M ichelle und Mike Morris gingen ihren Kummer in der Besitzerbar ertränken, während ich vor dem Waageraum herumlungerte und auf Tony wartete.
Laut Rennprogramm hatte er an diesem Nachmittag keine Ritte mehr, und doch tauchte er erst nach dem vierten Rennen wieder auf.
In der Zwischenzeit gewann ein Pferd von Declan das zweite, was Ryans Laune wahrscheinlich nicht gerade hob. Ich beobachtete, wie Joe das Pferd zum Absattelplatz für den Sieger führte, und er hatte sogar etwas wie ein Lächeln im Gesicht. Wunder gibt es immer wieder!
Tony kam in einem grünen Polohemd und heller Chino aus dem Waageraum und ging geradewegs zum Ausgang und zum Jockey-Parkplatz. Hätte ich nicht aufgepasst, wäre er mir glatt entwischt.
»Tony«, rief ich laut hinter ihm her.
Er stockte und drehte sich um, aber da ihm anzusehen war, dass er nicht auf einen Plausch stehen bleiben wollte, eilte ich neben ihm her.
»Pech für Momentum«, sagte ich. »Ihr Vater ist sehr verärgert.«
»Mein Vater ist neuerdings immer verärgert«, antwortete er. »Er hätte nicht so früh in Rente gehen sollen. Harry Wragg hat erst mit beinah achtzig seinen Stall dem Sohn übergeben. Dad hätte es auch so machen sollen.«
»Er engagiert sich aber doch noch sehr.«
»Zu sehr, wenn Sie mich fragen. Er sollte Ryan alleine machen lassen, ob er klarkommt oder nicht. Wohl eher nicht, wie’s im Augenblick aussieht. Prince of Troy war seine einzige Hoffnung, und der ist jetzt weg.«
»Loszulassen fällt Ihrem Vater sicher schwer, wenn er noch am Platz wohnt und der Stall ihm noch gehört.«
»Das war sein großer Fehler. Er hätte ihn verkaufen sollen. So sah es aus, als ob er Ryan einfach alles in den Schoß wirft, und das gab jede Menge böses Blut.«
»Bei wem denn?«, fragte ich.
»Declan zum Beispiel.«
»Bei Ihnen auch?«
Er stockte plötzlich und sah mich an.
»Warum stellen Sie mir diese ganzen Fragen?«
»Ich möchte herausfinden, warum Prince of Troy gestorben ist.«
»Und was hat das damit zu tun, dass mein Vater Ryan seinen Stall vermacht hat?«
Alles, dachte ich.
»Ich versuche nur die Familiendynamik der Chadwicks zu verstehen.«
»Sie schnüffeln wohl eher. Ich muss los.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte ich. Da er nur abwinkte und weiterging, rief ich sie ihm nach: »Warum hat Ryan in Doncaster Declan die Nase gebrochen?«
Er blieb stehen und kam zu mir zurück.
»Vorsicht«, sagte er leise. »In Ihrem eigenen Interesse – manche Fragen stellt man besser nicht.«
»Wollen Sie mir drohen, Tony?«
»Nein, ich warne Sie nur. Fragen Sie das nicht noch mal.«
»Schon gut«, versicherte ich ihm. »Wenn Sie mir jetzt die Antwort geben, frag ich nicht noch mal.«
Er starrte mich nur an.
»Worüber schweigen Sie alle?«
»Das geht Sie nichts an.«
Er drehte sich wieder um und ging zum Rennbahnausgang.
Alles wird rauskommen. Die Schande ertrage ich nicht.
Es musste etwas Großes sein, dachte ich, wenn es diese Familie einte, die sonst alles auseinanderriss.
Ich wartete an der Rezeption, als Mrs Williams um kurz vor sechs noch in ihrer Tattersalls-Uniform, aber mit einer Reisetasche im Bedford Lodge Hotel erschien.
»Mit der Tasche bin ich heute Morgen zur Arbeit gekommen«, sagte sie lächelnd. »Damit ich nicht zum Umziehen nach Hause muss. Alle haben gefragt, wo ich hinwollte.«
»Was hast du geantwortet?«
»Ich würde übers Wochenende Bekannte besuchen. Aber ich glaube, sie wussten alle, dass du das bist.«
»War das so offensichtlich?«
»Beim Pferderennen gestern Abend vielleicht«, sagte sie. »Und die Frauen in den Park Paddocks heute Morgen hast du auch schwer beeindruckt.«
Sie freute sich, und ich freute mich für sie.
»Möchtest du an der Bar was trinken?«, fragte ich.
»Ich zieh mich erst mal um«, sagte sie. »In der Uniform sollen wir eigentlich nicht öffentlich was trinken.«
»Hast du gestern Abend doch auch.«
»Ja, aber das war unverhofft und auf den letzten Drücker. Außerdem übernachten wegen der Rennen vielleicht Kunden von uns hier.«
Also gingen wir Hand in Hand auf mein Zimmer, und ich trug ihre Tasche.
»Soll ich rausgehen?«, fragte ich für den Fall, dass sie beim Umziehen keine Zuschauer haben wollte.
»Ach was. Ich zieh mich im Bad um.«
Sie ging ins Bad und schloss die Tür, und während ich wartete, schaltete ich den Fernseher an, um die Sechsuhrnachrichten zu schauen. Aber wie so oft für mein Gefühl bestanden die »Nachrichten« vorwiegend aus als Fakten präsentierter BBC -Meinung. Ich schaltete sie wieder aus.
»Alles klar?«, rief ich Kate zu.
»Komme gleich«, rief sie zurück.
Die Badezimmertür öffnete sich, und sie kam heraus, war aber noch keineswegs für einen Drink in der Bar gekleidet.
Sie trug lediglich einen Hotelbademantel, der offen stand und die ganze Pracht im Inneren enthüllte.
»Wow!«, sagte ich.
Etwa anderthalb Stunden später genehmigten wir uns den Drink in der Hotelbar.
Unser Sex war eine Mischung aus Entdeckungsreise und menschlichem Urverlangen gewesen. Wir schnauften und keuchten viel, aber wir lachten auch, und als es vorbei war, lagen wir nackt und schweißnass ineinander verschlungen in glücklicher Zufriedenheit da.
»Gott, das hab ich gebraucht«, sagte Kate. »Es war lange her.«
»Bei mir auch«, stimmte ich bei.
Wie lange genau, fragten wir nicht. Es spielte keine Rolle.
»Ich hätte Champagner und Erdbeeren bestellen sollen«, sagte ich.
»Wieso Erdbeeren?«
»Laut Richard Gere in Pretty Woman unterstreichen sie den feinen Geschmack des Champagners.«
»Den Film liebe ich einfach«, sagte Kate und stützte sich mit einer Drehung auf die Ellbogen. »Besonders den Teil, wo Julia Roberts wieder in den Laden zu den beiden Tussis geht, die fies zu ihr waren, und ihre ganzen Einkaufstüten hochhält: ›Sie bekommen doch Provision, oder? Ein blöder Fehler. Blöd! Idiotisch!‹«
Wir diskutierten ein wenig darüber, welche Episode aus dem Film die beste sei, und einigten uns schließlich auf die Szene am Schluss, wo der Ritter (Edward) mit gezücktem Schwert (Schirm) auf seinem weißen Pferd (im offenen Verdeck einer weißen Stretchlimo stehend) erscheint, um ein Seil (die Feuertreppe) emporzusteigen und die Prinzessin (Vivian) aus dem Turm der bösen Königin (Wohnblock) zu retten.
Was waren wir doch für zwei Softies. Und wir waren es gern.
»Champagner?«, fragte der Barmann. Es war derselbe, der auch am Mittwochabend Dienst gehabt hatte.
»Ja, bitte«, sagte ich. »Und ein paar Erdbeeren.«
Kate fing an zu kichern, und das steckte mich an.
Wir tranken eine Flasche Champagner, aßen ein ganzes Schälchen Erdbeeren dazu und entschieden uns dann doch gegen den Zimmerservice und für ein Dinner-à-deux im Squires Restaurant.
Wir ließen uns Zeit und genossen das Zusammensein und den Wein in der schönen Gewissheit, was es zum Nachtisch geben würde.
»Was hast du heute auf der Rennbahn gemacht?«, fragte Kate beim Hauptgang.
Ich erzählte ihr vom Rennen des wilden Momentum und den diversen Begegnungen mit Oliver, Ryan und Tony.
»Die arme Janie«, sagte Kate. »Toll geht’s ihr nicht, seit Ryan übernommen hat. Und ich weiß, dass der Brand und Zoes Tod ihr arg zugesetzt haben.«
»Hat sie eine Theorie, wie es dazu gekommen ist?«
»Ich glaube, sie versucht es ganz aus ihrem Denken auszuklammern. Sie war so fertig wegen der armen Pferde, und dann zu hören, dass Zoe auch da drin war, gab ihr den Rest.«
Mir fiel ein, wie ihr bei der bloßen Erwähnung des Feuers die Tränen gekommen waren.
»Sie kannte Zoe also recht gut?«
»›Gut‹ würde ich nicht sagen, jedenfalls nicht in den letzten Jahren. In der Schule kannte sie sie etwas besser. Eine Zeit lang war Janie wie eine große Schwester zu ihr, aber sie hat sich auch über sie geärgert.«
»Wieso?«
»Zoe war ziemlich gestört. Sie erfand Sachen über Leute. Und sie hat sich selbst verletzt, mit einer Rasierklinge an den Armen und so. Janie hat sie immer gesagt, das seien ihre Brüder gewesen, aber einmal hat sie einer Lehrerin erzählt, das sei Janies Werk. Im Nu hatten wir den Kinderschutz im Haus. Ich glaube, danach war Schluss mit der Freundschaft.«
»Morgen besuche ich Zoes Mann«, sagte ich.
»Sieh an. Weswegen denn?«
»Gute Frage. Ich habe einfach das Gefühl, irgendwas muss er wissen. Deshalb möchte ich sehen, wie er reagiert, wenn ich hinkomme.«
»Wohin?«
»Ealing«, sagte ich.
»Weiß er, dass du kommst?«
»Nein.« Ich lächelte. »Ich versuch einfach mein Glück und schau, ob er da ist.«
»Und wenn nicht?«
»Dann bin ich umsonst gefahren«, sagte ich. »Aber ich will sowieso ein paar Sachen aus meiner Wohnung holen, Kleidung zum Beispiel. Vielleicht bleibe ich auch Samstag über Nacht, damit die Nachbarn merken, dass ich nicht endgültig verduftet bin.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte sie interessiert.
Mein erster Gedanke war, Nein zu sagen. Zum einen wollte ich sie nicht direkt in mein Tun und Lassen einbeziehen, da ich befürchtete, es könnte schlimm danebengehen. Und zweitens wusste ich nicht genau, in welchem Zustand ich meine Wohnung zurückgelassen hatte. Meistens war der nicht besonders, gerade an einem Montagmorgen, und da war ich abgereist.
»Ich könnte mich um die Kinder kümmern, während du mit Peter Robertson sprichst.«
»Hast du denn am Wochenende nichts vor?«
»Nichts Unabänderliches. Und ich hätte Lust auf einen Abend in London. Wir könnten uns vielleicht was ansehen.«
Sie war so aufgeregt. Wie hätte ich Nein sagen können?
»Okay, dann komm mit. Was möchtest du denn gerne sehen?«
»Ein Musical. Geht nichts drüber.«
Es folgte ein längerer Austausch darüber, welches das beste Musical war, das wir je gesehen hatten, und als wir schließlich den Speiseraum verließen, sang sie »Don’t cry for me, Argentina«, um mir zu beweisen, dass es der beste Song war, der je geschrieben wurde.
Ich gab mir alle Mühe, sie auszublenden.
Jedenfalls, bis wir in mein Schlafzimmer kamen, von da an gab es kein Ausblenden mehr.
Unser zweites Mal war entspannter, langsamer und leidenschaftlicher. Das Bedürfnis war noch da, der Hunger aber weniger verzweifelt.
Ich strich mit den Fingerspitzen über ihre nackte Haut, bis sie vor Erregung und Erwartung zitterte, dann drückte ich sie fest an mich in dem Wunsch, mich wie nie zuvor eins mit einem anderen Menschen zu fühlen.
Das Gefühl war so stark und die körperliche Anstrengung so groß, dass ich erschöpft und ausgelaugt zurückblieb.
»Das war wunderbar«, sagte Kate.
Sie hatte recht.
Wir lagen nebeneinander auf dem Rücken und hielten uns im Dunkeln an den Händen. Entspannt, glücklich und erfüllt schlief ich schließlich ein.
Am Samstagmorgen nahmen Kate und ich den 10 :47 er-Zug von Cambridge nach London. Ich checkte im Hotel aus, obwohl die Empfangsdame mir mitteilte, dass mein Zimmer bis Ende der kommenden Woche gebucht und der Preis für diesen Zeitraum vereinbart worden sei.
Gute alte Georgina, dachte ich.
»Es kann sein, dass ich morgen wiederkomme«, erklärte ich der Empfangsdame, »aber heute Abend muss ich weg, und in meinen Augen wäre es Verschwendung, das Zimmer zu behalten, wenn niemand darin schläft.«
Ich zahlte die Hotelrechnung zum Rabattpreis mit der Simpson-White-Kreditkarte und versprach, so bald wie möglich Bescheid zu geben, ob ich wiederkäme.
»Ich kann nicht garantieren, dass Sie dasselbe Zimmer bekommen«, sagte die Empfangsdame.
Schade, dachte ich. Ich hatte es doch ziemlich lieb gewonnen.
Mein Fahrer folgte uns im Mercedes, als Kate mit mir in ihrem Mini-Cabrio nach Six Mile Bottom fuhr. Sie bog in die Einfahrt eines von der Hauptstraße zurückgesetzten viktorianischen Backsteinhauses ein.
»Das war mal ein Wildhüterhäuschen«, sagte sie. »Irgendwann in den 1970 ern wurde es zu einem Zweifamilienhaus umgebaut. Und mein Herz hängt dran.«
Ich sah mich kurz in Kates Hälfte um, während sie die Tatts-Uniform in ihrer Reisetasche gegen einen von ihr sogenannten »schicken Fummel« tauschte.
»Ich möchte ja nicht wie ein Landei aussehen, wenn ich ins Theater gehe«, erklärte sie dazu.
Wie ein Landei sah sie für mich in dem dunkelblauen Rollkragenpullover und der weißen Hose ganz bestimmt nicht aus. Der Fahrer setzte uns beide am Bahnhof Cambridge ab, und im Zug ging ich mit meinem USB -Dongle ins Internet. Eine Mail von ASW verriet mir Peter Robertsons letzte bekannte Adresse, und eine Mail des Rechercheteams, was sie über das Bankkonto der Robertsons herausgefunden hatten, nämlich herzlich wenig. Das einzig Interessante, das sie zutage fördern konnten, war die Bewertung »ausreichend« durch eine Auskunftei, als sie kürzlich beim Wohnungsamt Ealing den Umzug in eine größere Wohnung beantragt hatten.
»Ausreichend« als Einschätzung der Kreditwürdigkeit deutete darauf hin, dass die Robertsons keine größeren Schulden hatten und ihre Rechnungen meist pünktlich zahlten. Ich fragte mich, wie das sein konnte bei jemandem, den Oliver als Drogensüchtigen und schlechtesten Immobilienhändler der Welt bezeichnete.
Auch dazu gab es eine Notiz von den Zauberlingen. Sie hatten bei ein paar Westlondoner Maklerkontakten herumgefragt und in Erfahrung gebracht, dass Peter Robertson wohl keiner größeren Agentur angeschlossen war, sondern selbständig arbeitete. Über von ihm verkaufte Immobilien hatten sie nichts finden können. Erstaunlicherweise muss man offenbar keine beruflichen Qualifikationen vorweisen, um sich Immobilienmakler nennen zu dürfen.
Als Nächstes loggte ich mich per Dongle bei einem Kartenbüro im West End ein.
»Zwei stornierte Karten für Das Phantom der Oper hätten sie«, sagte ich. »Reihe F im Parkett Mitte. Gut so?«
»Das hab ich schon gesehen«, antwortete Kate.
»Ich auch, ist aber schon länger her. Was meinst du?«
»Ja«, sagte sie entschieden. »Gute Liebesgeschichten mag ich. Jetzt besonders.«
Ich buchte die Plätze und brachte nicht groß zur Sprache, dass die Liebe des Phantoms zu Christine unerwidert blieb.
Der Zug fuhr um halb zwölf in die King’s Cross Station ein, und wir nahmen die U-Bahn nach Neasden und gingen die letzten paar Hundert Meter zu meiner Wohnung in dem unscheinbaren vierstöckigen Apartmenthaus am Bermans Way zu Fuß.
»Sei gewarnt«, sagte ich beim Aufschließen. »Es ist nicht besonders sauber bei mir.«
»Quatsch«, sagte Kate. »Bestimmt ist alles tipptopp.«
Ein bisschen störte sie sich dann aber doch an dem Stapel schmutzigen Geschirrs in der Spüle, das teilweise ein feiner grüner Schimmelbelag überzog.
»Mitnehm-Vindaloo vom Sonntagabend«, erklärte ich. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich die ganze Woche wegbleibe.«
»Immer das Unerwartete erwarten«, sagte sie, was für meinen Geschmack viel zu sehr nach ASW klang.
Ich spülte das Geschirr, während Kate für geschlagene dreißig Sekunden die Wohnung besichtigte. Dann kam sie wieder in die Küche, die eigentlich nur eine vom Wohnzimmer abgehende Nische war.
»Hübsch«, sagte sie. »Eigentumswohnung?«
»Nein. Gemietet. Ich will mir aber schon was Eigenes suchen. Endlich rauf auf die Eigentumsleiter. Hätte ich schon längst machen sollen. Als ich vor sieben Jahren hier eingezogen bin, dachte ich, es wäre ein Übergang, aber dann bin ich geblieben. Wohl aus Bequemlichkeit.«
»Für einen Junggesellen ist es doch okay.«
»Deswegen sollte ich umziehen. Ich will kein Junggeselle bleiben.«
Sie sah mich an. »Gut.«