18. KAPITEL

Malefiz führte Tigerherz weg, während Piek Taubenflug zu ihrem Nest brachte.

»Aber sie braucht mich.« Tigerherz beobachtete Taubenflug, die mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die haarlosen Felle sank.

»Piek kümmert sich um sie.« Malefiz nickte Erdnuss zu, die bereits zu der keuchenden Taubenflug unterwegs war. »Erdnuss hat schon Junge bekommen, nun hilft sie anderen Katzen bei der Geburt.« Sie blickte Tigerherz freundlich an. »Hier kommen eine Menge Kätzinnen durch. Piek und Erdnuss wissen, was sie tun.«

»Ich möchte bei ihr sein.« Seine Brust war auf einmal so eng, dass Tigerherz nach Atem ringen musste.

»Bitte, beruhige dich.« Malefiz fixierte ihn, ihre Augen schimmerten. »Ich weiß, es ist dein erster Wurf. Alles wird gut.«

»Es ist meine Schuld, dass sie jetzt schon wirft.« Das schlechte Gewissen kroch ihm unter den Pelz. »Ich habe sie zu sehr aufgeregt.«

»Wenn eine Kätzin in diesem Zustand ist, hat immer irgendein Kater sie in Aufregung versetzt. Es gibt eine Menge unerwarteter Würfe«, miaute Malefiz beschwichtigend.

»Ach, ich hätte mein Maul halten sollen.« Tigerherz’ Gedanken wirbelten umher. Warum nur in SternenClans Namen hatte er Pieks Traum erwähnt? Taubenflug hatte im Moment doch schon genug Sorgen.

»Tigerherz!« Taubenflugs Ruf riss ihn aus seinen Gedanken.

Er drehte ihr die Schnauze zu. Sie starrte ihn an, Schmerz glitzerte in ihrem wilden Blick. »Sitz nicht herum wie ein Hase, mach dich nützlich!« Sie rang nach Luft, als Erdnuss ihr über den Bauch strich.

Tigerherz blieb versteinert in seiner Panik stehen. »Was soll ich denn machen?«

»Bring mir einen Stock, auf den ich beißen kann«, stöhnte Taubenflug. »Ich will nicht, dass diese Katzen mich wie ein Junges schreien hören!«

Tigerherz nickte und rannte zum Höhleneingang. Er zwängte sich nach draußen und hastete zu dem Kastanienbaum hinüber, unter dem er mit Piek gesessen hatte. Die Zweibeiner jaulten immer noch im Versammlungsort. Ein Monster raste vorbei. Weiße Wolken besprenkelten den Himmel. Tigerherz durchkämmte das Gras und fand zu seiner Erleichterung einen robusten Stock unter dem Baum. Er beugte den Kopf und nahm ihn ins Maul. Er fühlte sich gut an. Keine Rinde splitterte vom weichen Holz. Ideal für Taubenflug. Schnell brachte er ihn in die Höhle, scheiterte aber beim ersten Versuch, ihn durch das Loch zu zwängen. Schließlich schob er ihn, mit dem Ende zuerst, hindurch. Der Stock fiel auf den Absatz und polterte zu Boden.

Malefiz und Schlingel drehten sich um und sahen, wie er langsam ausrollte. Funke rannte durch die Höhle und stellte sich neben den Stock. »Wofür brauchst du denn einen Stock?«, fragte er, als Tigerherz neben ihm landete.

»Er ist für Taubenflug.« Tigerherz hob ihn auf und brachte ihn zu ihrem Nest.

»Und wofür braucht sie einen Stock?« Funke folgte ihm.

»Um draufzubeißen.« Tigerherz schaffte es fast nicht, ihm mit dem Stock zwischen den Zähnen zu antworten. Er legte ihn neben das Nest. »Er wird sie vom Schmerz ablenken.«

Funke stellte sich zu ihm und starrte ins Nest. Erdnuss beruhigte Taubenflug, indem sie sie behutsam hinter den Ohren leckte. Piek lehnte sich ins Nest und massierte ihren Bauch. Taubenflug krümmte sich, ein Krampf schüttelte ihren Körper. »Wieso bekommen Katzen überhaupt Junge?«, fragte Funke.

Piek drehte sich zu dem kleinen Kater um. »Funke«, miaute er leise. »Taubenflug braucht Wasser. Such einen Bausch und halte ihn unter das Tropfenrohr. Dann bringst du ihn hierher. Aber warte, bis der Bausch wirklich genug Wasser aufgesaugt hat, bevor du damit wiederkommst.«

Funke nickte ernst, dann flitzte er los.

Tigerherz beobachtete Taubenflug, als ein neuer Krampf sie überfiel. »Geht es ihr gut?«

Taubenflug blickte ihn an. »Wo ist der Stock?«, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Schnell legte Tigerherz ihn ins Nest. Sie steckte ihn sich zwischen die Kiefer und stöhnte, als wieder ein Krampf kam, der sie erstarren ließ. Sie zuckte erst, dann versteifte sie sich.

Piek brach in Schnurren aus, als ein kleiner, nasser Klumpen ins Nest glitt. Rasch knabberte er die Haut der Fruchtblase auf und schälte das verklebte Fellbündel heraus. Er legte es neben Taubenflugs Wange. »Begrüße deine Erstgeborene.«

Taubenflug ließ den Stock los und schleckte, laut schnurrend, das winzige Kätzchen ab. Es rekelte sich und maunzte leise.

»Du hast eine Tochter.« Piek blinzelte Tigerherz glücklich an.

Tigerherz starrte auf das Katzenjunge und konnte seinen Augen kaum trauen. Dieses kleine Fellpäckchen war der Grund für all die Qualen und Sorgen der vergangenen zwei Monde. Vor Freude machte sein Herz einen Sprung. Er schnurrte. »Ist sie nicht wunderschön?« Wie hatte er nur jemals daran zweifeln können, hier mit Taubenflug zu bleiben? Er schmiegte seine Schnauze erst an die des Kätzchens, dann an Taubenflugs Wange.

Auch sie schnurrte. Ihre Blicke trafen sich, als sie ihre Nase an seine drückte. »Sie ist so weich und …« Ein Krampf unterbrach sie. Sie schob Tigerherz zur Seite, legte das Junge neben ihre Brust und klemmte sich den Stock wieder zwischen die Zähne. Sie zuckte, sie stöhnte und ein weiteres Kätzchen glitt ins Nest.

»Ein Sohn«, miaute Piek fröhlich und legte das glitschige Bündel neben das erste.

Tigerherz betrachtete Taubenflug, die erneut auf den Stock biss.

»Noch eine Tochter.« Piek nahm sie und legte sie zu den anderen beiden. Er strich über Taubenflugs Bauch. »Es ist geschafft.« Er setzte sich auf sein Hinterteil und schaute Erdnuss an.

Erdnuss schnurrte. »Es ist immer schön, bei einem Wurf zu helfen, wenn man sonst nur Kranke und Verwundete pflegt.« Ihr Blick wanderte hinüber zu Goldmaries Nest, das leer war.

Auch Tigerherz sah es jetzt. Stiefel, die einäugige Katze, nahm das haarlose Fell zwischen die Zähne und schüttelte es aus. »Wo ist Goldmarie?«

Piek nahm Tigerherz zur Seite und flüsterte. »Sie ist letzte Nacht gestorben. Sie ist jetzt von ihrem Leid erlöst.«

Tigerherz wurde sehr traurig, doch Erdnuss’ Maunzen lenkte ihn ab.

»Das hast du gut gemacht.« Erdnuss neigte ihren Kopf zu Taubenflug. Als Tigerherz zum Nest zurückkam, trottete die Schildpattfarbene davon.

Piek folgte ihr, und Tigerherz merkte plötzlich, dass er mit Taubenflug und seinen neugeborenen Jungen allein war. Sein Pelz kribbelte vor Nervosität. Was sollte er nun tun? Taubenflug leckte die Kinder, bis sich die nassen Felle plusterten, dann schob sie die drei an ihren Bauch, wo sie die Schnauzen hineindrückten, bis sie Milch fanden. Taubenflug schnurrte und rollte sich um sie herum. Sie schien instinktiv zu wissen, was sie tun musste. Genau wie die Kätzchen. Tigerherz’ Magen zog sich zusammen, als er sich der großen Verantwortung bewusst wurde, für sie zu sorgen. Der Frieden, den er empfunden hatte, seit er nicht mehr beim SchattenClan war, schien sich wie Morgennebel aufzulösen. Alle Stricke, die ihn früher schon eingeengt hatten, schnürten ihn nun plötzlich wieder ein. Er hatte seinen Clan verlassen, doch irgendwie war er noch immer fest in seinem Griff. Diese Jungen waren seine, er musste sie schützen und großziehen. Und doch waren sie sowohl Teil von ihm als auch vom SchattenClan – und er war es auch.

Taubenflug sah ihn schläfrig, aber mit liebevollem Blick an. »Sind sie nicht perfekt?«

»Ja.« Tigerherz kauerte sich unbeholfen neben das Nest. Er hob die Schnauze und beschnüffelte die Kätzchen. Im Schatten unter dem Holzabsatz konnte er nun auch ihre Farben erkennen. Eine seiner Töchter war grau wie Taubenflug, die andere getigert wie er und sein Sohn war grau getigert mit breiten dunklen Streifen an den Flanken. Sie waren warm und rochen süß. Sein Sohn miaute entrüstet, als Tigerherz dessen häschenweiches Fell schleckte. Er drückte sich fester an Taubenflugs Bauch. »Ich glaube, er mag mich nicht«, flüsterte Tigerherz ängstlich.

»Natürlich tut er das. Du bist sein Vater.« Taubenflug berührte seine Wange und die Zärtlichkeit dieser Berührung ließ ihn sich wegen des vorherigen Streits wieder schuldig fühlen.

»Es tut mir so leid«, murmelte er. »Ich hätte dir nicht von Pieks Traum erzählen sollen. Aber ich kann dich doch nicht anlügen. Du musst einsehen, dass du das Wichtigste in meinem Leben bist, aber was bin ich ohne meine Loyalität zu meinem Clan?«

Sie schaute ihn sanftmütig an. »Das weiß ich. Deine Loyalität macht dich zu dem, der du bist. Und ich bin mir sicher, dass du unsere Kinder mit derselben Loyalität lieben wirst, mit der du deinen Clan liebst. Ich liebe dich, Tigerherz. Und ich hätte dich auch geliebt, selbst wenn du mir nicht gefolgt wärst. Ich werde dich immer lieben.« Sie überlegte kurz, ihre blauen Augen strahlten. »Nicht nur, weil du der Vater meiner Kinder bist, sondern weil du bist, wie du bist. Es tut mir leid, dass ich dich dazu gebracht habe, dich zwischen mir und deinem Clan zu entscheiden. Keine Katze sollte solch eine Entscheidung treffen müssen. Ich hatte Angst, das alles alleine durchzustehen. Ich war ein Feigling.«

»Nein!« Er leckte ungestüm ihre Wange, sein Herz hüpfte vor Stolz. »Du warst tapfer. So tapfer. Und ich hätte dich auch immer geliebt, selbst wenn mich mein Clan von dir ferngehalten hätte. Nichts könnte an meinen Gefühlen zu dir etwas ändern.«

Fest erwiderte sie seinen Blick. »Wir werden uns immer lieben. Aber wir haben beide eine Verantwortung unseren Clans und unseren Jungen gegenüber. Wir sind Krieger …«

Tigerherz unterbrach sie. »… und unsere Jungen werden ebenfalls Krieger.«

Taubenherz nickte. »Sie werden in einem Clan aufwachsen.«

Er war erleichtert, Einverständnis in ihren blauen Augen schimmern zu sehen.

»Ja.« Er schnurrte. Taubenflug schnurrte ebenfalls.

»Aber zuerst müssen sie viel trinken, um kräftig genug für die Wanderschaft zu sein.«

»Sie gehen auf keinen Fall in den Bauch einer Donnerschlange«, maunzte Tigerherz ernst.

»Nein«, miaute Taubenflug amüsiert. »Donnerschlangen sollen ihre Bäuche mit Zweibeinern füllen. Unsere Junge laufen auf ihren eigenen Pfoten.«

Tigerherz bemerkte die Müdigkeit in ihren Augen. »Du musst erschöpft sein. Schlaf jetzt. Ich passe auf.«

Taubenflug blinzelte ihn dankbar an, dann blickte sie in die Höhle. Die Wächterkatzen saßen in Gruppen beieinander und teilten Frischbeute. Fäustling begleitete Winzling und Funke durch den Eingang nach draußen. Malefiz döste in einem Sonnenstreifen. »Du musst nicht Wache halten«, maunzte sie schläfrig. »Das tun sie schon für uns.« Sie schloss die Augen und legte das Kinn auf die Pfoten. Die Kätzchen waren ruhig und schnurrten leise.

Tigerherz legte den Kopf an die Seite des Nestes. Zufriedenheit umhüllte ihn wie eine warme Brise. Er beobachtete die schlafende Taubenflug. Als er Pfotenstapfen hinter sich hörte, hob er den Kopf und schaute sich um.

Piek kam auf ihn zugetrottet. Der klare Blick, den er während der Geburt gehabt hatte, war verflogen. Tigerherz bemerkte, dass die gelben Augen wieder so glasig wie bei ihrer ersten Begegnung waren. Vielleicht hatte er ja gerade eine seiner Visionen?

Tigerherz setzte sich auf und versperrte leicht den Weg zu seinen Jungen. »Piek? Alles in Ordnung?«

Piek starrte an ihm vorbei, den Blick auf seinen winzigen, grau getigerten Sohn gerichtet. Das Fell am Rückgrat kräuselte sich. »Er wird in die Schatten blicken können.«

Tigerherz riss die Augen auf. »Wie meinst du das?«

Doch Pieks Blick war abwesend. Er trottete wieder davon.

Irritiert schüttelte Tigerherz sein Fell. Sei doch nicht dumm. Er ist keine Heilerkatze. Er blickte Piek hinterher. Aber warum hat er schon wieder über Schatten gesprochen? Hatte dieser Kater etwa geheime Beziehungen zum SchattenClan? Sprach der SternenClan vielleicht doch durch ihn?

Tigerherz trippelte nervös umher. Er schaute hinauf zur weißen Höhlendecke und überlegte, ob der SternenClan sie hier sehen könnte. Wir gehen in den Wald, sobald wir können, versprach er. Dann schaute er einmal mehr Taubenflug und ihre Kätzchen an, beugte sich vor und atmete deren Duft ein. Sein Herz war voller Liebe. Er legte sich neben das Nest und schloss die Augen.