2

14. November 2010

Suzanne stand mit ihren beiden Enkelsöhnen in der Tür ihres Londoner Hauses und sah zu, wie das Auto ihres Sohnes vorfuhr. Hinter den Dächern der Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite erhob sich die Kuppel des Imperial War Museum. Tim war das Auto holen gegangen, die Jungs hatten hier bei ihr gewartet. Jetzt war er gezwungen, in zweiter Reihe zu halten. Die Warnblinkanlage leuchtete orange in der Abenddämmerung. Im Haus begann das Telefon zu klingeln.

Da kann sich der Anrufbeantworter drum kümmern, dachte sie.

Jeden zweiten Sonntag kam Tim aus Brighton mit den Jungs zu Besuch. Sie freute sich auf ihre gemeinsamen Nachmittage. Manchmal gingen sie die Straße runter ins italienische Restaurant oder auch zum Griechen, den sie weniger mochte, aber den ihr Sohn bevorzugte. Wenn sie Lust dazu hatte, was ungefähr jedes zweite Mal der Fall war, kochte Suzanne selbst, meistens einen Lammbraten. Gelegentlich kam auch die Mutter der Jungs, Astrid, mit, aber meistens waren es nur Tim und die Enkel. Suzanne nahm Astrids Abwesenheit nicht persönlich. Ihre Schwiegertochter arbeitete viel, und ein Tag ganz für sich allein war ihr zweifellos hochwillkommen.

Heute war es ziemlich regnerisch, und sie waren zu Hause geblieben. Nach dem Mittagessen hatte sie die Jungs von ihren iPads losgeeist, und sie hatten zu viert Cluedo gespielt.

»Auf Wiedersehen, Nana«, sagte George. »Danke, dass wir hier sein durften.«

Der gute George, immer so förmlich. »Aber gern, mein Lieber. Es war mir eine Freude.«

»Wiedersehen«, sagte Danny und umarmte sie flüchtig.

Sie sah zu, wie sie geschickt den überfluteten Rinnstein nahmen. Danny setzte sich auf den Beifahrersitz und war sofort in sein Handy vertieft. George erklomm den Rücksitz. Er drehte sich in der noch offenen Tür nach ihr um und lächelte, die Zähne hoben sich weiß von seiner dunklen Haut ab.

Tim ließ die Seitenscheibe herunter und lehnte sich über Danny. »Tschüss, Mum«, rief er. »Bis in zwei Wochen. Ich ruf dich an.«

Als das Auto anfuhr, hörte sie den kurzen hohen Ton des Anrufbeantworters, gefolgt von einer leisen Frauenstimme, die eine Nachricht hinterließ.

Trotz des Regens trat sie auf den Gehweg hinaus, um ihnen hinterherzuwinken. Es war ein Abschiedsritual, das sie mit den Jungs schon seit Kleinkindertagen praktizierte, auch wenn inzwischen nur noch George mitmachte. Er drehte sich in seinem Sitz zu ihr um und winkte wie wild. Suzanne winkte noch stürmischer zurück. Daraufhin verdoppelte George seine Anstrengungen, bis seine Hand nur noch ein verschwommener Klecks war. Das Auto entfernte sich, und es fiel ihr zunehmend schwer, ihn auszumachen. Am Ende der Straße flackerten die Bremslichter auf, dann bog das Auto links ab. Sie waren fort.

Suzanne blieb noch einen Moment lang stehen, erfüllt von der Melancholie, die sie jedes Mal am Ende ihrer Besuche überkam. Tim und Astrid hatten die Jungs, die biologische Brüder waren, aus einem Waisenhaus in Äthiopien geholt und adoptiert. Niemand wusste genau, wie oder wo ihre Eltern gestorben waren. Offenbar gab es keinerlei Aufzeichnungen darüber. Man hatte Tim gesagt, dass keiner der Verwandten es sich leisten könne, die Jungs bei sich aufzunehmen. Damals hatte Suzanne Zweifel – eigentlich, so vermutete sie, Urängste – wegen der Adoption gehabt, auch wenn sie natürlich nichts gesagt hatte. Sicherlich war es nicht zu verhindern gewesen, dass die Kinder durch ihre frühen Erfahrungen traumatisiert worden waren, auch wenn niemand genau sagen zu können schien, worin diese bestanden. Würde die Adoption schwarzer Kinder durch weiße Eltern beim Heranwachsen nicht zu unzähligen Problemen führen? Sowohl für Tim und Astrid als auch für die beiden selbst? Würde dieses ganze Arrangement ihrer aller Leben nicht hoffnungslos verkomplizieren?

Sie hatte die Jungs zum ersten Mal getroffen, sobald sie in Gatwick aus dem Flugzeug stiegen. Danny war keine zwei Jahre alt und konnte kaum laufen. George war noch ein Baby. Sie waren so viel schwärzer, als sie gedacht hatte. Es klang schrecklich, das war ihr bewusst, aber ihre Hautfarbe hatte sie noch lange Zeit aus der Bahn geworfen. Jedes Mal, wenn sie sie sah, war sie aufs Neue überrascht. Sie ertappte sich dabei, die Haut der Jungs bei jeder Gelegenheit zu berühren oder ihnen heimlich mit den Händen über Arme und Beine zu streichen, wenn sie dösten oder bei ihr saßen und sie ihnen Geschichten über väterliche Kaninchen und pflichtbewusste Züge vorlas. Sie zeichnete die weichen Falten ihrer Bäuche nach, ihre Wangen und kaum verborgenen Knochen. Ihre Füße faszinierten sie am meisten. Sie nahm sie oft zwischen die Hände, fuhr zärtlich mit dem Daumen über die Linie auf ihren Zehenspitzen, dort, wo die rosafarbene Haut ihrer Fußsohlen endete, als könnte sie die exakte Stelle ertasten, die Schwelle, an der das Schwarz begann.

Jetzt, zwölf Jahre später, hatten sich die Jungs bestens eingelebt. Sie waren alles andere als die verstörten Geiseln eines früheren Lebens. Keine ihrer Befürchtungen hatte sich bewahrheitet. Manchmal allerdings, meist in ungewöhnlichen Situationen, erwischte ihre Hautfarbe sie immer noch auf dem falschen Fuß. Erst kürzlich war es wieder passiert, bei Tim zu Hause, als Danny tropfend, mit nichts als einem Handtuch um seine schmalen Hüften, aus dem Bad in den Flur trat. Oder an dem Tag, als sie bei Georges Jahresabschlusspräsentation an der Schule dabei gewesen war. Nervös hatte er in seinem weißen Uniformhemd mit dem Rücken zur Tafel vor der Klasse gestanden, in der Hand sein Vulkan-Diorama. Und letzten Sommer im Freibad, als Danny mit den Füßen auf dem Rand des hohen Sprungbretts über dem Wasser balancierte. Von unten betrachtet hatte ihr Enkel ausgesehen wie ein wunderschönes schwarzes Loch, das jemand in das blaue Metall des Himmels geschnitten hatte.

Wieder im Haus, verriegelte sie die Tür und ging in die Küche. Tim achtete darauf, sie mehrmals in der Woche anzurufen, aber meistens hörte sie bis zu ihrem nächsten Besuch nichts mehr von den Jungs. Eine Großmutter aus den Augen war eine Großmutter aus dem Sinn. Sie schaltete den Wasserkocher ein, nahm ihre Lieblingstasse aus dem Küchenschrank über ihrem Kopf und drückte die rot blinkende Taste des Anrufbeantworters.

»Hallo. Ich bin nicht sicher, ob das die richtige Nummer ist, aber ich versuche, jemanden zu erreichen: Suzanne Barnett. Ihr Geburtsname ist Suzanne Taylor. Sie war die Schwester von Julia Elizabeth Chamberlain. Mein Name ist Victoria Hall, ich bin Attachée der New Zealand High Commission hier in London. Es tut mir leid, sie an einem Wochenende zu stören, aber es handelt sich um eine dringende Angelegenheit, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich zurückrufen könnten.« Die Stimme trug langsam und deutlich eine Nummer vor.

Die Tasse schlug gegen die Kante des Küchentresens, zerbrach, fiel auf die Fliesen und zersprang in viele noch kleinere Stücke. Suzanne machte keine Anstalten, die Überreste aufzusammeln, sondern blieb kerzengerade und still zwischen den Scherben stehen. Hin und wieder streckte sie den Arm aus, um sich die Nachricht noch einmal anzuhören. Sie hätte nicht sagen können, wie oft sie sie abspielte. Oft genug, um auch noch die letzte darin enthaltene Information herauszufiltern.

Victoria Hall sprach so, wie es an teuren Schulen ausgebildete Neuseeländer taten. Es war auch möglich, dass die Frau eine Zeit lang in England gelebt und es sich hier angeeignet hatte. Nur der gelegentliche flache Vokal – die erste Silbe in Zealand, die für einen kurzen Moment oben in ihrer Nase widerhallte – ließ ihre Herkunft aus Neuseeland oder Australien erkennen. Darüber hinaus konnte man schwerlich mehr sagen, als dass Victoria Hall jung, kompetent und tüchtig klang.

Suzanne rief nicht sofort zurück. Stattdessen verbrachte sie die nächsten beiden Stunden damit, das Haus aufzuräumen. Die Scherben der zerbrochenen Tasse schepperten vom Kehrblech in den Abfalleimer. Sie legte das Cluedo-Spiel zurück in die Schachtel und verstaute sie auf dem Bücherregal. Sie lief so lange auf der Suche nach Dingen, die in Ordnung gebracht werden mussten, durch die Zimmer, bis es draußen dunkel war. Statt Licht zu machen, verließ sie sich auf den matten Schein der Straßenlaternen, der durch die Fenster drang.

Aber irgendwann gab es nichts mehr zu tun. Wieder in der Küche, wählte sie die Nummer aus dem Gedächtnis. Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine Männerstimme.

»Hallo, hier ist Jeff.«

»Könnte ich bitte Victoria Hall sprechen? Sie hat mir eine Nachricht hinterlassen.«

»Moment, ich hole sie.«

Im Hintergrund war eine Mädchenstimme zu hören.

Der Mann sagte: »Nein, es ist für Vic.«

Während sie wartete, starrte Suzanne durch das Glas in der Tür in die Nacht hinaus, wo der Kirschbaum fast formlos in den Schatten verschwand.

»Hallo, hier spricht Victoria.«

»Hallo. Mein Name ist Suzanne Taylor. Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen.«

»Oh, ja, danke, dass Sie zurückrufen. Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin, aber ich versuche, wie erwähnt, die Schwester von Julia Chamberlain ausfindig zu machen. Sind Sie das vielleicht?«

Suzanne wollte sagen: Nein, es tut mir leid. Ich habe noch nie von einer Julia gehört. Wie war noch mal der Nachname? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie Sie diese Frau erreichen können. Sie würde sich verabschieden und auflegen und anschließend so lange auf der blinkenden Taste des Anrufbeantworters herumdrücken, bis nichts mehr von ihm übrig wäre. Und damit hätte es sich dann.

»Ja, ich bin Julias Schwester.«

»Oh, gut. Da bin ich aber erleichtert. Die Kontaktdaten, die wir von Ihnen haben, sind nicht mehr aktuell.«

»Seit meiner Scheidung benutze ich wieder meinen Mädchennamen. Und ich bin ein paarmal umgezogen. Worum geht es denn, bitte?«

»Es tut mir leid, ich will nicht unhöflich sein, aber es handelt sich um eine ziemlich heikle Angelegenheit. Ich muss sicher sein, dass ich die richtige Person erreicht habe. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Nur zu.«

Es fiel ihr nicht schwer, zu beweisen, wer sie war. Es war ein seltsames Gefühl, die Namen ihrer Neffen und Nichten zu nennen. Ihr wurde klar, dass sie im Laufe der Jahre zwar oft an sie gedacht, ihre Namen aber schon eine Ewigkeit nicht mehr ausgesprochen hatte.

»Können Sie mir jetzt sagen, worum es hier eigentlich geht?«

»Es sind schlechte Neuigkeiten, fürchte ich. Vor etwa einer Woche hat in Neuseeland ein Doktorand, der in der West-Coast-Region eine Vogelkolonie erforscht, menschliche Überreste gefunden. Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber sie wurden als die sterblichen Überreste Ihres Neffen Maurice Chamberlain identifiziert.«

»Wie?«

»Entschuldigung? Was meinen Sie?«

»Wie wurden sie identifiziert?«

»Zahnärztliche Unterlagen. Die Polizei hatte sie in der Akte zu dem Vermisstenfall. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass es sich um Ihren Neffen handelt. Offenbar wurde auch eine gravierte Uhr seines Vaters bei ihm gefunden. Auf der Rückseite steht der Name John Chamberlain … Sind Sie noch dran?«

»Ja.«

»Es tut mir sehr leid, dass Sie auf diese Weise davon erfahren.«

»Nein, schon gut. Es ist ein Schock. Ich meine, nach zweiunddreißig Jahren.«

»Ja, natürlich. Das glaube ich.«

»Ich hatte aufgegeben.«

»Verständlicherweise.«

»Gab es noch weitere Knochen? Von anderen, meine ich?«

»Nein. Die Polizei hat die ganze Gegend abgesucht. Da war nichts weiter.«

Viel mehr konnte Victoria Hall ihr nicht sagen, außer dass die Überreste am Fuße einer Klippe nahe der Tasmanseeküste gefunden worden waren.

William hatte recht. »Also ist ihr Auto doch ins Meer gestürzt.«

»Die Polizei glaubt das eigentlich nicht. Laut dem Senior Sergeant, mit dem ich gesprochen habe, gibt es dort in der Nähe keinerlei Straßen. Er meinte, Ihr Neffe sei höchstwahrscheinlich oben auf den Klippen entlanggegangen und abgestürzt.«

»Wollte er Hilfe holen?«

»Ich weiß es nicht, tut mir leid.«

»Nein, natürlich nicht. Ich denke bloß laut.«

»Der Bericht des Coroners wird Ihnen mehr verraten, aber das kann noch eine ganze Weile dauern.«

»Wo liegt die Fundstelle denn?«

»Lassen Sie mich nachsehen.« Papierrascheln. »Ich weiß, es ist sehr abgelegen … Hier haben wir sie. Die Stelle befindet sich ungefähr zehn Kilometer südlich der nächstgelegenen Siedlung. Sie heißt Bruce Bay.«

»Ich kenne Bruce Bay.«

»Wirklich?« Sie klang zweifelnd, als müsste Suzanne sich irren.

»Ich war im Laufe der Jahre oft an dieser Küste. Dann habe ich in der Lodge in Bruce Bay übernachtet.«

»Verstehe. Dann kennen Sie sich wohl besser aus als ich. Ich habe noch nie davon gehört.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber ich kann es herausfinden, wenn Sie möchten. Er hat die Möwenkolonie erforscht.«

Suzanne lauschte Victoria Halls Ausführungen darüber, wie es nun weitergehen würde. Der Fall müsse von einem neuseeländischen Coroner untersucht werden. Irgendwann gebe es dann einen Bericht – nein, sie könne nicht genau sagen, wie lange das dauern werde –, und natürlich würde Suzanne als Allererste eine Kopie erhalten.

***

Suzanne saß an ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer und öffnete einen Ordner auf dem Desktop. Sie hatte alle Dokumente und Fotos einscannen lassen. Nicht dass in der Familie Chamberlain besonders viele Fotos gemacht worden wären. Es gab gerade mal ein paar Dutzend. Abgesehen von ein paar schönen Schnappschüssen von Maurice und Katherine stammten die meisten der Kinderfotos aus ihren Schulen.

Da war Maurice. Es war sein letztes Schulfoto an der St. Michaels, aufgenommen Ende 1977, ein paar Monate bevor die Familie nach Neuseeland aufgebrochen war, und wirkte inzwischen ziemlich veraltet. Er war der dritte Junge von rechts in der mittleren Reihe, und er sah bierernst aus. Suzanne versuchte, sich an Maurice in einem anderen Zusammenhang zu erinnern, beim Weihnachtsessen oder dem gemeinsamen Familienurlaub in Essex. Es war alles schon so lange her. Das Beste, was sie zustande brachte, waren Erinnerungen an Erinnerungen, Ereignisse, die sie bereits so oft im Geiste rekapituliert hatte, dass es unmöglich war, ihnen irgendetwas Neues abzuringen.

Der nächste Ordner, den sie öffnete, enthielt Scans von Zeitungsberichten. Eine Zeit lang hatte das Verschwinden der Chamberlains große Wellen geschlagen. Nur recht kurz in den britischen Zeitungen, aber sehr viel länger in Neuseeland. In fast allen Artikeln wurde dasselbe Familienfoto abgedruckt, eins, das sie nie gemocht hatte. Man hatte sie in irgendeinem Studio sehr förmlich in Szene gesetzt. Alle hatten einen glänzenden, starren Gesichtsausdruck, als ob sie bei Madame Tussauds ausgestellt wären. Es war drei Jahre vor ihrem Verschwinden aufgenommen. Die Kinder waren zu jung: Maurice war elf, Katherine neun, Tommy gerade mal vier. Emma war noch nicht mal auf der Welt.

Erst kurz vor Mitternacht schaltete sie den Computer schließlich aus. Sie war zu schnell aufgestanden, und ihr war schwindelig. Sie hielt sich am Schreibtisch fest. Als sie die Augen schloss, sah sie wieder den ernsten Jungen aus der mittleren Reihe vor sich. Er war nicht mehr zwischen seinen Klassenkameraden eingepfercht, sondern stand auf dem Gipfel einer hohen Klippe, im Rücken Bäume. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die weiche Kante unter seinen Füßen nachgeben; er fiel plötzlich und ungebremst, wirbelte mit wild rudernden Armen durch die nebelige Luft.

Sie öffnete die Augen, bevor er auf den Felsen aufschlug. Armer Maurice, was ist bloß mit dir passiert? Ohne Licht zu machen, ging sie nach oben ins Bett.