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N icht Peter Robertson erschien an der Wohnungstür, als ich am Samstagnachmittag um halb vier bei ihm klingelte, sondern eine grauhaarige Frau, die ich auf Ende fünfzig oder Anfang sechzig schätzte.

Kate und ich hatten einige Mühe gehabt, 43  Queen Anne Court in South Ealing zu finden, doch ein freundlicher Taxifahrer wies uns schließlich in die richtige Richtung.

Queen Anne Court war ein sechsstöckiges Mietshaus aus Beton mit Gehwegen ringsum, typisch für den sozialen Wohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten dieser Betonungeheuer sind inzwischen abgerissen worden und haben ansehnlichen niedrigeren Häusern mit viel Grün Platz gemacht, aber einige sind geblieben.

Nummer 43 lag im vierten Stock und war über graffitibeschmierte offene Betontreppen an beiden Enden des Gebäudes zu erreichen.

»Ist Peter Robertson da?«, fragte ich die Frau.

»Er ist einkaufen«, sagte sie. »Dauert nicht lange.« Sie schaute den Gehweg rauf und runter, aber da war niemand zu sehen. »Sind Sie von der Gemeinde?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin Anwalt.«

Das war offenbar kein gutes Stichwort.

»Anwälte können uns gestohlen bleiben«, sagte die Frau aggressiv. »Seit es in der Zeitung stand, wimmelt’s hier von euch und belästigt ihr uns.«

»Was stand in der Zeitung?«, fragte ich.

»Na, dass Zoe tot ist«, sagte sie. »Alle wollen Schadenersatz für uns rausholen – als könnte Geld die Kinder irgendwie dafür entschädigen, dass sie ihre Mutter verloren haben.«

»Ich biete keine Entschädigung«, sagte ich. »Ich vertrete Declan Chadwick.«

Damit hatte ich prompt ihre Aufmerksamkeit.

»Sie sollen uns wieder kaufen, was?«, sagte sie noch giftiger, als sie von den Schadenersatzanwälten gesprochen hatte.

»Nein«, erwiderte ich. »Mir geht es darum, die Wahrheit herauszufinden.«

»Die Chadwicks würden die Wahrheit nicht mal erkennen, wenn sie eine Ohrfeige von ihr kriegten.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte ich.

»Weil ich dazugehöre«, sagte sie. »Ich bin Yvonne Chadwick, Zoes Mutter.«

 

Yvonne bat uns nicht herein, erlaubte uns aber, draußen zu warten, bis Peter vom Einkaufen wiederkam, und das hätten wir uns auch nicht verbieten lassen.

»So was Deprimierendes«, meinte Kate, während wir ausharrten. »Graffiti, Graffiti, und ist dir das im Treppenhaus aufgefallen? Iih!«

Damit meinte sie wohl die Abfallhaufen und den überwältigenden Gestank von Rattenurin.

»Aber besser als unter einem Bahnbogen in Croydon«, antwortete ich. »Da haben sie ja vorher gewohnt.«

Peter Robertson erschien mit einer Basecap der New York Yankees auf dem Kopf und einer Supermarkt-Plastiktüte vor der Brust. Einen Moment lang dachte ich, er würde die Tüte fallen lassen und abhauen, doch er behielt die Nerven und kam langsam über den Gehweg auf uns zu.

»Was wollen Sie?«, fragte er barsch zur Begrüßung.

»Tag, Pete«, sagte ich fröhlich. »Harry Foster ist mein Name. Ich bin Anwalt und vertrete Declan Chadwick.«

»Und ich bin Catherine Logan«, stellte sich Kate mit ihrem Mädchennamen vor. »Ich bin mit Zoe zur Schule gegangen. Wir möchten Ihnen helfen.«

»Helfen?«, wiederholte er. »Wie denn?«

»Sollen wir reingehen?«, fragte ich. »Drinnen redet sich’s leichter.«

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloss uns auf. Wir traten ein, von der Tür direkt ins Wohnzimmer, und sofort wurde Peter von seinen Töchtern belagert.

»Daddy, Daddy, was hast du uns mitgebracht?«, schrien sie wie aus einem Mund.

Peter griff in die Einkaufstüte und zog triumphierend zwei zur Kühlung in Zeitungspapier eingeschlagene Eislutscher hervor.

»Und bekleckert euch nicht die Kleider«, sagte er bei der Übergabe. »Dann bleibt jetzt mal schön hier bei Omi, während ich mit dem Mann rede.«

Er bedeutete mir mit dem Kopf, ihm in die Küche zu folgen. Kate blieb bei Yvonne und den Mädchen.

»Reizende Töchter«, sagte ich. »Wie heißen sie?«

Das wusste ich zwar schon, aber es sollte nicht aussehen, als hätte ich seine Familie recherchiert.

»Poppy und Joanne«, sagte er und leerte die Tasche auf dem Küchentisch, ehe er die Sachen in Kühlschrank und Schränken verstaute. »Poppy ist neun und Joanne sieben. Meine Engelchen.«

»Es ist sicher schön, dass auch die Großmutter da ist und sich mit um sie kümmern kann.«

Peter warf mir einen Blick zu, mit dem vermutlich jeder Mann schon einmal seiner Schwiegermutter gedacht hat. Ich hätte beinah gelacht.

»Sie ist gestern gekommen«, sagte er. »Ich hab ihr aber gesagt, dass ich sie nicht hierhaben will und dass sie morgen nach Hause fahren muss. Ich komme mit den Mädchen wunderbar allein zurecht. Schon fast, seit sie auf der Welt sind. Zoe war hoffnungslos. Wenn sie nicht gerade in der Klinik war, hat sie sich oft allein davongemacht. Manchmal nur für eine Nacht, manchmal für zwei. Aber auch, wenn sie hier war, kam sie nicht ganz klar.«

Er nahm die Baseballkappe ab und hängte sie an einen Haken neben der Tür. Ich hatte vergessen, dass Janie mir gesagt hatte, er sei kahl, sah jetzt aber, dass ihm nur ein dunkler Haarkranz am Hinterkopf geblieben war.

»Was wollen Sie denn nun?«, fragte er. »Die Polizei sagt, sie hat Declan Chadwick wegen des Mordes an meiner Frau verhaftet, warum sind Sie also nicht in Newmarket und holen ein Geständnis aus ihm raus, statt mich und meine Kinder zu behelligen?«

»Weil er es nicht war«, erwiderte ich.

»Sind Sie sicher?«

»Ja«, sagte ich. »Ganz sicher.«

»Warum lässt ihn die Polizei dann nicht frei?«

»Sie hat ihn freigelassen.«

»Aber nicht ganz. Es wird noch gegen ihn ermittelt.«

»Wenn die Polizei ihn für den Täter hielte, hätte sie ihn inzwischen beschuldigt.«

»Wer hat sie denn dann umgebracht?«, fragte er.

»Das weiß ich nicht. Deshalb bin ich hier. Waren Sie es?«

»Das hat mich die Polizei auch gefragt.«

»Dachte ich mir. Und was haben Sie geantwortet?«

»Die Wahrheit hab ich ihnen gesagt. Dass ich hier vorigen Sonntag auf die Mädchen aufgepasst habe. Mein Nachbar, Jerry, kam mit seiner Tochter vorbei, und die hat mit meinen beiden gespielt, während er und ich uns den letzten Ligatag im Fernsehen reingezogen haben. Wir sind Palace-Fans. Um halb acht ist er mit seiner Tochter nach Hause. Danach war ich mit meinen beiden hier allein.«

»Wann ist Zoe weg?«

»Das hat mich die Polizei auch gefragt.«

»Und?«

»Ich hab ihnen gesagt, dass sie den ganzen Sonntagmorgen nicht hier war. Am Samstag auch nicht. Irgendwann am Freitagabend ist sie weg. Ich war vorm Fernseher eingeschlafen, und als ich aufgewacht bin, war sie fort.«

»Waren Sie nicht beunruhigt?«, fragte ich.

»Nicht sonderlich. Sie hat das ja dauernd gemacht.«

»Wo ist sie dann hin?«

»Überall und nirgends. Ein paarmal hat die Polizei sie nach Hause gebracht. Einmal haben sie sie schlafend an einer Bushaltestelle aufgefunden. Ein andermal in der Notaufnahme des Krankenhauses in Ealing. Nicht verletzt oder so, sie hatte sich da nur ins Wartezimmer gesetzt, um zu schlafen. Das hat sie ziemlich oft gemacht, bis sie es geschnallt und unterbunden haben.«

Er war viel gesprächiger, als ich erwartet hatte. Und auch entspannter.

»Aber letztlich ist sie immer nach Hause gekommen?«, fragte ich.

»Ja. Es war, als würden ihr, wenn sie woanders war, wenigstens für einige Zeit die Dämonen ausgetrieben. Sie kam immer froh und glücklich nach Hause. Dann ging es ihr gut.«

Er hatte Tränen in den Augen.

»Nahm sie Drogen?«, fragte ich.

»Die ganze Zeit«, sagte er. »Antidepressiva und Angstvertreiber in rauen Mengen. So wenig es auch genützt hat.«

»Ob sie, wenn sie verschwand, auch was anderes genommen hat, meinte ich. Illegale Drogen?«

»Ich nehme es stark an«, sagte er. »Sie hat’s aber immer abgestritten, und ich wollte ihr glauben. Wir kannten das von früher, Koks hauptsächlich, sie wusste also, wo es zu kriegen war.«

»Von früher?«, fragte ich.

»Von früher, ja«, antwortete er heftig. »Jetzt bin ich clean, und ich hab gehoff‌t, Zoe wäre es auch. Ich hab seit über fünf Jahren keins mehr gezogen.« Er lachte. »Diese Woche hätte ich große Lust dazu gehabt, das kann ich Ihnen sagen.«

»Aber diesmal kam Zoe nicht wie gewohnt nach Hause?«

»Nein.« Er schluckte schwer, um die Tränen zurückzuhalten. »Als sie am Montag immer noch nicht da war, wurde ich ein bisschen nervös. Zum Wochenanfang hat sie gern die Kinder zur Schule gebracht. Am Dienstagmorgen war ich ernstlich beunruhigt. Vier Nächte nacheinander war sie noch nie weggeblieben.«

»Haben Sie die Polizei verständigt und sie vermisst gemeldet?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er unverblümt. »Die Polizei und ich liegen manchmal über Kreuz. Und ich dachte ja auch, sie kommt wieder. Wie sonst auch immer.«

»Aber Arabella Chadwick haben Sie angerufen«, sagte ich. »Ich war dabei.«

Er sah mich an. »Ich hab gehört, sie ist jetzt auch tot.«

»Ja«, sagte ich. »Sie auch. Aber warum haben Sie sie angerufen?«

Er seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich war so beunruhigt, ich musste mit jemandem sprechen. Arabella, die war mal hier. Kurz vor Weihnachten, an einem Sonntag. Sie mochte die Mädchen und sagte, sie wollte uns etwas besser kennenlernen. Familie muss doch zusammenhalten und so. Aber es war kein guter Tag. Zoe war sehr aufgewühlt und hat ihr ein paar unangenehme Wahrheiten über die Familie Chadwick an den Kopf geworfen.«

»Was für unangenehme Wahrheiten?«, fragte ich.

Peter hielt sich plötzlich zurück. Würde auch er das große Geheimnis wahren?

»Nichts weiter«, sagte er. »Hauptsächlich ging’s um ihre Kindheit in Newmarket.«

Ich entschied, dass die Zeit für Nettigkeiten vorbei war.

»Um dieselben Sachen, mit denen Sie Oliver Chadwick erpressen?«

Er starrte mich an.

»Na los, Peter«, sagte ich. »Schauen Sie sich doch hier um. Nette Einrichtung, Großbildfernseher mit Satellitensportkanälen, keine Schulden, Mädchen in hübschen Kleidern. Wo kommt das Geld her, Peter? Von Ihrem Job mal nicht. Wie viele Häuser haben Sie in letzter Zeit verkauft?«

»Sie sollten jetzt gehen«, sagte er.

»Ich bin nicht die Polizei, wie Sie wissen. Von den Chadwicks halte ich ebenso wenig wie Sie. Reden Sie mit mir. Ist Zoe deshalb gestorben? Hat sie mehr Schweigegeld verlangt und deshalb dran glauben müssen?«

»Ich sagte, Sie sollten jetzt gehen.«

»Worum geht’s, Peter?«, fragte ich ihn energisch. »Was ist so schlimm, dass Familienmitglieder, die einander derart hassen, im Schulterschluss zusammenstehen, damit es geheim bleibt?«

»Raus!«, schrie er mich an.

Die beiden Mädchen kamen mit besorgten Gesichtern in die Küche gelaufen.

»Schrei doch nicht, Daddy«, sagte Poppy. »Das macht uns Angst.«

»Gehen Sie bitte«, sagte Peter ruhig, aber entschieden zu mir. »Jetzt gleich.«

»In Ordnung«, sagte ich. Ich nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf die Anrichte. »Wenn Sie mich noch einmal sprechen möchten, rufen Sie bitte an.«

Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Kate saß neben Yvonne auf dem Sofa. »Komm, Catherine«, sagte ich. »Wir gehen.«

Sie stand auf.

»Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen«, sagte Kate.

»Und umgekehrt, meine liebe Catherine«, antwortete Yvonne. »Schlimm, dass es unter so traurigen Umständen sein musste. Grüßen Sie Ihre Schwester herzlich von mir.«

»Danke. Mach ich.«

Kate und ich traten hinaus auf den umlaufenden Balkon, und Peter Robertson schloss fest die Tür hinter uns.

»Was hab ich denn da verpasst?«, fragte ich, als wir davongingen.

»Yvonne hat mich daran erinnert, dass sie mal bei uns zu Hause war, um Zoe abzuholen. Ich war auch da und hab sie kennengelernt. Sie erinnert sich noch gut an Janie und ist froh, dass Zoe wenigstens eine Freundin im Leben gehabt hat. Ach, ist das traurig.«

»Hat sie sonst noch was gesagt?«, fragte ich.

»Die Klinik sei Zoe nicht gut bekommen, hat sie gesagt, so gern die Chadwicks sie auch drin gelassen hätten. Laut Yvonne hat Oliver für Zoes erste Zwangseinweisung gesorgt, und sie behauptet, er hat’s hinter ihrem Rücken getan. Anscheinend war ein mit Oliver befreundeter Psychiater bereit, Zoe allein aufgrund ihres Verhaltens für schizophren zu erklären. Er hat sie weder untersucht noch mit ihr gesprochen.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte ich.

»Schlimmer«, antwortete Kate. »Der Arzt hat auch behauptet, Zoe sei eine Gefahr für sich selbst und müsse stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden.«

»Wann war das?«

»Kurz nachdem man sie in Croydon gefunden hatte.«

Vielleicht hatte Oliver getan, was ihm für seine Tochter das Beste schien. Der Klinikaufenthalt hielt sie wenigstens vom Kokain fern.

»Yvonne sagt, sie hat das erst Jahre später erfahren, nach ihrer Scheidung.«

»Wie hat sie’s erfahren?«, fragte ich.

»Zoe warf ihr vor, sie hätte da mitgespielt. Zoe hatte es anscheinend aus der Krankenakte und hat ihre Mutter damit konfrontiert.«

»Hat Yvonne dir gesagt, wer ihrer Meinung nach ihre Tochter umgebracht hat?«

»Das nicht, aber sie hat etwas gesagt, das ich merkwürdig fand. Die Chadwick-Männer, meinte sie, hätten Zoe schon vor langer Zeit umgebracht. Was wollte sie wohl damit sagen?«

»Vielleicht dachte sie, als Zoe damals verschwand und die große Suchaktion der Polizei lief, einer von ihnen hätte sie umgebracht.«

»Glaub ich nicht«, sagte Kate langsam. »Das passt doch nicht zusammen. Es war brutaler.«

»Weißt du noch genau, was sie gesagt hat?«

Sie überlegte einen Moment.

»Ja. Die Chadwick-Männer hätten Zoe von klein auf umgebracht. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihre Leiche auf‌tauchte.«