32. KAPITEL

»Piek!« Tigerherz konnte nicht glauben, was er gesehen hatte. Er kann nicht tot sein! Als er die Brücke weiter hinunterrutschte, scheuerte der raue Stein des Donnerwegs an seinem Bauch. Dann landete er unsanft und blickte sofort blindlings nach oben.

Taubenflug kam neben ihm auf und stöhnte laut, als sie festen Boden unter den Pfoten hatte. »Springjunges.« Sie eilte zu ihrer Jungen und liebkoste sie, immer noch vollkommen verstört.

Tigerherz konnte sich nicht rühren. »Piek.« Sein Miauen war nicht mehr als ein hilfloses Wispern.

»Wir müssen von der Brücke runter.« Ameise stupste ihn an die Schulter.

Tigerherz starrte ihn ungläubig an. »Und was ist mit Piek?«

»Er ist im Fluss!« Funke war bereits an den Rand des Donnerwegs geeilt und kletterte das steile Grasufer hinunter zum Wasser.

Rieselschweif, Kleefuß und Zimtstange rannten hinter ihm her, während Sperlingschweif dafür sorgte, Beerenherz, Taubenflug und die Jungen an den Rand des Donnerwegs zu führen.

Von dem Schock war Tigerherz’ Maul ganz trocken. »Er kann nicht schwimmen.« Der Fluss war so riesig. Wie sollte eine Katze da überleben?

»Komm schon.« Ameise versetzte ihm einen Schubs nach vorne. »Er könnte es zum Ufer geschafft haben.«

Tigerherz konnte kaum glauben, was gerade passiert war. Benommen rannte er hinter Ameise her. Und während er den anderen zum Flussufer folgte, schlidderten seine Pfoten über das Gras.

Funke beugte sich soweit er konnte über das unruhige Wasser und beobachtete verzweifelt die Oberfläche.

Zimtstange und Kleefuß kamen unter der Brücke hervorgehuscht und fixierten die Bewegungen auf dem Fluss. Tigerherz blickte ausdruckslos auf das schwebende Monster, das sich nun durch die Lücke schob, die die zerrissene Brücke geöffnet hatte. Die Fluten wirbelten an den Flanken und strudelten am Schwanz des Monsters.

Eine schreckliche Vorstellung machte sich in Tigerherz’ Kopf breit. Sofort schnürte sich sein Bauch zu. Selbst wenn Piek den Fall überlebt hätte und es schaffen würde, an die Oberfläche zu kommen, würde ihn das Monster bestimmt erwischen und zerkauen.

»Ich kann ihn nicht sehen!«, rief Funke panisch. Er lief am Ufer auf und ab und versuchte verzweifelt, den schwarzen Kater zu finden.

Hatte Piek das vorhergesehen? Hatte er das schon geahnt, als er die Überquerung vorschlug? Warum hat er keinen anderen Weg genommen? Tigerherz schluckte schnell den Kummer herunter, der ihn zu überwältigen drohte. Er konnte sich jetzt nicht gehen lassen. Funke brauchte ihn. Die ganze Patrouille brauchte ihn. Er musste stark sein. Keine Spur von Piek. Kein schwarzes Fell, weder an der einen noch an der anderen Seite des Ufers. Der Fluss hatte ihnen Piek genommen.

Er trottete zu Funke und wartete, bis der junge Kater aufhörte, hin- und herzulaufen. Als er schließlich über das schlammige Wasser blickte, lag tiefer Schmerz in seinen bernsteinfarbenen Augen. Nun war auch das schwimmende Monster verschwunden. Über ihnen senkte die Brücke gerade wieder langsam die Schenkel. Tigerherz hörte das Klappern der Zäune, die sich wieder erhoben, und danach das Rumpeln der Monster, die sich wieder in Bewegung setzten. »Er hat Springjunges gerettet«, flüsterte er.

Funke schaute Tigerherz in die Augen. Unendliche Trauer zerknautschte sein junges Gesicht. »Warum hat er bloß keinen anderen Weg gewählt, um den Fluss zu überqueren?«

Tigerherz erwiderte seinen Blick. »Es gab keinen anderen Weg.« Soweit das Auge reichte, erstreckte sich der Fluss auf beiden Seiten. Mit der Nase berührte Tigerherz sanft Funkes Ohr und versuchte, ihn zu trösten. »Wir werden uns immer an ihn erinnern. Der SternenClan wird sich an ihn erinnern.« Tigerherz schaute hinauf in den dunkler werdenden Himmel, wo sich bereits die ersten Sterne zeigten.

»Seine Prophezeiungen haben mir und Taubenflug geholfen. Sie haben uns zu Clan-Gefährten geführt, die ich für immer verloren geglaubt hatte.«

Rieselschweif trat an Tigerherz’ Seite. »Wie sollen wir den richtigen Weg finden, jetzt, da Piek weg ist?« Tiefe Sorge trübte den Blick des weißen Katers.

Funke stellte das Fell auf. »Oh, jetzt also vertraust du ihm?« Zornig blaffte er Rieselschweif an: »Piek ist gestorben, weil er versucht hat, euch zu helfen. Stört dich da nun wirklich bloß, dass wir ab sofort keinen Wanderführer mehr haben?«

Betroffen senkte Rieselschweif den Blick. »Natürlich nicht, aber wie finden wir denn heraus, wo wir …« Er brach mitten im Satz ab und daraufhin schob sich Sperlingschweif nach vorne.

»Rieselschweif wollte nicht respektlos erscheinen.« Er schaute zu Beerenherz, die mittlerweile gemeinsam mit Taubenflug und den Jungen den Hang hinuntergeklettert war und bei den anderen wartete. »Aber wir müssen nach Hause, bevor Beerenherz wirft.«

»Vor allem jetzt, da wir Piek verloren haben.« Zimtstange befand sich an Funkes Seite. »Er war schließlich der einzige Heiler unter uns.«

»Am besten gehen wir zurück zum Silberweg.« Kleefuß’ Schwanz zuckte ängstlich. »Immerhin wissen wir, dass er zum See führt.«

»Den Weg zurückzufinden, würde viel zu lange dauern«, warf Ameise ein.

»Aber ohne Führer irren wir vielleicht ewig umher.« Zimtstange schaute nachdenklich über den Fluss. »Natürlich ist es besser, länger unterwegs zu sein, aber dafür auf einem sicheren Weg, der in die richtige Richtung führt.«

»Ich denke, wir sollten diesen Weg weitergehen.« Funke deutete mit der Schnauze auf die Seite des Tales, wo der Donnerweg die Hügel durchschnitt. »Piek meinte, dort wäre ein Zweibeinerort, um den wir herumgehen müssen.«

»Und wie geht es danach weiter?« Tigerherz blickte den jungen Kater eindringlich an.

Funke schaute zu Boden. »Darüber hat Piek nichts gesagt.«

Tigerherz hielt kurz inne und wünschte, es wäre ihm weniger schwer ums Herz. »Als ich den SchattenClan verließ, kam ich auch an einem Zweibeinerort vorbei«, miaute er ermutigend. »Vielleicht ist es ja derselbe …«

»Ich finde, wir sollten weiterlaufen«, gab Zimtstange daraufhin nach. »Wenn wir uns verlaufen, können wir immer noch versuchen, zurück zum Silberweg zu finden.«

Nervös zuckte Kleefuß’ Nackenpelz. »Auf diese Weise könnten wir noch viele Monde unterwegs sein.«

»Wir sind doch schon so weit gelaufen.« Taubenflugs blaue Augen blitzten im Dämmerlicht. »Bestimmt sind wir nicht mehr weit entfernt vom See. Wir werden ihn sicherlich bald finden.«

Tigerherz blickte sich in der Runde um. Alle schienen zu zweifeln. »Wir folgen dem Weg, den Piek eingeschlagen hat«, miaute er dann bestimmt. »Er hätte uns gar nicht erst auf diesen Weg gebracht, wenn er geglaubt hätte, dass wir unser Ziel nicht erreichen können.«

»Piek hat gewusst, dass wir uns auch allein zurechtfinden würden«, meinte Ameise.

Zimtstange und Funke nickten. Zuerst widerwillig murrend, stimmten daraufhin auch Kleefuß, Beerenherz, Sperlingschweif und Rieselschweif zu.

Lichtjunges blickte aufgeregt dorthin, wo der Donnerweg die Hügel durchschnitt. »Folgen wir jetzt den Monstern zum Zweibeinerort?«

»Nein.« Tigerherz zeigte zu dem Hügel, der sich in der Nähe erhob. Bäume und Sträucher bedeckten den Abhang. Der Boden wirkte weich und die Umgebung würde Schutz bieten.

Rieselschweif folgte seinem Blick. »Sieht aus wie eine großartige Stelle, um Beute zu fangen.«

Tigerherz sah fragend zu Taubenflug. »Geht es den Kleinen gut?« Springjunges, Lichtjunges und Schattenjunges drängten sich dicht an ihre Mutter und blickten ihn aus großen, bekümmerten Augen an.

»Ja, es geht ihnen gut, aber es war ein langer Tag«, sagte Taubenflug. »Wir sollten bald ein Lager aufschlagen.«

»Sobald wir vom Fluss weg sind.« Funke blickte auf den Strom. In seinen Augen lag neuerlicher Schmerz.

»Lasst uns noch bis Sonnenuntergang weitergehen. Dann jagen wir und ruhen uns für den Rest der Nacht aus«, schlug Ameise vor.

»Okay.« Tigerherz straffte die Schultern und führte daraufhin die Gruppe fort vom Fluss. Mit jedem einzelnen Schritt seiner Pfoten wurde die Trauer um den Verlust von Piek schlimmer. Darüber hinaus bedauerte er zutiefst, jemals an ihm gezweifelt zu haben. Diese Reue steckte in ihm wie eine Klaue, die versuchte, ihm den Bauch aufzureißen.

Piek ist vielleicht nicht in einem Clan aufgewachsen, dachte er, aber wenn wir es zurück zum See geschafft haben, und wenn der SchattenClan zu alter Kraft zurückgefunden hat, dann hat Piek mehr für unseren Clan getan als manche unserer eigenen Krieger.

Auch als der Hang steiler wurde, lief Tigerherz unvermindert weiter und duckte sich im dichten Farn. Alle bewegten sich schweigend. Nach und nach drangen sie in wilderes Gestrüpp vor. Der Wind bewegte die Bäume und Sträucher um sie herum. Bald darauf stapfte die Gruppe durch ein Waldgebiet. Über ihnen in den Baumkronen begannen Vögel ihr Abendlied. Der Mond war nun vollständig aufgegangen und brannte geradezu einen Fleck in den dunklen Himmel. Als sie endlich eine Lichtung inmitten der Bäume erreichten, blieb Tigerherz stehen.

»Sollen wir hier das Lager aufschlagen?« Rieselschweif hielt neben Tigerherz.

Der schaute vorbei an den Baumstämmen. Weit unten spiegelte sich der Mond im Fluss. Das Bild, das sich in seinen Verstand gebrannt hatte, seit sie das Flussufer verlassen hatten, tauchte nun noch klarer vor seinem inneren Auge auf: Piek, wie er zuerst Springjunges hochhob, um sie in Sicherheit zu bringen, dann aber selbst wankte und schließlich verschwand …

Piek, der sein Leben ohne zu zögern für Katzen gab, die er nicht besonders lange gekannt hatte, und für eine Lebensweise, die er überhaupt nicht gekannt hatte. »Wir sollten ihm die letzte Ehre erweisen.«

Rieselschweif blinzelte ihn überrascht an. »Was?«

Funke eilte näher. »Sprichst du von Piek?«

»Ja.« Tigerherz beobachtete, wie seine Jungen langsam näher tapsten. Sie wirkten müde, aber sie waren in Sicherheit. »Piek hat Lichtjunges vor der Donnerschlange gerettet und Springjunges vor dem Fluss«, miaute er. »Er war genauso tapfer wie jeder andere Krieger und darum sollten wir ihn als Krieger ehren.«

»Wie denn?« Kleefuß schien verwirrt.

Sperlingschweif neigte unsicher den Kopf zur Seite. »Sollen wir heute Nacht eine Totenwache für ihn abhalten?«

»Eine Totenwache ist nicht genug, um ihm für das zu danken, was er getan hat.« Tigerherz blickte auf seine Clan-Gefährten. »Er war loyal und mutig. Er sollte einer von uns werden.«

Rieselschweif schaute hinauf zu den Sternen. »Aber wie?«

»Lasst uns eine Namenszeremonie für ihn abhalten und ihm einen Namen geben, wie ihn Clan-Katzen tragen.«

Funke spitzte aufmerksam die Ohren. Zum ersten Mal wich die Trauer aus seinen Augen. »Ein Kriegername?«

»Aber er ist tot«, sagte Kleefuß. »Es ist zu spät.«

Tigerherz trat aus dem Schatten der Bäume und das Mondlicht fiel auf sein Fell. »Der SternenClan kannte ihn. Sie werden uns zusehen. Sie werden es erfahren, und sobald er seinen Kriegernamen hat, wird er unter ihnen wandeln können wie der Krieger, der er immer war, obwohl er nie die Gelegenheit hatte, wie ein Krieger zu leben.«

»Du bist aber kein Anführer«, entgegnete Sperlingschweif. »Wie kannst du da jemandem einen Kriegernamen verleihen?«

Taubenflug trat vor. »Tigerherz ist allerdings Anführer dieser Patrouille.«

Beerenherz hockte sich erschöpft hin. »Wie kann eine Katze, die den SchattenClan nie kennengelernt hat, ein SchattenClan-Krieger werden?«

Funke blitzte sie trotzig an. »Er kannte doch dich und Tigerherz und Riesel–«

Kleefuß unterbrach ihn. »Das stimmt. Er hat unseren Clan durch uns gekannt. Und weil er uns gefunden und Tigerherz’ Kinder beschützt hat, hat er während der vergangenen Monde mehr für den SchattenClan getan als wir.« Genau, dachte Tigerherz. Als Kleefuß daraufhin von Beerenherz zu Rieselschweif und zu Sperlingschweif schaute, konnte jeder ihr schlechtes Gewissen erkennen. Dann blinzelte sie Tigerherz erwartungsvoll zu. »Ich finde, er hat sich seinen Kriegernahmen verdient.«

Rieselschweif senkte ergeben den Kopf. »Einverstanden.«

Auch Sperlingschweif und Beerenherz nickten zustimmend. Schließlich hob Tigerherz die Schnauze zu den Sternen. »Ich, Tigerherz, Zweiter Anführer des SchattenClans und Anführer dieser Patrouille, rufe meine Kriegerahnen an und bitte sie, Piek zu ehren. Er hat das Gesetz der Krieger nie kennengelernt und doch lebte er danach. Er hat die Kranken geheilt und die Schwachen beschützt. Er hat sein Leben für andere gegeben. Der SternenClan möge ihn als Krieger willkommen heißen. Piek, von diesem Augenblick an wirst du Piekhelle heißen. Der SternenClan ehrt deine Visionen und deine Weisheit.«

»Piekhelle.« Funke hauchte den neuen Namen seines Freundes.

»Piekhelle!«, rief Taubenflug, und als sie zu Springjunges sah, glänzten ihre Augen.

»Piekhelle! Piekhelle!« Während sie Piekhelles Kriegernamen feierten, übertönten die lauten Rufe sogar das Abendlied der Vögel in den Bäumen.

Tigerherz blickte noch einmal Richtung Fluss. Als die Jubelschreie der anderen langsam verstummten, betete er still zum SternenClan. Ich hoffe, er ist jetzt bei euch sicher. Ehrt ihn. Ich hoffe, eines Sonnenaufganges an seiner Seite zu wandeln.

Dann öffnete er wieder die Augen und sah vor sich die versammelten Katzen, deren Augen vor Aufregung leuchteten. Nach all der Zeit fühlte es sich einfach gut an, ein Ritual des Clans zu pflegen.

Ameise trat unsicher von einer Pfote auf die andere. »Sollen wir jetzt jagen gehen?« Der braun-schwarze Kater beobachtete schon das Unterholz um die Lichtung herum.

Auch Tigerherz konnte das Rascheln von Beute hören. Eichhörnchenduft stieg ihm in die Nase. Die Jungen waren sicher hungrig. »Ja.«

»Ich bleibe hier.« Funke warf Tigerherz einen feierlichen Blick zu. »Sperlingschweif meinte doch, ihr ehrt gefallene Krieger mit einer Mahnwache. Ich will für Piekhelle Wache halten.«

Tigerherz senkte den Kopf. »Sobald die Kleinen gegessen und warme Nester zum Schlafen haben, werde ich mit dir Wache halten.«

Funke blinzelte ihm dankbar zu. Doch plötzlich ächzte Beerenherz vor Schmerz auf.

Taubenflug eilte sofort an die Seite der Königin, während Beerenherz sich auf die Seite legte. »Was ist los?«, fragte Taubenflug.

Beerenherz stöhnte verzweifelt auf. »Die Jungen! Ich glaube, sie kommen.«

Tigerherz hielt sich fern, während Beerenherz die ganze Nacht über jammerte und stöhnte. Gemeinsam mit Funke hockte er etwas abseits von dem Nest, das Sperlingschweif und Kleefuß rasch für die Königin hergerichtet hatten. Rieselschweif und Ameise eilten hin und her, tränkten Moos in einem nahen Bach, holten Stöcke und bewegten sich vorsichtig, während Taubenflug und Zimtstange bei Beerenherz saßen und versuchten, ihr bei der Geburt beizustehen. Zimtstange wirkte etwas beunruhigt.

Funke schwieg, während sich der Mond sachte über die Baumwipfel schob. Der junge Kater schien in Gedanken versunken und hielt still Mahnwache für seinen Freund, während die anderen geschäftig hin und her hasteten.

Tigerherz schwankte zwischen Trauer um Piekhelle und Sorge um Beerenherz. Warum mussten die Jungen ausgerechnet jetzt kommen? Die Gruppe befand sich noch nicht einmal in der Nähe des SchattenClans. Die Umgebung hier war ihm nicht vertraut und die Strecke, die noch vor ihnen lag, ohne Piekhelles Führung vollkommen ungewiss. Er wartete geradezu darauf, dass die Sorge in pure Angst umschlug. Doch stattdessen verwandelten sich die Ängste im Laufe der Nacht in Zuversicht. Piekhelle gehörte nun zum SternenClan und war dort sicherer als je zuvor. Und Beerenherz’ Junge würden morgen früh auf der Welt sein.

Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen. Er wusste, was zu tun war. Neugeborene konnten nicht reisen. Die Patrouille würde hierbleiben, bis Beerenherz’ Junge kräftig genug waren, um die Wanderschaft gemeinsam mit ihrer Mutter zu Ende zu bringen. Dieser bewaldete Abhang war gar kein schlechter Ort. Der Bach, den Ameise entdeckt hatte, verlief ganz in der Nähe und sprudelte frisch und klar. Der Wald strömte den sauberen, knackigen Geruch von Wildnis aus, unberührt vom Gestank des Donnerwegs, der sogar so weit weg war, dass man ihn nicht einmal hören konnte. Die Beute, die sie finden würden, wäre frisch, und die Bäume würden ausreichend Schutz bieten, selbst wenn das Wetter von Frost zu Schnee umschlug.

Als er das Maunzen von Beerenherz’ erstem Jungen hörte, umgab Tigerherz zum ersten Mal seit einem Mond das Gefühl von Frieden. Er erinnerte sich an die ersten und so glücklichen Sonnenaufgänge mit Springjunges, Lichtjunges und Schattenjunges. Da es ab sofort nichts anderes zu tun gab, als zu warten, konnte er genauso gut die Annehmlichkeiten ihres provisorischen Zuhauses genießen. Als die Morgendämmerung langsam den Himmel hinter dem Hügel erleuchtete, stieg Tigerherz den Abhang weiter hinauf, um die aufgehende Sonne zu sehen. Ein Kaninchen verirrte sich auf seinen Weg, und Tigerherz verfolgte und jagte ihn mit solch sorglosem Genuss, wie er es seit seiner Ausbildungszeit nicht mehr empfunden hatte. Nun lag das leblose Kaninchen zu seinen Pfoten, und Tigerherz hob den Blick, damit er sehen konnte, wie die orangefarbene Krone der Sonne über den fernen Hügeln aufging.

»Tigerherz?« Auf einmal war Taubenflugs Stimme zwischen den Bäumen zu hören.

Als sie sich zu ihm gesellte, rückte er zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Wie geht es Beerenherz?«

»Gut. Die Geburt war schwer, aber Beerenherz war sehr tapfer.«

Mittlerweile hatte sich Taubenflug hingesetzt. »Es sind drei Junge. Beerenherz säugt sie bereits.«

»Hat sie ihnen schon Namen gegeben?«

Taubenflug lehnte sich an Tigerherz und er spürte die Wärme ihrer Flanke.

»Taljunges, Sonnenjunges und  … Piekjunges.«

»Piekjunges?« Tigerherz blickte Taubenflug verständnislos an.

Taubenflug streckte die Vorderbeine aus. »Beerenherz bestand darauf. Sie meinte, kein anderer Name käme infrage.«

Tigerherz dachte darüber nach. Es war eigentlich unüblich, Junge nach toten Katzen zu benennen, aber als ihm dann einfiel, dass er auf diese Weise doch einen Piek zum SchattenClan bringen konnte, schnurrte er glücklich. »Ich denke, das ist ein perfekter Name. Hast du es Funke schon gesagt?«

»Ja«, murmelte Taubenflug. »Er ist direkt zu Beerenherz’ Nest gegangen, um die Kleinen kennenzulernen.«

Tigerherz schaute besorgt in Taubenflugs blaue Augen.

»Meinst du, Funke kommt zurecht? Piekhelle hat sich schließlich um ihn gekümmert, seit er auf der Welt ist.«

»Er wird lange trauern«, sagte Taubenflug sanft.

»Glaubst du, er bereut es, mit uns zum SchattenClan aufgebrochen zu sein?«

»Nicht einen Moment.« Taubenflug wandte den Blick zur aufgehenden Sonne. »Piekhelle wollte doch, dass er mitkommt, erinnerst du dich? Ich glaube, Funke hat das Gefühl, dass er dem Wunsch seines besten Freundes genauso entspricht wie seinem eigenen.«

Tigerherz berührte mit der Nase zärtlich Taubenflugs Wange. Ihre Weisheit war immer so einfühlsam.

Taubenflug schnurrte ein Weilchen genüsslich, dann hielt sie inne. »Es ist schon seltsam, wie Piekhelle Beerenherz und die anderen gefunden hat.«

»Ich nehme an, er wurde vom SternenClan geleitet«, meinte Tigerherz leise.

»Ich frage mich, ob der SternenClan viele Katzen zum See führt  …« Taubenflug sah Tigerherz in die Augen. »Oder leiten sie nur Katzen, denen vor Langem verschollene Krieger begegnen?« Als sie erneut eine Pause machte, überlegte Tigerherz, worauf sie eigentlich hinauswollte. »Glaubst du, es war uns vorausbestimmt, in die Stadt zu gehen?« Sie blinzelte ihn an. Das Sonnenlicht brachte ihre blauen Augen zum Leuchten.

Tigerherz hatte sich nie gefragt, ob der SternenClan Taubenflug diese Träume geschickt hatte. Er hatte einfach angenommen, dass es die normalen Ängste einer Königin waren, und er war ihr gefolgt, weil er Taubenflugs Instinkten vertraut hatte. Aber natürlich könnte sie recht haben. Er erschauderte, denn er erinnerte sich an Piekhelles seltsamen Gruß, als er ihn in der Versammlungshöhle zum ersten Mal sah. Jetzt sind sie endlich beide da. Er schaute zu Taubenflug. »Ich glaube, du hast recht.« Sein Fell kribbelte sofort. »Als ich den SchattenClan verließ, war ich allein, aber zurückkehren werde ich mit neuen und alten Clan-Gefährten. Und der SchattenClan benötigt Krieger mehr denn je.« Die Sehnsucht nach seinem Zuhause wühlte ihn geradezu auf. Ich komme, Eschenstern. Sein Vater brauchte ihn.

Kann ich so lange warten, bis Beerenherz’ Junge Wanderpfoten hatten? Tigerherz schnippte mit dem Schwanz. Ich muss. Er hatte alte Clan-Gefährten wiedergefunden, und er wollte nicht riskieren, sie wieder zu verlieren, weil er sie hier zurückließ. Wenn er zum SchattenClan zurückkehrte, würde er genug Katzen mitbringen, um den Clan wieder stark zu machen. Er reckte das Gesicht in die aufgehende Sonne. Du wirst stolz auf mich sein, Eschenstern – versprochen! Halte durch, bis ich da bin.