9. KAPITEL

Tigerherz wälzte sich in seinem Nest. Noch immer klangen ihm die Worte von Schneevogel und Fleckenpelz in den Ohren. Ab jetzt nehmen wir unsere Befehle nur noch von dir entgegen. Im Bau war es feucht. Das Moos in seinem Nest hatte das Regenwasser aufgesaugt. Er war ganz durchgefroren. In Tiefschlaf versunken, atmeten Steinschwinge und Grasherz leise neben ihm. Schlagstein zerwühlte sein Nest mit einem Grunzen und fing an zu schnarchen. Tigerherz drückte sich tiefer ins Moos und versuchte einzuschlafen.

Was sollte er bloß tun? Er konnte nicht jedem gerecht werden. Die Katzen, die ihm am Herzen lagen, wollten alle etwas anderes von ihm. Taubenflug wollte einen Partner, sein ungeborener Nachwuchs brauchte einen Vater, Eschenstern forderte seinen Gehorsam ein und seine Clan-Gefährten hätten lieber ihn zum Anführer. Nicht einer Katze konnte er gerecht werden, ohne einer anderen wehzutun.

SternenClan, hilf mir! Er setzte sich auf und starrte zur Decke des Kriegerbaus hinauf. Doch die Sterne waren weit entfernt, über den Brombeersträuchern, über dem Regen, jenseits der dichten Wolken. Konnten seine Ahnen eigentlich sehen, was hier gerade vor sich ging?

Was sagt mir mein Instinkt? Beschütze deine Jungen. Beschütze deine Clan-Gefährten. Beschütze deinen Vater. Wie könnte er diese drei Dinge schaffen? Mein Traum. Er stellte sich die Sonnenstrahlen auf seinem Pelz vor und seinen Schatten, der sich hinter ihm schwarz in die Länge zog. Steckte in dieser Vision noch irgendetwas, das er einfach nicht verstehen konnte?

Pfützenglanz! Er wird es wissen.

Lautlos verließ Tigerherz sein Nest und schlüpfte aus dem Bau. Er rannte durch den prasselnden Regen zu Pfützenglanz’ Bau hinüber. Leises Schnarchen drang nach draußen, als Tigerherz sich durch den schmalen Eingang zwängte. In der Dunkelheit konnte er gerade einmal den Umriss des Heilers in seinem Nest ausmachen. Tigerherz schlich näher. »Pfützenglanz«, flüsterte er, denn er wollte den Kater nicht erschrecken.

Augenblicklich riss Pfützenglanz die Augen auf. Er sprang auf und drückte sich gegen das Kopfende seines Nests. Er fauchte und kniff feindselig die Augen zusammen.

Tigerherz rührte sich nicht. Wovor hatte Pfützenglanz denn solche Angst? »Ich bin es. Es ist alles in Ordnung. Alles ist gut«, miaute er beruhigend.

Pfützenglanz blinzelte ihn an. Sein Rückgrat entspannte sich. Der braune Kater schüttelte den Pelz und sprang aus dem Nest, seine weißen Flecken leuchteten schwach in der Dunkelheit. »Entschuldige«, nuschelte er. »Ich habe geträumt. Eine Katze tauchte plötzlich auf und ich erwachte und du warst …« Sein Maunzen erstarb, als würde ihn etwas beunruhigen. Sein Blick erlosch für einen Moment, dann erstarrte er. »Das warst du!« Er blinzelte. »Du warst die Katze in meinem Traum.«

Furcht machte sich in der Brust von Tigerherz breit. Hatte der SternenClan nun doch noch ein Zeichen geschickt?

»Du hast vor mir gestanden. Mir war kalt, obwohl die Sonne schien. Der Himmel war blau, doch ich fror.« Er erschauderte. »Es war so kalt wie in einer Höhle, in die niemals die warmen Sonnenstrahlen kommen.«

»Die Sonne?«, wiederholte Tigerherz mit trockenem Maul. Noch ein Traum über die Sonne. »Was habe ich gemacht?«

»Du hast über mir gestanden, dunkel und riesig, und das Sonnenlicht strahlte überall um dich herum. Aber du hast es verdeckt.« Pfützenglanz miaute langsam und gedankenverloren. »Du hast den Sonnenschein verdeckt.«

Tigerherz starrte ihn an, seine Gedanken flatterten zu seinem eigenen Traum. Sein Pelz hatte in der Sonne geglitzert. Aber der Schatten, den er geworfen hatte, war dunkler als alles andere im Lager. Plötzlich wusste er, was der Traum zu bedeuten hatte. Er war nicht die Sonne! Er stand ihr im Weg! Hatte sich sein Vater in dem Traum nicht nahezu aufgelöst? »Ich sollte nicht hier sein«, maunzte er. Reue überkam ihn, als dieser Geistesblitz durch seine wirren Gedanken fuhr und so klar wie der warnende Schrei einer Elster war. Er hatte Taubenflug fälschlicherweise im Stich gelassen. Wie viel gemeinsame Zeit er doch verloren hatte. »Wenn die Sonne hell sein soll und die Schatten stark, dann muss ich gehen.«

»Nein!« Pfützenglanz lehnte sich zu ihm vor. »Du hast nur den Schatten geworfen, weiter nichts. Ist es nicht das, was wir brauchen? Dein Schatten war der stärkste von allen.«

Tigerherz hörte kaum hin. Seine Gedanken wirbelten umher, schneller, immer schneller. Kein Wunder, dass er all die Zeit so durcheinander gewesen war. So viele unterschiedliche Botschaften. Wie könnte er seinen Vater unterstützen und gleichzeitig seine Clan-Gefährten anführen? Das war einfach unmöglich. Er sollte überhaupt nicht hier sein. Er sollte bei Taubenflug sein. Je länger er im Lager blieb, desto schwieriger wäre es für seinen Vater, den SchattenClan zu alter Stärke zurückzuführen.

»Tigerherz!« Die Augen des Heilers leuchteten im Dunkeln. »Der SchattenClan braucht dich.«

Tigerherz blinzelte ihn an. »Keine Sorge, Pfützenglanz. Ich weiß genau, was ich tun muss.« Er neigte den Kopf vor dem Kater. »Danke für deine Hilfe.«

»Wohin gehst du?«, rief Pfützenglanz, als Tigerherz sich umgedreht hatte, bereit zu gehen.

»Ich brauche ein wenig Schlaf«, miaute Tigerherz. Was auch stimmte. Er hatte seit ein paar Sonnenaufgängen nicht gut geschlafen. Aber jetzt würde er sich nicht hinlegen. Er hatte etwas sehr viel Wichtigeres zu erledigen. »Leg dich wieder in dein Nest, Pfützenglanz«, maunzte er und eilte hinaus in den Regen.

Er suchte die Lichtung ab. Niemand war zu sehen. Allein der warme Duft von schlafenden, in ihren dampfenden Nestern zusammengerollten Katzen war zu riechen. Er warf einen prüfenden Blick auf den Bau von Pfützenglanz. Der Heiler war ihm nicht nach draußen gefolgt. Dann spitzte er die Ohren und hörte es im Nest rascheln, als sich Pfützenglanz wieder hinlegte.

Als Abschiedsgruß für seinen schlafenden Clan senkte er den Kopf, dann schlüpfte er leise durch den Lagereingang. Er schlich durch den Tunnel und trottete langsam in den Wald. Erst als er weit genug vom Lager entfernt und sich sicher war, dass der strömende Regen das Geräusch seiner Pfoten übertönen würde, rannte er los. Ich komme, Taubenflug. Zum ersten Mal seit mehreren Sonnenaufgängen fühlte sich sein Herz leicht an. Es schlug harmonisch mit seinen Gedanken im Takt. Er spurtete zum Donnerweg, wie ein Vogel zu einem wärmeren Land, ohne zu wissen, wie diese Reise enden würde, doch mit dem sicheren Gefühl, dass er sie unternehmen musste – sie zu unternehmen war nun die natürlichste Sache der Welt. Irgendwo da draußen, weit vom Donnerweg entfernt, musste Taubenflug alleine zurechtkommen. Er würde sie finden und in wenigen Monden seine Jungen in ihrem neuen Heim, diesem aus Ginsterzweigen gewobenen Bau, willkommen heißen.