13. KAPITEL

Tigerherz flitzte an den beiden Donnerschlangen vorbei. Das Gestein unter seinen Pfoten war rutschig, seine Krallen schlitterten darüber, fanden keinen Halt, als er versuchte, sich durchzuschlängeln. Er wollte nichts lieber, als einen Bogen um die Zweibeiner machen. Sie schrien auf, als er an ihnen vorbeirannte. Nur weg von den Schlangen, weg von den Zweibeinern, doch die große Höhle schien sich endlos in alle Richtungen auszudehnen. Weit hinten entdeckte er Tunnelöffnungen, doch das grelle Licht blendete ihn, und so konnte er nicht erkennen, wohin sie führten. Die Stimmen von Zweibeinern schallten von den Wänden und dem gewölbten Dach wider. Das Rasseln und Rumpeln ließ die Luft erzittern. Unzählige Düfte benebelten ihm die Sinne.

Panik erfasste ihn, sein Herz raste. Als er die Donnerschlangen hinter sich gelassen hatte und einen Blick zurückwarf, bemerkte er schockiert, dass jetzt noch mehr Schlangen aufgetaucht waren. Zweibeiner eilten auf sie zu oder von ihnen weg, verschwanden in der einen, strömten aus einer anderen.

Instinktiv spurtete Tigerherz auf eine Wand zu. Genau wie eine Beute sehnte er sich nach Schutz. Er rannte zu einer nahe gelegenen Ecke und kauerte sich in ihren Schatten, rutschte, mit dem Hinterteil voran, in sie hinein. Die Zweibeiner ignorierten ihn. Wie sehr sie auch geschrien hatten, als er an ihnen vorbeigelaufen war, jetzt interessierte sich keiner mehr für ihn. Er quetschte sich noch tiefer in die Ecke und sah sich um.

Die Höhle war groß mit hell beleuchteten Bauen voller Zweibeiner in den Wänden, Bögen und Tunneln. Tigerherz bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, und wartete, dass die Panik nachließ, damit er nachdenken konnte. Wenn er sich an den beißenden Gestank von Donnerschlangen und Zweibeinern gewöhnen könnte, wäre er vielleicht dazu in der Lage, frische Luft zu erschnuppern. Sein Atem beruhigte sich. Er kniff die Augen zusammen. Dann öffnete er das Maul und ließ seine Zunge die unterschiedlichen Gerüche aufnehmen. Zuerst schmeckte es schauderhaft, und ihm wurde übel, doch allmählich gewöhnte er sich an die seltsamen Gerüche, wie auch seine Ohren sich auf diesen katastrophalen Geräuschpegel eingestellt hatten.

Einige Gerüche rochen lecker, andere sauer und manche bitter und ranzig, aber darunter war nicht ein Hauch von frischer Luft. Wie sollte er so ans Sonnenlicht kommen?

Geduckt schlich er an der Wand entlang bis zu einem erleuchteten Bau. Ein Zweibeiner trat heraus und hastete durch die Höhle. Tigerherz lief schnell durch den Eingang und drückte sich sofort wieder an eine Wand. Ein Tunnel, hell beleuchtet, lag vor ihm. In der Hoffnung, frische Luft zu schmecken, die ihn hier herausführen könnte, öffnete er das Maul, doch auf seiner Zunge schmeckte er nur Gestank. Der Tunnel muss doch irgendwo aus der Höhle führen. Vielleicht würde er auf einen anderen Tunnel treffen, der ihn aus diesem Labyrinth brachte.

Der rutschige Steinboden unter seinen Pfoten war kalt. Da im Moment kein Zweibeiner den Tunnel entlangging, beeilte er sich. Schnell gelangte er zu einer anderen Höhle, schmaler dieses Mal und ohne Donnerschlangen, aber gesäumt von mehreren hell erleuchteten Bauen. Er huschte an ihnen vorbei und ignorierte die erstaunten Ausrufe der Zweibeiner, als er ihnen auswich. Mit offenem Maul prüfte er die Luft, um einen Ausgang zu finden. Er blickte die hohen Wände hinauf und wünschte sich, er würde dort oben den Himmel sehen. Doch die Wände waren mit komischen Bildern und Formen bedeckt, die ihm keinen Hinweis gaben, wie er hier herauskommen könnte.

Auf einmal stieg ihm ein Duft in die Nase, der ihn erstarren ließ.

Eine Katze.

Hier war eine andere Katze! Er vernahm überrascht den Duft eines Katers. Er nahm die Höhle noch genauer in Augenschein. Der Duft war zugleich frisch und alt, als würde der Kater regelmäßig hierherkommen. Lebt er etwa hier?

Allmählich an den Gedanken gewöhnt, dass die Zweibeiner ihn hier nicht jagen würden und er nur ihren plumpen Pfoten ausweichen musste, ruhte er sich ein wenig bei einem der erleuchteten Baue aus, um den Duft des Katers noch ein wenig besser einordnen zu können. Immer noch muffig, doch hier bei dem Baueingang irgendwie frischer. Er schlich auf den frischeren Duft zu und freute sich, dass dieser so stark war. Der Kater musste erst vor Kurzem hier gewesen sein.

Er folgte der Fährte und schlängelte sich an Steinsäulen vorbei, die wie Bäume in der Höhle standen. Sie führte ihn zu einer kleinen Öffnung im unteren Teil der Wand. Ein drahtiges Flechtwerk lag auf dem Boden davor. Vermutlich hatte es die Öffnung bedeckt. Tigerherz schlich hinein und war erleichtert, dass es hier dunkel war. Der Duft des Katers wurde stärker.

Ein Fauchen aus den Schatten ließ sein Blut gefrieren.

»Ich bin Tigerherz«, maunzte er. »Ich möchte nicht kämpfen. Ich brauche nur etwas Hilfe.« Er fuhr vorsichtig die Krallen aus. Dieser Kater hatte bestimmt keine Lust, einen anderen Kater in seinem Territorium zu empfangen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er einen mageren schwarz-weißen Kater, der ihn schlitzäugig anstarrte.

Der Kater machte einen Buckel und fletschte die Zähne. »Hau ab oder ich zerfetze dir deine Schnauze.«

Tigerherz trat einen Schritt zurück. »Bitte«, bettelte er. »Ich muss einen Weg nach draußen finden.« Er bemühte sich, nicht die Nase zu rümpfen. Der Kater roch nach Zweibeinerkram.

Sein Blick wanderte über Tigerherz. Ganz allmählich entspannte sich sein Rücken. »Du bist nicht hier, um mir mein Fressen zu stehlen?«

»Ich muss kein Fressen stehlen. Ich kann jagen.«

»Du willst nicht kämpfen?« Der Kater klang misstrauisch.

»Nein.« Tigerherz wartete. Der Kater atmete tief ein, offensichtlich, um Tigerherz’ Duft zu prüfen.

»Du riechst nicht wie eine Containerkatze«, gab er zu.

»Was ist eine Containerkatze?« Tigerherz fragte sich, ob es etwa auch hier unterschiedliche Clans gab.

»Es gibt eine Gang von Katzen, die bei den Müllcontainern hinter dem Bahnhof rumhängen«, erklärte ihm der Kater. »Sie versuchen, mich zu vertreiben. Keine Ahnung, wieso. Die Zweibeiner hinterlassen hier doch genügend Abfall für alle Katzen.«

Müllcontainer? Bahnhof? Abfall? Dieser Kater benutzte seltsame Wörter. Er starrte ihn an, und plötzlich wurde ihm bewusst, wie weit weg er von seinem Wald war. Er verstand hier nicht einmal die Sprache. Seine Schwanzspitze zuckte. Er drückte die Brust raus. »Wieso kämpfst du nicht mit ihnen?«

»Sie sind zu dritt.« Der Kater schaute Tigerherz an, als wäre er der Dummkopf. »Und ich bin allein.«

»Hast du keine Clan-Gefährten?«

»Clan-Gefährten?« Der Kater schüttelte verwirrt den Kopf.

Tigerherz suchte nach einem Wort, das verständlicher war. »Verwandte?«

»Ich bin die einzige Katze im Bahnhof.«

»So nennt man diesen Ort also?« Tigerherz richtete die Ohren auf. »Ich dachte, es wäre ein Donnerschlangenbau.«

Der Kater blinzelte. »Du kommst nicht aus der Stadt, oder? Nur Freaks vom Dorf nennen Züge Donnerschlangen

Stadt? Jetzt blinzelte auch Tigerherz. »Ich komme aus dem Wald. Ich suche meine Freundin.«

»Kommt deine Freundin auch aus dem Wald?«

»Ja.«

Der Kater neigte den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass es im Wald auch Streuner gibt.«

»Wir sind keine Streuner«, stellte Tigerherz klar. »Wir sind Krieger.«

Zum ersten Mal schaute der Kater ihn interessiert an. Sein Blick wurde schärfer. Er leuchtete fast in dem schummerigen Licht, das in den Bau drang. »Ein Krieger? Heißt das, du kämpfst?«

Tigerherz mochte den allzu neugierigen Ton im Maunzen des Katers nicht. »Ich kann kämpfen, wenn es sein muss«, miaute er vorsichtig. Worauf will der Kater hinaus?

Der Kater nickte. »Übrigens, ich bin Karacho. Ich lebe hier.«

»Das habe ich mir schon gedacht.« Tigerherz konnte den kratzbürstigen Kater nicht einschätzen. Er schien etwas vorzuhaben.

»Ach ja?« Karacho beugte sich zu ihm hin. »Weißt du, wohin deine Freundin wollte?«

Tigerherz vermied es, Karachos Frage direkt zu beantworten. »Gibt es einen Zweibeinerbau mit einem Dach, auf dem lange Stacheln bis in den Himmel ragen? Stacheln wie von einem Ginsterbusch?«

Karacho verzog das Maul. »Ginsterbusch?«

»Oder so ähnlich.« Tigerherz hob die Pfote und fächerte seine Krallen auf.

Karacho senkte den Kopf. »Es gibt einen großen Bau mit einem Dorn auf der Spitze. Es ist ein Zweibeinerversammlungsort.«

Ein Zweibeinerversammlungsort! Ajax’ Worte! Konnte damit der Ginsterstachelbau gemeint sein, von dem Taubenflug geträumt hatte? Das musste er herausfinden. »Ist er hier in der Nähe?«

»Ein paar Wohnblöcke entfernt.«

»Kannst du ihn mir zeigen?«

Karacho betrachtete seine Pfoten. »Ich helfe dir, wenn du mir hilfst.«

»Du brauchst Hilfe?« Tigerherz’ Augen verengten sich. Karacho klang eigenartig. Wollte er ihn zu etwas Bösem anstiften?

»Ich habe dir doch von den Containerkatzen erzählt, die mich verjagen wollen. Wenn sie denken, ich hätte einen starken Freund, lassen sie mich vielleicht in Ruhe.«

»Du willst, dass ich gegen sie kämpfe.« Warum fragte er das nicht einfach geradeheraus?

Karacho schaute weg. »Ich bin nicht so gut im Kämpfen.«

»Aber klar doch. Du bist schließlich eine Katze.«

»Das sind die auch.«

Tigerherz verspürte einen Hauch von Mitleid mit dem Kater. Keine Katze ließ sich gerne schikanieren. »Gehören sie einem Clan an?« Er musste herausfinden, welche Kampftechniken sie kannten.

»Clan?«, fragte Karacho verwirrt. »Hier gibt es keine Clans. Nur Asphaltstreuner.«

Asphaltstreuner. Hoffentlich kannten sie keine Kriegermethoden. Tigerherz deutete mit der Nase zum Eingang. »Zeig mir, wo sie sind.«

»Sie werden wahrscheinlich bei den Müllcontainern sein.« Karacho trottete an ihm vorbei und schlüpfte in die Höhle.

Tigerherz folgte ihm, erleichtert, einen Begleiter zu haben, der sich auskannte. Er schlich der Bahnhofskatze hinterher, erst eine lange Wand entlang, dann kletterten sie einen ansteigenden Tunnel hinauf. Zweibeiner strömten an ihnen vorbei, aber sie wurden nicht von ihnen beachtet. Dann teilte sich der Tunnel und machte eine scharfe Biegung. In Tigerherz’ Nase drangen frischere Düfte, sein Pelz kribbelte vor Aufregung, auch wenn sie leicht nach Monstergestank rochen. Taubenflug ist vielleicht da draußen – womöglich ganz in der Nähe. Wenn er das mit den Containerkatzen geklärt hatte, würde Karacho ihm helfen, sie zu finden.

Er beschleunigte seine Schritte, als Karacho in einen schmalen Tunnel abbog, in dem keine Zweibeiner herumwuselten.

Karacho rannte zum Tunnelende. Der Ausgang war zwar verbarrikadiert, doch Karacho nickte zu einem Stück drahtigem Flechtwerk hinüber, das dem glich, was vor seinem eigenen Bau gelegen hatte. »Durch diese Schlitze geht es hinaus.« Das Flechtwerk hing lose über einer schmalen Öffnung. Karacho bog sie mit der Schnauze zur Seite und zwängte sich hinein. Tigerherz folgte der Bahnhofskatze in einen engen, dunklen Tunnel. Ein kalter Luftzug streifte ihn. Dann sah er am Ende Licht. Aber es war nicht das grelle, gelbe Licht des Bahnhofs, sondern kühles, helles Sonnenlicht.

Tigerherz war erleichtert. Die Panik, die er verspürt hatte, seit er im Bauch der Donnerschlange gefangen gewesen war, ließ langsam nach. Er atmete tief ein und quetschte sich durch die Öffnung ins Freie.

Einmal draußen, witterte Tigerherz sofort Krähenfraß. Der saure Gestank strömte ihm ins Maul. Karacho blickte auf ein Grundstück, auf dem vier riesige, rote Formen standen, die wie quadratische Monster aussahen. Aus ihnen quoll stinkender Zweibeinerabfall.

»Sind das die ›Müllcontainer‹?«, fragte Tigerherz. Er zog sich in den Schatten der Bahnhofsmauer zurück.

»Ja.« Karacho kauerte sich neben ihn. Von ihrem Versteck aus konnte Tigerherz zwei räudige Kater beobachten, die den Boden um einen der Container herum beschnüffelten, während sich eine große, braun getigerte Kätzin oben durch die Abfälle wühlte.

»Das sind die drei«, flüsterte Karacho.

»Welcher ist der gemeinste?«, fragte Tigerherz.

»Flöte.« Karacho nickte zu dem kleineren der beiden Kater hinüber. Er war braun und weiß, hatte eine schmutzige Schnauze und seine Ohren waren vom Kämpfen eingerissen.

»Also gut.« Tigerherz schätzte die drei Katzen schnell ein. »Du musst mir gleich helfen.«

»Aber ich kann nicht kämpfen«, protestierte Karacho leise.

»Du brauchst nur eine Bewegung zu machen.« Er drehte sich zu Karacho hin und langsam, aber energisch legte er eine seiner Pfote hinter Karachos Vorderpfoten. Tigerherz zog sie rasch nach vorn und fuhr gleichzeitig mit seiner anderen Pfote leicht über Karachos Ohren.

Karacho stolperte, doch Tigerherz fing ihn auf, bevor er mit der Flanke auf den Boden knallte.

»Und jetzt probierst du dasselbe bei mir«, befahl Tigerherz.

Nachdem Karacho sich von seiner Überraschung erholt hatte, blinzelte er Tigerherz nachdenklich an. Dann konzentrierte er sich einen Moment, schlug unbeholfen Tigerherz auf die Pfoten, bekam es aber hin, ihnen – mehr durch Tempo als durch Können – einen Schlag zu versetzen, und landete dann einen fiesen Hieb, der das Ohr des Kriegers traf.

»Nicht schlecht.« Tigerherz strauchelte, fand aber rasch sein Gleichgewicht wieder. »Ich vertreibe die Kätzin vom Container. Sobald sie unten landet, machst du diese Bewegung bei Flöte.«

»Bei Flöte?«, sagte Karacho entgeistert. »Aber was tue ich, wenn er anfängt, mit mir zu kämpfen?«

»Keine Angst. Du brauchst den Kampf nur zu beginnen, den Rest erledige ich«, versprach Tigerherz. »Aber es muss unbedingt so aussehen, als hättest du sie angegriffen, sonst machen sie dir weiterhin Probleme.«

Karacho nickte.

»Vergiss nicht«, ermutigte Tigerherz ihn, »du kämpfst um dein Territorium. Alles klar?«

Karachos Augen flackerten ängstlich. Aber Tigerherz gab ihm keine Möglichkeit, zu widersprechen. »Folge mir.« Er marschierte über die Steine und sprang auf den Container, wo die getigerte Katze im Müll wühlte. Seine Pfoten versanken darin. Er schluckte den Ekel herunter, der ihn überkam, als die feuchte Suppe in seinen Pelz sickerte.

Die Kätzin schaute ihn erstaunt an. Ihr warmer Duft strich um seine Nase. »Hallo.« Sie schnippte kokett den Schwanz. »Du bist neu hier, oder?«

»Maggie! Mit wem redest du da?«, wurde von unten gezischt.

Maggie stocherte weiter im Dreck und sah genervt über den Containerrand. »Nur mit einem Fremden.« Sie warf Tigerherz einen Blick zu und zwinkerte. »Freut mich, mal einen Kater zu treffen, der so aussieht, als könnte er sich selbst ernähren.«

Tigerherz beobachtete Karacho, der auf die beiden Kater zutrottete. »Ich bin in den Bahnhof zu Karacho gezogen«, miaute er rasch. »Und wir glauben nicht, dass es hier genügend Futter gibt, das wir mit euch teilen können.« Er legte die Ohren an und fauchte warnend.

Ihr Blick wurde sofort hart. »Meinst du wirklich, du und diese Flohtüte könnt uns verjagen?« Sie kräuselte die Lippen. »Uns gehören nämlich diese Kästen hier. Und je schneller du das begreifst, desto besser.« Fauchend warf sie sich auf ihn. Er war zum Sprung bereit, doch seine Pfoten versanken im Müll. Dies war nicht der beste Kampfplatz. Als er eine weitere Attacke abwehren wollte, sackten seine Pfoten noch tiefer. Von unten hörte er ein ärgerliches Jaulen.

»Du willst kämpfen, Bahnhofskatze?«

Tigerherz bemühte sich, festen Halt unter den Pfoten zu finden. Er bäumte sich auf, um sich Maggies nächstem Angriff entgegenzustellen. Dann schlang er seine Vorderpfoten um sie, nahm sie in den Würgegriff, warf sich auf seine Flanke und rollte mit ihr durch den Müll bis zum Containerrand hinüber. Dann fielen sie herunter. Als seine Pfoten den Boden berührten, behielt er die Hinterbeine dicht am Körper, um den Aufprall der Landung abzumildern. Dabei umklammerte er Maggie noch immer.

Sie zappelte und fauchte. Hinter sich hörte er wütendes Miauen. Er blickte sich um und sah, wie Flöte zusammenbrach, als Karacho ihm einen Schlag gegen die Schnauze verpasste. Gut gemacht! Er stieß Maggie von sich und sprang zwischen Karacho und Flöte, der versuchte, wieder auf die Pfoten zu kommen.

»Hey«, fauchte Tigerherz. »Ich bin Karachos neuer Freund.« Er fuhr mit den Krallen über das Gesicht des räudigen Katers.

Dann hörte er die Kätzin hinter sich zischen und schlug mit den Hinterbeinen aus. Sie knallten gegen ihren Brustkorb. Maggie stöhnte und wankte davon.

Der andere Kater schaute regungslos von der Containerseite aus zu. Flöte zog sich fauchend zurück. Tigerherz lief zu Karacho. Maggie schaute Flöte zornig und mit gesträubtem Pelz an.

»War’s das schon?«, knurrte sie den braun-weißen Kater an. »Willst du nicht gegen ihn kämpfen?«

»Du kannst ja gegen ihn kämpfen«, fauchte Flöte. »Er hat echt scharfe Krallen.« Er tupfte seine blutige Schnauze mit einer Pfote ab.

»Er hat mich vom Container geschleudert!«, schimpfte Maggie entrüstet. Sie blickte den anderen Kater an. »Und was ist mit dir, Schnitzel? Willst nicht wenigstens du mich verteidigen?«

Schnitzel schaute nervös von Tigerherz zu Karacho. »Warum machen wir nicht einfach, dass wir wegkommen, und suchen unser Fressen woanders?«, maunzte er. »Ein paar Häuser weiter stehen noch mehr Container.«

Tigerherz fletschte die Zähne. »Gute Idee.« Diese Katzen hatten Mäuseherzen. »Sucht euch anderswo einen Platz. Das hier ist Karachos Territorium.«

Die Containerkatzen blickten einander unsicher an. Dann legte Flöte den Kopf schief. »Kommt, wir finden schon irgendwo einen Container. Hier gibt es sowieso kein anständiges Futter.« Er drehte sich um und lief den Steinweg hinunter, der zu einem Loch führte, hinter dem Monster vorbeirasten. Schnitzel blickte Karacho vorwurfsvoll an, dann machte auch er sich davon. Maggie funkelte Tigerherz an. »Du hättest nicht so gemein sein müssen.«

»Ihr habt Karacho schikaniert«, miaute Tigerherz.

»Das ist seine eigene Schuld. Er ist so erbärmlich.« Sie fauchte Karacho an und rannte hinter den anderen her.

»Wenigstens kämpft er um sein Territorium!«, rief Tigerherz ihr nach.

»Klasse!« Karacho plusterte den Pelz auf. »Die sehen wir nie mehr wieder.«

Tigerherz sah ihn an. »Schaffst du das hier alleine, wenn ich weg bin?«

»Na klar.« Karacho blinzelte ihm glücklich zu. »Ich habe ja jetzt gesehen, wie schnell sie aufgeben.«

»Wenn sie jemals lernen, wie man zusammenhält, werden sie vielleicht gefährlicher«, warnte Tigerherz ihn.

»Das werden sie nicht.« Karacho beobachtete sie, als sie um die Ecke bogen. »Die Katzen hier neigen dazu, nur an sich selbst zu denken.«

»Wo ich herkomme, achtet man aufeinander«, erzählte Tigerherz und versuchte, die Traurigkeit in seiner Brust zu ignorieren. Ihm hatte es immer so viel Spaß gemacht, mit seinen Clan-Gefährten zu jagen.

»Warum?«

Tigerherz starrte ihn an. Konnte er das denn nicht verstehen? »Katzen sind einfach stärker, wenn sie zusammenhalten.«

»Aber ist es nicht leichter, nur für sich selbst zu sorgen?«, maunzte Karacho perplex.

Bei diesen Worten kamen Schuldgefühle in Tigerherz hoch. Hatte er nicht genau das getan, als er den SchattenClan verlassen hatte? Nein! Ich werde Taubenflug finden. Sie braucht mich. Er sah Karacho an. »Du bist jedenfalls alleine nicht sonderlich erfolgreich gewesen.«

»Immerhin habe ich dich dazu gebracht, mir zu helfen.« Karacho schnippte mit dem Schwanz. »Das war ziemlich clever.«

»Du hast mich zu gar nichts gebracht. Ich wollte dir helfen.«

»Ist das so?« Karacho war erstaunt.

»Ja, so ist es.« Tigerherz betrachtete den Steinweg, den die Containerkatzen entlanggerannt waren und der zum Donnerweg führte. »Liegt der Zweibeinerversammlungsort in dieser Richtung?«

»Ja.« Karacho warf einen hungrigen Blick auf die Container. »Möchtest du nicht vielleicht erst etwas essen?«

Tigerherz klebte immer noch der ranzige Gestank des Abfalls an den Pfoten. »Nein, danke. Ich gehe später auf die Jagd.« Er reckte den Hals, schaute zu den Bauen auf, die sich um ihn herum auftürmten. Als wäre er in einem Wald, durch den er den Himmel nur mit Mühe zwischen den hohen Kronen sehen konnte. Die Sonne ging langsam hinter ihnen unter.

Karacho blickte noch immer zu den Containern hinüber. »Na, komm schon, lass uns nach etwas zu futtern wühlen. Du wirst es mögen. Ein paar Sachen schmecken wirklich gut.«

»Nein, danke.« Tigerherz wünschte, Karacho würde aufhören, ihn zu bedrängen. Er wollte herausfinden, ob der Versammlungsort jener war, von dem Taubenflug geträumt hatte. »Ich esse keinen Krähenfraß, außer ich habe keine andere Wahl.«

»Krähenfraß?«, rief Karacho erstaunt.

»Müll«, übersetzte Tigerherz.

»Krähenfraß«, wiederholte Karacho. Nachdenklich schwieg er einen Augenblick, dann blinzelte er. »Wenn er gut genug für eine Krähe ist, ist er auch gut genug für mich.«

Tigerherz’ Pelz prickelte vor Ekel. Weshalb glaubte Taubenflug, dass es besser wäre, ihre Junge an einem Ort großzuziehen, an dem Katzen dachten, nicht besser als Krähen zu sein? »Komm.« Er ging zu dem Steinweg hinüber und legte wegen des Monsterlärms die Ohren an.

Als er ein schlafendes Monster neben einer Mauer erreichte, hatte Karacho ihn eingeholt. Dem Monster fehlte eine Pfote und sein Pelz war stumpf. Tigerherz fragte sich, ob es tot war. Karacho lief gleichgültig daran vorbei. Am Ende des Steinwegs wehte der Wind um die Ecke. Er brannte Tigerherz in den Augen, sodass er die Monster und Zweibeiner, die vorbeihasteten, nur verschwommen wahrnehmen konnte. Er zögerte. Angst überkam ihn, als Karacho auf den steinernen Laufweg neben dem Donnerweg zuging.

»Wo bleibst du?« Die Bahnhofskatze winkte ihm mit dem Schwanz zu.

Tigerherz zwang sich, hinaus in diesen Massenstrom zu treten. Eine laue Brise streifte sein Fell. Ihm wurde von den glänzenden Mauern und riesenhaften Bauen schwindelig. Dächer schnitten eine gezackte Linie in den Himmel. Er wich einem Zweibeiner aus und drückte sich gegen eine Wand. »Weshalb brauchen die Zweibeiner hier solch große Baue?«, fragte er in dem Versuch, sich von der Panik abzulenken, die in seiner Brust aufstieg.

»Hier in der Stadt leben jede Menge Zweibeiner.« Karacho kauerte sich neben ihn, als Zweibeiner an ihnen vorbeieilten. »Vermutlich müssen die alle irgendwo schlafen.«

Tigerherz schaute sich die Bahnhofskatze an. Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Jenseits der Zweibeiner rasten Monster in einem endlosen Strom über den Donnerweg und kreischten dabei lauter als Gänse. Er war dankbar, dass Ajax und Federball ihm in dem kleinen Zweibeinerort beigebracht hatten, wie man den Zweibeinern und Monstern ausweichen konnte. Mochte es dort geschäftig zugegangen sein, hier war es der reinste Horror. Er starrte Karacho mit großen Augen an. »Wie findest du dich hier bloß zurecht? Es ist so viel los!«

»Tja, hier ist alles in Bewegung, aber nicht allzu schnell. Und für Zweibeiner und Monster sind wir Katzen uninteressant. Halte nur den Kopf gesenkt und komme nichts und niemandem in die Quere, dann ist alles gut. Das schaffst du schon. Komm, weiter geht’s«, miaute Karacho, ohne mit der Wimper zu zucken. Er schlich an der Wand entlang und folgte dem steinernen Laufweg, bis er den Donnerweg erreichte.

»Wo lang jetzt?« Tigerherz blickte zu dem Gang zwischen den Bauen, bei dem sich zwei Donnerwege kreuzten. Über ihren Köpfen blitzten Lichter an Stangen rot und grün auf.

»Warte, bis das Licht grün leuchtet.« Karacho zeigte auf ein Licht in Form eines Zweibeiners. »Dann überqueren wir zusammen mit den Zweibeinern den Donnerweg. Pass auf, dass keiner über dich stolpert. Das macht sie wahnsinnig.«

Tigerherz wartete auf das grüne Licht, das auf einmal aufleuchtete. Die Monster blieben stehen, als stünde nun eine unsichtbare Wand vor ihnen. Dann gingen die Zweibeiner über den Donnerweg.

»Jetzt!« Karacho schubste Tigerherz mit seiner Schulter nach vorne.

Tigerherz stapfte los. In panischer Angst konzentrierte er sich auf den Donnerweg, der sich glatt unter seinen Pfoten anfühlte, und unterdrückte das Verlangen, einfach loszuspurten. Zweibeiner wuselten um sie herum. Er wollte nicht riskieren, jemanden zu Fall zu bringen. Erleichterung überkam ihn, als er endlich den Laufweg auf der anderen Seite erreichte. Karacho führte ihn nun zu einem anderen Laufweg, der einen noch breiteren Donnerweg säumte.

Tigerherz richtete den Blick strikt nach vorne. Der Lärm und das Treiben um ihn herum betäubten seine Sinne. Wie hatte Taubenflug sich bloß einen Weg durch dieses dröhnende Getümmel gebahnt? »Ist es noch weit bis zum Versammlungsort?«

»Nur ein paar Wohnblöcke.« Karacho legte nun einen Zahn zu, da die Menge an Zweibeinern sich lichtete. Er bog in einen ruhigeren, schmaleren Laufweg, in dem es nicht vor Zweibeinern und Monstern wimmelte.

Sie überquerten weitere, immer ruhiger werdende Donnerwege, bis sich vor ihnen endlich eine Lücke zwischen den Bauen auftat und Tigerherz eine grüne Lichtung entdeckte. Sein Herz jubelte beim Anblick von Gras und Bäumen. In der Mitte der Lichtung stand ein Bau, rundlich im Vergleich zu den Bauen, die sich um ihn herum auftürmten. Seine Steinwände waren mit farbigen Steinstreifen durchsetzt, die die späte Nachmittagssonne wie ein zerbrochener Regenbogen reflektierten. Ein schräges Dach bedeckte den Bau. Es sah aus wie ein knochiger Rücken und an einem Ende ragte ein riesiger Stachel in den Himmel, als wollte er die Wolken aufspießen. »Der Ginsterstachel!« Tigerherz hielt an und starrte. War das der Bau, von dem Taubenflug geträumt hatte? Natürlich. Er musste es sein! Er war dem Silberweg gefolgt und hier stand er nun.

Karacho stellte sich zu ihm. »Jetzt kommst du alleine zurecht, oder?« Er neigte den Kopf vor Tigerherz. »Vielen Dank, dass du Flöte und die anderen in die Flucht geschlagen hast. Ich werde wohl für eine Weile ruhiger schlafen können.«

Tigerherz riss seinen Blick vom Stachel los. »Falls sie zurückkommen, setze die Kampftechnik ein, die ich dir beigebracht habe.«

»Das werde ich.« Karacho sah ihn zufrieden an. »Viel Glück. Hoffentlich findest du deine Freundin.«

»Ja, das hoffe ich auch.«

Die Bahnhofskatze drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Tigerherz blickte wieder zum Versammlungsort hinüber. Er schien verlassen zu sein. Auch die grüne Lichtung lag verlassen vor ihm. Dünne Steinplatten standen aufrecht und ordentlich aufgereiht auf dem Gras. Tigerherz rannte los. Gras! Er wollte Gras unter den Pfoten spüren. Er schnupperte und hoffte, Taubenflugs Duft einzufangen. Sein Herz zog sich zusammen, als er sich dem glitzernden Riesenbau näherte. Ich bin hier … Ich hoffe nur, Taubenflug auch.