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D ie Freitagnachmittagsrennen auf der Rowley Mile waren irgendwie biederer und nicht so glamourös wie die am Abend zuvor, schon wegen des unfreundlichen Wetters mit bedrohlich dunklen Wolken anstelle des warmen Sonnenscheins. So waren weniger Zuschauer auf den Rängen, wenngleich sie den Anschein weckten, wirklich nur wegen des Sports und der Wetten hier zu sein und nicht, um zu trinken und sich zu amüsieren.

Ich fand das Ganze auch weniger unterhaltsam, was daran liegen konnte, dass Kate nicht bei mir war. Sie heute um ihre Begleitung zu bitten wäre für mein Gefühl jedoch unangemessen gewesen, selbst wenn sie sich hätte freinehmen können. Ich hatte Verschiedenes zu erledigen, und das konnte unangenehm werden.

Beim Frühstück hatte ich mir die Hotelausgabe der Racing Post angesehen. Dem Blatt nach hatten sowohl Ryan als auch Declan hier heute Starter angegeben, und Tony trat ebenfalls an. Zudem hielt ich es für sehr wahrscheinlich, dass auch Oliver kommen würde. Und ich hatte die feste Absicht, ihnen kundzutun, dass auch ich hier war und sie beobachtete. Der Erste, den ich auf dem Weg zum Eingang dann zu sehen bekam, war kein Chadwick, sondern Declans Reisefuttermeister Joe.

»Tag, Joe«, sagte ich. »Angenehm kurze Anfahrt für Sie heute.«

»Ja«, bestätigte er nüchtern. »Ich sollte nach Newbury, aber weil der Chef beschlossen hat, da selbst hinzufahren, bin ich jetzt hier. Kann man ihm wohl nicht verdenken. Zu nah dran.« Von unserem Standort aus konnten wir Declans Stall beinah sehen. »Zu viel Klatsch und Tratsch.«

Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass er in Newbury wesentlich besser wegkam, aber ich war schon froh, dass er sich nicht ganz verkrochen hatte.

»Gott sei Dank ist morgen Trevor wieder da.«

»Trevor?«, fragte ich.

»Der Assistent vom Chef. War auf der Beerdigung seiner Großmutter in irgendeinem gottverlassenen Nest in den Highlands. Nicht, dass wir morgen Starter hätten. Chrissie hat die Anmeldung verpasst.«

Das war meine Schuld, dachte ich, behielt es aber für mich.

»Lassen Sie jeden Tag Pferde laufen?«, fragte ich.

»Jeden nicht«, sagte er, »aber samstags während der Saison meistens schon. Samstags stellen viele Besitzer ihre Pferde auf. Dann ist es für sie einfacher dabeizusein.«

Joe sagte das so, als wäre es ihm lieber, wenn kein Besitzer dazwischenfunkte. Ich fragte mich, ob etwa Mr Reardons Pferd für den Start vorgesehen gewesen war. Das hätte Joe dann sicher nicht milder gestimmt.

In Abwesenheit Declans brauchte ich mich jetzt also nur noch mit den drei übrigen Chadwick-Männern herumzuschlagen. Irgendetwas verbargen sie alle. Da war ich mir sicher.

Alles wird rauskommen. Die Schande ertrage ich nicht.

Es schien mir an der Zeit, das direkt anzugehen.

 

Da ich eine ganze Weile vor dem ersten Rennen zur Rowley Mile gekommen war, hatte ich mir ein Ticket gekauft und war zu meiner Orientierung durch die Zuschauerbereiche gewandert.

Am Abend zuvor hatte ich mich aus naheliegenden Gründen nicht richtig auf die Rennen konzentriert. So hatte ich zum Beispiel nicht beachtet, wie die Pferde vor dem jeweiligen Rennen aus den Ställen geholt und zum Aufwärmen in den Sattelring gebracht werden, ehe man sie zum Satteln in eine der Sattelboxen führt. Dann kommen sie in den eigentlichen Führring, wo die Zocker sie bewundern können wie die Teilnehmerinnen an einem Schönheitswettbewerb.

Mit dem Unterschied, dass die Schönheiten hier schnell laufen mussten, statt einfach nur gut auszusehen, wobei Kate mir gesagt hatte, ein fittes Pferd sei auch ein attraktives.

Attraktiv?

Wenn sie es sagte.

Als das erste Rennen nahte, kauf‌te ich ein Rennprogramm und sah nach, ob Ryan wirklich wie angenommen einen Starter hatte. So war’s. Ein Pferd namens Momentum, Nummer 8 , und reiten sollte es zu meiner Überraschung Tony Chadwick.

Mehrere Pferde wurden bereits von ihren Pflegern im Sattelring herumgeführt, aber ich hätte nicht sagen können, welches von ihnen Momentum war oder ob er überhaupt dabei war, denn sie trugen ihre Nummern noch nicht, und ich war nun mal weder ein Turfspion noch Lester Piggott. Also wartete ich vor den Sattelboxen auf die Ankunft des Trainers. Aber nicht Ryan, sondern Oliver sah ich als Erstes mit etwas wie einem Minisattel unterm Arm auf mich zukommen. Ein winziges Stocken, als er mich erblickte, dann war er auch schon bei mir.

»Tag, Harry«, sagte er ganz liebenswürdig. »Alles klar?«

»Ja, danke, Oliver«, erwiderte ich. »Bei Ihnen auch?«

»Aber ja«, sagte er. »Nach so einer Woche tut es gut, wieder auf der Rennbahn zu sein. Erst der Brand, dann Zoe, jetzt Arabella. Von wegen annus horribilis, das war definitiv eine Woche zum Vergessen.«

Ich dagegen würde sie in freudiger Erinnerung behalten, wenn auch aus einem anderen Grund.

»Wo ist Ryan?«, fragte ich.

»Er holt mit dem Stalljungen Momentum rüber. Das Pferd kann etwas ängstlich sein, deshalb holen wir es möglichst spät.«

Ich hielt mein Rennprogramm hoch. »Und Tony soll es reiten.« Die Überraschung war mir anzuhören.

»Ja«, sagte Oliver langsam. »Ryan hatte den Jockey schon genannt.«

Er brauchte nicht zu erläutern, dass er mit »schon« meinte: bevor Tony seinem Bruder gesagt hatte, er sei ein verdammter Idiot. Und ich wusste noch, wie Ryan am Mittwochmorgen, als ich mich mit Janie unterhielt, ins Stallbüro gekommen war. Er hatte die Nennungen im Vertrauen darauf, dass Janie alles richtig gemacht hatte, ungelesen abgeschickt. Und sie musste Tony als Reiter eingetragen haben.

»Hätte Ryan keinen anderen Jockey nennen können?«, fragte ich.

»Bis Mittwochnachmittag um eins ohne Weiteres, aber er hat offensichtlich nicht daran gedacht. Danach muss man eine Erlaubnis der Rennleitung einholen, und die hätte einen Familienkrach wohl nicht als hinreichenden Grund gelten lassen. Aber jetzt sind sie ja beide darüber weg.«

Ich fragte mich, ob das stimmte oder nur Wunschdenken vonseiten Olivers war. Die Körpersprache, wenn Ryan seinem jüngeren Bruder aufs Pferd helfen musste, wäre sicher interessant zu beobachten.

Oliver und ich warteten zusammen auf Ryan und das Pferd, und diese günstige Gelegenheit mochte ich mir nicht entgehen lassen.

»Warum hat Ryan Declan in Doncaster die Nase gebrochen?«, fragte ich.

Oliver schreckte hoch, als hätte ich ihn mit einem Viehtreiber berührt.

»Wo haben Sie denn den Quatsch her?«, fragte er mit einem gezwungenen Lachen.

»Ryan hat es mir gesagt.« Das ließ ich einen Moment auf ihn wirken, ehe ich die nächste Frage nachschob. »Und warum hat Declan nicht geklagt, wenn sie doch so einen Hass aufeinander haben?«

Oliver überlegte schweigend, was er darauf sagen sollte.

»Weil es ein Unfall war«, äußerte er schließlich.

»Nach einem Unfall hat sich das für mich nicht angehört«, gab ich zurück. »Laut Polizeibericht hat Ryan Declan voll ins Gesicht geschlagen. Ihn glatt umgehauen.«

»Ja«, ruderte Oliver heftig zurück. »Trotzdem war es doch nur ein Missverständnis.«

»Worüber denn?«, fragte ich.

»Nichts weiter.«

»Dann sagen Sie’s mir.«

»Ah, da sind sie ja!« Für den erleichterten Oliver kamen Ryan und Momentum genau zur richtigen Zeit in Sicht, und er eilte zu ihnen hin.

Ryan allerdings war nicht so erfreut, mich zu sehen, und hatte auch wenig Grund dazu.

»Tag, Ryan«, sagte ich. »Haben Sie heute sonst noch jemanden beleidigt? Oder vielleicht ins Gesicht geschlagen?«

Oliver sah mich entgeistert an.

»Harry«, sagte er scharf. »Das war jetzt nicht nötig.«

Nein, dachte ich, wahrscheinlich nicht, aber ich musste sie irgendwie reizen, sie in Rage bringen, damit ihnen etwas rausrutschte, das ihnen leidtun würde – damit sie ihr großes Geheimnis lüfteten.

Ryan jedoch war die Ruhe selbst. Er schien überhaupt nichts darauf zu geben, was ich gerade gesagt hatte, sondern fing an, mit dem Tempo und der Leichtigkeit des Routiniers Momentum für sein Rennen fertig zu machen.

Als Erstes kam die Pferdedecke runter, und ein dünnes Ledertuch wurde über den blanken Rücken des Pferdes gebreitet. »Damit nichts verrutscht«, erklärte Oliver. Es folgten Satteldecke, Bleidecke, Nummerndecke und zuletzt der winzige Sattel, alles zusammengehalten von einem straff um den Bauch des Tiers gespannten Gurt, der links und rechts mit zwei kräftigen Schnallen am Sattel befestigt war.

Während das alles weiter hinten ablief, wurde Momentums Kopf von seinem Pfleger festgehalten, was ihn nicht davon abhielt, sich losreißen zu wollen, und nur die blitzschnellen Reaktionen des Pflegers verhinderten, dass dem armen Jungen große Stücke seiner Arme und Hände abgebissen wurden.

Momentum hatte einen kleinen weißen Stern mitten auf der Stirn, wodurch das Pferd noch irrer aussah, so als hätte es drei Augen.

Ängstlich, hatte Oliver gesagt. Ich fand das ziemlich milde ausgedrückt. In meinen Augen war das Tier völlig von der Rolle, und ich hielt reichlich Abstand von den zuschnappenden Zähnen und den dreschenden Hufen.

Nach einer letzten Kontrolle gab Ryan dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe und fing sich dafür beinah einen Tritt vors Knie ein. Dann wies Ryan den bedauernswerten Stalljungen an, es von der Sattelbox zum Führring zu bringen, und damit das nicht zu einfach wurde, versuchte es auch weiterhin, sich loszureißen, wenn es nicht gerade wild nach irgendetwas annähernd Erreichbarem austrat.

Oliver und Ryan folgten dem Pferd in sicherem Abstand, und ich hängte mich sichtlich zu Ryans Missvergnügen an sie dran.

Ein Paar erwartete uns auf dem makellosen Rasen des Führrings.

»Hallo, ihr beiden«, rief Oliver im Näherkommen aus. »Schön, euch zu sehen.« Er küsste die Frau auf beide Wangen und gab dem Mann herzlich die Hand.

»Da wir Sie am Sattelring nicht finden konnten, sind wir hierhergekommen«, sagte die Frau.

»Wir haben das Pferd erst spät aus dem Stall geholt«, erklärte Oliver. »Ich hielt es für das Beste, es so lange wie möglich von den anderen fernzuhalten.« Er lachte nervös und hoff‌te offensichtlich, dass sie ihm zustimmten.

Die beiden schauten mich an.

»Pardon«, sagte Oliver. »Das ist Harry Foster. Michelle und Mike Morris.«

Wir drei gaben uns die Hand. Michelle war eine attraktive Blondine mit strahlend blauen Augen und elegant gekleidet in einen zweireihigen schwarzen Mantel und wadenhohe Wildlederstiefel. Mike trug einen nüchternen Anzug mit blauer Krawatte, sein gepflegtes, kurzes braunes Haar wurde an den Schläfen ein wenig grau.

»Ihnen gehört Momentum«, sagte Oliver.

»Er gehört uns nicht nur«, sagte Michelle mit einem gewissen Stolz. »Wir haben ihn auch gezüchtet.«

»Sie besitzen also ein Gestüt?«, fragte ich.

»So was Großes nicht.« Mike lachte. »Ich bin im Baugeschäft, aber als Hobby halten Michelle und ich am National Stud hier in Newmarket ein paar Zuchtstuten. Momentum war eins unserer Fohlen. Wir haben ihn behalten, damit er Rennen läuft.« Gemeinsam schauten wir zu, wie das fragliche Tier den Kopf warf, um sich loszureißen.

»Lebhaft, was?«, meinte Michelle.

»Eher gefährlich«, antwortete ich.

»Aber nein«, sagte sie lächelnd. »Er spielt doch nur.«

Nach Spielen sieht mir das nicht aus, dachte ich, als das Pferd einmal mehr versuchte, seinem unglücklichen Pfleger ein Stück Arm abzubeißen.

»Er ist ein unbeschnittener Hengst«, sagte Mike zu mir. »Aber Oliver meint, wir sollten ihn kastrieren. Dann würde er sich ein bisschen beruhigen. Michelle ist entschieden dagegen. Bei seiner hervorragenden Zucht, denkt sie, könnte er noch eine Zukunft als Deckhengst haben.«

Oliver warf mir einen Seitenblick zu, der Vergesst es! besagte, aber er war viel zu sehr Diplomat, um das auszusprechen.

»Wir können dem armen Kerlchen doch nicht die Eier abschneiden«, sagte Michelle entsetzt. »Wie würde euch das gefallen?«

Wohl wahr, dachte ich, aber ich versuche auch nicht, die Hand zu beißen, die mich füttert.

»Heute sollten wir eine gute Chance haben«, sagte Oliver. »Ich glaube, in dieser Gruppe ist Momentum gut gehandikapt.«

Vermutlich war mir anzusehen, dass ich nicht wusste, was er meinte.

»Das Rennen ist ein Handikap«, erklärte Oliver. »Ein Ausgleichsrennen. Die Pferde tragen also ihren Fähigkeiten entsprechend unterschiedliche Gewichte.«

»Wer entscheidet, welches das fähigste ist?«, fragte ich.

»Der Ausgleicher. Jeden Dienstag wird jedes Vollblutrennpferd auf der Welt neu eingeschätzt.«

»Was, jedes Pferd?«

»So gut wie. Bis auf ein paar junge, die noch nicht oft genug gelaufen sind.«

»Das ist doch unglaublich.«

»Kann man wohl sagen«, stimmte Oliver zu. »Allein in unserem Land sind vierzehntausend Rennpferde in Training, nicht zu reden vom Rest der Welt. Die Einschätzung legt fest, wie viel Gewicht das Pferd in einem Ausgleichsrennen zu tragen hat. Nehmen wir das hier zum Beispiel. Es ist ein Klasse-Fünf-Handikap über eintausendsechshundert Meter für Dreijährige mit einer Einschätzung von unter fünfundsiebzig. Das höchste Gewicht hat die Einschätzung zweiundsiebzig, aber Momentum liegt bei dreiundsechzig. Das sind neun weniger, also trägt er neun Pfund weniger auf dem Rücken.«

»Und Sie glauben, das macht einen Unterschied?«

»Sollte es jedenfalls«, sagte er. »Etwa eine Länge pro Pfund über eintausendsechshundert Meter. Als ob Momentum neun Längen Vorsprung vor dem höchsteingeschätzten Pferd bekommt. Und ich halte ihn für besser als der Ausgleicher.«

Das hörte sich einfach an, war in Wirklichkeit aber viel komplizierter, als ich mir vorgestellt hatte. Kein Wunder, dass Ryan sich bei seinen Nennungen hatte konzentrieren müssen – es galt, das richtige Pferd mit der passenden Einschätzung für ein Rennen der gewünschten Klasse über eine geeignete Distanz auf der aktuell günstigsten Rennbahn anzumelden, damit es die beste Chance hatte, als Sieger einzukommen.

Zu fünft schauten wir zu, wie die neun Starter um uns im Kreis gingen, und bald darauf erschien Tony im Renndress mit grüner Brust, hellblauen Ärmeln und dazupassender hellblauer Kappe. Die Morris-Farben, nahm ich an.

Tony tippte zur Begrüßung der Besitzer respektvoll an seinen Kappenschirm, würdigte seinen Bruder aber keines Blickes. Die Stimmung zwischen ihnen war gelinde gesagt kühl.

»Halt ihn bis zum 400 -Meter-Pfahl im Pulk, dann lass ihn gehen«, befahl Ryan. Tony nickte. »Und nicht an den Rails einkeilen lassen.« Tony nickte erneut und brummte etwas, das ich nicht verstand.

Immerhin kommunizierten die beiden, wenn sie auch auf Nettigkeiten verzichteten.

Ein Funktionär läutete, und Oliver, Tony und Ryan gingen zu Momentum hinüber. Das Pferd versuchte immer noch nach Kräften, sich von dem Pfleger loszureißen, aber schließlich bekam Tony die Zügel zu fassen, und Ryan warf ihn in den Sattel.

»Es ist so aufregend, einen Starter zu haben«, sagte Michelle, die wie ich ein Stück entfernt stand, außer Reichweite der Schnappzähne und Schleuderhufe.

»Ja«, stimmte ich ihr zu. Und das musste es wohl sein, dachte ich, bei all der Mühe, die sie und Mike darauf verwandt hatten, ihr »Kerlchen« samt Eiern und allem auf die Rennbahn zu bringen. Wobei ich mir nicht sicher war, ob der Reiter des Pferdes dem Wettkampf genauso entgegenfieberte wie seine Besitzer.

Besser du als ich, dachte ich, während Tony versuchte, eine halbe Tonne durchgedrehtes Rennpferd mit nichts als ein paar Lederriemen und ohne Sicherheitsgurt im Zaum zu halten.

»Vermassel das nicht«, gab Ryan seinem Bruder noch mit.

Ich sah, wie Tony als Antwort etwas Obszönes in Richtung ›Gehe hin und mehre dich‹ mit den Lippen formte. Die Brüder kommunizierten vielleicht miteinander, aber die harmonischste Arbeitsbeziehung war es nicht.

Wenigstens schien sich Momentum jetzt, wo jemand auf ihm saß, etwas beruhigt zu haben, wenn er auch beim Verlassen des Sattelrings pro forma noch ein paarmal bockte.

»Meinen Sie, wir gewinnen?«, wandte sich Michelle gespannt an Oliver.

»Ich hoffe es«, sagte er ohne sonderliche Überzeugung. »Unsere jüngsten Ergebnisse waren zum Teil doch enttäuschend.«

Und auch der Ausgang dieses Rennens enttäuschte ein wenig.

Da die Besitzer und der Trainer überraschenderweise im Führring blieben, um sich das Rennen auf einem Großbildschirm anzusehen, blieb ich auch da. Ryan gefiel das gar nicht, und er machte ein Gesicht, als hätte er eine Wespe verschluckt.

Wie verschieden Oliver und Ryan waren. Oliver besaß Charme und Charisma, Ryan dagegen war grob und ungeschliffen. Er hatte etwas von einem Schlägertypen, der gewohnheitsmäßig ohne Rücksicht auf andere seinen Kopf durchsetzte.

Ich aber stellte sie vor ein großes Problem, war ich doch der persönliche Repräsentant eines ihrer wichtigsten Besitzer, wenn nicht des wichtigsten überhaupt. Ich hatte einen direkten Draht zu Scheich Karim, den zu verlieren sie sich kaum leisten konnten, schon gar nicht unter den jetzigen Umständen.

Oliver hielt sich an die Regeln, schluckte seinen Stolz hinunter, blieb höf‌lich und erklärte mir Dinge, obwohl ihm wahrscheinlich lieber gewesen wäre, ich würde verschwinden. Für Ryan allerdings war die Situation schwieriger; die ihm eigene Aggressivität siegte ohne Weiteres über Logik und Vernunft.

Und zu allem Überfluss reichte er auch nicht an den Ruf seines Vaters als einem der großen Trainer Newmarkets heran. Das wussten sie beide.

Momentum sprang zugleich mit den anderen aus der Startbox, und Tony brachte ihn hinten im Pulk unter.

»Komm schon, Baby«, rief Michelle dem Bildschirm zu, ohne direkt in die Luft zu springen. Mike lächelte nur und hielt ihr die Hand.

»Er liegt zu weit zurück«, schimpf‌te Ryan. »Im Pulk, hab ich gesagt, nicht hintendran.«

Die Pferde liefen auf der Geraden direkt auf die Tribüne zu, wobei der Kamerawinkel den Abstand zwischen Erstem und Letztem verkürzte. Dennoch sah auch ich, dass der Führende im Begriff war, sich von den anderen abzusetzen.

»Aussichtslos«, sagte Oliver, offenbar ohne zu bedenken, dass Mike und Michelle Morris an seinen Lippen hingen.

Wir sahen, wie Tony auf Momentum an dem direkt vor ihm laufenden Pferd vorbeiging und Boden gutmachte. An der 400 -Meter-Marke griff Tony zur Peitsche und ermahnte sein Pferd, schneller zu werden. Leider trottete das Tier ungeachtet seiner erheblichen Bemühungen im selben steten Tempo weiter und kam als unbefriedigender Sechster der neun ins Ziel.

Der Ausgleicher hatte von Anfang an recht gehabt.

Ryan platzte fast vor Wut. »Elender Tony! Warum macht er verdammt noch mal nicht, was ich sage?«

Ich persönlich fand zwar, das hatte er getan, aber diesmal wollte ich nichts Provozierendes sagen. Meine gerade Nase war mir lieb und teuer.

Oliver wiederum seufzte nur schwer und versetzte dem Rasen einen schlecht gelaunten Tritt.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Nächstes Mal klappt’s.«

Wenn es ein nächstes Mal gibt, dachte ich. Die Besitzer waren offensichtlich unzufrieden, ihr vorheriger Optimismus dahin, geblieben nur Ärger und Frust, die sich vorwiegend gegen den Trainer und seinen Vater richteten.

Zu fünft gingen wir nicht wie erhofft zum Absattelplatz für den Sieger, sondern dorthin, wo den Mitgelaufenen ihre Sättel abgenommen wurden, und warteten auf die Rückkehr von Pferd und Reiter. Ryan steigerte sich wie am Abend zuvor in einen Wutanfall hinein. Zum Glück hatte er diesmal nicht mich im Visier.

Ich hätte ungern in Tonys Bügeln gestanden.

»Du warst viel zu weit hinten«, beschwerte sich Ryan laut, als Tony vom Pferd glitt. »Du hast ihm keine Chance gelassen.«

»Er hat jede Chance gekriegt«, gab Tony kalt zurück und zog seinen Sattel ab. »Als ich ihn an den vierhundert Metern gefordert hab, konnte er nicht mehr. Tank leer.«

»Unsinn«, sagte Oliver. »Du hast ihn einfach nicht vernünftig geritten.«

Das Trio schien mich und das Ehepaar Morris vergessen zu haben, die dem Chadwick-Familienstreit bestürzt zuhörten.

Tony sah seinen Bruder und seinen Vater an. »Für euch reite ich nie wieder. Eurer Meinung nach zeigt jedes Pferd, das ihr heutzutage laufen lasst, eine schwache Leistung. Ich empfehle euch, mal in den Spiegel zu schauen, bevor ihr andere anmeckert.« Und während ihnen das noch in den Ohren klang, wandte er sich ab und verschwand im Waageraum.

Ob jetzt ein günstiger Zeitpunkt wäre, ihn nach Declans gebrochener Nase zu fragen?