Newmarket am Montag gefundenen menschlichen Überresten ein Einundvierzigjähriger unter Mordverdacht festgenommen. Der Mann wird hier in Bury St Edmunds verhört.« Hinter dem Sprecher war wieder die rote Backsteinwand des Gebäudes zu sehen, an der in großen silbernen Lettern POLICE INVESTIGATION CENTRE stand. »Die Identität des Verdächtigen ist noch nicht of‌fiziell bestätigt, doch nach Informationen der BBC handelt es sich um einen als Declan Chadwick bekannten Bruder von Ryan Chadwick, dem Trainer der toten Pferde.«

Ich wusste, dass die Medien nicht lange brauchen würden, um herauszufinden, wer da verhaftet worden war, doch diesmal hatten sie sich selbst übertroffen.

Vielleicht hatte mein wartender Taxifahrer vom Vorabend doch nicht geschlafen. Ein kurzer Anruf‌, ein Tweet oder auch ein Eintrag auf seiner Facebookseite hätten genügt.

Und ich hatte meine künftige Beziehung zu Kate aufs Spiel gesetzt, weil ich ihr aus Angst, als Quelle dazustehen, nicht sagen wollte, warum ich sie so plötzlich allein gelassen hatte!

 

Mein Fahrer und sein Mercedes waren wieder im Einsatz und warteten an diesem Donnerstagmorgen um Viertel vor sechs vor dem Hotel auf mich.

Auf dem Beifahrersitz lag eine Tageszeitung mit der Titelschlagzeile BRUDER DES BRANDOPFERS VERHAFTET in fünf Zentimeter hoher Balkenschrift.

Ich überflog die Titelseite. So viel zur Unschuldsvermutung, dachte ich, als ein Absatz nach dem anderen Declans Schuld nahelegte. Sicher hatten die Hausanwälte alles sorgsam auf Verleumdung abgeklopft, aber daran ging es ausgesprochen knapp vorbei. Und in meinen Augen hatten die Reporter eindeutig Declans Recht auf Privatsphäre verletzt – aber ihnen ging es ja nur darum, ihr Blatt zu verkaufen.

Als ich in der Hamilton Road ankam, parkten nebeneinander schon zwei Ü-Wagen vor Declans Haus, die Satellitenschüsseln auf dem Dach himmelwärts gerichtet wie zwei fangbereite Hände.

»Fahren Sie zu den Ställen, nicht zum Haus«, wies ich den Fahrer an, doch wenn ich glaubte, damit der Aufmerksamkeit der Kamerateams zu entgehen, hatte ich mich schwer getäuscht. Sie belagerten jeden Eingang, ohne allerdings aufs Grundstück selbst vorgestoßen zu sein.

Ich zog den Kopf ein, als der Mercedes auf den Stallhof fuhr, wo beträchtliche Ratlosigkeit herrschte.

Chrissie war im Stallbüro und ziemlich durcheinander.

»Was sollen wir bloß machen?«, fragte sie verzweifelt. »Ein paar Pfleger sind gar nicht erst zur Arbeit gekommen.«

»Bleiben Sie ruhig und machen Sie weiter, so gut es geht«, sagte ich. »Ich war gestern Abend bei Declan, und er möchte, dass Sie alle Pferde bis auf die, die heute laufen, zu einem leichten Galopp rausschicken. Und Joe sollen Sie sagen, dass die beiden für York spätestens um Viertel nach sieben losmüssen.«

»Aber wie denn? Wir sind von der Presse umzingelt.«

»Denken Sie nicht dran«, sagte ich. »Wenn Sie weitermachen wie sonst auch, verlieren sie das Interesse. Das ist das Beste, was Sie für Declan tun können.«

Sie starrte mich an.

»War er’s?«, fragte sie.

»Declan bestreitet kategorisch, etwas Unrechtes getan zu haben.«

Ich war mir nicht sicher, ob ihr das genügte. Genügte es mir?

»Hat Arabella heute schon mit Ihnen gesprochen?«, fragte ich.

»Sie scherzen«, sagte Chrissie mit einem Lachen. »Arabella lässt sich auch an den besten Tagen nicht vor halb neun blicken. Meistens später. Manchmal gar nicht.«

Ich musste spätestens um halb neun nach Bury St Edmunds, und heute war gewiss kein bester Tag.

»Ich muss mit ihr sprechen«, sagte ich und nahm mein Handy aus der Tasche. »Ich rufe sie kurz an.«

»Damit würde ich an Ihrer Stelle noch etwas warten«, wandte Chrissie ein. »Sie hat eine ziemlich spitze Zunge, wenn sie zu früh geweckt wird.«

Kann ich verstehen, dachte ich und gähnte.

»Kaffee?«, fragte Chrissie.

»Den koche ich«, sagte ich. »Gehen Sie mal raus und machen die Pferde klar.«

Sie ging raus, als ich den Wasserkocher anstellte.

Ich gähnte noch einmal. Was wollte ich hier? Chrissie hätte ich auch bequem vom Bett aus anrufen können.

Ich ging mit meinem Kaffee auf den Hof, um zu sehen, wie es lief.

Chrissie schrie gerade einen unglücklichen Pfleger an, der kaum alt genug aussah, um lange Hosen zu tragen, geschweige denn, ein Rennpferd zu betreuen. »Warum kommst du zu spät? Vor einer halben Stunde hättest du hier sein sollen.«

»Entschuldigung, Miss Chrissie«, sagte er und duckte sich von ihr weg. »Mein Dad meinte, ich solle hier gar nicht mehr arbeiten. Nicht bei einem Mörder.«

»Halt die Klappe«, fuhr ihn Chrissie an. »Mr Chadwick hat nichts getan. Das ist bloß ein Missverständnis. Er ist im Nu wieder hier.« Ich bewunderte ihre Loyalität. »Geh jetzt Peppermill satteln. Wir brechen in fünf Minuten auf.«

Der Junge entfernte sich im Laufschritt. Entgegen Declans Befürchtungen schien Chrissie alles weitgehend im Griff zu haben, als das erste Lot die Pressemeute vom Tor am anderen Ende des Hofs wegdrängte und hinaus auf die Heide verschwand.

Chrissie und ich schauten ihnen nach.

»Ich dachte, alle Ställe hätten einheitliche Kappenfarben«, sagte ich angesichts der bunten Häupter von Declans Pflegern.

»Viele schon«, sagte Chrissie. »Aber das ist deren Entscheidung. Unumstößliche Regeln gibt’s da nicht. Declan hält von so was wenig. Er sagt den Jungs, sie können tragen, was sie wollen, solange ein Helm drunter ist.«

Ich dachte an Ryans einheitlich hellblaue Kappen mit den roten Bommeln und fragte mich, ob Declan einfach Wert darauf legte, es anders als sein älterer Bruder zu machen.

Als Nächstes stand die Abfahrt der beiden Starter für York auf dem Programm. Declans Pferdetransporter kam auf den Hof, und Joe, der Reisefuttermeister, überwachte das Verladen mit dauerfinsterer Miene.

»Na gut«, meinte er unglücklich. »Dann wollen wir mal. Weiß der Himmel, ob sie starten dürfen.«

»Wieso?«, fragte ich.

»Weil dem Chef bis dahin vielleicht die Trainerlizenz entzogen wird.«

Er sah offensichtlich gern die dunkle Seite des Daseins.

»Bestimmt nicht«, sagte ich. »Allenfalls nach einer Verurteilung, und davon sind wir weit entfernt. Er ist noch nicht mal angeklagt.«

»Das sagen Sie so«, wandte Chrissie ein. »Die Rennsportbehörde hat ihre eigenen Gesetze. Die macht, was sie will.«

Sie steht aber nicht über dem Landesrecht, dachte ich. Früher einmal mochten die Urteile des Jockey Clubs unantastbar gewesen sein, doch jetzt waren sie es nicht mehr. Urteile, die die Möglichkeiten zum rechtmäßigen Broterwerb im Sport oder anderswo unfair beschnitten, konnten von einem Gericht aufgehoben werden.

»Mr Chadwick möchte sicherlich, dass Sie alle normal weitermachen«, sagte ich und schickte den geknickten Joe auf die Reise, der immer noch vor sich hin grummelte, dass er bald arbeitslos sein würde und in seinem Alter garantiert nichts Neues mehr bekäme.

Genau wie Fred Piper auf Ryans Hof, dachte ich.

Alt werden war Mist.

 

Ich wartete bis um halb acht mit meinem Anruf‌ bei Arabella. Auf ihre spitze Zunge musste ich es ankommen lassen.

Ihr Handy sprang nach sechsmaligem Klingeln auf Voicemail.

»Versuchen Sie’s mit dem Haustelefon«, sagte Chrissie, als ich auf‌legte, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. »Die 12 für die Küche, 13 fürs Schlafzimmer.«

Ich ergriff das Mobilteil auf Declans Schreibtisch und wählte die 13 .

Rund zehnmal ließ ich es klingeln, dann legte ich auf.

»Sie wird noch schlafen«, meinte Chrissie.

»Ich versuch’s gleich noch mal.«

Aber auch fünf Minuten später tat sich nichts, und ich sah wohl etwas besorgt aus.

»Irgendwo hab ich hier einen Schlüssel für die Hintertür«, sagte Chrissie und kramte in ihren Schreibtischladen. »Falls man sich mal aussperrt.« Triumphierend hielt sie ihn hoch.

Aber der Schlüssel war nicht nötig. Die Tür war nicht verschlossen. Da Chrissie nervös draußen stehen blieb, ging ich alleine rein.

»Hallo?«, rief ich laut auf dem Weg durch den Flur. »Jemand zu Hause?«

Ungeachtet dessen, was ich vorhin zu Chrissie gesagt hatte, würde hier nichts mehr so weitergehen wie bisher.

Arabella hing am Geländer des Treppenabsatzes, einen umgekippten Stuhl unter den ins Leere hängenden Beinen, und fühlte sich eiskalt an.

Sie war seit Stunden tot.