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E lf Tage später fuhr ich mit Kate zum Derby.

Unerwartet großzügig hatte ASW uns einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung gestellt, obwohl ich gar nicht im Dienst war.

Die Nachricht von meiner erfolgreichen Aufklärung des Rätsels der toten Pferde und erst recht der toten Frau hatte sich rasch in der Firma herumgesprochen, sodass Georgina mich jetzt regelmäßig als ihren persönlichen Hercule Poirot bezeichnete. Tony war von DS Venables auf Declans Hof in Handschellen abgeführt worden und schmachtete jetzt im Gefängnis Norwich in Untersuchungshaft. Selbst nach Tonys Enthüllungen und Abgang hatten die verbliebenen Chadwick-Männer nicht nur Tony, sondern sich auch noch gegenseitig die Schuld zugeschoben.

»Du hättest niemals mit Simon Varney sprechen dürfen, ohne das vorher mit mir zu bereden«, hatte Oliver Ryan angebrüllt, als wäre das der Kipppunkt gewesen, der zu Tonys Brandstiftung geführt hatte. Aber Ryan hatte eindeutig genug davon, sich seinem Vater unterzuordnen.

»Sag du mir nicht, was ich tun oder lassen soll!«, hatte er zurückgebrüllt. »Verzieh dich doch mit deiner blöden Schickse sonst wohin! Lass mich die Pferde so trainieren, wie ich es will!«

Ryans Ausfall hatte Oliver sichtlich verletzt, aber sollte er sich von seinem zweiten Sohn irgendwelchen Zuspruch erhofft haben, sah er sich schwer getäuscht.

Nicht ganz nachvollziehbar machte Declan ihn rundheraus für Arabellas Tod verantwortlich und behauptete, sie wäre noch am Leben, wenn er den Behörden vor Jahren gemeldet hätte, dass Tony der Vater des abgetriebenen Fötus war.

»Ich will euch nie im Leben wiedersehen«, hatte Declan erklärt, bevor er unter Tränen den Stall verließ.

Das schändliche Geheimnis, das Oliver genutzt hatte, um die Familie unter seiner strengen persönlichen Aufsicht zusammenzuhalten, hatte sie letztendlich auseinandergebracht.

 

Vorbei waren die Zeiten, in denen sich das Derby eine ganze Woche hinzog, Hunderttausende Londoner zum Trinken, Spielen und Feiern die Rennbahn in Surrey bevölkerten und sogar die Parlamentssitzungen ausgesetzt wurden, damit die Abgeordneten das Rennen live erleben konnten.

An diesem Tag aber hatte der Junisonnenschein wieder eine riesige Menschenmenge per Auto, Zug und Bus auf die Epsom Downs gelockt, nicht zuletzt wegen der feuchtfröhlichen Karnevalsstimmung im Zentrum der Bahn, wo seit dem frühen Morgen die Bars und der Jahrmarkt geöffnet hatten und bis weit nach Einbruch der Dunkelheit geöffnet bleiben würden.

Kate und ich jedoch saßen als Gäste von Scheich Karim in der Ehrenloge. Dementsprechend waren wir in Schale, ich im Smoking samt schicker Weste und Zylinder, sie in einem, wie sie mir erklärte, »asymmetrischen Sommerkleid«, einer atemberaubenden, einseitig schulterfreien Kreation aus hellblauer Chiffonseide mit rosa Blumendruck. Zur Abrundung trug sie einen blauen Federfaszinator, rosa Stöckelschuhe und hielt eine ebenfalls rosarote Clutch in der Hand.

»Du siehst einfach umwerfend aus«, sagte ich ihr, als am Rennbahneingang unsere Tickets gescannt wurden.

Kate hatte die Nacht zuvor bei mir in Neasden verbracht, nachdem sie am Freitag nach Feierabend mit dem Zug von Cambridge herübergekommen war. Und ich hatte sie am Bahnhof King’s Cross abgeholt, um nicht eine Sekunde länger als nötig von ihr getrennt zu sein.

Die Vorwoche hatte ich viel unabenteuerlicher zugebracht als die vorausgegangenen vierzehn Tage in Newmarket. Den Montag hätte ich lieber im Büro zum Fertigstellen meines Berichts verwendet, als ihn am Amtsgericht Westminster in der Marylebone zu vertändeln. Dort hatte ich zwei schwachsinnige Profifußballer von achtzehn Jahren vertreten, die auf der Herrentoilette eines Westend-Nachtclubs beim Koksen ertappt worden waren. Problemverschärfend kam hinzu, dass sie der Polizei zunächst falsche Namen und Adressen genannt hatten.

Simpson White war von ihrem Verein hinzugezogen worden, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, da die Jungen noch zur Jugendmannschaft zählten und die Fußballsaison schon vorbei war.

Mit der windigen Ausrede, einer meiner Mandanten fühle sich unwohl, war es mir gelungen, ihre Anhörung ans Ende des Tages zu bugsieren, in der Hoffnung, dass den lauernden Reportern das Warten bis dahin zu lang wurde und sie vorher nach Hause fuhren.

Der Fall selbst nahm genau zehn Minuten in Anspruch, da die beiden sich des Besitzes von Betäubungsmitteln schuldig bekannten, zu je hundert Pfund verdonnert und für die Zukunft zu mehr Besonnenheit ermahnt wurden. Zunächst hatten die beiden vor dem Gerichtsgebäude darüber gelacht und gewitzelt, dass sie so leicht davongekommen waren, doch das änderte sich, als ein Vereinsvertreter ihnen mitteilte, dass ihre lukrativen Spielerverträge aufgelöst würden.

Erst hatten sie mir leidgetan, aber unser Handeln hat immer Folgen, und je früher man das einsieht, umso besser. Die Chadwicks waren ein gutes Beispiel dafür, dass inakzeptables Verhalten fortbestehen kann, bis man sich für unbesiegbar hält, dann aber umso unsanfter erwacht.

Die übrige Zeit hatte ich es mit einer landesweiten Hamburgerkette zu tun, deren Geschäftsführer es versäumt hatten, einfach die Hand zu heben und sich dafür zu entschuldigen, dass einer ihrer Mitarbeiter einem behinderten Kunden den Zutritt verwehrt hatte. Stattdessen wurde die Ausrede bemüht, der Mann sei nicht abgewiesen worden, weil er im Rollstuhl saß, sondern weil er unverschämt war. Doch wie so oft heutzutage waren in den sozialen Medien alsbald Handyaufnahmen aufgetaucht, die bewiesen, dass tatsächlich der Mitarbeiter unverschämt gewesen war, und die darauf‌folgende PR -Katastrophe drohte das ganze Unternehmen zu Fall zu bringen.

Interessante Arbeit vielleicht, aber bei Weitem nicht so spannend wie die Aufklärung eines Mordes.

 

Kate und ich fanden uns beizeiten auf der Rennbahn ein, nicht nur, um die Vorbereitung auf das Hauptrennen zu genießen, sondern auch zum Lunch mit unserem Gastgeber in einer Loge im fünf‌ten Stock der Queenstribüne, zwei Etagen noch über der Ehrenloge.

Der Scheich hatte die Loge in der Erwartung gepachtet, den Siegeslauf Prince of Troys persönlich mitzuerleben, und er hatte den Termin nicht zuletzt deshalb beibehalten, weil er aus erster Hand meinen Bericht über die seltsamen Vorgänge in Newmarket hören wollte.

»Harrison, mein Freund«, begrüßte mich der Scheich mit festem Händedruck herzlich an der Logentür. »Herein mit Ihnen.«

Ich machte ihn mit Kate bekannt. Er lächelte sie an, sah zu mir und zog anerkennend die Brauen hoch.

Es gab mehrere andere Gäste, doch der Scheich richtete es so ein, dass ich beim Lunch neben ihm saß.

»Erzählen Sie«, sagte er.

Ich erzählte. Leise. Vom Anfang bis zum Ende, ohne etwas auszulassen.

Er presste missbilligend die Lippen aufeinander.

»Es tut mir leid, Sir«, sagte ich. »Ich überbringe ungern betrübliche Nachrichten.«

Da er mich um Rat zu seinen Pferden bat, empfahl ich ihm, Ryan die Pferde zu entziehen, sie aber nicht Declan zu geben. Jedenfalls noch nicht.

»Warum nicht?«, fragte er.

»Weil ein altes arabisches Sprichwort besagt, dass ein zu oft geschlagenes Kamel vielleicht böse wird und zurückschlägt.«

Er lachte schallend und klatschte mir die Hand auf die Schulter.

Kate und ich schauten den ersten drei Rennen vom Balkon vor der Loge des Scheichs zu, doch vor dem vierten fuhren wir nach unten, um uns die Pferde auf dem Sattelplatz hinter der Tribüne anzusehen.

Das Derby war das fünf‌te Rennen des Tages, und wir schmeckten fast die Spannung in der Luft, als die Startzeit nahte. Die Menschen um das Siegerpferd würden knapp eine Million Pfund an Preisgeld nach Hause tragen, und dennoch war es nicht das höchstdotierte Rennen der Welt. Es lag nicht mal unter den ersten zehn. Aber das Prestige eines Derbysiegs in Epsom war mehr wert, ganz zu schweigen vom möglichen künftigen Zuchtwert des Pferdes.

Wir schauten uns das vierte Rennen auf dem Großbildschirm neben dem Waageraum an, ehe wir zu den Sattelboxen auf der anderen Seite des Rings gingen.

Declans Reisefuttermeister sah ich als Ersten, wie er neben dem Pferd in der zweitletzten Box stand.

»Hi, Joe«, sagte ich.

Er hatte eine Spätzündung, aber dann erkannte er mich unter dem Zylinder und brummte etwas wie einen Gruß. Das Pferd war schon gesattelt und sah startbereit aus, während ein Stalljunge ihm geduldig den Kopf hielt.

»Wo ist Declan?«, fragte ich.

»Zur Toilette geflitzt, so nervös ist er.«

»Wie geht’s dem Pferd?«

»Gut wie selten«, sagte Joe. »Will endlich los.«

In dem Moment kam Declan wieder, schien aber eher verlegen als erfreut, mich zu sehen. Verständlicherweise.

Er prüf‌te ein letztes Mal, ob alles in Ordnung war, dann schickte er das Pferd, beidseitig gehalten von Joe und dem Stalljungen, zum Führring. Sie gingen kein Risiko ein.

»Ich hab einen Brief von der Polizei Suf‌folk bekommen«, sagte mir Declan.

»Ja, ich weiß.« Als sein Anwalt hatte ich eine Kopie bekommen. Darin stand, dass die Polizei zwar nicht mehr wegen des Mordes an Zoe gegen Declan ermittelte, aber weiterhin den möglichen sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen in der Vergangenheit untersuchte.

»Ich war noch ein Kind«, sagte Declan leise, aber eindringlich. »Als mir dann aufging, dass es verkehrt war, habe ich sofort aufgehört. Ryan und ich lagen deswegen im Streit. Er konnte es nicht lassen. Er hat mich ausgelacht und gesagt, ich soll keinen auf Moral machen. Und als Tony dann so weit war, hat er ihn zum Mitmachen ermuntert. Deshalb bin ich nach Amerika gegangen. Um von dem wegzukommen, was da lief.«

Vielleicht hätte er seine Schwester mitnehmen sollen, dachte ich, oder wenigstens jemand Zuständigen informieren.

»Gewinnen Sie das hier?«, wechselte ich das Thema.

»Herrgott, ich hoff’s«, antwortete er hörbar nervös.

»Viel Glück«, sagte ich. Auch ich war nervös.

Kate und ich fuhren wieder nach oben. Im Lift erblickte ich zwei bekannte Gesichter – Mike und Michelle Morris.

»Wie geht’s Momentum?«, fragte ich und fasste unwillkürlich nach dem Rest Schorf an meinem rechten Ohr.

»Ach, hallo …«, sagte Michelle, der offensichtlich mein Name nicht einfiel.

»Harry«, sagte ich, »und das ist Kate.«

Händeschütteln reihum.

»Momentum geht’s gut«, sagte Mike. »Er steht jetzt bei einem neuen Trainer, ist aber so munter wie immer. Nächste Woche läuft er in Yarmouth.«

»Und er hat noch seine Eier«, fügte Michelle grinsend hinzu.

Die Lifttür öffnete sich in der vierten Etage.

»Da wären wir«, sagte Mike und stieg mit Michelle aus. »Tschüss, Harry.«

»Tschüss«, antwortete ich durch die sich schließende Tür.

»Wer ist das?«, fragte Kate, als sich der Lift wieder in Bewegung setzte.

»Ich hab sie auf der Rennbahn in Newmarket kennengelernt«, sagte ich. »Ihnen gehört das verrückte Pferd, mit dem ich in Castleton House Stables zusammengesperrt war.«

Kate war entsetzt. »Dabei machen sie so einen netten Eindruck!«

Ich lachte. »Sie wollten mich ja auch nicht umbringen, nur ihr Pferd hat’s versucht.«

»Trotzdem …«

Der Lift kam im fünf‌ten Stock an, und wir gingen in die Ehrenloge und hinaus auf den Balkon, um uns das Rennen anzuschauen.

Die Menge war inzwischen fast im Fieber und wurde durch eine Fanfare von sechs Trompetern in scharlachroter Uniform zusätzlich elektrisiert, als die achtzehn Wettstreiter zu einer Parade vor den Tribünen aufs Geläuf kamen.

»Ist das nicht fabelhaft?«, sagte Kate und drückte mir fest die Hand.

»In der Tat«, stimmte ich bei.

Auf der Großleinwand vor den Tribünen wurden die aktuellen Quoten für das Rennen angezeigt. Orion’s Glory stand mit 16 :1 an sechster Stelle. Einmal mehr griff ich in meine Tasche, um mich zu vergewissern, dass der Fünfziger-Beleg von Ladbrokes noch da war.

Die Starter gingen nach rechts zur anderen Seite der Bahn hinüber, wo die Startboxen warteten.

»In die Startmaschine!«, heizte der Rennkommentator die Spannung weiter an. Dann kam unter gewaltigem Jubel sein »Sie sind gestartet!«.

Das Derby von Epsom geht über zweitausendvierhundert Meter. Die ersten tausend Meter geht es für die Pferde stetig bergan zum höchsten Punkt der Bahn, dann nach links und steil bergab zur Tattenham Corner. Wie Oliver gesagt hatte, der schwierigste Rennbahnabschnitt auf Erden.

In der Anfangsphase steckten die Pferde dicht zusammen, und die weiße Kappe des Reiters von Orion’s Glory war hinten im ersten Drittel des Feldes deutlich zu sehen. Als es dann aber bergab ging, verschärf‌te sich das Tempo merklich, und die führende Achtergruppe setzte sich vom Rest des Feldes ab.

Auf der Großleinwand sah ich, dass Orion’s Glory an fünf‌ter Stelle dicht am Innenrail lief, und für mich wirkte es, als säße er zwischen den anderen Pferden fest. Im scharfen Schlussbogen aber scherten die Führenden ziemlich weit aus und ließen Declans Pferd freie Bahn.

Selbst ich sah, wie leicht es sich bewegte und sich an zwei vor ihm Liegenden vorbei auf Platz drei schob, dabei hatte der Jockey nicht mal die Peitsche erhoben.

An der Vierhundert-Meter-Marke wurde Orion’s Glory aufgefordert, ins Finish zu gehen, und antwortete darauf mit derselben Leichtfüßigkeit, die Declan auf dem Limekilns-Gelände bei Newmarket vier Wochen zuvor so begeistert hatte. Rasch holte er die beiden Pferde vor ihm ein, blieb dran, streckte den Kopf vor und gewann »mit Hals« zu den Luftsprüngen von Kate und mir.

Es mag kein so überzeugender Erfolg gewesen sein wie der Zehn-Längen-Rekordsieg des legendären Shergar, doch ein Hals reichte völlig. Sogar ein kurzer Kopf wäre mehr als genug gewesen.

Ein Sieg war ein Sieg, wie knapp auch immer.

Das Publikum jubelte begeistert, als Orion’s Glory stolz zum Absattelplatz für den Sieger direkt unter uns geführt wurde und Declan von einem Ohr zum anderen strahlte.

So glücklich hatte ich ihn noch nie gesehen.

 

Acht Monate später unternahmen Kate und ich eine zwölftägige Nichtflitterwochenreise zu den Malediven, wenn wir auch nicht das Hotel nahmen, das sie schon kannte.

Ladbrokes hatte mir mit Freuden meine zweitausend Pfund aus der Derbywette ausgezahlt, und ich hatte unseren Flug damit auf Business Class umgebucht. So kam es, dass wir in zwölf‌tausend Metern Höhe Champagner tranken, während mir durch den Kopf ging, was seit dem herrlichen Sommertag in Epsom im Juni passiert war.

Und es war tatsächlich viel passiert, besonders, was die Familie Chadwick betraf.

Tony war sowohl des Mordes an Zoe Robertson angeklagt worden als auch des Versuchs, ihre Leiche zu beseitigen, indem er den Stall seines Vaters in Brand steckte. Angesichts der polizeilichen Aufzeichnung seiner Enthüllungen mir gegenüber in Declans Stall plus der DNA -Spuren Zoes, die im Kofferraum seines Wagens entdeckt worden waren, hatte er sich bei der frühestmöglichen Gelegenheit in beiden Punkten schuldig bekannt und damit allen den Stress eines Gerichtsverfahrens erspart. Wenn man ihm aber erklärt hatte, ein frühzeitiges Schuldbekenntnis würde das Missbrauchselement aus der Geschichte heraushalten, war er arg in die Irre geführt worden.

Zwei Tage nach Tonys Antritt seiner lebenslangen Haftstrafe hatte eine Sonntagszeitung das große Familiengeheimnis der Chadwicks auf vier Seiten ausgebreitet, auch wenn mir nicht klar war, woher sie die Informationen hatten. Von mir jedenfalls nicht.

Ryan wurde in dem Artikel als der Hauptschurke dargestellt, und wenn sein Trainingsstall schon vor den Enthüllungen in Schwierigkeiten gesteckt hatte, befand er sich anschließend im freien Fall. Zwei Wochen später entzog die Rennsportbehörde ihm als »ungeeigneter Person« tatsächlich die Trainerlizenz. Und obendrein ließ ihn dann auch noch Susan sitzen und nahm die Kinder mit, mit der Begründung, dass ihre junge Tochter vor möglichem sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater zu schützen sei.

Außerdem stellten die Berichte Oliver als manipulativen Patriarchen dar, der zum Schutz seines brutalen Lieblingssohns bedenkenlos Zoes Leben weggeworfen hatte. Olivers bisheriges hohes Ansehen in der Rennsportgemeinde half ihm nun nichts mehr, sogar in seiner Heimatstadt wurde er praktisch zur Persona non grata. Und auch er hatte Eheprobleme, sprich, Maria wollte ihn auf Scheidung verklagen und die Hälfte seines Vermögens beanspruchen.

Ich persönlich fragte mich, ob Maria die Informationsquelle der Zeitung gewesen war. Entweder sie oder Yvonne musste es gewesen sein, vielleicht auch beide, und womöglich hatte noch Peter eine Portion Bosheit beigesteuert – für ein ansprechendes Honorar natürlich.

Declan war als einziger männlicher Chadwick relativ ungeschoren davongekommen, da die Reporter zu Recht darauf hingewiesen hatten, dass er zum Zeitpunkt, als Zoe schwanger geworden war, in den Vereinigten Staaten Rennen geritten hatte.

Daher hatte er seine Trainerlizenz und die meisten seiner Besitzer behalten, wenn er persönlich auch vielleicht am meisten von allen verloren hatte. Obwohl sie keine Kinder haben konnten, war seine Ehe liebevoll und stark gewesen, und Arabellas Selbstmord würde für immer großen Schmerz für ihn bedeuten.

Die Polizei Suf‌folk hatte mir kürzlich mitgeteilt, dass Declan keine Anklage wegen früheren sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen zu erwarten hatte. Das galt offenbar auch für die anderen Chadwick-Männer.

Mich wunderte es nicht. Eine gerichtliche Verurteilung ohne die Aussage des Opfers war eher unwahrscheinlich, so wenig das die Zeitungen daran gehindert hatte, zu dem Schluss zu kommen, dass Ryan schuldig wie der Teufel war.

Und einiges von dem Klatsch hatte unweigerlich auf Declan abgefärbt.

»Kein Rauch ohne Feuer«, hörte ich irgendwen sagen.

Feuer, dachte ich.

Durch Feuer war ich überhaupt erst in diese traurige Geschichte hineingeraten. Aber nicht alles daran war schlecht. Hätte ASW mich nicht nach Newmarket geschickt, hätte ich Kate niemals kennengelernt, und mein Leben wäre wesentlich ärmer verlaufen.

Unser Flugzeug landete auf dem Malé International Airport, und auf dem Weg von der Maschine zum Terminal schwelgten wir in der tropischen Hitze, denn wir hatten London im Schneesturm verlassen.

Zwölf ganze Tage zusammen, und die Nächte auch. Wie wunderbar.

Kate und ich hatten in den vergangenen acht Monaten so viel Zeit wie möglich miteinander verbracht. Da sie nach wie vor ganztägig bei Tattersalls arbeitete und ich nach wie vor in Neasden wohnte, war das nicht immer einfach, aber wir bekamen es hin. Mein Gesicht war im Bahnhof Cambridge inzwischen sogar so bekannt, dass mich das Bahnpersonal herzlich grüßte.

Aber wir hatten große Pläne.

Gerade war unser Angebot für ein Cottage in einem kleinen Dorf unweit des Flughafens Stansted angenommen worden. Von dort konnte Kate über die Autobahn nach Newmarket fahren, und ich kam mit dem Airport Express direkt in die Londoner Innenstadt. Wir hoff‌ten sehr, noch vor dem Sommer einziehen zu können.

Im Augenblick aber verhießen zwölf Tage ohne Arbeit und Pendelei das totale Glück.

Nach Passkontrolle und Zoll brachte uns ein Kleinbus zu einem Dock, und in einem Twin-Otter-Wasserflugzeug hoben wir ab zur letzten Etappe unserer Reise nach Halaveli, einer von rund zwölfhundert Inseln im Indischen Ozean, die den Staat der Malediven bilden.

Halaveli war das Urbild der einsamen kleinen Insel, die sich gerade mal ein paar Fuß aus dem türkisblauen Meer erhob mit ihren weißen Sandstränden. Es war aber auch ein Fünfsterne-Sterne-Boutique-Hotel mit Bars, Restaurants und Luxusvillen zwischen den Kokospalmenreihen. An der südwestlichen Ecke der Insel ragte zudem ein Holzsteg mit auf Stelzen erbauten weiteren Villen zu beiden Seiten ins Meer hinaus.

In einer dieser Villen, einer palmblattgedeckten Paradies-Oase, wohnten wir.

In den nächsten zwölf Tagen schwammen und tauchten wir, spürten Walen und Delphinen nach und machten Bootsfahrten bei Sonnenuntergang. Morgens frühstückten wir auf unserer Terrasse in der Sonne, abends aßen wir am Strand unter den Sternen, und nachmittags liebten wir uns.

Und am letzten Abend unserer Nichtflitterwochen, als wir beide sicher waren, dass wir einander noch weit mehr liebten als den idyllischen Ort, an dem wir uns aufhielten, setzte ich ein Knie auf den weichen weißen Tropensand und bat Kate, meine Frau zu werden.