28

I ch schlief nicht allzu gut und erwachte Dienstag früh um fünf bei Sonnenaufgang.

Mein Kopf war einfach zu sehr damit beschäftigt, Fakten herumzuwirbeln wie Kleider in einem Trockner. Und genauso verhedderten sich die Fäden.

Da Newmarket im Mai schon lange vor sechs lebendig wird, lauschte ich eine Weile den Morgengeräuschen. Kate schlief noch fest neben mir, und ich achtete darauf, sie nicht zu wecken, als ich aufstand und mich anzog.

Auf ein Blatt aus dem Hotelnotizblock schrieb ich ihr eine Nachricht und legte sie auf mein Kopfkissen.

Bin auf dem Trainingsgelände. Zum Frühstück um halb acht wieder da.

 

Ich spazierte auf den Warren Hill Gallops ganz nach oben, wo die Baumschule den Hügel krönt. Auf einem Baumstumpf sitzend, sah ich auf die Stadt hinunter, wo sich das riesige freitragende Dach der Rennbahntribüne weiß über den fernen Häusern erhob.

Die frühen Morgenstunden reizten mich sonst nicht, aber so zeitig hier oben zu sein, bevor die immer stärker werdende Sonne die letzten Nebelschwaden aus den Mulden gescheucht hatte, das war schon etwas Besonderes.

War es wirklich erst eine Woche her, dass ich dieses Gelände kennengelernt und mir im vermatschten Gras die blank geputzten schwarzen Stadtschuhe versaut hatte? So viel war inzwischen geschehen, aber ich suchte immer noch den Schlüssel zum rätselhaften Flammentod der sieben Pferde.

War es nur ein Versuch gewesen, den Mord an Zoe zu vertuschen?

Oder gab es noch einen anderen Grund?

Und warum war Zoe überhaupt dort gewesen?

Was hatte Arabella gewusst, dass sie Angst hatte, alles würde herauskommen?

Hatte es mit sexuellem Missbrauch zu tun?

Hatte Zoe wirklich mit dreizehn Jahren eine Abtreibung?

Und wenn ja, wer war der Vater?

So viele Fragen, aber herzlich wenig Antworten.

Und etwas an dem, was Janie gesagt hatte, beunruhigte mich.

Ich nahm mein Smartphone heraus und schickte dem Rechercheteam eine SMS mit zwei Fragen. Die eine war leicht, die andere wesentlich schwieriger. Die Zauberlinge gingen bekanntlich früh ans Werk und machten spät Feierabend, aber dass die Empfangsbestätigung praktisch sofort kam, überraschte mich doch.

Es war erst Viertel vor sechs.

Habt ihr kein Leben?, dachte ich.

Um sechs trafen die ersten Lots ein, und ich sah zu, wie die Pferde im leichten Galopp den Polytrack heraufkamen, wobei ihr Hufschlag auf dem Boden immer lauter wurde.

Und apropos Hufe, wer war eigentlich auf die blöde Idee gekommen, mich mit dem verrückten Momentum im Stall einzusperren?

Es hatte mich in meiner Würde verletzt. Zu mir kamen Menschen in Not, und ich tappte geradewegs in eine potenziell gefährliche Situation. In meinem Lebenslauf wollte ich das nicht unbedingt wiederfinden. ASW sagte es seinen Mitarbeitern oft genug: Wir hatten die Aufgabe, den Ruf unserer Mandanten zu schützen, vor allem aber galt es, den eigenen Ruf und den unserer Firma sauber zu halten. Ohne den waren wir nichts.

Ich sah, wie der Land Rover die Moulton Road heraufkam und anhielt. Ryan und Oliver, dachte ich, aber nur Ryan stieg aus. Oliver musste nach meiner gestrigen Enthüllung wahrscheinlich noch immer seine Frau wegen der monatlichen Zahlungen beschwichtigen.

Unwillkürlich lächelnd entschied ich, dass es Zeit war, die nächste Blendgranate zu pflanzen. Ich blieb hinter der Baumreihe in Deckung und sah zu, wie drei von Ryan konzentriert durchs Fernglas beobachtete Lots mit hellblauen Kappen und roten Bommeln den Polytrack heraufkamen.

Die Pferde absolvierten jeweils zwei Läufe auf der Bahn, dann kehrte Ryan zum Land Rover zurück und fuhr davon. Zu Oliver, um vor dem zweiten Lot seinen Kaffee zu trinken.

Ich stand auf, ging den Hang hinunter und zurück zum Bedford Lodge.

 

»Dachte schon, du hättest mich wieder sitzenlassen«, sagte Kate, als ich hereinkam.

»Niemals!«, erwiderte ich. »Ich brauchte nur etwas Raum zum Nachdenken.«

»Hat’s genützt?«

»Nicht so richtig.«

»Dann hättest du hier bei mir bleiben sollen«, sagte sie ein wenig vorwurfsvoll.

»Entschuldige«, antwortete ich. »Lust auf Frühstück?«

»Ehrlich gesagt, bin ich noch ziemlich satt vom Chinesen gestern Abend. Aber für einen Kaffee könnte ich morden.«

Morden, dachte ich.

Ich musste im Kopf behalten, dass ich es mit jemandem zu tun hatte, der zu den abscheulichsten Verbrechen fähig war. Und er oder sie würde wahrscheinlich alles tun, um nicht gefasst zu werden.

Letztendlich ließ ich auch den Kaffee aus und schaff‌te stattdessen eine Blendgranate rüber in die Fordham Road.

 

Susan Chadwick öffnete mir in Jeans und Sweatshirt und ohne erkennbar geschminkt zu sein.

»Ryan ist oben im Stall«, sagte sie.

»Ich weiß. Ich wollte mit Ihnen sprechen.«

Ich sah ihr an, dass ihr das nicht recht war.

»Ich hab die Kinder hier.«

»Das macht doch nichts«, sagte ich. »Darf ich reinkommen?«

»Wozu?«, fragte sie und wich keinen Zentimeter aus der Eingangstür.

Wenn DCI Eastwood ihr nicht zu sehr auf den Zahn hatte fühlen wollen, brauchte mich das noch lange nicht daran zu hindern.

»Ich wollte mit Ihnen über den Film sprechen, den Sie sich in der Brandnacht angeschaut haben.«

Ein tiefes Rot überzog von unten her ihren Hals und ihr Gesicht.

»Was ist denn damit?«, fragte sie unüberhörbar nervös.

»War er gut?«

»Hervorragend.«

»Nennen Sie mir noch mal den Titel«, sagte ich. »Ich hab schon nachgesehen, was an dem Abend lief.«

Schweigend sah sie mich an. Sie wusste, dass sie in der Klemme steckte. Sie hätte das genau wie ich nachschauen sollen. Als Spionin hätte sie es nicht weit gebracht.

»Kommen Sie besser rein«, sagte sie.

Sie führte mich durch den Flur in die Küche. Ihre beiden Kinder saßen beim Frühstück, der Zweijährige in einem Hochstuhl mit einem Teller Toast vor sich, die Fünfjährige mit gekreuzten Beinen auf dem Boden vor dem Fernseher, eine Schale Müsli auf den Knien.

»Faith muss ich bald zur Schule bringen«, sagte Susan.

»Wann denn?«

»Spätestens um zehn vor neun muss sie da sein.«

Ich sah auf die Uhr. Punkt acht. Wie geplant ungefähr Halbzeit für das zweite Lot auf dem Trainingsgelände. Ryan sah hoffentlich wieder auf Warren Hill seinen Pferden beim leichten Galopp auf dem Polytrack zu.

»Welche Schule?«

»Die St Louis Primary. Ein Stück die Straße runter. Wir gehen zu Fuß.«

»Wir haben also Zeit«, sagte ich.

»Wofür?«, fragte sie mit Zitterstimme.

»Für eine annehmbare Auskunft darüber, wo Sie waren, als der Brand ausbrach.«

»Bei meiner Mutter«, beteuerte sie. »Ich habe da übernachtet.«

»Aber Sie waren nicht den ganzen Abend dort, oder?«

»Dem Inspector habe ich gesagt, ich war im Kino.«

»Und das stimmte nicht?«

»Nein«, sagte sie kleinlaut. »Ich habe den Abend mit einer Freundin verbracht.«

»Welcher Freundin?«

Diesmal wurde sie noch etwas röter, aber ihr standen auch Tränen der Bedrängnis in den Augen.

»Ist doch egal, welche Freundin«, sagte sie gereizt. »Das hat mit dem Brand nichts zu tun.«

»Warum haben Sie der Polizei dann vorgeflunkert, dass Sie im Kino waren?«

»Weil ich das meiner Mutter erzählt hatte. Ich hatte Angst, sie würden bei ihr nachfragen.«

»Wollte Ihre Mutter nicht wissen, was für einen Film Sie gesehen haben?«

Sie lachte. »Meine Mutter wüsste nicht mal, wo das Kino in Ely ist, geschweige denn, was da läuft. Sie war einfach nur froh, dass ich ausgegangen bin, so hatte sie die Enkelchen ganz für sich allein. Dafür lebt sie.«

»Warum haben Sie ihr nicht die Wahrheit gesagt?«

»Seien Sie nicht blöd.«

»Weiß Ryan davon?«

Sie blickte zu ihrer Tochter, aber das Mädchen war ganz in eine Folge von Peppa Wutz vertieft.

»Natürlich nicht«, sagte Susan leise. »Reiben Sie’s ihm also auch nicht unter die Nase.«

»Dann beantworten Sie mir noch ein paar Fragen.«

Ihr blieb nichts anderes übrig, und ich fragte mich, ob nicht auch ich mich einer kleinen Erpressung schuldig machte. Ehe ich aber dazu kam, die nächste Frage zu stellen, machte sie ihrem Ärger Luft.

»Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, was es heißt, zur Familie Chadwick zu gehören? Von wegen Kontrolle. Ha! Die Kennedys haben uns nichts voraus. Oliver entscheidet alles. Ihr Leben lang hat er die Jungs gegeneinander aufgehetzt, damit sie sich nicht gegen ihn zusammentun. Die Leute sollen glauben, er tut sein Bestes, damit sie alle miteinander auskommen, aber insgeheim mischt er den Laden auf, wo er nur kann.«

»Sie halten aber doch zusammen«, sagte ich. »Sie wahren die Familiengeheimnisse.«

»Nur, weil ihnen das eingetrichtert worden ist. Von der Wiege an: Die Chadwicks sind die Besten, und niemand darf etwas tun, was der Familie schadet. Die Familie geht vor und noch mal vor und immer vor.«

»Aber irgendjemand hat der Familie geschadet«, sagte ich. »Eine der Ihren ist umgebracht worden, und eine andere hat Selbstmord begangen.«

»Wenn ich das schon höre«, sagte sie und warf die Hände in die Luft. »Wir Frauen zählen nicht. Nur auf die Chadwick-Jungs kommt’s an.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Oliver hinter dem Feuer steckt?«

»Nein, das glaube ich nicht. Er hat nachgelassen in letzter Zeit. Der arme Ryan tut sich mit dem Training schwer, und damit kann Oliver schlecht umgehen. Und je mehr Oliver sich einmischt, umso schlimmer wird die Lage.«

Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr.

»Komm, Faith«, sagte sie. »Geh rauf und putz dir die Zähne, Liebes. Wir müssen gleich los.«

Faith bewegte sich keinen Zentimeter vom Bildschirm weg.

»Warum war Faith vorigen Montag nicht in der Schule?«

»Wegen dem Brand«, sagte Susan.

»Davon wussten Sie aber doch nichts, als Sie sich entschieden haben, am Sonntag bei Ihrer Mutter zu übernachten.«

»Ich wollte mit den Kindern zeitig in Ely losfahren, aber als mir Ryan dann am Telefon gesagt hat, was passiert war, habe ich die Kinder doch bei Mama gelassen. Das schien mir einfacher.« Noch ein Blick auf die Uhr. »Komm jetzt, Faith.«

Wieder rührte sich Faith nicht, sondern sah weiter fern.

»Und warum hat sich Arabella umgebracht?«, fragte ich.

»Sie war so verbittert, hauptsächlich, weil sie keine Kinder bekommen konnte. Mich hat sie deswegen gehasst, das weiß ich. Vielleicht wurde ihr alles zu viel.«

Alles wird rauskommen. Die Schande ertrage ich nicht.

»Ich glaub nicht, dass das der Grund war«, sagte ich. »Da ist noch was anderes. Worin besteht das große Familiengeheimnis, über das alle schweigen?«

»Faith!«, rief Susan, ohne mich zu beachten. »Wird’s bald!«

Diesmal stand das kleine Mädchen widerwillig auf und schlurf‌te, die Augen immer noch bildschirmwärts, zur Küchentür. Susan nahm derweil die Fernbedienung von der Anrichte und schaltete den Fernseher aus. Das trug ihr einen sehr bösen Blick der treppauf entschwindenden Tochter ein.

»Also, was ist das große Familiengeheimnis?«, fragte ich erneut.

»Es gibt keins«, sagte Susan im Versuch zu scherzen.

»Hatte es mit Zoe zu tun?«, fragte ich.

»Ich habe Zoe gar nicht gekannt. Nie kennengelernt. Als sie damals verschwunden war, habe ich aber auch mitgesucht.«

»Wie kam das?«, fragte ich.

»Wie kam was?«

»Warum hat sich Zoe so dramatisch davongemacht, sobald sie achtzehn war?«

»Weil sie gesponnen hat«, sagte Susan lächelnd.

Blendgranatenzeit.

»Nicht vielleicht, weil sie dem fortgesetzten sexuellen Missbrauch durch ihren Vater und ihre Brüder entkommen wollte?«

Das Lächeln auf Susans Gesicht verschwand schneller als das Kaninchen eines Zauberers.

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte sie.

»Unsinn, ja?«, fragte ich sarkastisch. »Dann fragen Sie doch mal Ryan, warum er an Zoe und ihren Mann Erpressungsgeld gezahlt hat.«

Susan starrte mich an. »Sie bluffen.«

»So?«

Faith kam wieder in die Küche und trat zu uns.

»Noch so eine unschuldige kleine Chadwick«, sagte ich und schaute auf sie runter. Dann sah ich ihre Mutter an. »Lassen Sie nicht zu, dass es noch mal passiert.«