11 Loten Sie Ihre Grenzen aus
Das Gesetz der Grandiosität
W
ir Menschen haben das tiefe Bedürfnis, eine hohe Meinung von uns selbst zu haben. Wenn diese Meinung unserer Güte, Großartigkeit und Brillanz zu stark von der Realität abweicht, werden wir grandios. Wir glauben, anderen überlegen zu sein. Schon ein kleiner Erfolg kann unsere angeborene Grandiosität – unsere Selbstüberschätzung, die sich oft im Größenwahn äußert – auf ein gefährlicheres Niveau anheben, denn unsere Selbstmeinung wird nun von äußeren Ereignissen bestätigt. Wir vergessen, dass vielleicht Glück eine Rolle für den Erfolg gespielt hat, oder die Beiträge anderer. Wir bilden uns ein, ein goldenes Händchen zu haben. Wir verlieren den Kontakt zur Realität und treffen irrationale Entscheidungen. Deswegen währt unser Erfolg nicht lange.
Halten Sie Ausschau nach Zeichen von vermehrter Grandiosität bei sich und anderen: eine übertriebene Überzeugung hinsichtlich des Erfolgs Ihrer Pläne, eine übermäßige Empfindlichkeit bei Kritik, eine Abscheu gegen jede Form von Autorität. Wirken Sie diesem Charakterzug durch eine realistische Beurteilung Ihrer Person und Ihrer Grenzen entgegen. Binden Sie jegliche Gefühle der Großartigkeit an Ihre Arbeit, Ihre Errungenschaften und Ihre Beiträge zur Gesellschaft.
Die Erfolgstäuschung
Im Sommer 1984 konnte Michael Eisner (*1942), Präsident von Paramount Pictures, die innere Unruhe nicht mehr ignorieren, die ihn schon seit Monaten plagte. Er konnte es nicht abwarten, auf eine größere Bühne zu wechseln und Hollywood in seinen Grundfesten zu erschüttern. Diese Unruhe war die Geschichte seines Lebens gewesen. Er hatte seine Karriere bei dem Fernsehsender ABC begonnen, und weil er es sich in einer Abteilung niemals zu gemütlich machte, hatte er nach neun Jahren kontinuierlichen Aufstiegs den Posten als Leiter der Programmgestaltung für die Hauptsendezeit erreicht. Doch allmählich erschien ihm das Fernsehen klein und einengend. Er brauchte eine größere, spektakulärere Bühne. 1976 bot ihm Barry Diller – ehemaliger Direktor von ABC und derzeitiger Vorsitzender von Paramount Pictures – die Leitung der Paramount Filmstudios an, und Eisner ergriff die Chance.
Paramount hatte lange eine Flaute erlebt, aber in Zusammenarbeit mit Diller verwandelte Eisner es zum heißesten Studio Hollywoods, mit einer Reihe erstaunlich erfolgreicher Filme, darunter Saturday Night Fever, Grease, Flashdance
und Zeit der Zärtlichkeit
. Obwohl Diller sicherlich seinen Beitrag zu dieser Wende leistete, sah sich Eisner als treibende Kraft hinter dem Erfolg des Studios. Schließlich hatte er eine todsichere Formel für die Erschaffung profitabler Filme erfunden.
Entscheidend war es, die Kosten niedrig zu halten, wovon Eisner regelrecht besessen war: Zu diesem Zweck musste ein Film mit einem großartigen Konzept beginnen, das originell war, sich leicht zusammenfassen ließ und dramatisch war. Produzenten können die teuersten Drehbuchautoren, Regisseure und Schauspieler engagieren, aber wenn das zugrunde liegende Konzept schwach ist, ist alles Geld der Welt verschwendet. Filme mit einem starken Konzept vermarkten sich hingegen selbst. Ein Studio kann diese relativ preisgünstigen Filme en masse produzieren, und selbst wenn sie nur moderat erfolgreich sind, erzeugen sie trotzdem ein kontinuierliches Einkommen. Diese Denkweise widersprach zwar der Blockbuster-Mentalität der späten
1970er Jahre, aber wer konnte etwas gegen die unbestreitbaren Profite sagen, die Eisner für Paramount geschaffen hatte? Eisner verewigte diese Formel in einem Memorandum, das sich bald in ganz Hollywood verbreitete und ein eisernes Gesetz wurde.
Doch nach so vielen Jahren, in denen er das Rampenlicht mit Diller bei Paramount geteilt und dabei versuchte hatte, es den Geschäftsführern rechtzumachen und sich gegen Marketing- und Finanzleute zu wehren, hatte Eisner die Nase voll. Wenn er doch nur sein eigenes Studio leiten könnte, ganz ohne Einschränkungen! Mit der Formel, die er geschaffen hatte, und mit seinem kompromisslosen Ehrgeiz könnte er das größte und profitabelste Unterhaltungsimperium der Welt erschaffen. Er war es leid, dass andere auf seinen Zug aufsprangen und von seinen Ideen und seinem Erfolg profitierten. Wenn er ganz oben stünde und das alleinige Sagen hätte, könnte er die Show kontrollieren und den ganzen Ruhm einheimsen.
Als Eisner sich diesen nächsten entscheidenden Karriereschritt im Sommer 1984 überlegte, schoss er sich auf das perfekte Ziel für seine Ambitionen ein: die Walt Disney Company. Auf den ersten Blick wirkte dies wie eine seltsame Wahl. Seit dem Tod von Walt Disney im Jahr 1966 schien das Walt Disney Film Studio wie in einer Zeitblase gefangen, und es wurde mit jedem Jahr merkwürdiger. Das Unternehmen funktionierte eher wie ein langweiliger Altherrenclub. Viele Mitarbeiter hörten nach dem Mittagessen mit der Arbeit auf und verbrachten ihre Nachmittage mit Kartenspielen oder saßen in der firmeneigenen Dampfsauna. Es gab kaum Entlassungen. Das Studio produzierte etwa im Vier-Jahres-Rhythmus einen Animationsfilm und hatte im Jahr 1983 gerade einmal drei Spielfilme gedreht. Seit Ein toller Käfer
aus dem Jahr 1968 hatte es nicht einen Erfolgsfilm vorzuweisen. Das Gelände der Disney Studios in Burbank ähnelte einer Geisterstadt. Der Schauspieler Tom Hanks, der 1983 auf der Anlage arbeitete, beschrieb sie als »Haltestelle für Fernbusse in den 1950ern«.
Doch gerade angesichts dieses angeschlagenen Zustands sollte dies der perfekte Ort sein, an dem Eisner seine Kräfte entfalten konnte. Mit dem Studio und dem Unternehmen konnte es nur aufwärtsgehen. Der
Vorstand wollte eine feindliche Übernahme um jeden Preis vermeiden und Eisner konnte die Bedingungen seiner Führungsposition diktieren. Er stellte sich Roy Disney – Walt Disneys Neffe und größter Inhaber von Disney-Aktien – als Retter des Unternehmens vor und legte einen detaillierten und inspirierenden Plan für eine dramatische Wende vor, größer als die von Paramount. Roy war überzeugt. Mit seinem Segen billigte der Vorstand die Wahl, und im September 1984 wurde Eisner zum Vorsitzenden und Geschäftsführer der Walt Disney Company ernannt; Frank Wells, der ehemalige Chef bei Warner Bros., wurde zum Präsidenten und leitenden Geschäftsführer. Wells sollte sich auf die geschäftlichen Aspekte konzentrieren. Eisner war der Chef in allen Belangen und Wells‘ Aufgabe war es, ihm zu helfen und zu dienen.
Eisner verschwendete keine Zeit. Er machte sich auf, das Unternehmen von Grund auf umzustrukturieren, was zur Entlassung von über eintausend Angestellten führte. Er fing an, die Reihen der Führungskräfte mit Paramount-Leuten aufzufüllen, allen voran Jeffrey Katzenberg (*1950), der bei Paramount Eisners rechte Hand gewesen war und jetzt der Vorsitzende der Walt Disney Studios wurde. Katzenberg konnte aggressiv und unverschämt sein, aber niemand in Hollywood war effizienter oder arbeitete härter als er. Er zog die Dinge einfach durch.
Innerhalb weniger Monate fing Disney an, eine beachtliche Reihe von Kinohits zu produzieren, indem es sich an Eisners Formel hielt. Fünfzehn der ersten siebzehn Filme, darunter Zoff in Beverly Hills
und Falsches Spiel mit Roger Rabbit
, generierten Profite – eine Erfolgsserie, wie es sie in Hollywood praktisch noch nie gegeben hatte.
Eines Tages erkundete Eisner mit Wells das Studiogelände in Burbank. Sie betraten die Disney-Bibliothek und entdeckten Hunderte von Zeichentrickfilmen aus dem goldenen Zeitalter, die noch nie gezeigt worden waren. Viele Regale waren voll mit den größten Disney-Zeichentrickklassikern. Eisners Augen leuchteten, als er diesen Schatz sah. Er konnte all diese Zeichentrick- und Animationsfilme auf Video neu herausbringen (der Heimvideomarkt war gerade dabei zu explodieren), und es wäre ein reiner Profit. Auf der Grundlage dieser
Zeichentrickfilme konnte das Unternehmen Läden eröffnen, in denen die verschiedenen Disney-Figuren vermarktet werden konnten. Disney war eine regelrechte Goldmine, die nur darauf wartete, ausgeschöpft zu werden, und Eisner hatte vor, das Maximum herauszuholen. Bald wurden die Läden eröffnet, die Videos verkauften sich wie verrückt, die Filmhits pumpten weiterhin Profite in das Unternehmen und der Preis für Disney-Aktien schoss in die Höhe.
Disney hatte Paramount als heißestes Filmstudio der Stadt abgelöst. Weil Eisner eine stärkere öffentliche Präsenz kultivieren wollte, beschloss er, The Wonderful World of Disney
wiederaufleben zu lassen, eine einstündige Fernsehsendung aus den 1950er und 1960er Jahren, die damals von Walt Disney persönlich moderiert worden war. Diesmal würde Eisner der Moderator sein. Er war vor der Kamera kein Naturtalent, aber er war davon überzeugt, dass das Publikum sich an ihn gewöhnen würde. Er konnte gut mit Kindern umgehen, so wie Walt Disney auch. Er hatte sogar das Gefühl, als wären er und der Firmengründer auf irgendeine Weise magisch miteinander verbunden, als wäre er mehr als nur der Kopf des Unternehmens, sondern vielmehr der rechtmäßige Nachfolger und Erbe von Walt Disney.
Trotz seines Erfolgs kehrte die alte Unruhe zurück. Eisner brauchte ein neues Projekt, eine größere Herausforderung, und die tat sich schon bald auf. Die Walt Disney Company hatte Pläne, einen neuen Themenpark in Europa zu eröffnen. Der Letzte, der eröffnet worden war, war Tokio Disneyland im Jahr 1983, der ein großer Erfolg war. Die für die Themenparks zuständigen Mitarbeiter hatten zwei potenzielle Orte für das neue Disneyland gefunden: in der Nähe von Barcelona und in der Nähe von Paris. Obwohl der Ort in Spanien in wirtschaftlicher Hinsicht sinnvoller war, entschied sich Eisner für Frankreich.
Es sollte mehr als nur ein Themenpark werden. Es sollte ein kulturelles Statement sein. Eisner wollte die besten Architekten der Welt dafür engagieren. Im Gegensatz zu den üblichen Fiberglasschlössern in den anderen Themenparks sollten die Schlösser in Euro Disney – wie es genannt wurde – aus rosafarbenem Stein gebaut sein und handgemachte bunte Fenster mit Szenen aus verschiedenen
Märchen haben. Es sollte ein Ort werden, den selbst blasierte französische Eliten mit Freude besuchen würden. Eisner liebte die Architektur, und hier konnte er ein moderner Medici sein.
Im Laufe der Jahre stiegen die Kosten für Euro Disney. Eisner verzichtete auf seine übliche Besessenheit hinsichtlich der Gewinnorientierung, aber er war davon überzeugt, dass – wenn er es nur richtig bauen würde – die Menschen in Scharen kommen und der Park sich selbst refinanzieren würde. Doch als der Themenpark im Jahr 1992 wie geplant seine Tore öffnete, wurde schnell klar, dass Eisner den Geschmack und die Feriengewohnheiten der Franzosen nicht verstanden hatte. Die Franzosen waren nicht bereit, für ein Fahrgeschäft anzustehen, vor allem bei schlechtem Wetter. Wie bei den anderen Themenparks wurde auf dem Gelände kein Bier oder Wein angeboten, was für die Franzosen einem Sakrileg gleichkam. Die Hotelzimmer waren so teuer, dass sich eine Familie maximal eine Übernachtung leisten konnte. Und trotz all der Liebe zum Detail sahen die rosafarbenen Schlösser aus Stein wie kitschige Versionen der Originale aus.
Es kamen nur halb so viele Besucher, wie Eisner erwartet hatte. Die Schulden, die Disney für den Bau gemacht hatte, waren massiv gestiegen, und das Geld, das von den Besuchern kam, konnte nicht einmal die Zinsen begleichen. Es zeichnete sich ein Debakel ab, das Erste in Eisners glorreicher Karriere. Als er schließlich der Realität ins Auge blickte, kam er zu dem Schluss, dass Frank Wells an allem schuld war. Es war schließlich seine Aufgabe gewesen, die finanziellen Aspekte des Projekts im Auge zu behalten, und er hatte versagt. Während Eisner vorher voll des Lobes für ihre Arbeitsbeziehung war, beschwerte er sich jetzt oft über seinen Vize und spielte mit dem Gedanken, ihn zu entlassen.
Inmitten dieses wachsenden Debakels spürte Eisner eine neue Bedrohung am Horizont: Jeffrey Katzenberg. Er hatte Katzenberg einmal als seinen Golden Retriever bezeichnet – so loyal und fleißig. Es war Katzenberg, der die Serie der frühen Hits des Studios betreut hatte, darunter den größten Hit überhaupt: Die Schöne und das Biest
– der
Film, der die Renaissance von Disneys Zeichentrickabteilung eingeläutet hatte. Etwas an Katzenberg machte Eisner zunehmend unruhig. Vielleicht war es das Memorandum, das Katzenberg 1990 verfasst hatte, in der er die Reihe von erfolglosen Spielfilmen analysierte, die Disney kürzlich gedreht hatte. »Seit 1984 haben wir uns langsam von unserer ursprünglichen Vision entfernt, wie man ein Unternehmen führt«, schrieb er. Katzenberg kritisierte die Entscheidung des Studios, teurere Spielfilme wie Dick Tracy
drehen zu wollen, um »Kinoerlebnisse« zu schaffen. Disney sei der »Blockbuster-Mentalität« zum Opfer gefallen und habe dabei seine Seele verkauft.
Dieses Memorandum sorgte bei Eisner für Unbehagen. Dick Tracy
war sein persönliches Steckenpferd gewesen. Kritisierte Katzenberg hier indirekt seinen Chef? Als er darüber nachdachte, schien es, als wäre dies eine eindeutige Kopie seines eigenen berüchtigten Memorandums damals bei Paramount, in dem er für weniger kostspielige, gut durchdachte Filme plädiert hatte. Infolgedessen kam er zu dem Schluss, dass Katzenberg sich als »nächster Eisner« sah. Vielleicht versuchte er, ihn von seinem Posten zu verdrängen und unterschwellig seine Autorität zu untergraben? Diese Gedanken begannen an ihm zu nagen. Warum lud Katzenberg ihn nicht mehr zu den Besprechungen ein, in denen die Filmhandlungen diskutiert wurden?
Die Zeichentrickabteilung entwickelte sich zur Haupteinnahmequelle des Studios, mit neuen Hits wie Aladdin
und König der Löwen
. Letzterer war Katzenbergs Baby gewesen – er hatte sich die Geschichte ausgedacht und sie von Anfang bis Ende entwickelt. Katzenberg wurde in Zeitschriftenartikeln dargestellt, als wäre er der kreative Kopf hinter der Wiedergeburt Disneys in diesem Genre. Was war mit Roy Disney, dem Vize-Vorsitzenden der Animationsabteilung? Was war mit Eisner selbst, der die Fäden in der Hand hielt? In Eisners Augen spielte Katzenberg die Medien aus und inszenierte sich selbst. Ein Manager hatte Eisner berichtet, dass Katzenberg angeblich behauptete: »Ich bin der Walt Disney der Gegenwart.« Der Argwohn wich schon bald dem Hass. Eisner ertrug es nicht, in Katzenbergs Nähe zu sein.
Im März 1994 kam Frank Wells bei einem Hubschrauberunfall während eines Skiausflugs ums Leben. Um die Aktionäre und die Wallstreet zu beruhigen, kündigte Eisner an, dass er Wells Position als Präsident übernehmen wolle. Doch plötzlich bedrängte ihn Katzenberg mit Anrufen und Notizen, in denen er Eisner daran erinnerte, dass er ihm einst den Posten als Präsident versprochen hatte, falls Wells die Firma je verlassen sollte. Wie gefühllos, so kurz nach der Tragödie! Er ignorierte Katzenbergs Anrufe.
Im August 1994 feuerte Eisner ihn schließlich, womit er nahezu ganz Hollywood schockierte: Er hatte den erfolgreichsten Studiomanager der Stadt gefeuert! Der König der Löwen
war einer der einträglichsten Filme in der Geschichte Hollywoods, und es war Katzenberg, der hinter dem Erwerb von Miramax durch Disney stand, was nach dem anschließenden Erfolg von Pulp Fiction
als großartiger Coup galt. Es schien wahnsinnig, aber Eisner kümmerte das nicht. Wenn er Katzenbergs Schatten erst einmal los wäre, könnte er sich entspannen und Disney auf die nächste Stufe heben, ganz allein und ohne weitere Ablenkungen.
Um zu beweisen, dass er seinen guten Riecher nicht verloren hatte, brachte er die Unterhaltungsbranche mit dem Ankauf von ABC durch Disney ins Staunen. Der Wagemut dieses Coups brachte ihn wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jetzt kreierte er ein noch nie dagewesenes Unterhaltungsimperium jenseits aller Vorstellungskraft. So etwas hatte bislang noch niemand versucht. Dieses Vorhaben war jedoch mit einem Problem verbunden: Das Unternehmen hatte sich verdoppelt; es war zu groß, zu komplex für eine Person. Nur ein Jahr zuvor hatte Eisner sich einer Herzoperation unterziehen müssen und kam mit dem steigenden Stress nicht zurecht. Er brauchte einen »neuen Frank Wells«, und so dachte er schon bald an seinen alten Freund Michael Ovitz, einen der Gründer und Chefs der Creative Artists Agency (CAA). Ovitz war der größte Unterhändler in der Geschichte Hollywoods, vielleicht der einflussreichste Mann der Stadt. Gemeinsam konnten sie das Feld beherrschen.
Viele Brancheninsider warnten Eisner vor der Einstellung – Ovitz war
nicht wie Frank Wells; er war kein Finanzexperte oder Detailbesessener, wie Ovitz selbst zugab. Doch Eisner schlug jeden Ratschlag in den Wind. Die Leute dachten zu engstirnig. Er beschloss, Ovitz mit einem sehr lukrativen Angebot von CAA wegzulocken und ihm den Posten des Präsidenten anzubieten. Er versicherte seinem Wunschkandidaten in mehreren Besprechungen, dass Ovitz zwar offiziell der Zweite in der Befehlskette wäre, sie beide aber faktisch das Unternehmen als gleichberechtigte Partner leiten würden.
In einem Telefongespräch zeigte sich Ovitz schließlich mit allen Bedingungen einverstanden – doch bereits in dem Augenblick, als Eisner auflegte, erkannte er, dass er den größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Sie waren vielleicht die engsten Freunde, aber wie könnten zwei Egomanen zusammenarbeiten? Ovitz war ein Machtmensch. Das wäre das Katzenberg-Problem hoch zwei. Doch es war zu spät. Er hatte die Zusage des Vorstands für Ovitz‘ Einstellung erhalten. Sein eigener Ruf und sein Entscheidungsprozess als CEO standen auf dem Spiel. Er musste jetzt dafür sorgen, dass es funktionierte.
Eisner entschied sich schnell für eine Strategie: Er würde Ovitz’ Verantwortlichkeiten einengen, ihn an der kurzen Leine halten und ihn dazu bringen, sich als Präsident beweisen zu müssen. Dadurch könnte Ovitz Eisners Vertrauen gewinnen und mehr Macht erlangen. Vom ersten Tag an wollte Eisner Ovitz signalisieren, wer hier das Sagen hatte. Statt ihm Frank Wells’ altes Büro im sechsten Stock des Disney-Gebäudes zu geben, direkt neben Eisners Büro, gab er ihm ein unspektakuläres Büro im fünften Stock. Ovitz gab gerne Geld für Geschenke und extravagante Partys aus, um Leute für sich zu gewinnen, und Eisner sorgte dafür, dass sein Team jeden Cent überwachte, den Ovitz für solche Dinge ausgab. Er ließ jeden seiner Schritte beobachten. Kontaktierte Ovitz andere Manager hinter Eisners Rücken? Er würde keinen zweiten Katzenberg heranzüchten.
Bald entwickelte sich eine gewisse Dynamik: Ovitz suchte Eisner wegen eines potenziellen Deals auf, und dieser ermunterte ihn, sich eingehender darum zu kümmern. Doch sobald die Zeit gekommen war,
den Deal abzuschließen, legte Eisner ein Veto ein. Langsam verbreitete sich in der Branche das Gerücht, Ovitz habe sein goldenes Händchen verloren und könne keine Deals mehr abschließen. Ovitz geriet in Panik. Er wollte um jeden Preis beweisen, dass er des Postens würdig war. Er bot an, nach New York zu ziehen, um sich besser um ABC kümmern zu können, weil die Fusion der beiden Firmen nicht so gut funktionierte, doch Eisner lehnte ab. Er wies seine Adjutanten an, Abstand zu Ovitz zu halten. Man könne ihm nicht trauen – er sei der Sohn eines Handelsvertreters für Alkoholika in San Fernando Valley, und wie sein Vater sei auch Ovitz ein aalglatter Vertreter. Er sei süchtig nach medialer Aufmerksamkeit. Innerhalb des Unternehmens wurde Ovitz geschasst.
Die Zeit verging und Ovitz durchschaute irgendwann, was vor sich ging, und beschwerte sich bei Eisner darüber. Er hatte seine Agentur wegen Disney verlassen; er hatte mit seinem Ruf dafür gebürgt, als Präsident viel zu erreichen, und Eisner zerstörte nun diesen Ruf. Niemand achtete ihn mehr in der Branche. Eisners Umgang mit Ovitz war geradezu sadistisch. Nach Eisners Ansicht hatte Ovitz jedoch den Test nicht bestanden. Er hatte sich als ungeduldig erwiesen; er war kein Frank Wells. Im Dezember 1996, nach gerade einmal vierzehn Monaten, wurde Ovitz entlassen, bekam aber wenigstens eine gewaltige Abfindung. Es war ein schwindelerregender und schneller Absturz.
Jetzt, da Eisner von diesem großen Fehler befreit war, fing er an, seine Macht im Unternehmen zu festigen. ABC lief nicht so gut, er würde intervenieren und etwas dagegen unternehmen müssen. Er fing an, an Programmbesprechungen teilzunehmen; er redete über seine eigenen goldenen Tage bei ABC und seine größten Shows, die er dort geschaffen hatte, wie Laverne & Shirley
und Happy Days
. ABC musste wieder zu seiner früheren Philosophie zurückkehren und durchdachte Konzepte für Familienserien entwickeln.
Als das Internet durchstartete, musste Eisner sich in großem Stil beteiligen. Er lehnte den Kauf von Yahoo! ab, weil ihn seine Manager dazu drängten. Stattdessen würde Disney ein eigenes Internetportal namens Go anbieten. Im Laufe der Jahre hatte er eine Lektion gelernt:
Es ist immer am besten, seine eigene Show zu gestalten und zu leiten. Disney würde das Internet beherrschen. Eisner hatte sich schon zweimal als Stehaufmännchen erwiesen, und jetzt, da Disney in der Krise steckte, würde ihm das auch ein drittes Mal gelingen. Schon bald wurde das Unternehmen jedoch von einer Welle von Katastrophen getroffen. Nach seiner Entlassung hatte Katzenberg Disney verklagt, um den Erfolgsbonus zu erhalten, der ihm vertraglich zustand. Als Ovitz noch Präsident war, hatte er versucht, eine gütliche Einigung zu erzielen, bevor die Klage vor Gericht ging, und er hatte Katzenberg dazu gebracht, sich mit 90 Millionen Dollar zufriedenzugeben, doch Eisner legte im letzten Moment ein Veto ein, weil er davon überzeugt war, dass er Katzenberg nichts schuldete. Im Jahr 2001 entschied der Richter zu Katzenbergs Gunsten, der daraufhin satte 280 Millionen Dollar Abfindung erhielt. Disney hatte zudem enorme Mittel in die Kreation des Internetportals Go gesteckt, das sich als gewaltiger Flop herausstellte und eingestellt wurde. Auch die Kosten von Euro Disney setzten dem Unternehmen nach wie vor schwer zu. Disney hatte sich mit Pixar zusammengetan und gemeinsam Hits wie Toy Story
produziert. Doch nun stellte Steve Jobs, seines Zeichens CEO von Pixar, klar, dass er niemals wieder eine Kooperation mit Disney eingehen würde, weil er Eisners ständige Interventionen zutiefst ablehnte. Der Fernsehsender ABC erfüllte die an ihn gestellten Ansprüche nicht. Die meisten Filme, die Disney produzierte, waren nicht nur Flops, sondern sogar gewaltige Flops, die ihren Höhepunkt in dem Film Pearl Harbor
erlebten, der im Mai 2001 Premiere hatte.
Plötzlich schien es, als habe Roy Disney das Vertrauen in Eisner verloren. Der Aktienpreis stürzte ab. Er sagte Eisner, dass es am besten wäre, wenn er zurückträte. Welche Undankbarkeit, welche Hybris! Er, Eisner, war schließlich derjenige, der die Firma im Alleingang aus dem Reich der Toten zurückgeholt hatte! Er hatte Roy, der als minderbemittelter Neffe Walt Disneys galt, vor dem Untergang bewahrt und ihm ein Vermögen verschafft. Und jetzt, in Eisners dunkelster Stunde, wollte Roy ihn hintergehen? Eisner war niemals wütender gewesen. Er schlug schnell zurück und zwang Roy, seinen
Vorstandsposten zu räumen. Das wiederum schien Roy nur anzustacheln. Er organisierte eine Aktionärsrevolte, die als »Save Disney« bekannt wurde, und im März 2004 stimmten die Aktionäre entschieden gegen die weitere Vorstandschaft Eisners. Schon bald beschloss der Vorstand, Eisner seines Postens als Vorstandsvorsitzender zu entheben. Das Imperium, das er geschmiedet hatte, zerfiel langsam. Im September 2005, mit kaum einem Verbündeten an seiner Seite, verließ Eisner, der sich alleine und betrogen fühlte, Disney. Wie hatte alles nur so schnell zerbrechen können? Sie würden ihn schon noch vermissen, sagte er seinen Freunden, und er meinte damit ganz Hollywood. Es gab schließlich niemanden, der so war wie er.
Interpretation:
Wir können festhalten, dass Michael Eisner an einem bestimmten Punkt in seiner Laufbahn einer Art Wahnvorstellung unterlag, wenn es um Macht ging. Seine Gedanken waren so weit von der Realität entfernt, dass er geschäftliche Entscheidungen traf, die katastrophale Folgen hatten. Folgen wir einmal dem Voranschreiten dieser besonderen Form der Wahnvorstellung, wie sie sich entwickelte und sein Denken schließlich beherrschte.
Am Anfang seiner Karriere bei ABC hatte der junge Eisner einen unverstellten Blick auf die Realität. Er dachte extrem pragmatisch. Er kannte seine Stärken und schöpfte sie maximal aus – seine ehrgeizige und wettbewerbsorientierte Natur, seine kompromisslose Arbeitsmoral, seinen geschärften Sinn für den Geschmack des durchschnittlichen amerikanischen Konsumenten. Eisner dachte schnell und besaß die Fähigkeit, andere zum kreativen Denken anzuregen. Er verließ sich auf diese Stärken und stieg die Karriereleiter rasch hinauf. Er hatte in Bezug auf seine Talente ein großes Selbstbewusstsein, und die Reihe von Beförderungen, die er bei ABC erhielt, bestätigte diese Selbstmeinung. Er konnte es sich leisten, ein wenig arrogant zu sein, weil er viel in dem Beruf gelernt hatte und sich seine Fähigkeiten als Programmleiter enorm verbessert hatten. Er war auf dem steilen Weg an die Spitze, die er im Alter von 34 Jahren erreichte, als er der Leiter der Programmgestaltung in der
Hauptsendezeit bei ABC wurde.
Als jemand mit großem Ehrgeiz überkam ihn bald das Gefühl, dass die Welt des Fernsehens einengend war. Es gab Grenzen für die Arten von Unterhaltung, die er gestalten konnte. Die Filmwelt bot ihm etwas, das lockerer, größer und glamouröser war. Es war daher ganz natürlich, dass er den Posten bei Paramount annahm. Doch bei Paramount geschah etwas, was zu dem subtilen Prozess führte, der ihn innerlich aus dem Gleichgewicht bringen sollte. Weil die Bühne größer und er der Leiter des Studios war, erhielt er von den Medien und der Öffentlichkeit zunehmend mehr Aufmerksamkeit. Er kam auf die Titelseite von Zeitschriften und wurde als heißester Filmproduzent in Hollywood bezeichnet. Das unterschied sich merklich von der Aufmerksamkeit und Befriedigung durch seine Beförderungen bei ABC. Jetzt wurde er von Millionen von Menschen bewundert. Wie konnten sie mit ihrer Meinung falschliegen? Für sie war er ein Genie, eine neue Art Held, der die Landschaft des Studiosystems nachhaltig veränderte.
Das war berauschend und übersteigerte zwangsläufig die Einschätzung seiner Fähigkeiten. Doch das war mit einer großen Gefahr verbunden: Der Erfolg, den Eisner bei Paramount verbuchte, war nicht ausschließlich sein Verdienst. Als er in dem Studio eintraf, waren bereits mehrere Filme in der Vorproduktion, unter anderem Saturday Night Fever
, der die Wende bringen sollte. Barry Diller war der perfekte Kontrast zu Eisner. Er stritt endlos über seine Ideen und zwang Eisner dazu, sie zu schärfen. Doch da die gesteigerte Aufmerksamkeit seine Eitelkeit nährte, glaubte Eisner wohl, dass er das Lob, das er erhielt, nur für seine eigenen Anstrengungen erhielt, und so zog er von diesem Erfolg das gute Timing und die Beiträge anderer ab. Sein Geist löste sich langsam, aber sicher von der Realität. Statt sich rigoros auf das Publikum zu konzentrieren und die Frage, wie man die Leute unterhalten konnte, fing er zunehmend an, sich auf sich selbst zu konzentrieren, und er glaubte an den Mythos seiner Großartigkeit, wie er von anderen verbreitet wurde. Er dachte, dass alles, was er anfasste, zu Gold wurde.
Bei Disney wiederholte sich das Muster und verschärfte sich. Eisner
sonnte sich im Ruhm seines erstaunlichen Erfolgs und vergaß schnell das unglaubliche Glück, dass er die Disney-Bibliothek erbte, als der Markt für Heimvideos und Familienunterhaltung gerade boomte. Er wertete die kritische Rolle, die Wells als Gegengewicht zu ihm gespielt hatte, ab. Mit seinem wachsenden Größenwahn sah er sich mit einem Dilemma konfrontiert. Er war süchtig nach der Aufmerksamkeit geworden, die damit einherging, einen Knaller zu schaffen, etwas Großes zu tun. Er konnte sich mit einfachem Erfolg und steigenden Profiten nicht zufriedengeben. Er musste den Mythos weiter befeuern, um ihn am Leben zu erhalten. Euro Disney sollte die Lösung sein. Eisner wollte der Welt zeigen, dass er nicht nur eine unternehmerische Führungskraft war, sondern vielmehr ein Universalgenie.
Bei dem Bau des Themenparks weigerte er sich, auf die erfahrenen Berater zu hören, die zu Barcelona rieten und sich für einen bescheidenen Themenpark aussprachen, um die Kosten niedrig zu halten. Er schenkte der französischen Kultur keine Beachtung, sondern steuerte alles von Burbank aus. Er agierte aus der Überzeugung heraus, dass seine Fähigkeiten als Leiter eines Filmstudios auf Themenparks und Architektur übertragen werden konnten. Er überschätzte seine Kreativität, und jetzt offenbarten seine beruflichen Entscheidungen eine derart eklatante Entfremdung von der Realität, dass er als größenwahnsinnig eingestuft werden konnte. Sobald dieses geistige Ungleichgewicht entsteht, geht es stetig bergab, denn sobald man wieder auf dem Boden der Tatsachen landet, müsste man zugeben, dass die Meinung, die man von sich selbst hatte, falsch war – und das menschliche Tier wird das äußerst selten zugeben. Viel wahrscheinlicher ist die Tendenz, andere für jedes Scheitern oder jeden Rückschlag verantwortlich zu machen.
In den Fängen dieser Täuschung machte Eisner den größten Fehler überhaupt: Er feuerte Jeffrey Katzenberg. Das Disney-System hing von einem kontinuierlichen Fluss neuer animierter Hits ab, die die Geschäfte und Themenparks mit neuen Figuren, Produkten, Fahrgeschäften und Möglichkeiten für PR-Kampagnen nährten. Katzenberg hatte eindeutig ein Händchen für die Erschaffung solcher Hits entwickelt, wie der gewaltige Erfolg von
Der König der Löwen
beweist. Als er entlassen wurde, brachte dies die gesamte Produktion in Gefahr. Wer sollte sein Nachfolger sein? Doch wohl nicht Roy Disney oder Eisner selbst? Außerdem musste Eisner klar sein, dass Katzenberg sein Können einem anderen Unternehmen zur Verfügung stellen würde – was er auch tat, als er ein neues Studio, DreamWorks, mitgründete. Dort produzierte er noch mehr Zeichentrickfilme, die Hits wurden. Das neue Studio trieb den Preis für erfahrene Animationszeichner in die Höhe und erhöhte somit die Kosten für die Produktion von Animationsfilmen, was Disneys gesamtes Profitsystem in Gefahr brachte. Doch statt sich dieser Realität zu stellen, konzentrierte sich Eisner darauf, mediale Aufmerksamkeit zu erhalten. Katzenbergs Aufstieg bedrohte seine übersteigerte Selbstmeinung und er musste Profit und Zweckmäßigkeit opfern, um sein Ego zu beruhigen.
Die Abwärtsspirale hatte begonnen. Der Erwerb von ABC, vollzogen in dem Glauben, dass größer immer besser ist, offenbarte Eisners wachsende Entfremdung von der Realität. Fernsehen war im Zeitalter der neuen Medien ein im Aussterben begriffenes Geschäftsmodell. Es war keine realistische berufliche Entscheidung, sondern ein Schachzug, um mehr Publicity zu bekommen. Er hatte ein Unterhaltungsmonstrum geschaffen, eine undefinierbare Masse ohne eine klare Identität. Die Einstellung und Entlassung von Ovitz offenbarte, dass Eisner mittlerweile einer noch größeren Selbsttäuschung unterlag. Für Eisner waren Menschen nur noch Instrumente, die er benutzen konnte. Ovitz galt als der gefürchtetste und mächtigste Mann in Hollywood, und vielleicht war Eisner unbewusst von dem Wunsch getrieben, ihn zu demütigen. Wenn er die Macht besäße, Ovitz dazu zu bringen, um Brotkrumen zu betteln, müsste schließlich er
der mächtigste Mann in Hollywood sein.
Schon bald lösten alle Probleme, die von seinem wahnhaften Denkprozess herrührten, eine fatale Kettenreaktion aus: die stetig steigenden Kosten für Euro Disney, der Bonus für Katzenberg, die ausbleibenden Kinohits in beiden Filmabteilungen, der ständige Verlust von Ressourcen durch ABC und Ovitz’ Abfindung. Die
Vorstandsmitglieder konnten den fallenden Aktienpreis nicht mehr ignorieren. Die Entlassung Katzenbergs und Ovitz’ machten aus Eisner den am meisten gehassten Mann in Hollywood, und als sein Glück schwand, kamen all seine Feinde hervor, um seinen Absturz zu beschleunigen. Sein Machtverlust war schnell und spektakulär.
Ihnen muss Folgendes klar sein: Michael Eisners Geschichte ist Ihnen viel näher, als Sie vermutlich glauben. Sein Schicksal könnte auch Ihnen zuteilwerden, wenngleich in einem kleineren Rahmen. Der Grund ist simpel: Wir Menschen haben eine Schwäche, die ins uns allen schlummert und uns in einen Wahn zieht, ohne dass wir uns der Dynamik überhaupt bewusst sind. Diese Schwäche rührt von unserer natürlichen Tendenz her, unsere Fähigkeiten zu überschätzen. Normalerweise haben wir eine Selbstmeinung, die im Vergleich zur Realität ein wenig überhöht ist. Wir haben das tiefe Bedürfnis, uns anderen in irgendeiner Weise überlegen zu fühlen, was Intelligenz, Aussehen, Charme, Beliebtheit oder Moralität angeht. Das kann durchaus etwas Positives sein. Ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein treibt uns dazu, Herausforderungen anzunehmen, vermeintliche Grenzen zu überwinden und im Laufe des Prozesses dazuzulernen. Doch sobald wir auf irgendeiner Ebene Erfolg haben, durch die gesteigerte Aufmerksamkeit einer Person oder Gruppe, eine Beförderung, die finanzielle Unterstützung für ein Projekt, neigen wir zu einem übersteigerten Selbstbewusstsein und die Kluft zwischen Selbstmeinung und Realität vergrößert sich.
Jeder Erfolg, den wir im Leben haben, hängt in einem gewissen Ausmaß von Glück, gutem Timing, der Mithilfe anderer, Mentoren und dem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach etwas Neuem ab. Wir vergessen das allzu gerne und stellen uns vor, dass jeder Erfolg von unserem überlegenen Selbst herrührt. Wir reden uns ein, dass wir jede neue Herausforderung stemmen können, lange bevor wir dazu bereit sind. Schließlich haben alle Menschen mit ihrer Aufmerksamkeit unsere Großartigkeit bestätigt, und wir wollen, dass das auch so bleibt. Wir stellen uns vor, dass alles, was wir anfassen, zu Gold wird, und dass wir auf magische Weise unsere Fähigkeiten auf ein anderes Medium oder
Gebiet übertragen können. Ohne dass es uns bewusst ist, stimmen wir uns mehr auf unser Ego und unsere Fantasien ein als auf die Menschen, für die wir arbeiten, oder auf unser Publikum. Wir entfernen uns von jenen, die uns helfen, und betrachten sie als Mittel, die wir benutzen können. Und für jeden Fehler oder jedes Problem, das auftritt, geben wir jemand anderem die Schuld. Erfolg hat eine unwiderstehliche Zugkraft, die dazu neigt, unseren Geist zu benebeln.
Sie haben folgende Aufgaben: Nach jeder Form von Erfolg müssen Sie die einzelnen Komponenten analysieren. Nehmen Sie das Element des Zufalls beziehungsweise Glücks zur Kenntnis, das zweifellos vorhanden ist, wie auch die Rolle, die andere Leute, unter anderem Ihre Mentoren, für Ihren Erfolg gespielt haben. Dies wird die Tendenz neutralisieren, Ihre Kräfte aufzublasen. Erinnern Sie sich daran, dass mit dem Erfolg die Selbstgefälligkeit kommt, weil die Aufmerksamkeit wichtiger wird als die Arbeit und bewährte Strategien einfach nur wiederholt werden. Mit wachsendem Erfolg müssen Sie auch Ihre Wachsamkeit steigern. Wischen Sie die Tafel bei jedem neuen Projekt sauber, fangen Sie jedes Mal bei null an. Versuchen Sie, weniger auf den Applaus zu achten, wenn er lauter wird. Erkennen Sie die Grenzen dessen, was Sie erreichen können, und akzeptieren Sie sie; arbeiten Sie mit dem, was Sie haben. Glauben Sie nicht, dass größer immer besser ist, die Festigung und Konzentration Ihrer Kräfte ist oft die klügere Wahl. Hüten Sie sich davor, andere mit Ihrem wachsenden Gefühl der Überlegenheit vor den Kopf zu stoßen – Sie werden Ihre Verbündeten noch brauchen. Kompensieren Sie die rauschhafte Wirkung des Erfolgs, indem Sie die Bodenhaftung nicht verlieren. Die Macht, die Sie auf langsame und organische Weise aufbauen, ist viel realer und dauerhafter. Vergessen Sie nicht: Die Götter strafen jene gnadenlos, die grandios sind, und Sie werden den Preis dafür zahlen.
Die bloße Existenz war für ihn nie genug; er wollte immer mehr haben. Vielleicht lag es nur an der Kraft seiner Sehnsüchte, dass er sich selbst als einen Mann sah, dem mehr gestattet war als anderen.
Fjodor Dostojewski, Schuld und Sühne
Schlüssel zur menschlichen Natur
Nehmen wir an, Sie hätten ein Projekt, das Sie realisieren wollen, oder es gäbe eine Person oder Gruppe, die Sie zu etwas überreden wollen. Wir könnten eine realistische Einstellung zur Erreichung solcher Ziele wie folgt beschreiben: Es ist selten einfach, das zu bekommen, was man haben will. Der Erfolg hängt in starkem Maß von Anstrengung und einem Quäntchen Glück ab. Damit Ihr Projekt funktioniert, werden Sie vermutlich Ihre vorige Strategie aufgeben müssen – die Umstände verändern sich ständig und Sie müssen einen offenen Geist bewahren. Die Menschen, die Sie zu erreichen versuchen, reagieren niemals genau so, wie Sie es sich vorgestellt oder erhofft haben. Es ist oft genau das Gegenteil der Fall. Die Menschen überraschen und frustrieren Sie mit ihren Reaktionen oft, denn sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, Erfahrungen und ihre besondere Psychologie, die von der Ihren völlig verschieden ist. Um sie zu beeindrucken, werden Sie sich auf sie und ihre Einstellung konzentrieren müssen. Sollten Sie mit Ihrem Vorhaben scheitern, müssen Sie sorgfältig prüfen, was Sie falsch gemacht haben, und Ihr Bestes tun, um aus dieser Erfahrung zu lernen.
Sie können sich das Projekt oder die Aufgabe, die vor Ihnen liegt, als unbehauenen Marmor vorstellen, aus dem Sie etwas Präzises und Schönes machen sollen. Der Block ist viel größer als Sie und das Material ist ziemlich hart, aber die Aufgabe ist nicht unmöglich zu meistern. Mit genug Anstrengung, Konzentration und Resilienz können Sie das Material langsam zu dem formen, was Sie brauchen. Sie müssen aber mit dem richtigen Sinn für Proportion anfangen – Ziele sind schwer erreichbar, Menschen sind widerstrebend und Ihrem Wirken sind Grenzen gesetzt. Mit einer realistischen Einstellung können Sie die erforderliche Geduld aufbringen und sich an die Arbeit machen.
Stellen Sie sich nun aber einmal vor, dass Ihr Gehirn einer psychischen Krankheit erlegen ist, die sich auf Ihre Wahrnehmung von Größe und Proportion auswirkt. Statt die Aufgabe, mit der Sie sich
konfrontiert sehen, als zu groß und das Material als resistent zu sehen, nehmen Sie krankheitsbedingt den Marmorblock als verhältnismäßig klein und leicht verformbar wahr. Weil Sie Ihr Gefühl für Proportion verloren haben, glauben Sie, dass es nicht lange dauern wird, bis Sie aus dem Block Ihre Wunschvorstellung des fertigen Produkts geformt haben. Sie stellen sich vor, dass die Leute, die Sie zu erreichen versuchen, nicht von Natur aus resistent sind, sondern ziemlich vorhersehbar. Sie wissen genau, wie sie auf Ihre geniale Idee reagieren werden – sie werden sie natürlich lieben. Es ist sogar so, dass sie Sie und Ihre Arbeit mehr brauchen als umgekehrt. Sie sollten Ihnen
nachlaufen. Die Betonung liegt nicht auf dem, was Sie tun müssen, um erfolgreich zu sein, sondern auf dem, was Sie Ihrem Selbstverständnis nach verdienen. Sie können voraussagen, dass Sie mit diesem Projekt eine Menge Aufmerksamkeit erhalten werden, aber wenn Sie versagen, müssen andere Leute dafür verantwortlich sein, da Sie ja mit besonderen Gaben ausgestattet sind, Ihr Ziel das richtige ist, und nur Leute, die bösartig oder neidisch auf Sie sind, Ihnen den Weg versperren.
Wir können diese psychische Erkrankung als Größenwahn oder Selbstherrlichkeit bezeichnen. Ein typisches Symptom dafür ist, dass die normalen, realistischen Proportionen auf den Kopf gestellt werden: Unser Selbst wird größer als alles andere, das es umgibt. Das ist die Linse, durch die Sie die Aufgabe und die Menschen sehen, die Sie erreichen wollen. Das ist nicht einfach nur schwerer Narzissmus (siehe Kapitel 2), bei dem sich alles um Sie dreht. Hier geht es darum, dass Sie sich selbst als übergroß wahrnehmen (was am Wort bereits erkennbar ist), als überlegenes Genie, das nicht nur Aufmerksamkeit verdient, sondern vielmehr Verehrung. Sie sehen sich nicht als normaler Mensch, sondern als gottgleiches Wesen.
Sie denken vielleicht, dass mächtige, geltungssüchtige Anführer, die in der Öffentlichkeit stehen, Personen sind, die an einer solchen Krankheit leiden, aber mit dieser Annahme liegen Sie völlig falsch. Sicher stoßen wir auf viele einflussreiche Menschen wie Michael Eisner, die an massiver Grandiosität leiden und durch die Aufmerksamkeit und
die Auszeichnungen, die ihnen zuteilwerden, in ihrer Selbstüberschätzung bestätigt werden. Aber es gibt eine kleinere, alltägliche Version dieser Krankheit, an der fast alle von uns leiden, weil sie eine Eigenschaft ist, die in der menschlichen Natur fest verwurzelt ist. Sie stammt von unserem Drang, uns wichtig zu fühlen, von anderen Menschen geschätzt zu werden und anderen in irgendeinem Punkt überlegen zu sein.
Sie sind sich Ihrer eigenen Grandiosität selten bewusst, weil sie die Eigenschaft hat, die Wahrnehmung der Realität zu verändern und eine präzise Beurteilung Ihrer Selbst zu erschweren. Und so sind Sie sich der Probleme, die die Grandiosität in genau diesem Augenblick verursacht, nicht bewusst. Ihre schwach ausgeprägte Grandiosität wird dazu führen, dass Sie Ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten überschätzen und die Hindernisse, die sich Ihnen in den Weg stellen, unterschätzen. Und so übernehmen Sie Aufgaben, die Ihr tatsächliches Können weit überschreiten. Nichtsdestotrotz sind Sie sich dabei ziemlich sicher sein, dass die Leute auf eine besondere Weise auf Ihre Idee reagieren werden, und wenn sie das nicht tun, regen Sie sich auf und geben anderen die Schuld daran.
Möglicherweise werden Sie rastlos und vollziehen einen Berufswechsel, ohne zu erkennen, dass Ihre Grandiosität die eigentliche Triebfeder dafür ist: Ihre aktuelle Arbeit bestätigt Ihre Größe und Überlegenheit nicht. Doch um wahrhaftig überragend zu sein, wären viele Jahre der Aus- und Fortbildung nötig und Sie müssten sich neue Fähigkeiten aneignen. Deshalb ist es besser zu kündigen und sich von den Möglichkeiten ködern lassen, die ein Berufswechsel mit sich bringt, was Ihnen erlaubt, sich in Fantasien von Größe zu ergehen. Mit diesem Ansatz werden Sie aber niemals irgendetwas wirklich gut beherrschen. Sie haben vielleicht Dutzende hervorragender Ideen, die Sie aber niemals zu Ende führen werden, weil Sie sonst der Realität Ihres tatsächlichen Fähigkeitsniveaus ins Auge blicken müssten. Unmerklich und unbewusst werden Sie womöglich etwas passiver: Sie erwarten, dass andere Leute Sie verstehen, Ihnen geben, was Sie wollen, Sie gut behandeln. Statt sich deren Lob hart zu verdienen,
haben Sie das unterschwellige Gefühl, dass es Ihnen zusteht.
In all diesen Fällen wird ihre schwach ausgeprägte Grandiosität Sie davon abhalten, aus Fehlern zu lernen und sich weiterzuentwickeln, weil Sie von der Annahme ausgehen, dass Sie schon groß und großartig sind, und es ist viel zu schwierig, das Gegenteil zuzugeben.
Als Schüler der menschlichen Natur haben Sie drei Aufgaben: Erstens müssen Sie das Phänomen der Grandiosität an sich verstehen, warum es so fest in der menschlichen Natur verwurzelt ist, und warum Sie heutzutage auf viel mehr grandiose Menschen stoßen als jemals zuvor. Zweitens müssen Sie die Zeichen für Grandiosität erkennen lernen und wissen, wie Sie mit Menschen umgehen, die sie zeigen. Und der dritte und vielleicht wichtigste Punkt ist, dass Sie die Zeichen für die Krankheit an sich selbst erkennen und lernen müssen, wie Sie Ihre Neigung zur Grandiosität nicht nur kontrollieren, sondern diese Energie vielmehr für etwas Produktives nutzen können (siehe hierzu »Pragmatische Grandiosität« auf Seite 312).
Laut des bekannten Psychoanalytikers Heinz Kohut (1913–1981) wurzelt die Grandiosität in den frühesten Kindheitsjahren: In den ersten Monaten sind wir sehr stark auf unsere Mutter fixiert. Wir haben kein Gefühl für eine eigenständige Identität. Sie erfüllt jedes unserer Bedürfnisse. Wir glauben schließlich, dass die Brust, von der wir trinken, ein Teil von uns selbst ist. Wir sind allmächtig – alles, was wir tun müssen, ist, hungrig zu sein oder ein anderes Bedürfnis zu haben, und dann ist sofort die Mutter zur Stelle, um es zu befriedigen, als ob wir magische Kräfte hätten, sie zu kontrollieren. Aber wir müssen dann langsam eine zweite Lebensphase durchlaufen, in der wir gezwungen sind, der Realität ins Auge zu blicken: Unsere Mutter ist ein eigenständiges Wesen, das sich auch um andere Personen kümmern muss. Wir sind nicht allmächtig, sondern vielmehr schwach, klein und abhängig. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft und die Quelle vieler Wutanfälle. Wir haben das dringende Bedürfnis, uns Ausdruck zu verleihen, zu zeigen, dass wir nicht hilflos sind, und von Kräften zu träumen, die wir nicht besitzen. (Kinder stellen sich oft vor, dass sie einen Röntgenblick haben, durch Wände sehen, fliegen oder Gedanken
lesen können, und das ist auch der Grund dafür, warum sie sich zu Geschichten von Superhelden hingezogen fühlen.)
Mit zunehmendem Alter sind wir körperlich vielleicht nicht mehr klein, aber unser Gefühl der Bedeutungslosigkeit verschlimmert sich. Wir erkennen, dass wir eine Person sind, die nicht nur in einer größeren Familie, Schule oder Stadt eingebettet ist, sondern in einer Welt, die von Milliarden von Menschen bevölkert wird. Unser Leben ist relativ kurz. Wir haben begrenzte Fertigkeiten und geistige Fähigkeiten. Es gibt so viel, was wir nicht kontrollieren können, vor allem hinsichtlich unserer Karriere und globaler Trends. Die Vorstellung, dass wir sterben und schnell in Vergessenheit geraten werden, in der Unendlichkeit untergehen, ist geradezu unerträglich. Wir wollen uns in irgendeiner Weise wichtig fühlen, gegen unsere natürliche Kleinheit protestieren, unsere Vorstellung der eigenen Person erweitern. Was wir im Alter von drei oder vier Jahren erlebt haben, verfolgt uns unser Leben lang. Wir erleben immer wieder Augenblicke, in denen wir uns klein fühlen, und wir versuchen, diese Einsicht zu leugnen. Daher finden wir Wege, uns unsere eigene Überlegenheit einzubilden.
Manche Kinder durchlaufen diese zweite Phase in der frühen Kindheit nicht, in der sie sich ihrer relativen Schwäche bewusst werden, und diese Kinder sind später im Leben anfälliger für schwerere Formen der Grandiosität. Das sind die verwöhnten, verhätschelten Kinder. Die Eltern geben solchen Kindern weiterhin das Gefühl, im Mittelpunkt des Universums zu stehen, und schützen sie vor dem Schmerz durch die Konfrontation mit der Realität. Jeder Wunsch wird ihnen erfüllt. Wenn jemand versucht, ihnen auch nur ein Quäntchen Disziplin zu vermitteln, reagieren solche Kinder mit einem Tobsuchtsanfall, und sie werden später jede Form von Autorität verachten. Im Vergleich zu ihrer eigenen Person und ihrem Potenzial scheint die Vaterfigur eher schwach zu sein. Diese frühe Verwöhnung zeichnet sie fürs Leben. Sie müssen bewundert werden. Sie werden Meister darin, andere dazu zu bringen, sie zu verwöhnen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Sie fühlen sich allen anderen überlegen. Wenn sie ein bestimmtes Talent haben, können sie es unter Umständen
ziemlich schnell ziemlich weit bringen, aber ihr Gefühl, mit dem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen zu sein, wird eine selbsterfüllende Prophezeiung. Im Gegensatz zu anderen wechseln sie niemals zwischen Gefühlen der Bescheidenheit und Größe ab; sie kennen nur Letzteres. Zweifellos hatte Eisner einen solchen Hintergrund, weil seine Mutter ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas, für ihn die Hausaufgaben erledigte und ihn vor seinem kalten und manchmal brutalen Vater schützte.
In der Vergangenheit konnten wir unser Bedürfnis nach Grandiosität in der Religion ausleben. In grauer Vorzeit war unser Gefühl der Nichtigkeit nicht nur etwas, das uns über die vielen Jahren eingeimpft wurde, in denen wir von unseren Eltern abhängig waren; es stammte auch aus unserer Schwäche in Bezug auf die feindseligen Mächte der Natur. Götter und Geister stellten diese elementaren Kräfte dar, die unsere Existenz in den Schatten stellten. Indem wir sie anbeteten, konnten wir ihren Schutz erlangen. Weil wir mit etwas verbunden waren, das viel größer war als wir selbst, fühlten wir uns ebenfalls größer und wichtiger. Schließlich kümmerten sich die Götter (oder der Gott) um das Schicksal unseres Stammes oder unserer Stadt; sie kümmerten sich um unsere Seele – ein Zeichen unserer Bedeutsamkeit. Wir sterben und verschwinden nicht einfach. Viele Jahrhunderte später kanalisierten wir auf ähnliche Weise diese Energie in die Anbetung von Anführern, die eine große Vision verkörperten und eine Utopie versprachen, wie etwa Napoleon Bonaparte und die Französische Revolution oder Mao Tsetung und der Kommunismus.
Heute haben in der westlichen Welt Religionen und große Visionen ihre einende Kraft verloren. Es fällt uns schwer, an sie zu glauben und unsere Energie der Grandiosität durch die Identifikation mit einer höheren Macht zu befriedigen. Doch das Bedürfnis, sich größer und bedeutender zu fühlen, verschwindet nicht einfach so; es ist stärker als je zuvor. Und in Ermangelung anderer Kanäle neigen Menschen dazu, diese Energie auf sich selbst zu richten. Sie finden einen Weg, ihr Selbstbild zu erweitern und sich großartig und überlegen zu fühlen. Obwohl sie sich dessen selten bewusst sind, entscheiden sie sich dazu,
ihr Selbst zu idealisieren und anzubeten. Deswegen finden wir immer mehr selbstherrliche Zeitgenossen unter uns.
Weitere Faktoren haben zur Ausweitung selbstherrlicher Tendenzen beigetragen. Zunächst gibt es heute mehr Menschen denn je, denen in der Kindheit übertrieben viel Aufmerksamkeit zuteilwird. Es fällt ihnen nicht leicht, sich das Gefühl abzugewöhnen, stets im Mittelpunkt des Universums zu stehen. Sie gelangen schließlich zu der Überzeugung, dass alles, was sie tun oder erzeugen, als wertvoll und beachtungswürdig betrachtet werden sollte.
Zweitens stoßen wir auf immer mehr Menschen, die wenig bis gar keinen Respekt vor Autoritäten oder Experten jeglicher Art haben – ganz gleich wie viel Wissen und Erfahrung diese Fachleute besitzen, die ihnen selbst fehlen. »Warum sollte ihre Meinung mehr Gewicht haben als meine?«, fragen solche Leute sich. »Niemand ist wirklich so überragend; Menschen mit Macht haben einfach mehr Vorrechte.« Oder: »Meine Texte und meine Musik sind genauso gut und gelungen wie die anderer.« Weil sie nicht das Gefühl haben, dass irgendjemand rechtmäßig über ihnen stehen könnte und zu Recht eine gewisse Autorität verdient hätte, reihen sie sich kurzerhand selbst unter die Besten ein.
Drittens vermittelt uns die Technologie den Eindruck, dass alles im Leben so schnell und einfach sein kann wie die Information, die wir online erhalten. Wir haben das Gefühl, dass wir nicht mehr Jahre damit zubringen müssen, eine Fähigkeit zu erlernen. Stattdessen können wir durch einige Tricks und einige Stunden Übung pro Woche alles beherrschen. In ähnlicher Weise glauben Menschen, dass ihre Fähigkeiten leicht übertragen werden können: »Meine Fähigkeit zu schreiben bedeutet, dass ich auch bei einem Film Regie führen kann.« Aber mehr als alles andere sind es die sozialen Medien, die den Virus der Grandiosität verbreiten. Durch die sozialen Medien haben wir beinahe grenzenlose Möglichkeiten, um unsere Präsenz zu erweitern und die Illusion zu erschaffen, dass wir die Aufmerksamkeit und vielleicht sogar die Bewunderung von Tausenden oder Millionen von Menschen haben. Wir können den Ruhm und die Allgegenwart von
Königen und Königinnen haben, ja selbst von Göttern.
Aufgrund all dieser Faktoren und deren Kombination ist es für uns schwerer denn je, eine realistische Einstellung und ein verhältnismäßiges Selbstbild zu bewahren.
Wenn Sie die Menschen in Ihrem Umfeld betrachten, müssen Sie erkennen, dass deren Grandiosität (und auch Ihre) viele verschiedene Formen annehmen können. Am häufigsten werden Menschen versuchen, dieses Bedürfnis zu befriedigen, indem sie soziales Prestige erlangen. Sie behaupten vielleicht, dass sie an der Arbeit selbst interessiert sind oder einen Beitrag für die Menschheit leisten wollen, aber oft motiviert sie tief im Inneren der Wunsch nach Aufmerksamkeit, nach der Bestätigung ihrer hohen Selbstmeinung durch andere, nach dem Gefühl, mächtig und bedeutsam zu sein. Wenn sie talentiert sind, können solche Typen die Aufmerksamkeit, die sie brauchen, mehrere Jahre oder länger auf sich ziehen, aber wie in der Geschichte von Eisner wird ihre Sucht nach Lob sie dazu treiben, den Bogen zu überspannen.
Wenn Menschen von ihrem Beruf enttäuscht sind und trotzdem noch glauben, dass sie großartig sind und nicht ausreichend gewürdigt werden, wenden sie sich verschiedenen Kompensationen zu, wie etwa Drogen, Alkohol, Sex mit möglichst vielen wechselnden Partnern, Shopping, Snobismus und so weiter. Jene mit einer unbefriedigten Grandiosität sind oft von manischer Energie erfüllt – in einem Augenblick erzählen sie jedem von den großartigen Drehbüchern, die schreiben werden, oder von den vielen Frauen, die sie verführen werden, und im nächsten Augenblick verfallen sie in eine tiefe Depression, weil die Realität sie einholt.
Menschen neigen nach wie vor dazu, Anführer zu idealisieren und zu verehren, und wir müssen dies ebenfalls als Form der Grandiosität betrachten. Indem die Anhänger glauben, dass jemand anders alles großartig machen wird, können sie sich eine Scheibe von dieser Großartigkeit abschneiden. Ihr Geist lässt sich von der Rhetorik des Anführers tragen. Sie können sich jenen gegenüber überlegen fühlen, die keine Gläubigen sind. Auf einer persönlicheren Ebene werden die
Menschen oft diejenigen, die sie lieben, idealisieren und vergöttern, wodurch sie wiederum selbst das Gefühl haben, dass ein Teil dieser Macht auf sie zurückfällt.
In der heutigen Welt werden Sie auch feststellen, dass negative Formen der Grandiosität vorherrschen. Viele Menschen haben das Gefühl, ihre grandiosen Anwandlungen nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst verbergen zu müssen. Sie stellen daher oft ihre Demut zur Schau und sind gar nicht an Macht oder Ruhm interessiert – behaupten sie zumindest. Sie sind mit ihrem kleinen Leben zufrieden. Sie wollen gar nicht viel besitzen, sie haben kein Auto und verachten Status(symbole). Aber Sie werden feststellen, dass sie diese Demut ganz demonstrativ zur Schau stellen. Es ist grandiose Demut – ihre Strategie, um Aufmerksamkeit zu erregen und sich moralisch überlegen zu fühlen.
Eine Variation davon ist das grandiose Opfer
: Solche Personen haben viel gelitten und waren schon oft in der Opferrolle. Obwohl sie es vielleicht gerne so hinstellen, als hätten sie einfach nur Pech gehabt oder das Schicksal habe es nicht gut mit ihnen gemeint, neigen sie vielfach dazu, in die schlimmsten Beziehungen zu geraten oder sich selbst in Situationen zu manövrieren, in denen sie mit Sicherheit scheitern und leiden werden. Letztlich sind sie dazu gezwungen, das Drama zu erzeugen, das sie in ein Opfer verwandelt. Wie sich herausstellt, dreht sich jede Beziehung um ihre Bedürfnisse; sie haben in der Vergangenheit einfach zu sehr gelitten, um sich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern. Sie stehen im Mittelpunkt des Universums. Sich an ihrem eigenen Unglück zu weiden und es lautstark kundzutun, gibt ihnen ein Gefühl der Wichtigkeit, der Überlegenheit im Leiden.
Sie können das Ausmaß der Grandiosität auf mehrere einfache Arten messen. Achten Sie zum Beispiel darauf, wie jemand auf Kritik an der eigenen Person oder Arbeit reagiert. Es ist ganz normal, dass wir uns bei Kritik rechtfertigen und ein wenig verärgert sind. Doch manche Leute werden wütend und aggressiv, weil Sie ihr Selbstbild infrage gestellt haben. Sie können sich sicher sein, dass eine solche Person sehr
grandios ist. Ebenso können solche Personen ihre Wut hinter einer gequälten, selbstaufopfernden Fassade verbergen, mit der sie Ihnen Schuldgefühle einimpfen wollen. Die Betonung liegt nicht auf der Kritik selbst und was sie daraus lernen sollten, sondern auf ihrem Wehklagen.
Achten Sie darauf, wie sich erfolgreiche Menschen in intimeren Augenblicken verhalten. Sind sie in der Lage, sich zu entspannen und über sich selbst zu lachen, ihre öffentliche Maske fallen zu lassen – oder haben sie sich so sehr mit ihrem öffentlichen Bild identifiziert, dass sie an ihren eigenen Mythos glauben und in ihrer massiven Grandiosität gefangen sind?
Grandiose Personen reden in der Regel viel und oft. Sie nehmen Lob für alles in Anspruch, das auch nur marginal mit ihrer Arbeit zu tun hat; sie erfinden sogar vergangene Erfolge. Sie reden über ihre Voraussicht, wie sie bestimmte Trends kommen sahen oder bestimmte Ereignisse prognostizierten, die natürlich nicht verifiziert werden können. Solches Gerede sollte Sie doppelt argwöhnisch machen. Wenn Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, plötzlich etwas sagen, das von den Medien als unsensible Äußerung kritisiert wird, können Sie dies ihrer Grandiosität zuschreiben. Sie sind so an ihre eigenen großartigen Meinungen gewöhnt, dass sie annehmen, dass jeder andere sie schon richtig auffassen und mit ihnen übereinstimmen wird.
Typen mit einer stark ausgeprägten Grandiosität sind nur zu wenig Empathie fähig. Sie sind keine guten Zuhörer. Wenn die Aufmerksamkeit nicht auf ihnen ruht, haben sie einen entrückten Blick und ihre Finger trommeln vielleicht ungeduldig auf der Tischplatte. Nur wenn sie selbst im Rampenlicht stehen, werden sie lebhaft. Sie neigen dazu, andere Menschen als Erweiterung ihrer selbst zu sehen – als Werkzeuge, die man benutzen kann, als Komparsen auf ihrer Bühne. Nicht zuletzt zeigen sie nonverbale Verhaltensweisen, die man nur als grandios bezeichnen kann. Ihre Gesten sind groß und ausladend. Bei einer Besprechung nehmen sie viel Raum ein. Ihre Stimme neigt dazu, lauter als die anderer zu sein, und sie reden schnell, um niemandem die Gelegenheit zu geben, eine Äußerung einzuwerfen.
Jenen gegenüber, die eine moderate Grandiosität zur Schau stellen,
sollten Sie nachsichtig sein. Fast alle von uns haben Phasen, in denen wir uns überlegen und großartig fühlen, und dann wieder Phasen, in denen wir auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Betrachten Sie solche Augenblicke des Realismus als Zeichen der Normalität. Doch bei jenen, deren Selbstmeinung so hoch ist, dass sie keine Zweifel zulassen, ist es am besten, Beziehungen oder Verstrickungen zu vermeiden. In intimen Beziehungen neigen sie dazu, einseitige Aufmerksamkeit zu fordern. Als Angestellte, Geschäftspartner oder Vorgesetzte preisen sie ihre Fähigkeiten übertrieben an. Ihr großes Selbstbewusstsein lenkt von den Defiziten ab, die ihre Ideen, Arbeitsgewohnheiten und ihr Charakter zeigen. Wenn Sie eine solche Beziehung nicht vermeiden können, sollten Sie mit Vorsicht reagieren, wenn sie vom Erfolg ihrer Ideen überzeugt sind, und Ihre Skepsis bewahren. Betrachten Sie die Ideen selbst und lassen Sie sich von ihrem überzeugend wirkenden Selbstvertrauen nicht blenden. Unterliegen Sie nicht der Illusion, dass Sie sie konfrontieren und auf den Boden zurückzuholen können; Sie würden damit wohl eher einen Wutanfall auslösen.
Wenn solche Typen Ihre Rivalen sind, sollten Sie sich glücklich schätzen, denn sie sind leicht zu provozieren und lassen sich zu Überreaktionen verleiten. Wenn Sie ihre Großartigkeit infrage stellen, wird sie das wütend und doppelt irrational machen.
Schließlich werden Sie auch Ihre eigenen grandiosen Neigungen unter Kontrolle bringen müssen. Grandiosität hat durchaus einen positiven und produktiven Nutzen. Der Überschwang und die hohe Selbstmeinung, die davon herrühren, können auf die Arbeit gerichtet werden und als Inspirationsquelle dienen (mehr dazu in »Pragmatische Grandiosität« auf Seite 312). Aber im Allgemeinen wäre es für Sie am besten, wenn Sie Ihre Grenzen akzeptieren und mit dem arbeiten, was Sie haben, statt sich göttliche Kräfte vorzustellen, die Sie niemals besitzen werden. Der beste Schutz gegen Größenwahn und Selbstverherrlichung ist eine realistische Einstellung. Sie wissen, zu welchen Themen und Aktivitäten Sie sich von Natur aus hingezogen fühlen. Sie können nicht in allem gut sein. Sie müssen Ihre Stärken ausspielen und dürfen sich nicht einreden, dass Sie in allem
hervorragend sein können, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben. Sie brauchen ein grundlegendes Verständnis Ihrer Energie, wie weit Sie sich an Ihre Grenzen bringen können, und wie sich das mit dem Alter verändert. Und Sie brauchen ein solides Verständnis Ihrer sozialen Position – erkennen Sie Ihre Verbündeten, die Leute, mit denen Sie den stärksten Rapport herstellen, das natürliche Publikum für Ihre Arbeit. Sie können es nicht jedem recht machen.
Diese Selbsterkenntnis hat eine körperliche Komponente, auf die Sie ebenfalls achten sollten. Bei Aktivitäten, die im Einklang mit Ihren natürlichen Neigungen sind, bewältigen Sie Aufgaben ohne große Anstrengung. Sie lernen schneller. Sie haben mehr Energie und können der Eintönigkeit standhalten, die mit dem Erlernen wichtiger Themen einhergeht. Wenn Sie sich zu viel zumuten, mehr als Sie stemmen können, werden Sie sich nicht nur erschöpft fühlen, sondern gereizt und nervös reagieren. Sie bekommen leicht Kopfschmerzen. Wenn Sie im Leben erfolgreich sind, verspüren Sie ganz automatisch ein wenig Angst, als ob Ihnen das Glück entgleiten könnte. Sie spüren mit dieser Angst die Gefahren, die ein steiler Aufstieg und ein übersteigertes Überlegenheitsgefühl mit sich bringen (beinahe wie Schwindel). Ihre innere Unruhe will Ihnen damit sagen, dass es an der Zeit ist, wieder auf die Erde zurückzukehren. Hören Sie auf Ihren Körper; er signalisiert Ihnen, wenn Sie gegen Ihre Kräfte arbeiten.
Indem Sie sich selbst kennenlernen, akzeptieren Sie Ihre Grenzen. Sie sind einfach eine Person unter vielen auf der Welt und niemandem von Natur aus überlegen. Sie sind kein Gott oder Engel, sondern ein fehlerbehafteter Mensch wie jeder andere. Sie nehmen die Tatsache hin, dass Sie die Menschen um sich herum nicht kontrollieren können und keine Strategie narrensicher ist. Die menschliche Natur ist einfach zu unberechenbar. Mit dieser Selbsterkenntnis und der Hinnahme Ihrer Grenzen werden Sie ein Gespür für das richtige Augenmaß bekommen. Sie werden in Ihrer Arbeit nach Größe streben. Und wenn Sie sich dazu hingerissen fühlen, eine höhere Meinung von sich selbst zu haben, als es vernünftig ist, wird Ihnen diese Selbsterkenntnis als Gegengewicht gute Dienste leisten. Es wird Sie nach unten ziehen und
Sie zu den Handlungen und Entscheidungen lenken, die Ihrem individuellen Naturell am besten dienen.
Realismus und Pragmatismus sind es, die uns Menschen so stark machen. Mit ihrer Hilfe konnten wir unsere körperliche Schwäche in einer feindseligen Umgebung vor vielen Tausenden Jahren überwinden, und wir lernten, mit anderen zusammenzuarbeiten und wirksame Gemeinden und Werkzeuge zum Überleben zu bilden. Obwohl wir uns von diesem Pragmatismus entfernt haben, weil wir uns nicht mehr auf unseren Verstand verlassen müssen, um zu überleben, ist das in Wirklichkeit unsere wahre Natur als unübertroffenes soziales Tier auf diesem Planeten. Indem wir realistischer werden, werden wir einfach menschlicher.
Der grandiose Anführer
Wenn Menschen neben einem hohen Maß an Grandiosität auch etwas Talent und viel Durchsetzungskraft besitzen, können sie in mächtige Positionen aufsteigen. Ihre Entschlossenheit und Zuversicht ziehen Aufmerksamkeit auf sich und verleihen ihnen eine überlebensgroße Ausstrahlung. Wir lassen uns von ihrem Selbstbild leicht blenden und erkennen daher die Irrationalität nicht, von der sie sich in ihrem Entscheidungsprozess leiten lassen – und folgen ihnen geradewegs in die Katastrophe. Solche Leute können sehr zerstörerisch wirken.
Sie müssen hinsichtlich dieser Typen eine simple Tatsache begreifen: Sie sind abhängig von der Aufmerksamkeit, die wir ihnen geben. Ohne unsere Aufmerksamkeit, ohne die Bewunderung der Öffentlichkeit, können sie ihre hohe Selbstmeinung nicht bestätigen, und in der Folge schwindet eben jenes übermäßige Selbstbewusstsein, auf das sie sich so sehr verlassen. Um uns zu beeindrucken und von der Realität abzulenken, wenden sie bestimmte theatralische Mittel an. Es ist absolut unerlässlich, dass wir ihren Bühnenzauber durchschauen, sie entmythisieren und sie auf das richtige Maß schrumpfen. Dadurch können wir ihrem Reiz widerstehen und die Gefahren vermeiden, die sie verkörpern. Nachfolgend werden die sechs gängigen Illusionen
vorgestellt, die solche Typen gerne erschaffen.
Ich bin ausersehen
Grandiose Anführer versuchen oft den Eindruck zu erzeugen, dass es aus irgendwelchen Gründen ihr Schicksal sei, Großes zu leisten. Sie erzählen Geschichten von ihrer Kindheit und Jugend, die auf ihre Einzigartigkeit hinweisen, als ob das Schicksal sie auserkoren hätte. Sie heben Ereignisse hervor, die schon früh ihre ungewöhnliche Härte oder Kreativität untermauern sollen. Entweder denken sie sich diese Geschichten aus oder sie deuten ihre Vergangenheit um. Sie erzählen Geschichten aus der Anfangszeit ihrer beruflichen Laufbahn, in der sie scheinbar unmögliche Hindernisse überwunden haben. Der künftige große Anführer war demnach schon in jungen Jahren in der Mache – zumindest lassen sie es so erscheinen.
Wenn Sie solche Dinge hören, müssen Sie hellhörig werden. Solche Menschen versuchen, einen Mythos zu erschaffen, den sie vermutlich selbst glauben. Halten Sie Ausschau nach profaneren Fakten hinter den schicksalshaften Geschichten und machen Sie sie falls möglich publik.
Ich bin jedermann
In manchen Fällen steigen grandiose Anführer aus unteren sozialen Schichten auf, aber im Allgemeinen haben sie eine relativ privilegierte Herkunft, oder sie hatten aufgrund ihres Erfolgs seit einiger Zeit keinen Kontakt oder Bezug zu den Sorgen der durchschnittlichen Bürger. Trotzdem ist es für sie essenziell, sich in der Öffentlichkeit als Stellvertreter des Durchschnittsbürgers zu inszenieren. Nur durch eine solche Präsentation können sie die Aufmerksamkeit und Bewunderung einer ausreichend großen Anzahl von Anhängern auf sich ziehen, um zufrieden zu sein.
Indira Gandhi, die indische Premierministerin von 1966 bis 1977 und 1980 bis 1984, stammte aus politischem Adel. Ihr Vater Jawaharlal Nehru war der erste Premierminister des Landes. Sie studierte in Europa und verbrachte einen Großteil ihres Lebens weit
weg von den ärmeren Bevölkerungsschichten Indiens. Doch als grandiose Anführerin, die später ziemlich diktatorisch werden sollte, inszenierte sie sich als eine Frau des Volkes, der sie eine Stimme gab. Sie veränderte ihre Sprache, wenn sie vor großen Menschenansammlungen redete, und benutzte heimatverbundene Metaphern, wenn sie kleine Dörfer besuchte. Sie trug ihren Sari wie die Landfrauen und pflegte mit den Fingern zu essen. Sie stellte sich gerne als »Mutter Indira« dar, die auf familiäre, mütterliche Weise über Indien herrschte. Dieser Stil, nahm sie an, sei hocheffektiv, um Wahlen zu gewinnen, obwohl es reines Schauspiel war.
Der Trick der grandiosen Anführer ist es, den Fokus auf ihren kulturellen Geschmack zu richten, nicht auf die tatsächliche Schicht, aus der sie kommen. Sie fliegen vielleicht erste Klasse und tragen die teuersten Anzüge, aber sie wirken dem entgegen, indem sie den Eindruck erwecken, als hätten sie dieselben kulinarischen Geschmäcker wie die Öffentlichkeit, als würden sie genauso ins Kino gehen wie alle anderen, und sie wollen um jeden Preis den Snobismus der kulturellen Elite vermeiden. Sie geben sich womöglich die größte Mühe, die Eliten zu verspotten, obwohl sie vermutlich von solchen Experten abhängen, die sie beraten. Sie geben sich wie das einfache Volk – nur eben mit sehr viel mehr Geld und Macht. Die Öffentlichkeit kann sich jetzt trotz der offensichtlichen Gegensätze mit ihnen identifizieren.
Doch diese Form der Grandiosität geht weit darüber hinaus, mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Diese Anführer bekommen durch diese Identifikation mit den Massen ein deutlich größeres Format. Sie sind nicht einfach nur ein Mann oder eine Frau, sondern verkörpern eine gesamte Nation oder Interessenvertretung. Dieser Person zu folgen heißt, mit der Gruppe an sich loyal zu sein. Wenn man es wagt, sie zu kritisieren, stellt man den Anführer bloß und verrät das Ziel. Selbst in der prosaischen Geschäftswelt finden wir eine solche beinahe religiöse Identifikation: Eisner zum Beispiel stellte sich gerne als Verkörperung der gesamten Disney-Philosophie dar – was auch immer das heißen mochte.
Wenn Sie solche Widersprüchlichkeiten und primitiven Formen der
populären Assoziation entdecken, sollten Sie Abstand nehmen und die Realität dessen analysieren, was gerade geschieht. Sie werden im Kern insofern etwas Quasi-Hysterisches, extrem Irrationales und ziemlich Gefährliches feststellen, als der größenwahnsinnige Anführer jetzt das Gefühl hat, dass er das Recht hat, im Namen des Volkes alles zu tun, was er will.
Ich werde euch erlösen
Diese Typen kommen oft in unsicheren, bewegten Zeiten an die Macht. Ihr Selbstbewusstsein hat eine beruhigende Wirkung auf die Öffentlichkeit und die Aktionäre. Sie wollen jene sein, die die Menschen von vielen Problemen, mit denen sie sich konfrontiert sehen, befreien. Um das zu erreichen, müssen ihre Versprechungen groß sein, aber vage bleiben. Indem sie groß sind, regen sie zum Träumen an; indem sie vage bleiben, kann niemand ihnen Wortbruch vorwerfen, weil es keine Details gibt, die man vorbringen könnte. Je größenwahnsinniger die Versprechungen und Zukunftsvisionen sind, umso größer sind der Glaube und die Hoffnung, die sie inspirieren. Die Botschaft muss einfach zu verdauen sein, sich auf einen Slogan reduzieren lassen und etwas Großes versprechen, das Emotionen auslöst. Als Teil dieser Strategie brauchen diese Typen praktische Sündenböcke – oft die Eliten oder Außenseiter –, um die Gruppenidentifikation zu festigen und die Emotionen noch weiter anzuheizen. Die Bewegung um den Anführer fängt an, sich auf den Hass auf diese Sündenböcke zu konzentrieren, die für jedes erlittene Unrecht und jeden Schmerz verantwortlich gemacht werden, die jeder Einzelne in der Gruppe jemals erfahren hat. Das Versprechen des Anführers, diese erfundenen Feinde zur Rechenschaft zu ziehen, erhöht seine Macht exponentiell.
In diesem Fall wird eher eine Sekte als eine politische Bewegung oder ein Unternehmen erschaffen. Der Name, das Bild und die Slogans solcher Anführer müssen in großer Anzahl reproduziert werden und eine gottgleiche Allgegenwart annehmen. Bestimmte Farben, Symbole und sogar Musik werden eingesetzt, um die Gruppenidentität zu stärken und die primitivsten menschlichen Instinkte anzusprechen. Menschen,
die jetzt an die Sekte glauben, sind zweifellos wie hypnotisiert und bereit, jedwede Handlung zu entschuldigen. An diesem Punkt wird wahre Gläubige nichts mehr von ihrem Weg abbringen, aber Sie müssen Ihre innere Distanz und Ihre analytische Kraft beibehalten.
Ich schreibe die Spielregeln um
Ein geheimer Wunsch des Menschen ist es, sich nicht an die üblichen Regeln und Konventionen zu halten, die in einem sozialen Rahmen Gültigkeit besitzen – Macht zu erlangen, indem man nur seinem eigenen inneren Licht folgt. Wenn größenwahnsinnige Anführer behaupten, solche Kräfte zu besitzen, sind wir insgeheim erfreut und wollen ihnen glauben.
Michael Cimino war der Regisseur des oscarprämierten Films Die durch die Hölle gehen
(1978). Für all jene, die mit und für ihn arbeiteten, war er aber nicht nur ein Regisseur, sondern ein Genie, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das rigide Hollywood-System in seinen Grundfesten zu erschüttern. Für seinen nächsten Film Heaven’s Gate
(1980) hatte er einen Vertrag ausgehandelt, der in der Geschichte Hollywoods einzigartig war und ihm den Freibrief gab, das Budget bei Bedarf nach eigenem Ermessen zu erhöhen, um kompromisslos den Film zu erschaffen, den er sich vorgestellt hatte.
Am Set verbrachte Cimino Wochen damit, mit den Schauspielern die Art von Rollschuhlauf einzuüben, die er für eine Szene brauchte. Eines Tages wartete er stundenlang bei laufenden Kameras, bis die für ihn perfekte Wolke am Himmel erschien, die er aufnehmen wollte. Die Kosten stiegen immer weiter und der Film, den er ursprünglich einreichte, war über fünf Stunden lang. Am Ende galt Heaven’s Gate
als eine der größten Katastrophen in der Geschichte Hollywoods und zerstörte Ciminos Karriere. Es schien, als hätte ein traditioneller Vertrag durchaus einem Zweck gedient – den natürlichen Größenwahn eines jeden Regisseurs unter Kontrolle zu halten und ihn dazu zu bringen, innerhalb eines vertretbaren Rahmens künstlerische Entscheidungen zu treffen. Die meisten Regeln unterliegen dem gesunden Menschenverstand und der Rationalität.
Als Variante davon verlassen größenwahnsinnige Anführer sich oft auf ihre Intuition und ignorieren die Notwendigkeit von Fokusgruppen oder jeder Form von wissenschaftlichem Feedback. Sie haben eine spezielle innere Verbindung zur Wahrheit. Sie erschaffen gerne den Mythos, dass ihre Intuition sie zu fantastischen Erfolgen geführt habe, aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass ihre Intuition genauso oft danebenliegt, wie sie ein Volltreffer ist.
Wenn Sie Anführer hören, die sich selbst als perfekten Draufgänger inszenieren, die auch ohne Regeln und Fachwissen zurechtkommen, dürfen Sie das nur als Zeichen des Größenwahns betrachten und nicht als Zeichen einer göttlichen Inspiration.
Alles, was ich anfasse, wird zu Gold
Größenwahnsinnige versuchen die Legende zu erschaffen, dass sie niemals gescheitert sind. Wenn es ein Scheitern oder Rückschläge in ihrer Karriere gab, war es immer die Schuld anderer, die sie betrogen haben.
US-General Douglas McArthur war ein Genie darin, jede Schuld von sich zu weisen. Er behauptete, in seiner langen Karriere niemals eine Schlacht verloren zu haben, obwohl er faktisch viele verloren hat. Doch indem er seine Erfolge hinausposaunte und für seine Niederlagen zahllose Ausreden vorbrachte, wie etwa Verrat, erschuf er den Mythos magischer Kräfte in der Schlacht. Grandiose Anführer greifen fast immer auf einen solchen Marketingtrick zurück.
Damit verbunden ist der Glaube, dass sie ihre Fähigkeiten leicht übertragen können – der Filmproduzent kann einen Themenpark entwerfen, ein Geschäftsmann kann der Anführer eines Landes werden. Weil sie Naturtalente sind, können sie sich an allem versuchen, was sie interessiert. Das ist ihrerseits oft ein fataler Zug, weil sie sich an Dinge heranwagen, die ihr Fachwissen übersteigen, und sie schnell von der Komplexität und dem Chaos, das von ihrer mangelnden Erfahrung herrührt, erschlagen werden.
Wenn Sie mit solchen Typen zu tun haben, sollten Sie sich ihren Werdegang genau ansehen. Sie werden schnell merken, wie viele
eklatante Pleiten sie erlitten haben. Obwohl Menschen, die unter dem Einfluss eines solchen Größenwahns stehen, vermutlich nicht auf Sie hören werden, sollten Sie die Wahrheit über ihre Vergangenheit auf möglichst neutrale Art und Weise an die Öffentlichkeit bringen.
Ich bin unverwundbar
Grandiose Anführer gehen gerne Risiken ein. Das zieht schließlich die Aufmerksamkeit überhaupt erst auf sie, und in Kombination mit dem Erfolg, der den Mutigen oft zuteilwird, scheinen sie überdimensionale Macher zu sein. Aber dieser Mut gerät schnell außer Kontrolle. Sie müssen Maßnahmen ergreifen, die Aufsehen erregen, um weiterhin in aller Munde zu bleiben und ihre hohe Selbstmeinung zu nähren. Sie können sich nicht ausruhen oder zurückziehen, weil sie befürchten, dann in der Versenkung zu verschwinden. Zu allem Überfluss fühlen sie sich unverwundbar, weil sie in der Vergangenheit schon oft mit riskanten Aktionen davongekommen sind, und wenn sie einen Rückschlag erleiden, schaffen sie es, diesen durch noch mehr Wagemut zu überwinden. Sie brauchen einen höheren Einsatz und Gewinne, um dieses Gefühl der gottgleichen Unverwundbarkeit zu nähren. Sie können zwanzig Stunden am Tag arbeiten, wenn sie unter dieser Art von Druck stehen. Sie können über brennende Kohlen laufen.
Und sie sind tatsächlich relativ unverwundbar, zumindest so lange, bis sie eine fatale Aktion vornehmen, die den Bogen überspannt und zum endgültigen Zusammenbruch führt, wie etwa McArthurs größenwahnsinnige Tour durch die USA nach dem Koreakrieg, in dem sein irrationaler Geltungsdrang schmerzlich offensichtlich wurde, oder Maos fatale Entscheidung, die Kulturrevolution auszurufen, oder Stan O’Neal, CEO von Merrill Lynch, der sich an hypothekarisch gesicherte Wertpapiere klammerte, als alle anderen ausstiegen, wodurch eine der ältesten Finanzinstitutionen des Landes zugrunde ging. Unvermittelt zerbricht die Aura der Unverletzlichkeit. Dies tritt ein, weil ihre Entscheidungen nicht durch rationale Überlegungen bestimmt werden, sondern durch die Sucht nach Aufmerksamkeit und Ruhm – und früher oder später holt sie die Realität mit einem harten Schlag ein.
Wenn Sie mit einem größenwahnsinnigen Anführer zu tun haben, sollten Sie versuchen, das heilige, ruhmreiche Bild, das er nach außen hin gezeichnet hat, zu entzerren. Er wird überreagieren und seine Anhänger werden aggressiv reagieren, aber mit der Zeit werden einige Anhänger Zweifel äußern. Virale Ernüchterung zu erzeugen ist Ihre größte Hoffnung.
Pragmatische Grandiosität
Grandiosität ist eine sehr urtümliche Energie, die in jedem von uns steckt. Sie zwingt uns dazu, nach mehr zu streben, von anderen anerkannt und geschätzt zu werden und uns mit etwas Größerem verbunden zu fühlen. Das Problem ist nicht die Energie an sich, die genutzt werden kann, um unsere Ambitionen zu befeuern, sondern die Richtung, die sie einschlägt. Normalerweise führt Grandiosität dazu, dass wir uns größer und überlegener fühlen, als wir eigentlich sind. Wir können dies als fantastische Grandiosität
bezeichnen, weil sie auf unseren Wunschvorstellungen und dem verdrehten Eindruck basiert, den wir durch die uns zuteilwerdende Aufmerksamkeit erhalten. Die andere Form, die wir fortan als pragmatische Grandiosität
bezeichnen, ist nicht leicht zu erzielen und nicht naturgegeben, aber sie kann eine Quelle enormer Macht und Selbstverwirklichung sein.
Pragmatische Grandiosität beruht nicht auf der Fantasie, sondern auf der Realität. Wir richten unsere Energie auf unsere Arbeit und den Wunsch, Ziele zu erreichen, Probleme zu lösen und Beziehungen zu verbessern. Das zwingt uns dazu, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und zu schärfen. Durch unsere erbrachten Leistungen können wir uns größer fühlen. Wir ziehen durch unsere Arbeit Aufmerksamkeit auf uns. Die Aufmerksamkeit, die wir auf diese Weise erhalten, ist befriedigend und verleiht uns Energie, aber die größere Genugtuung kommt von der Arbeit selbst und der Überwindung unserer Schwächen. Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist unter Kontrolle und untergeordnet. Unser Selbstbewusstsein steigt in der Folge, aber es ist an echte Errungenschaften gebunden statt an nebulöse, subjektive Fantasien.
Wir haben den Eindruck, dass unsere Präsenz durch unsere Arbeit größer wird – durch das, was wir zur Gesellschaft beitragen.
Obwohl die genaue Art und Weise, wie diese Energie kanalisiert wird, von Ihrem Fachgebiet und Fähigkeitsniveau abhängt, sind die folgenden fünf Grundprinzipien notwendig, um ein hohes Maß an Erfüllung zu erreichen, das von dieser realitätsbasierten Form der Grandiosität stammen kann.
Finden Sie sich mit ihren grandiosen Bedürfnissen ab
Starten Sie aus einer Position der Ehrlichkeit heraus. Sie müssen sich selbst gegenüber zugeben, dass Sie sich wichtig fühlen und im Mittelpunkt stehen wollen. Das ist ganz natürlich. Ja, Sie wollen sich überlegen fühlen und Sie haben Ambitionen wie jeder andere auch. In der Vergangenheit hat Ihr Geltungsdrang Sie vielleicht zu einigen schlechten Entscheidungen veranlasst, die Sie jetzt akzeptieren und analysieren können. Verleugnung ist hierbei Ihr schlimmster Feind! Nur mit dieser Selbsterkenntnis können Sie anfangen, Ihre Energie in etwas Praktisches und Produktives zu verwandeln.
Konzentrieren Sie Ihre Energie
Fantastische Grandiosität wird Sie dazu verleiten, von einer fantastischen Idee zur nächsten zu springen und sich dabei all die Auszeichnungen und die Aufmerksamkeit vorzustellen, die Sie erhalten werden – doch Sie werden niemals etwas davon realisieren. Sie müssen das Gegenteil tun. Machen Sie es sich zur Gewohnheit, sich völlig und intensiv auf ein einzelnes Projekt oder Problem zu konzentrieren. Gestalten Sie das Ziel so, dass es leicht zu erreichen ist, mit einem Zeitrahmen von Monaten und nicht Jahren. Spalten Sie Ihr Ziel dann in kleine Schritte und Teilziele auf. Ihr Ziel ist es, in einen Flow-Zustand zu kommen, in dem Ihr Verstand völlig in die Arbeit abtaucht, bis hin zu dem Punkt, an dem Ihnen neue Ideen völlig unerwartet zufliegen. Dieses Gefühl des Flow sollte angenehm sein, sodass Sie nach mehr verlangen. Gestatten Sie es sich nicht, über andere Projekte zu
fantasieren, die Sie am Horizont zu erkennen glauben. Tauchen Sie stattdessen so tief wie möglich in Ihre Arbeit ab. Wenn Sie nicht in den Flow kommen, werden Sie unweigerlich Multitasking betreiben und die Konzentration verlieren. Bemühen Sie sich, dies zu überwinden.
Vielleicht gibt es ein Projekt, an dem Sie außerhalb Ihrer regulären Arbeit tüfteln. Es geht aber nicht um die Anzahl der Stunden, die Sie investieren, sondern die Intensität und die permanente Anstrengung, die Sie aufbringen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Sie bei diesem Projekt Fähigkeiten anwenden, die Sie bereits besitzen oder gerade entwickeln. Ihr Ziel ist es, eine kontinuierliche Verbesserung Ihres Fähigkeitsniveaus zu erzielen, die aus den Tiefen Ihrer Konzentration kommt. Ihr Selbstbewusstsein wird sich steigern, und das allein sollte schon ausreichen, um weiterhin am Ball bleiben zu wollen.
Pflegen Sie den Dialog mit der Realität
Ihr Projekt beginnt mit einer Idee, und während Sie versuchen, diese Idee zu konkretisieren, sollten Sie Ihrer Fantasie freien Lauf lassen und für verschiedene Möglichkeiten offen sein. An einem gewissen Punkt werden Sie sich aber von der Planungsphase zur Ausführung bewegen. Jetzt müssen Sie aktiv nach Feedback und konstruktiver Kritik von Leuten suchen, die Sie schätzen, oder von Ihrem natürlichen Publikum. Sie wollen mehr über die Fehler und Schwachstellen Ihres Plans erfahren, weil das der einzige Weg ist, um Ihre Fähigkeiten zu verbessern. Wenn das Projekt nicht die Ergebnisse mit sich bringt, die Sie sich vorgestellt hatten, oder das Problem nicht gelöst wird, sollten Sie das als Lernchance betrachten. Analysieren Sie ausführlich, was Sie falsch gemacht haben, und seien Sie dabei so schonungslos ehrlich wie möglich.
Sobald Sie Feedback erhalten und die Ergebnisse analysiert haben, kehren Sie zu dem Projekt zurück oder fangen etwas Neues an, wobei Sie Ihrer Fantasie wieder freien Lauf lassen, flechten diesmal aber das, was Sie aus eigener Erfahrung gelernt haben, ein. Durchlaufen Sie diesen Prozess immer wieder, und Sie werden voller Freude feststellen,
dass Sie sich in dessen Verlauf verbessern. Wenn Sie zu lange in der Fantasie- und Ideensammlungsphase bleiben, wird das, was Sie erschaffen, dazu neigen, größenwahnsinnig oder von der Realität entrückt zu sein. Wenn Sie hingegen nur auf das Feedback hören und versuchen, Ihre Arbeit so zu gestalten, dass sie das widerspiegelt, was die anderen Ihnen sagen oder was sie wollen, wird Ihre Arbeit konventionell und flach sein. Indem Sie kontinuierlich im Dialog mit der Realität (Feedback) und Ihrer eigenen Vorstellungskraft stehen, können Sie etwas Praktisches und Innovatives erschaffen.
Sobald Sie mit Ihren Projekten Erfolg haben, ist es an der Zeit, von der Aufmerksamkeit, die Sie erhalten, Abstand zu nehmen. Ziehen Sie in Betracht, dass Glück bei Ihrem Erfolg auch eine Rolle gespielt haben könnte, oder die Hilfe, die Sie von anderen erhalten haben. Widerstehen Sie dem Drang, der Erfolgstäuschung zu unterliegen. Wenn Sie sich auf die nächste Idee konzentrieren, fangen Sie wieder ganz von vorne an. Jedes neue Projekt stellt eine neue Herausforderung und einen frischen Ansatz dar. Sie könnten genauso gut scheitern. Sie brauchen also dieselbe Konzentration, die Sie bei Ihrem letzten Projekt hatten. Ruhen Sie sich niemals auf Ihren Lorbeeren aus und lassen Sie die Zügel niemals schleifen.
Suchen Sie nach kalibrierten Herausforderungen
Das Problem bei der fantastischen Grandiosität ist, dass Sie sich irgendein großes neues Ziel vorstellen, das Sie erreichen werden, wie etwa den genialen Roman, den Sie schreiben werden, oder das lukrative Start-up, das Sie gründen wollen. Die Herausforderung ist so groß, dass Sie zwar anfangen, aber dann schon bald das Handtuch werfen, weil Sie erkennen, dass Sie der Aufgabe nicht gewachsen sind. Wenn Sie ein ehrgeiziger, durchsetzungsfähiger Typ sind, setzen Sie das Projekt vielleicht trotzdem fort und enden mit dem Euro-Disney-Syndrom: Sie sind hoffnungslos überfordert und im großen Stil gescheitert, doch Sie geben anderen die Schuld und lernen nichts aus dieser Erfahrung.
Ihr Ziel bei der pragmatischen Grandiosität ist es, kontinuierlich nach Herausforderungen zu suchen, die knapp über Ihren aktuellen
Fähigkeiten liegen. Wenn das Projekt, das Sie in Angriff nehmen, unter oder auf Ihrem derzeitigen Leistungsniveau liegt, langweilen Sie sich schnell und sind weniger konzentriert. Ist es zu ehrgeizig, wird Ihnen Ihre Niederlage einen herben Dämpfer verpassen. Ist es hingegen so kalibriert, dass es etwas anspruchsvoller ist als das letzte Projekt, aber in einem moderaten Maß, werden Sie motiviert und energiegeladen sein. Sie müssen für diese Herausforderung bereit sein, deshalb wird Ihre Konzentration ebenfalls steigen. Das ist der optimale Weg zu lernen. Wenn Sie scheitern, werden Sie sich nicht überfordert fühlen und Sie werden sogar noch mehr lernen. Wenn Sie Erfolg haben, nimmt Ihr Selbstbewusstsein zu, aber es ist an Ihre Arbeit und das Wissen gebunden, dass Sie diese Herausforderung gemeistert haben. Ihr Gefühl, etwas geleistet zu haben, wird Ihr Bedürfnis nach Größe befriedigen.
Entfesseln Sie Ihre grandiose Energie
Sobald Sie diese Energie gebändigt und genutzt haben, um Ihren Ambitionen und Zielen zu dienen, sollten Sie sich sicher genug fühlen, sie bei Gelegenheit auch einmal zu entfesseln. Sie ist wie ein wildes Tier, das hin und wieder frei durch die Natur streifen muss, weil es sonst vor innerer Unruhe verhaltensauffällig wird. Das bedeutet, dass Sie es sich gelegentlich erlauben, eine neue Fähigkeit in einem vollkommen unbekannten Bereich zu entwickeln, oder den Roman zu schreiben, den Sie früher als Ablenkung von Ihrer eigentlichen Arbeit betrachtet haben. Oder Sie lassen Ihrer Vorstellungskraft einfach freien Lauf, wenn Sie in der Planungsphase Ihres Projekts sind.
Wenn Sie in der Öffentlichkeit stehen und vor anderen eine Leistung abliefern müssen, sollten Sie die Zurückhaltung, die Sie sich so mühsam anerzogen haben, aufgeben und ihrer grandiosen Energie die Möglichkeit geben, Sie mit einem hohen Maß an Selbstüberzeugung zu erfüllen. Dann werden Sie lebhaftere Gesten machen und charismatischer sein. Wenn Sie ein Anführer sind und Ihre Gruppe sieht sich Schwierigkeiten oder einer Krise konfrontiert, sollten Sie Grandiosität zulassen und vor Zuversicht in den Erfolg Ihrer Mission
strotzen, um Ihre Leute zu inspirieren und ihnen Hoffnung zu geben. Es war diese Art von Grandiosität, die Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg zu einem effektiven Anführer machte.
In jedem Fall ist es in Ordnung, sich in einer solchen Situation gottgleich zu fühlen, weil Sie es mit Ihren verbesserten Fähigkeiten und tatsächlich erbrachten Leistungen so weit gebracht haben. Wenn Sie sich die Zeit genommen haben, die anderen Prinzipien durchzuarbeiten, werden Sie nach einigen Tagen oder Stunden der überschwänglichen Grandiosität ganz von selbst auf den Boden der Tatsachen zurückkehren.
Am Ursprung unserer infantilen Grandiosität war ein Gefühl der intensiven Bindung zur Mutter. Diese war so umfassend und befriedigend, dass wir viel Zeit damit verbringen, dieses Gefühl auf irgendeine Weise wiederzuerlangen. Es ist die Quelle unseres Wunsches, unsere banale Existenz zu transzendieren, etwas zu wollen, das so groß ist, dass wir es nicht in Worte fassen können. Wir erhaschen einen kurzen Blick auf diese ursprüngliche Verbindung, wenn wir in einer intimen Beziehung sind und in Augenblicken bedingungsloser Liebe, die jedoch selten und flüchtig sind. Wenn wir mit unserer Arbeit einen Flow-Zustand erreichen oder eine tiefere Empathie zu unseren Mitmenschen kultivieren (siehe Kapitel 2), verschafft uns das viel mehr solcher Augenblicke, die diesen Drang befriedigen. Wir fühlen uns mit der Arbeit oder unseren Mitmenschen vereint. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen, indem wir eine tiefere Verbindung zum Leben an sich erleben, was Sigmund Freud als »das ozeanische Gefühl« bezeichnete.
Betrachten Sie es so: Die Entstehung des Lebens auf dem Planeten Erde vor so vielen Milliarden Jahren erforderte eine Zusammenkunft von Ereignissen, die sehr unwahrscheinlich waren. Der Anfang allen Lebens war ein heikles Experiment, das jederzeit hätte scheitern können. Die anschließende Evolution so vieler Lebensformen ist erstaunlich, und der Endpunkt dieser Evolution ist das einzige Tier, von dem wir wissen, dass es sich dieses gesamten Prozesses bewusst ist: der Homo sapiens.
Ihre Geburt war ein ebenso unwahrscheinliches und unheimliches Ereignis. Es erforderte eine besondere Kette von Ereignissen, die dazu führte, dass sich Ihre Eltern kennenlernten und Sie auf die Welt kamen. Es hätte alles auch ganz anders laufen können. In diesem Augenblick, während Sie diese Zeilen lesen, sind Sie sich – ebenso wie Milliarden anderer Menschen – des Lebens bewusst, und das nur für eine kurze Dauer, nämlich bis Sie sterben. Sich diese Realität mit all ihren Konsequenzen bewusst zu machen, nennt man das Erhabene (mehr dazu in Kapitel 18.) Es kann nicht in Worte gefasst werden. Es ist zu beeindruckend. Wenn man einen Teil dieses heiklen Experiments namens Leben spürt, ist das eine Art von umgekehrter Grandiosität – wir werden nicht durch unsere relative Unwichtigkeit beunruhigt, sondern sind vielmehr beeindruckt von dem Gefühl, nur ein Tropfen in diesem unendlichen Ozean zu sein.
Gedrückt durch das Unglück mit meinen Kindern schickte ich wieder hin und ließ den Gott fragen, was ich thun müsse um mein übriges Leben auf’s Glücklichste zuzubringen? Er antwortete mir: Kennst du, Krösus, dich selbst. so wird dir’s glücklich ergehen. … Nun aber ließ ich mich wiederum blenden, sowohl von dem gegenwärtigen Reichthum als auch von Denen welche mich baten mich an die Spitze zu stellen, von den Geschenken die sie mir gaben, und von den Menschen die schmeichlerisch zu mir sagten, wenn ich herrschen wollte, so würden mir Alle gehorchen und ich würde der größte Mann werden; von solchen Reden, sage ich, wurde ich aufgebläht, und nahm, als mich alle Könige rings umher zum Führer des Kriegs wählten, den Oberbefehl an, als ob ich im Stande wäre der Mächtigste zu werden. Ich kannte mich also selbst nicht, indem ich mich zum Kampfe gegen dich tüchtig glaubte … Da ich dieß nicht wußte leide ich mit Recht meine Strafe.
Xenophon, Kyrupädie