D as Phantom der Oper war ganz so, wie ich es in Erinnerung hatte – alles, was ich mir erhofft hatte.
Vom Zimbeln schlagenden mechanischen Äffchen am Anfang bis zur dramatischen Auflösung im unterirdischen Labyrinth des Phantoms am Ende waren Kate und ich verzaubert, und als Raoul und Christine gemeinsam Mehr will ich nicht von dir sangen, war mir, als sängen sie das nur für uns:
Gib mir Liebe, um mir Kraft zu geben!
Gib mir Liebe, teil mit mir mein Leben!
Bleib für immer!
Ich bleib bei dir.
Liebe, mehr will ich nicht von dir.
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Jeder weiß, dass du in der Tinte sitzt, wenn du anfängst, an Texte von Liebesliedern zu glauben!
Anschließend gingen wir im The Ivy in Covent Garden essen, summten an unserem Ecktisch immer noch leise die Songtexte und ließen die tolle Vorstellung in uns nachwirken.
»Das war fabelhaft«, sagte Kate. »Viel besser, als ich es in Erinnerung hatte. Kaum zu glauben, dass es immer noch im selben Theater läuft, wie als ich drei war.«
»Es ist zeitlos«, stimmte ich bei.
Sie bestellte gedünsteten Seebarsch, und ich entschied mich für ein Curry mit Riesengarnelen.
»Wusstest du«, sagte Kate, »dass die Speisenauswahl, die einer trifft, viel über ihn aussagt?«
»So ein Unsinn«, wehrte ich ab.
»Wenn ich es doch sage. Ich hab das in einem Gesundheitsmagazin gelesen. Es ging von den Recherchen eines Arztes aus.«
»Und du meinst, dann muss es stimmen?«, fragte ich belustigt.
Sie beachtete mich nicht. »Wie jeder weiß, sind wir, was wir essen, ja? Was wir sind, muss demnach doch auch bedingen, was wir essen, oder?«
»Was bin ich denn dann?«, fragte ich.
»Du isst offensichtlich gern scharf. Heute das Curry, vorigen Sonntag war’s Indisch zum Mitnehmen.«
»Das stimmt so weit. Ich liebe scharfes Curry.«
»Gut. Dem Artikel zufolge sind Leute mit einer Vorliebe für scharfes Essen risikobereit und abenteuerlustig.«
Einverstanden, dachte ich.
»Wie ist es denn dann mit dir?«, fragte ich. »Was bedeutet die Entscheidung für den Seebarsch?«
»Die bedeutet, dass ich einen Mordshunger habe und für mein Leben gern Seebarsch esse.«
Wir lachten beide, aber sie war noch nicht fertig.
»Deine Persönlichkeit spiegelt sich auch darin, wie du isst. Langsam und systematisch heißt, man ist stur; schnell und ungestüm deutet darauf hin, dass man nicht in der Lage ist, Prioritäten zu setzen.«
»Was für ein ausgemachter Stuss«, sagte ich.
Als aber unser Essen kam, achtete ich sehr darauf, weder zu langsam noch zu schnell zu essen, und als wir dann im Minitaxi heim zu mir nach Neasden fuhren, hatte ich definitiv Lust auf ein Abenteuer.
Am Sonntagabend nahmen wir den Zug zurück nach Cambridge.
»Du kannst mit zu mir kommen und bei mir wohnen, wenn du möchtest«, sagte Kate zögernd, als die Felder von Hertfordshire an den Fenstern vorbeiflogen.
»Würd ich gern«, sagte ich. »Sehr gern. Aber ich arbeite. Mein Chef würde denken, ich konzentriere mich nicht auf die Arbeit, wenn ich bei dir wohne, und recht hätte er. Ich muss vor Ort in Newmarket sein, deshalb geh ich wieder ins Hotel, aber du könntest ja mitkommen und ein oder zwei Nächte bleiben.«
»Jede Nacht, wenn du willst«, sagte sie und ergriff meine Hand. »Ich hab solche Angst, dass du weggehst und mich vergisst.«
»Ich geh nicht weg«, sagte ich. »Und ich vergess dich nicht.« Aber ich sah ihr an, dass sie nicht überzeugt war.
Mein Fahrer holte uns um zehn vor neun, als gerade die Sonne unterging, mit dem Mercedes am Bahnhof Cambridge ab.
»Eigentlich ist es doch besser, wenn ich heute Nacht zu Hause bleibe«, sagte Kate. »Ich muss Wäsche waschen und auch bügeln.« Sie schnitt ein Gesicht. »Meine Uniform ist verknittert.«
Also brachte uns der Fahrer erst nach Six Mile Bottom, ehe er mich allein zum Bedford Lodge fuhr.
Kate zurückzulassen fiel mir überraschend schwer, und ich war drauf und dran, dem Fahrer zu sagen, er solle umkehren, aber auch ich hatte Dinge zu erledigen, nicht zuletzt einen aktuellen Bericht für Simpson White. Und ich hatte vom Zug aus im Hotel angerufen, dass ich heute Abend wiederkäme.
»Willkommen zurück, Mr Foster«, begrüßte mich die Frau am Empfang, als ich eincheckte. »Erfreulicherweise können wir Ihnen noch dasselbe Zimmer anbieten.«
»Danke«, sagte ich.
»Und eine Nachricht wartet auf Sie.« Sie reichte mir ein Kuvert. »Sie ist gerade erst gekommen. Ich habe dem Anrufer gesagt, dass Sie bald wieder da sind.«
Ich ging mit Gepäck und Umschlag in mein Zimmer und öffnete ihn dort. Die Nachricht bestand lediglich aus ein paar maschinegeschriebenen Zeilen auf einem Bogen Hotelbriefpapier.
Harry, bitte kommen Sie zum alten Hof, sobald Sie wieder da sind. Ich möchte Ihnen etwas Wichtiges zeigen. Oliver
Ich sah auf meine Uhr. Schon zehn. Ich war müde. Hatte das nicht bis morgen Zeit? Aber ich dachte daran, wie viel Spaß ich mit Kate hatte, weitgehend auf Kosten von Simpson White, und fand schon, dass ich dafür noch einen kleinen Abendspaziergang auf mich nehmen konnte, zumal Kate gar nicht da war.
Vom Hotel aus ging ich die Bury Road entlang und trat durch dasselbe Tor wie bei meiner Ankunft am vergangenen Montag. Damals war der Boden von Feuerwehrschläuchen bedeckt gewesen, die jetzt aber genauso verschwunden waren wie die Überreste des ausgebrannten Stallgebäudes. Durch die entstandene Lücke konnte ich die Lichter des neuen Hofs sehen.
Die beiden verbliebenen Stallgebäude des alten Hofs lagen im Dunkeln bis auf einen Stall ganz hinten, durch dessen angelehnte Tür Licht auf den Beton fiel.
»Oliver?«, rief ich, auf das Licht zugehend. »Hier ist Harry. Was wollen Sie denn?«
Ich kam zur Stalltür und schaute hinein.
Eine große Offenbarung zum Familiengeheimnis hatte ich von Oliver zwar nicht erwartet, aber ebenso wenig hatte ich damit gerechnet, von hinten einen wuchtigen Schlag auf die Schultern zu bekommen und kopfüber durch die Tür gestoßen zu werden.
Ich flog der Länge nach auf den Boden, als hinter mir die Tür zuschlug. Von außen wurden die Riegel vorgeschoben, und ich war eingesperrt.
Verdammt, dachte ich. Das war mehr als unvorsichtig.
Und ich war nicht allein im Stall.
Der andere Insasse hatte vier Beine, einen Schwanz und eine Mähne, und ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr Angst hatte.
Ich wahrscheinlich, erst recht, als mir aufging, dass ich das Pferd kannte. Es hatte einen kleinen weißen Stern mitten auf der Stirn, mit dem es beinah aussah, als hätte es drei Augen.
Momentum. Das verrückte Pferd, das Oliver schlicht als ängstlich bezeichnet hatte. Das er gern hätte kastrieren lassen, damit es sich beruhigte, wovon seine Besitzerin aber nichts hören wollte. Zum Teufel mit Michelle Morris. Gebt mir ein Messer, und ich erledige das mit Freuden.
Momentum zog die Oberlippe hoch und entblößte eine stattliche Reihe grauweißer Grabsteinzähne. Dann scharrte er mit einem Vorderhuf am Boden und schlug die beiden echten Augen so weit auf, dass das Weiße um die großen Pupillen deutlich hervortrat. Es gefiel ihm erkennbar nicht, dass jemand in seinen Stand eindrang, und seine Absichten waren ziemlich eindeutig, zumal er heftig nach hinten gegen die Wand ausschlug und eine tiefe Narbe in der Holzverkleidung hinterließ.
»Sei schön brav«, sagte ich, vergeblich bemüht, das Entsetzen aus meiner Stimme herauszuhalten. Wo hatte ich noch gelesen, dass ein Pferd die Angst von Menschen riechen kann? Ich roch sie beinah selbst.
Da sich Momentum kreisend auf mich zubewegte, kreiste ich wie beim Tanzen von ihm weg.
»Oliver!«, rief ich. »Lassen Sie mich raus!«
Es kam keine Antwort, und die Türriegel wurden auch nicht netterweise zurückgeschoben. Da im Gegenteil mein lautes Rufen das Pferd noch mehr aufzuregen schien, hielt ich den Mund.
Ich griff nach dem Handy in meiner Tasche, wusste aber, es war nicht da. Ich hatte es zum Aufladen eingestöpselt, sobald ich in mein Hotelzimmer gekommen war.
Verdammt und noch einmal verdammt! Wie hatte ich nur so blöd sein können?
Dann ging die Deckenbeleuchtung aus.
Wenn ich gehofft hatte, die Dunkelheit würde Momentum ruhiger stimmen, lag ich falsch. Und offensichtlich konnte er mich im Dunkeln besser sehen als ich ihn.
Was hatte mir Oliver erzählt? Pferde waren ursprünglich Beutetiere. Offenbar hatten sie in Millionen Jahren der Evolution ein hervorragendes Nachtsichtvermögen entwickelt, um ihren Verfolgern immer einen Schritt voraus zu sein.
Zweimal biss mich Momentum, ehe ich auch nur merkte, dass er in der Nähe war. Erst in die Schulter, dann in den linken Unterarm, und beides war äußerst schmerzhaft.
Beim zweiten Mal versetzte ich ihm von der Seite einen harten Schlag vor den Kopf, sodass er vor Schreck laut aufwieherte und der Laut geräuschvoll von den engen Wänden widerhallte.
Ob das jemand hört?, fragte ich mich. Und würde man es in einer mit Pferden vollgestopften Stadt beachten?
Was ging hier vor?
Wollte Oliver mich wirklich umbringen oder mir nur einen Schreck einjagen? Wenn Letzteres, gelang ihm das vorzüglich.
Noch ein Toter in einem Chadwick-Stall würde sicher für einiges Stirnrunzeln sorgen, erst recht bei von außen verriegelter Tür.
Oder hatte Oliver vor, auch dieses Gebäude anzuzünden?
Der Gedanke machte mir große Angst. Zoe war wenigstens schon tot gewesen, als die Flammen sie verzehrten. Würde ich das Glück auch haben?
Wenn Momentum seinen Willen bekam, vielleicht schon.
Das Pferd und ich setzten unser Zirkelballett eine gefühlte Ewigkeit fort, wahrscheinlich aber doch nur rund zehn Minuten. Das Interesse am Beißen verlor er dabei leider nicht, aber selbst die Bisse waren der Bedrohung durch die weiter hinten ausschlagenden Hufe vorzuziehen. Wobei es meinem Gefühl nach nur eine Frage der Zeit war, bis er mich damit traf.
Ein Freund von mir hat ein Pferd mal definiert als etwas, das vorne und hinten gefährlich und in der Mitte ungemütlich ist.
Probier’s mal mit der Mitte, dachte ich. Momentum hatte sich immerhin spürbar beruhigt, als Tony ihn auf der Rennbahn bestieg.
Aber leichter gesagt als getan.
Ich hatte noch nie im Leben auf einem Pferd gesessen, und wären die Umstände nicht so ungewöhnlich und extrem gewesen, hätte das von mir aus gern so bleiben können.
Ich plante mein Herangehen.
Der Stall hatte ein kleines Fenster. Dass es von innen massiv vergittert war und kein Entkommen zuließ, hatte ich zwar schon gesehen, doch von draußen drang gerade so viel Licht herein, dass die Fensteröffnung ein wenig heller erschien als das Schwarz der Wände ringsum.
Während das Pferd und ich uns umkreisten, konnte ich an einem Punkt also seine Gestalt vor dem Fenster sehen.
Mein erster Versuch ging grässlich daneben. Es war auch fast mein letzter. Als Momentum am Fenster vorbeikam, lief ich auf ihn zu und versuchte, mich mit dem rechten Bein voran auf ihn zu schwingen, wie ich es bei vielen Indianerkriegern in alten Wildwestfilmen gesehen hatte.
Es klappte aber nicht.
Ich hatte die Größe des Pferdes im Dunkeln völlig falsch eingeschätzt. Mein Sprung war nicht hoch genug. Ich prallte an seiner Flanke ab und fand mich gleich am Boden wieder. Den Hufen ausgesetzt, rollte ich mich zusammen, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Dennoch streifte der mörderische Tritt, der dann von Momentum kam, mein rechtes Ohr, bevor er neben meinem Kopf in die Wand krachte.
Mein Ohr tat höllisch weh, und ich spürte, wie das Blut mir warm am Hals runterlief. Aber ich lebte. Gerade noch so.
Zu knapp, dachte ich. Viel zu knapp.
Schnell stand ich auf und bekam den nächsten Grabsteinbiss in die Hand, als ich wieder vor dem Tier weglief. Neues Blut.
Mein zweiter Versuch glückte insgesamt besser, wenn ich auch diesmal etwas überkompensierte und glatt über das Pferd hinweggesprungen wäre, wenn mich die Wand hinter ihm nicht am Runterfallen gehindert hätte. Ich krallte die Finger in seine Mähne und hielt mich gut fest.
Nicht, dass ihn das davon abgehalten hätte, den Kopf zu drehen und nach meinen Beinen zu schnappen. Ich beugte mich so weit vor, dass mein Oberkörper beinah flach auflag, und streckte die Beine nach hinten, damit er nicht drankam.
Anfangs versuchte er mich abzuwerfen, indem er mit dem Kopf schlug, aber ich schlang die Arme um seinen Hals und klammerte mich an ihn, als ginge es um mein Leben, was wahrscheinlich auch der Fall war. Langsam begann er, sich wie erhofft zu beruhigen.
Statt weiter im Kreis zu gehen, blieb Momentum schließlich in der Dunkelheit stehen. Er war jetzt ruhig, und sein Atem ging langsam und gleichmäßig. Irgendwo hatte ich gelesen, Pferde könnten im Stehen schlafen, und ich fragte mich, ob Momentum das jetzt gerade tat.
Bald darauf wäre ich fast selbst eingeschlafen und schreckte hoch, als ich merkte, dass ich abrutschte.
Wie lange kann ich mich so halten?, fragte ich mich. Die Pfleger würden erst um sechs Uhr früh wiederkommen. Konnte ich bis dahin wach bleiben, damit ich nicht runterfiel?
Musste ich wohl.
Also kramte ich, um wach zu bleiben, Denkspiele hervor. Mit Rechnen fing ich an und sagte im Kopf die Siebzehnerreihe auf: Einmal siebzehn ist siebzehn, zweimal siebzehn ist vierunddreißig, dreimal siebzehn ist einundfünfzig und so fort bis siebzehn mal siebzehn ist … die Rädchen drehten sich langsam … zweihundertneunundachtzig.
Dann versuchte ich es mit der Dreiundzwanzigerreihe, merkte aber, dass ich davon eher einschlief als wach blieb.
Mach was anderes.
Also ging ich im Kopf alles durch, was in der vergangenen Woche passiert war, angefangen bei Declan, wie er Zoe vorigen Sonntag am Bahnhof Cambridge abholte, bis zu der prekären Lage, in der ich mich momentan befand.
Hatte ich etwas übersehen?
Hatte jemand etwas gesagt, das zunächst ganz harmlos wirkte, jetzt aber belastend erschien?
Ich war bis Mittwochabend gekommen, zu Declans Festnahme wegen Mord, da hörte ich unglaublicherweise draußen Leute reden.
»Das ist doch reine Zeitverschwendung«, sagte eine Männerstimme ungehalten. »Ich versichere Ihnen, hier ist niemand.«
»Doch, doch«, rief ich. »Hier drin. Hilfe! Hilfe!«
Der Ruhe Momentums war mein Geschrei jedoch nicht zuträglich. Falls er geschlafen hatte, schlief er jetzt jedenfalls nicht mehr, sondern versuchte, mich wieder abzuwerfen, und rammte mein rechtes Bein dabei wiederholt gegen die Wand.
Das Licht ging an, blendete mich einen Moment und irritierte das Pferd noch mehr, sodass es heftig mit dem Kopf zu schlagen begann. Meine Hände hatten es schwer an seinem Hals.
Ich hörte das Zurückschieben der Riegel, und dann öffnete sich die Stalltür.
Immer noch auf dem Pferd, blickte ich zum Eingang. Oliver stand da mit vor Überraschung heruntergeklapptem Kinn, und hinter ihm war Kate.
»Da«, sagte sie mit Genugtuung zu Oliver. »Hatte ich doch recht, dass er hier irgendwo sein muss.«