12 Stellen Sie die Verbindung zur Männlichkeit oder Weiblichkeit in Ihnen wieder her
Das Gesetz der Geschlechterrollenrigidität
W ir alle haben männliche und weibliche Eigenschaften – manche davon sind genetisch, manche davon stammen vom tiefen Einfluss des gegengeschlechtlichen Elternteils. Aber aufgrund unseres Bedürfnisses, in der Gesellschaft eine konsistente Identität zu präsentieren, neigen wir dazu, diese Qualitäten zu unterdrücken und uns mit der männlichen beziehungsweise weiblichen Rolle zu identifizieren, die man von uns erwartet – und wir zahlen den Preis dafür: Wertvolle Dimensionen unseres Charakters gehen verloren. Unsere Denk- und Handlungsweisen werden rigide. Unsere Beziehungen zu Personen des anderen Geschlechts leiden, weil wir unsere eigenen Fantasien und negativen Gefühle auf sie projizieren. Sie müssen sich dieser verlorenen männlichen oder weiblichen Eigenschaften wieder bewusst werden und langsam eine Beziehung zu ihnen herstellen, wodurch Sie kreative Kräfte freisetzen. Sie werden dadurch in Ihrem Denken viel flexibler. Indem Sie den männlichen oder weiblichen Unterton in Ihrem Charakter zum Vorschein bringen und Ihr wahres Ich zeigen, werden Sie Menschen faszinieren. Spielen Sie nicht die Geschlechterrolle, die man von Ihnen erwartet, sondern erschaffen Sie vielmehr eine Rolle, die zu Ihnen passt.
Das authentische Rollenbild
Als junges Mädchen träumte Caterina Sforza von den großen Taten, die sie als Mitglied der illustren mailändischen Familie Sforza leisten würde. Caterina wurde 1463 als uneheliches Kind einer hübschen mailändischen Adligen und Galeazzo Maria Sforza geboren, der nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1466 der Herzog von Mailand wurde. Als Herzog befahl Galeazzo, dass seine Tochter in das Schloss Porta Giova gebracht wurde, wo er mit seiner neuen Frau lebte, und dass sie wie ein rechtmäßiges Mitglied der Sforza-Familie aufwachsen sollte. Seine Frau, Caterinas Stiefmutter, behandelte sie wie ihr eigenes Kind. Das Mädchen sollte die beste Erziehung genießen.
Der Mann, der Galeazzos Privatlehrer gewesen war, der berühmte Humanist Francesco Filelfo, sollte jetzt auch Caterinas Lehrer sein. Er unterrichtete sie in Latein, Griechisch, Philosophie, in den Wissenschaften und sogar in Militärgeschichte.
Weil Caterina oft alleine war, ging sie fast täglich in die große Schlossbibliothek, die damals eine der größten in Europa war. Sie hatte ihre Lieblingsbücher, die sie immer wieder las. Eines davon war die Geschichte der Familie Sforza, die Filelfo selbst im Stil Homers verfasst hatte. In diesem enormen Buch mit seinen aufwendigen Illustrationen las sie vom beachtlichen Aufstieg der Familie Sforza von den Condottiere (Hauptmänner der Söldnerarmeen) bis hin zur Herrschaft über Mailand. Die Sforzas waren bekannt für ihre Klugheit und Tapferkeit in der Schlacht.
Davon abgesehen liebte sie es auch, Bücher mit Rittersagen und die Geschichten großer Anführer zu lesen; eines ihrer Lieblingsbücher war Von berühmten Frauen von Boccaccio, in dem es um die am meisten gefeierten Frauen der Geschichte ging. Während sie ihre Zeit in der Bibliothek verbrachte, vermischten sich alle Bücher in ihrem Geist, und sie erging sich in Tagträumen über den künftigen Ruhm der Familie, bei dem sie irgendwie im Mittelpunkt stand. Und im Zentrum dieser Fantasien war das Bild ihres Vaters – ein Mann, der für sie so groß und legendär war wie die anderen Gestalten, von denen sie in den Büchern las. Obwohl sie ihren Vater meist nur kurz sah, waren diese Momente für Caterina intensiv. Er behandelte sie wie eine Gleichgestellte, staunte über ihre Intelligenz und ermunterte sie, mehr zu lernen. Sie identifizierte sich schon früh mit ihrem Vater, erlebte seine Siege und Niederlagen wie ihre eigenen.
So wie alle anderen Sforza-Kinder, die Mädchen eingeschlossen, lernte Caterina Fechten und unterzog sich einem rigorosen körperlichen Training. Als Teil dieser Seite der Erziehung ging sie mit der Familie in den nahe gelegenen Wäldern von Pavia auf die Jagd. Sie lernte das Jagen und Töten von Wildschweinen, Hirschen und anderen Tieren. Bei diesen Ausflügen beobachtete sie ihren Vater ehrfürchtig. Er war ein überragender Reiter, der so ungestüm sein Pferd antrieb, als könne ihm nichts etwas anhaben. Auf der Jagd griff er die größten Tiere an und zeigte keine Furcht. Bei Hof war er der begnadete Diplomat, der immer die Oberhand behielt. Er vertraute ihr seine Methoden an: Denke vorausschauend, geh immer mehrere Schritte im Voraus durch, immer mit dem Ziel, in jeder Situation die Initiative zu ergreifen.
Ihr Vater hatte aber noch eine andere Seite, die ihre Identifikation mit ihm verstärkte. Er liebte Spektakel, er war wie ein Künstler. Sie vergaß niemals die Zeit, als die Familie durch die Region reiste und Florenz besuchte. Sie hatten mehrere Theaterensembles dabei und die Schauspieler trugen farbenprächtige Kostüme. Sie speisten auf dem Land in den schönsten bunten Zelten. Wenn sie unterwegs waren, füllten die bunt geschmückten Pferde und begleitenden Soldaten – alle in den Farben der Familie Sforza, Rot und Weiß – die Landschaft. Es war ein hypnotischer und erhebender Anblick, der von ihrem Vater orchestriert wurde. Er erfreute sich daran, stets die neueste mailändische Mode zu tragen, mit seinen prächtigen, mit Schmuck verzierten Seidengewändern. Sie teilte sein Interesse, Kleidung und Schmuck wurden ihre Leidenschaft. Er war in der Schlacht so maskulin, aber sie sah ihn auch oft hemmungslos weinen, wenn er seine bevorzugte Kirchenmusik hörte. Er hatte ein großes Interesse an allen Lebensbereichen, und ihre Liebe und Bewunderung für ihn waren grenzenlos.
Als er die zehnjährige Caterina 1473 davon in Kenntnis setzte, dass er eine Ehe für sie arrangiert hatte, war es daher ihr einziger Gedanke, ihre Pflicht als Sforza zu erfüllen und ihren Vater zufriedenzustellen. Der Mann, den Galeazzo für sie ausgewählt hatte, war Girolamo Riario, der dreißigjährige Neffe von Papst Sixtus IV. – eine Ehe, die eine wertvolle Allianz zwischen Rom und Mailand schmieden würde. Als Teil der Vereinbarung kaufte der Papst die Stadt Imola in der Romagna, die die Sforzas vor einigen Jahrzehnten eingenommen hatte, und er verlieh dem neuen Paar den Titel Graf und Gräfin von Imola. Später gab der Papst ihnen die nahegelegene Stadt Forlì dazu und ermöglichte ihnen damit die Kontrolle über eine strategisch wichtige Region im nordöstlichen Italien, südlich von Venedig.
Bei ihren ersten gemeinsamen Begegnungen wirkte Caterinas Mann sehr unsympathisch. Er war launisch, sehr mit sich selbst beschäftigt und nervös. Er schien nur wegen Sex an ihr interessiert zu sein und konnte ihre Volljährigkeit kaum erwarten. Zum Glück lebte er weiterhin in Rom und sie blieb in Mailand. Doch einige Jahre später ermordeten einige unzufriedene Adlige in Mailand ihren geliebten Vater und die Macht der Sforzas schien auf der Kippe zu stehen. Caterinas Position als Ehefrau festigte die Partnerschaft mit Rom und war jetzt wichtiger als je zuvor. Sie richtete sich schnell in Rom ein. Dort würde sie die mustergültige Ehefrau spielen und ihren Mann bei Laune halten müssen. Aber je mehr sie mit Girolamo zu tun hatte, umso weniger respektierte sie ihn. Er war impulsiv und machte sich überall Feinde. Ihr war unbegreiflich, wie ein Mann so schwach sein konnte. Er hielt dem Vergleich mit ihrem Vater in keiner Weise stand.
Caterina richtete ihre Aufmerksamkeit daher auf den Papst. Sie bemühte sich, seine Gunst und die der Höflinge zu gewinnen. Caterina war jetzt eine schöne junge Frau mit blondem Haar, was in Rom außergewöhnlich war. Sie wies an, die aufwendigsten Kleider aus Milan zu erhalten, und achtete darauf, niemals zweimal im selben Kleid gesehen zu werden. Wenn sie einen Turban mit einem langen Schleier trug, wurde er plötzlich die neueste Mode. Sie sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die sie dafür erhielt, die modebewussteste Frau in Rom zu sein. Botticelli diente sie in einigen seiner größten Gemälde als Modell. Weil sie so belesen und kultiviert war, stand sie unter Künstlern und Schriftstellern in der Stadt in einem guten Ruf, und die Römer fingen an, sich für sie zu erwärmen.
Innerhalb weniger Jahre zerfiel aber alles. Ihr Mann zettelte mit einer der führenden Familien in Italien, den Colonnas, einen Streit an. 1484 verstarb der Papst plötzlich, und ohne seinen Schutz schwebten Caterina und ihr Mann in großer Gefahr. Die Colonnas schmiedeten Rachepläne, die Römer hassten Girolamo, und es war ziemlich sicher, dass der neue Papst ein Freund der Colonnas sein würde. In diesem Fall würden Caterina und ihr Mann alles verlieren, unter anderem auch die Städte Forlì und Imola. In Anbetracht der schwachen Position ihrer eigenen Familie in Mailand erschien die Situation ausweglos.
Bis der neue Papst gewählt wurde, war Girolamo noch der Kommandant der päpstlichen Truppen, die jetzt vor den Toren Roms stationiert waren. Caterina beobachtete ihren Mann tagelang, der vor Angst gelähmt schien und nicht in der Lage war, eine Entscheidung zu treffen. Er wagte es nicht, nach Rom einzumarschieren, aus Angst vor einer Schlacht mit den Colonnas und ihren vielen Verbündeten in den dichten Straßen. Er wollte das Ganze aussitzen, doch mit der Zeit schienen sich ihre Optionen zu verschlechtern und die Neuigkeiten wurden immer schlimmer: Der Mob hatte den Palast geplündert, in dem sie lebten; die wenigen Verbündeten, die sie in Rom gehabt hatten, hatten sie jetzt verlassen; die Kardinäle versammelten sich, um den neuen Papst zu wählen.
Es war August und Caterina fühlte sich angesichts der schwülen Hitze schwach und ihr war ständig schlecht. Sie war im siebten Monat schwanger mit ihrem vierten Kind. Doch als sie über ihren bevorstehenden Untergang nachdachte, dachte sie immer öfter an ihren Vater. Es war, als könne sie fühlen, wie sein Geist sie überkam. Sie begann, so über die Situation nachzudenken, wie er es getan hätte, und spürte eine Woge der Aufregung, als sie einen wagemutigen Plan schmiedete. Ohne einer Menschenseele von ihren Absichten zu erzählen, bestieg sie ein Pferd, stahl sich aus dem Lager und ritt so schnell sie konnte nach Rom. Wie sie erwartet hatte, erkannte sie niemand in ihrem Zustand, und man gewährte ihr Einlass in die Stadt. Sie ging geradewegs zum Castel Sant’Angelo, dem strategisch günstigsten Punkt in Rom auf der anderen Seite des Tiber in der Stadtmitte, nicht weit vom Vatikan entfernt. Mit ihren undurchdringlichen Mauern und den Kanonen, die in alle Richtungen zielen konnten, beherrschte die Person, die diese Festung beherrschte, Rom.
In Rom herrschte Chaos, Banden zogen durch die Straßen. Die Festung wurde noch von einem Leutnant gehalten, der Girolamo die Treue hielt. Als Caterina ihre Identität preisgab, durfte sie in Sant’Angelo eintreten. Sobald sie in der Festung war, nahm sie im Namen ihres Mannes das Kommando an sich und entließ den Leutnant, weil sie ihm nicht traute. Nachdem sie jene Soldaten um sich geschart hatte, die ihr Treue schworen, schaffte sie es, mehr Soldaten hineinzuschmuggeln. Sie ließ dann die Kanonen von Sant’Angelo auf alle Straßen richten, die zum Vatikan führten, und machte es den Kardinälen damit unmöglich, sich an einem Ort zu versammeln, um den neuen Papst zu wählen. Um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen, ließ sie die Soldaten Warnschüsse abfeuern. Caterina meinte es ernst. Ihre Bedingung für die Aufgabe der Festung war einfach: Sie verlangte, dass der gesamte Besitz der Riarios weiterhin in ihren Händen bliebe, einschließlich Forlì und Imola.
Einige Abende nach ihrer Übernahme von Sant’Angelo – Caterina trug eine Rüstung über ihrem Kleid – marschierte sie über den Festungswall. Es gab ihr ein Gefühl der großen Macht, so hoch über der Stadt, als sie auf die hektischen Männer unter ihr blickte, hilflos im Kampf gegen sie, eine einzelne Frau, die durch ihre Schwangerschaft körperlich beeinträchtigt war. Als der Kardinal, der das Konklave organisierte, um den neuen Papst zu wählen, einen Gesandten schickte, der mit ihr verhandeln sollte, wirkte dieser zögerlich, ihren Friedensbedingungen zuzustimmen. Caterina rief vom Festungswall herunter, damit jeder es hören konnte: »[Der Kardinal] will also Krieg mit mir? Was er nicht versteht, ist, dass ich den Verstand des Herzogs Galeazzo habe und genauso genial bin wie er!«
Als sie auf die Reaktion der Gegenseite wartete, wusste sie, dass sie die Situation beherrschte. Ihre einzige Sorge war, dass ihr Mann sich ergeben und sie im Stich lassen könnte oder die Sommerhitze sie zu sehr schwächte. Weil sie Caterinas Entschlossenheit spürten, kam schließlich eine Gruppe von Kardinälen zur Festung, um zu verhandeln, und sie gaben ihren Forderungen nach. Als am folgenden Morgen die Zugbrücke gesenkt wurde, damit die Gräfin die Festung verlassen konnte, bemerkte sie, dass sich dort eine große Menschenmenge drängte. Römer aller Schichten waren gekommen, um einen Blick auf die Frau zu erhaschen, die Rom elf Tage lang kontrolliert hatte. Sie hatten die Gräfin für eine dekadente junge Frau gehalten, die gerne schöne Kleider trug, das Schoßtier des Papstes eben. Nun starrten sie sie überrascht an, denn sie trug eines ihrer seidenen Kleider mit einem schweren Schwert, das an einem Männergürtel hing, und war hochschwanger. So etwas hatten die Leute noch nie gesehen.
Da ihre Titel nun gesichert waren, zogen der Graf und die Gräfin nach Forlì, um über ihr Gebiet zu herrschen. Weil sie keine finanziellen Mittel mehr vom Papst erhielten, war Girolamos Hauptsorge, an mehr Geld zu kommen. So erhöhte er die Steuern, was im Volk zu großer Unzufriedenheit führte. Er machte sich die in der Region mächtige Familie Orsi zum Feind. Aus Angst vor einem Mordanschlag verbarg sich der Graf in seinem Schloss und Caterina übernahm langsam einen Großteil des Tagesgeschäfts und herrschte über ihr Reich. Sie dachte vorausschauend und stellte einen vertrauten Verbündeten als neuen Kommandanten des Schlosses Ravaldino, das die Gegend beherrschte, ein. Sie tat alles, was sie konnte, um sich mit den Einheimischen gut zu stellen, aber ihr Mann hatte es in einigen wenigen Jahren geschafft, großen Schaden anzurichten.
Am 14. April 1488 stürmte eine Gruppe von Männern in Rüstung, angeführt von Ludovico Orsi, den Palast. Sie erschlugen den Grafen und warfen seinen Leichnam aus dem Fenster und auf den Marktplatz. Die Gräfin, die in einem nahegelegenen Raum mit ihrer Familie dinierte, hörte die Rufe und brachte ihre sechs Kinder in einen sicheren Raum im Turm des Palastes. Sie verriegelte die Tür, und aus einem Fenster, unter dem sich zahlreiche ihrer vertrautesten Verbündeten versammelt hatten, rief sie ihnen Anweisungen zu: Sie sollten die Sforzas in Mailand und ihre anderen Verbündeten in der Region informieren und sie dazu drängen, Armeen zu schicken, um sie zu retten; der Kommandant von Ravaldino sollte unter keinen Umständen kapitulieren und den Palast aufgeben. Innerhalb weniger Minuten waren die Attentäter in ihren Raum eingedrungen und nahmen sie und ihre Kinder gefangen.
Mehrere Tage später zerrten Ludovico Orsi und sein Mitverschwörer Giacomo del Ronche Caterina zum Schloss Ravaldino. Sie sollte dem Kommandanten der Festung befehlen, selbige den Attentätern zu überlassen. Als Tommaso Feo, der Kommandant, den sie beauftragt hatte, vom Wall auf sie herabsah, schien Caterina um ihr Leben zu bangen. Ihre Stimme bebte regelrecht, als sie Feo anbettelte, die Festung aufzugeben, doch er weigerte sich.
Als die beiden ihr Gespräch fortsetzten, ahnten Ronche und Orsi, dass die Gräfin und Feo eine Art Spiel spielten und eine Geheimsprache verwendeten. Ronche hatte genug davon. Er drückte die Schneide seiner Lanze gegen Caterinas Brust und drohte zuzustoßen, wenn sie Feo nicht zur Kapitulation bewegte, und sah sie wild entschlossen an. Plötzlich änderte sich die Mimik der Gräfin. Sie lehnte sich in die Lanzenspitze hinein, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von Ronche entfernt, und mit einer Stimme, aus der die Verachtung deutlich herauszuhören war, sagte sie: »Oh, Giacomo del Ronche, versuch nicht, mir Angst zu machen … Du kannst mich verletzen, aber du kannst mir keine Angst machen, weil ich die Tochter eines Mannes bin, der keine Angst kannte. Tu, was du willst: Du hast meinen Mann getötet, und du kannst gewiss auch mich töten. Schließlich bin ich nur eine Frau!« Verblüfft von ihren Worten und ihrer Entschlossenheit sahen Ronche und Orsi ein, dass sie andere Wege finden mussten, um Druck auf sie auszuüben.
Mehrere Tage später ließ sich Feo auf Verhandlungen mit den Attentätern ein und sagte, dass er ihnen die Festung übergeben würde, aber nur wenn die Gräfin ihm seinen fälligen Sold bezahlen und einen Brief unterzeichnen würde, in dem sie ihn von jeder Schuld bezüglich der Kapitulation entband. Wieder führten Orsi und Ronche Caterina zur Festung und beobachteten sie genau, als sie mit Feo zu verhandeln schien. Schließlich beharrte Feo darauf, dass die Gräfin in die Festung gelassen werden sollte, um das Dokument zu unterzeichnen. Er befürchtete, dass die Attentäter ihn hereinlegen würden, und drängte darauf, dass sie allein käme. Sobald der Brief unterzeichnet wäre, würde er tun, was er versprochen hatte.
Die Verschwörer, die das Gefühl hatten, keine Wahl zu haben, gewährten ihm seinen Wunsch, gaben der Gräfin aber nur wenig Zeit, um die Angelegenheit zu erledigen. Für einen flüchtigen Augenblick, als sie über die Zugbrücke in Ravaldino verschwand, drehte sie sich mit einem spöttischen Blick um und zeigte Ronche und Orsi das italienische Äquivalent des Stinkefingers. Das ganze Spektakel der vergangenen Tage war geplant gewesen und von ihr und Feo inszeniert worden, mit dem sie durch verschiedene Boten kommuniziert hatte. Sie wusste, dass die Mailänder eine Armee schickten, um sie zu retten, und spielte daher auf Zeit. Einige Stunden später stand Feo auf dem Wall und brüllte herunter, dass er die Gräfin als Geisel genommen habe und sie nichts dagegen tun könnten.
Die wütenden Attentäter hatten genug. Am nächsten Tag kehrten sie mit Caterinas sechs Kindern zur Festung zurück und riefen sie auf den Wall. Mit Dolchen und Speeren bewaffnet, die sie auf sehr bedrohliche Weise auf die heulenden und um Gnade flehenden Kinder richteten, befahlen sie Caterina, die Festung aufzugeben, weil sie sonst alle ihre Kinder töten würden. Sie hätten sicherlich schon bewiesen, dass sie mehr als bereit waren, Blut zu vergießen. Die Gräfin war vielleicht furchtlos und die Tochter eines Sforza, aber keine Mutter könnte es ertragen mitanzusehen, wie ihre Kinder ermordet wurden. Doch Caterina vergeudete keine Zeit. Sie rief ihnen zu: »Dann tut es doch, ihr Narren! Ich bin bereits von Graf Riario schwanger und kann noch mehr Kinder machen!«, wobei sie ihr Gewand hob, als wolle sie ihren Worten damit mehr Nachdruck verleihen.
Caterina hatte das Manöver mit ihren Kindern geahnt und damit gerechnet, dass die Attentäter schwach und unentschlossen sein würden – sie hätten sie und ihre Familie gleich am ersten Tag töten sollen, als das Chaos noch tobte. Jetzt würden sie es nicht wagen, sie kaltblütig zu ermorden: Die Attentäter wussten, dass die Sforzas, die auf dem Weg nach Forlì waren, schreckliche Rache üben würden, wenn sie etwas dergleichen täten. Und wenn Caterina sich jetzt ergab, würden sie und ihre Kinder inhaftiert werden und irgendein Gift würde seinen Weg in ihre Nahrung finden. Es war ihr egal, was sie von ihr als Mutter hielten, sie musste standhaft bleiben. Um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen, ließ sie nach ihrer Weigerung, sich zu ergeben, die Kanonen der Festung auf den Palast der Orsis feuern.
Zehn Tage später traf die mailändische Armee ein, um sie zu befreien, und die Attentäter flohen. Die Gräfin riss schnell wieder die Macht an sich und der neue Papst bestätigte ihre Herrschaft, bis ihr ältester Sohn Ottaviano volljährig war. Als sich in ganz Italien die Kunde über das verbreitete, was sie getan hatte – und was sie den Attentätern vom Wall der Festung Ravaldino zugerufen hatte –, begann sich die Legende der Caterina Sforza, der schönen und furchtlosen Gräfin von Forlì, zu verselbstständigen.
Innerhalb eines Jahrs nach dem Tod ihres Mannes hatte sich die Gräfin einen Liebhaber genommen, Giacomo Feo, den Bruder des Kommandanten von Ravaldino. Giacomo war sieben Jahre jünger als Caterina und das genaue Gegenteil von Girolamo – gutaussehend und maskulin, er stammte aus der Unterschicht und hatte als Stalljunge bei der Familie Riario gedient. Wichtiger noch, er liebte Caterina nicht nur, er verehrte sie und bedachte sie mit Aufmerksamkeit. Die Gräfin hatte ihr Leben damit verbracht, ihre Gefühle zu beherrschen und ihre persönlichen Interessen hinter praktische Anliegen zu stellen. Sie war von Giacomos Zuneigung vollkommen überwältigt, verlor ihre anerzogene Selbstbeherrschung und verliebte sich Hals über Kopf in ihn.
Sie machte Giacomo zum neuen Kommandanten von Ravaldino. Weil er nun in der Festung leben musste, baute sie einen Palast für sich selbst in der Anlage und verließ sie kaum noch. Doch Giacomo war sich seines Status erkennbar unsicher. Caterina hatte ihn zum Ritter schlagen lassen, und in einer geheimen Zeremonie heirateten sie. Um seine Selbstzweifel zu zerstreuen, übergab sie ihm zunehmend die Regierungsgeschäfte für Forlì und Imola und zog sich von öffentlichen Angelegenheiten zurück. Sie ignorierte die Warnungen der Höflinge und Diplomaten, dass Giacomo nur eigene Interessen im Sinn habe und überfordert sei. Sie hörte nicht auf ihre Söhne, die befürchteten, dass Giacomo Pläne habe, sich ihrer zu entledigen. In ihren Augen konnte ihr Mann nichts Unrechtes tun.
Dann, eines Tages im Jahr 1495, als sie und Giacomo die Festung für ein Picknick verließen, umzingelte eine Gruppe von Attentätern ihren Mann und tötete ihn vor ihren Augen. Caterina, die von dieser Aktion völlig überrascht war, reagierte mit Wut. Sie ließ die Verschwörer zusammentreiben, hinrichten und ihre Familien inhaftieren. In den Folgemonaten verfiel sie in eine tiefe Depression und dachte sogar an Selbstmord. Was war in den letzten Jahren mit ihr geschehen? Warum war sie vom Weg abgekommen und hatte ihre Macht aufgegeben? Was war aus ihren Mädchenträumen und dem Geist ihres Vaters geworden, der ihr eigener war? Etwas hatte ihren Geist vernebelt. Caterina wandte sich der Religion zu und begann wieder, über ihr Reich zu herrschen. Langsam erholte sie sich.
Eines Tages erhielt sie Besuch von Giovanni de’ Medici, einem dreißigjährigen Mitglied der berühmten Familie und einer der führenden Geschäftsleute von Florenz. Er war gekommen, um zwischen den Städten Handelsbeziehungen zu knüpfen. Mehr als jeder andere, den sie kannte, erinnerte er sie an ihren Vater. Er war gutaussehend, klug und sehr belesen, hatte aber trotzdem eine feinsinnige, zarte Ader. Endlich hatte sie einen Mann kennengelernt, der ihr in Wissen, Macht und Kultiviertheit ebenbürtig war. Die Bewunderung beruhte auf Gegenseitigkeit. Bald waren die beiden unzertrennlich, und 1498 heirateten sie, womit sich zwei der schillerndsten Familien Italiens miteinander vereinten.
Nun konnte Caterina endlich davon träumen, eine große regionale Macht zu erschaffen, doch Ereignisse, auf die sie keinen Einfluss hatte, sollten ihre Pläne zunichtemachen: Im selben Jahr starb Giovanni an einer Krankheit. Und bevor sie Zeit hatte, um ihn zu trauern, musste sie sich mit der neuesten und gefährlichsten Bedrohung für ihr gesamtes Reich befassen: Der neue Papst, Alexander VI. – ehemals bekannt als Roderigo Borgia –, hatte ein Auge auf Forlì geworfen. Er wollte das päpstliche Gebiet durch Eroberung vergrößern, wobei sein Sohn Cesare Borgia als Kommandant der päpstlichen Streitkräfte diente. Forlì würde eine zentrale Rolle für den Papst einnehmen, und er begann, Caterina von ihren Verbündeten politisch zu isolieren.
Um sich auf die bevorstehende Invasion vorzubereiten, schmiedete Caterina eine neue Allianz mit den Venezianern und errichtete innerhalb von Ravaldino eine Reihe ausgeklügelter Verteidigungsanlagen. Der Papst versuchte, sie dazu zu zwingen, ihr Reich aufzugeben, und machte ihr dafür allerhand Versprechungen. Doch sie hütete sich, einem Borgia zu trauen. Aber im Herbst 1499 schien das Ende gekommen zu sein. Der Papst hatte sich mit Frankreich verbündet und Cesare Borgia war mit einer Armee von zwölftausend Soldaten in der Region erschienen, zusätzlich durch zweitausend erfahrene französische Soldaten unterstützt. Sie nahmen Imola schnell ein und drangen leicht in die Stadt Forlì ein. Alles, was blieb, war Ravaldino, das Ende Dezember von Borgias Truppen umzingelt war.
Am 26. Dezember ritt Cesare Borgia höchstpersönlich auf seinem Schimmel zur Festung, ganz in Schwarz gekleidet – ein imposanter Auftritt. Als Caterina vom Wall auf ihn heruntersah und ihre Optionen abwog, dachte sie an ihren Vater. Es war der Jahrestag seiner Ermordung. Er verkörperte alles, was sie schätzte, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Von all seinen Kindern war sie ihm am ähnlichsten. Wie er es getan hätte, plante sie voraus. Sie wollte auf Zeit spielen, bis ihre verbliebenen Verbündeten zu Hilfe eilten. Sie hatte vorausschauend gedacht und Ravaldino so verstärkt, dass sie sich hinter Barrikaden weiter zurückziehen konnte, falls die Mauern überwunden wurden. Sie würden ihr die Festung gewaltsam entreißen müssen, und sie war mehr als bereit, bei der Verteidigung ihr Leben zu lassen. Sie würde nicht kampflos aufgeben.
Als Caterina zuhörte, wie Borgia mit ihr redete, wurde ihr schnell klar, dass er gekommen war, um ihr zu schmeicheln und mit ihr zu flirten – jeder kannte seinen Ruf als teuflischer Verführer, und viele in Italien dachten, dass Caterina einen liederlichen Lebenswandel hatte. Sie hörte zu, lächelte und erinnerte ihn gelegentlich an ihre vergangenen Tage und ihren Ruf als Sforza – wenn er sie zur Aufgabe bewegen wollte, würde er sich mehr anstrengen müssen. Er bestand darauf, dass er es ernst mit ihr meine, und bat um eine persönliche Unterredung.
Sie schien seinem Charme schlussendlich zu erliegen, schließlich war sie nur eine Frau. Sie befahl, die Zugbrücke zu senken und ging auf ihn zu. Er wiederholte seine Argumente mit Nachdruck und sie warf ihm Blicke und ein Lächeln zu, die darauf hinwiesen, dass sie ihm allmählich verfiel. Sie war nur noch eine Armlänge von ihm entfernt, und als er nach ihrem Arm griff, zog sie ihn spielerisch weg. Sie könnten die Angelegenheiten doch auch in der Festung besprechen, sagte sie schamhaft, und ging langsamen Schrittes zurück, ihn einladend, ihr zu folgen. Als er auf die Zugbrücke trat, um sie einzuholen, wurde diese hochgezogen, und er schaffte es gerade noch rechtzeitig, auf die andere Seite zu springen. Wütend und beschämt von Caterinas Trick, schwor Cesare Borgia Rache.
In den nächsten Tagen bombardierte er die Festungsmauern mit Kanonensalven, bis es ihm schließlich gelang, ein Loch hineinzuschlagen. Borgias Truppen strömten herein, angeführt von den erfahreneren französischen Truppen. Sie waren nun im Nahkampf mit Caterina, die ihre verbleibenden Männer anführte. Der Anführer der französischen Truppen, Yves d’Allegre, starrte sie verwundert an, als die hübsche Gräfin – mit ihrer verzierten Rüstung über ihrem Gewand – an vorderster Front stand und seine Männer angriff, ihr Schwert sehr kundig und furchtlos schwingend. Caterina und ihre Männer mussten sich weiter in die Festung zurückziehen – in der Hoffnung, der Schlacht noch einige Tagen standzuhalten, wie sie es geplant hatte –, als einer ihrer eigenen Soldaten sie von hinten packte und mit dem Schwert an ihrer Kehle mit ihr auf die andere Seite marschierte. Borgia hatte ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt und der Soldat hatte sie verraten.
Die Belagerung war zu Ende und Borgia selbst nahm seine große Trophäe in Empfang. Am Abend vergewaltigte er Caterina und hielt sie in seinen Räumlichkeiten gefangen, um den Eindruck zu erzeugen, dass die berüchtigte, wehrhafte Gräfin seinem Charme doch noch erlegen war. Selbst in dieser Not weigerte sie sich, ihr Reich aufzugeben. Sie wurde nach Rom gebracht, wo sie in das gefürchtete Gefängnis des Castel Sant’Angelo gebracht wurde. Ein Jahr lang saß sie dort in einer kleinen, fensterlosen Zelle und musste Einsamkeit und endlose Qualen der Borgias erdulden. Ihre Gesundheit verschlechterte sich und es schien sich abzuzeichnen, dass sie im Gefängnis sterben würde – aufsässig bis zum bitteren Ende. Doch der ritterliche französische Hauptmann Yves d’Allegre war immer noch von ihr fasziniert. Er bestand so lange im Namen des französischen Königs auf ihre Freilassung, bis ihm der Wunsch gewährt wurde und sie sicher nach Florenz reisen konnte.
Obwohl sich Caterina aus dem öffentlichen Leben zurückzog, begann sie Briefe von Männern aus ganz Europa zu erhalten. Manche hatten sie im Laufe der Jahre gesehen, andere wiederum hatten nur von ihr gehört. Sie waren von ihrer Geschichte fasziniert und bettelten um ein Andenken, eine Reliquie, die sie verehren konnten. Ein Mann, der bei ihrem ersten Aufenthalt in Rom einen Blick auf sie erhascht hatte, schrieb ihr: »Wenn ich schlafe, scheine ich bei dir zu sein; wenn ich esse, lasse ich mein Essen stehen und rede mit dir … Du bist in mein Herz eingebrannt.«
Von ihrem Jahr in Haft geschwächt, starb die Gräfin im Jahr 1509.
Interpretation: In Caterina Sforzas Zeit waren die Rollen, die eine Frau spielen konnte, sehr begrenzt. Ihre Hauptaufgabe war es, eine gute Frau und Mutter zu sein. Wenn sie unverheiratet war, konnte sie ihr Leben der Religion widmen oder in seltenen Fällen eine Kurtisane werden. Es war, als ob ein Kreis um jede Frau gezeichnet war, der von ihr nicht durchbrochen werden konnte. Frauen verinnerlichten diese Einschränkungen in den frühesten Kindheitsjahren und der damit verbundenen Erziehung. Wenn sie sich lediglich Wissen über eine begrenzte Anzahl von Themen aneigneten und nur bestimmte Fertigkeiten erwarben, konnten sie ihre Rolle nicht erweitern, selbst wenn sie das wollten. Wissen ist Macht.
Caterina ist eine bemerkenswerte Ausnahme, weil sie von einer einzigartigen Kombination von Umständen profitierte. Die Sforzas waren eine neue, aufstrebende Macht. Sie hatten während ihres Aufstiegs entdeckt, dass eine starke und fähige Frau von großem Dienst sein konnte. Sie machten in der Folge ihre Töchter mit der Jagd und dem Schwertkampf vertraut, um sie abzuhärten und furchtlos zu machen – wichtige Eigenschaften, die in den üblicherweise arrangierten Ehen sehr hilfreich sein konnten. Caterinas Vater trieb dies jedoch auf die Spitze; womöglich sah er in seiner Tochter ein Spiegelbild seiner selbst. Indem er sie von seinem Privatlehrer unterrichten ließ, unterstrich er die Art von Identifikation, die er zwischen sich und seiner Tochter sah.
Und so begann ein einzigartiges Experiment im Schloss bei Porta Giova. Von der Außenwelt isoliert und mit enormen Freiheiten ausgestattet, konnte Caterina sich in jede Richtung entwickeln, in die es sie zog. Intellektuell konnte sie alle Formen von Wissen erkunden. Sie durfte all ihren persönlichen Interessen nachgehen – in ihrem Fall Mode und die schönen Künste. In ihrer körperlichen Ausbildung konnte sie ihrer mutigen und abenteuerlustigen Persönlichkeit freien Lauf lassen. Durch diese Form der Frühforderung konnte sie viele verschiedene Seiten ihres Charakters zum Vorschein bringen und ausprobieren.
Als sie im Alter von zehn Jahren die öffentliche Bühne betrat, zog es sie automatisch aus dem eingeschränkten Wirkbereich heraus, der Frauen gemeinhin auferlegt wurde. Caterina konnte viele Rollen spielen. Als pflichtbewusste Sforza konnte sie eine treusorgende Ehefrau sein. Sie war von Natur aus mitfühlend und fürsorglich, sie konnte eine hingebungsvolle Mutter sein. Sie hatte große Freude daran, eine der modischsten und schönsten jungen Frauen am päpstlichen Hof zu sein. Doch als die Handlungen ihres Mannes sie und ihre Familie zu bedrohen schienen, hatte sie den Drang, eine andere Rolle zu spielen. Sie war dazu erzogen worden, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, und weil sie von ihrem Vater inspiriert war, konnte sie sich in einen mutigen Soldaten verwandeln und eine ganze Stadt in ihre Gewalt bringen. Sie konnte die kühne Strategin werden, die in einer Krisensituation mehrere Schachzüge im Voraus dachte. Sie konnte ihre Truppen anführen, mit dem Schwert in der Hand. Als junges Mädchen hatte sie davon geträumt, diese verschiedenen Rollen zu spielen, und es fühlte sich im echten Leben natürlich und sehr befriedigend an.
Man könnte sagen, dass Caterina einen weiblichen Geist mit einem ausgeprägten maskulinen Unterton hatte, das Spiegelbild ihres Vaters. Und diese männlichen und weiblichen Merkmale wurden miteinander vermischt, wodurch sie einzigartige Denk- und Verhaltensweisen zeigte. Als es um das Regieren ging, zeigte sie ein hohes Maß an Empathie, etwas, das damals sehr ungewöhnlich war. Als die Pest in Forlì wütete, spendete sie den Kranken Trost und riskierte dabei ihr eigenes Leben. Sie war bereit, die schlimmsten Haftbedingungen zu ertragen, um das Erbe für ihre Kinder zu sichern – ein seltener Akt der Selbstaufopferung für jemanden, der an der Macht ist. Aber gleichzeitig war sie eine gewiefte und harte Verhandlungspartnerin, und sie hatte kein Mitleid mit Unfähigen oder Schwachen. Sie war ehrgeizig und stolz darauf. In Konflikten bemühte sie sich darum, ihre aggressiven männlichen Gegner durch Kalkül zu besiegen und Blutvergießen zu vermeiden. Cesare Borgia versuchte sie auf die Zugbrücke zu locken, indem sie ihre weiblichen Reize ausspielte; später lockte sie ihn tiefer und tiefer in die Festung und verwickelte ihn in zähe Kämpfe, wodurch sie ihren Verbündeten viel Zeit gab, um sie zu retten. Sie hatte beide Male beinahe Erfolg mit ihrem Vorgehen.
Diese Fähigkeit, viele verschiedene Rollen zu spielen, das Männliche mit dem Weiblichen zu mischen, war die Quelle ihrer Macht. Ein einziges Mal gab sie diese Stärke auf, nämlich in ihrer Ehe mit Giacomo Feo. Als sie sich in ihn verliebte, war sie in einer sehr angreifbaren Position. Der Druck auf sie war enorm geworden – sie hatte mit einem hoffnungslosen und gewalttätigen Mann zurechtkommen müssen, musste ihre zahlreichen Schwangerschaften körperlich verarbeiten und die fragilen politischen Allianzen zusammenhalten, die sie aufgebaut hatte. Und als sie mit einem Mal seine bewundernde Aufmerksamkeit erlebte, war es für sie natürlich, eine Zuflucht von all ihren Verpflichtungen zu suchen und Macht und Kontrolle für die Liebe aufzugeben. Doch indem sie sich auf die Rolle der hingebungsvollen Ehefrau reduzierte, musste sie ihren natürlichen expansiven Charakter unterdrücken. Sie musste ihre Energie aufwenden, um die Unsicherheiten ihres Mannes zu besänftigen. In der Folge büßte sie ihre Eigeninitiative ein und bezahlte dafür den Preis: Sie durchlebte eine tiefe Depression, die sie fast das Leben kostete. Sie lernte ihre Lektion und blieb für den Rest ihres Lebens nur sich selbst treu.
Was vielleicht am erstaunlichsten an der Geschichte der Caterina Sforza ist, ist die Wirkung, die sie auf die Männer und Frauen damals hatte. Man würde erwarten, dass die Menschen sie als Hexe oder Mannweib verschrien und sie dafür verurteilten, dass sie sich über Geschlechterkonventionen hinwegsetzte. Stattdessen faszinierte sie fast jeden, der mit ihr in Berührung kam: Frauen bewunderten ihre Kraft. Isabella d’Este, die Herrscherin von Mantua und Zeitgenossin Caterinas, fand sie inspirierend und schrieb nach ihrer Gefangennahme durch die Borgias: »Wenn die Franzosen die Feigheit unserer Männer verurteilen, sollten sie zumindest den Wagemut und die Tapferkeit einer italienischen Frau bewundern.« Männer jeder Couleur – Künstler, Soldaten, Priester, Adlige und Diener – schwärmten von ihr. Selbst jene, die sie zerstören wollten, wie Cesare Borgia, fühlten sich zunächst zu ihr hingezogen und hatten den Wunsch, sie zu besitzen.
Männer konnten mit ihr über Schlachten und Kriegsstrategien diskutieren und hatten den Eindruck, mit jemandem zu reden, der ihnen ebenbürtig war, nicht wie mit den anderen Frauen in ihrem Leben, mit denen sie kaum Konversation betreiben konnten. Wichtiger noch: Sie spürten eine Freiheitsliebe in ihr, die aufregend war. Männer mussten ebenfalls Geschlechterrollen erfüllen, die zwar nicht so einengend waren wie die einer Frau, aber dennoch Nachteile hatten. Es wurde von ihnen erwartet, immer alles unter Kontrolle zu haben, hart und unbezähmbar zu sein. Insgeheim fühlten sie sich daher zu dieser gefährlichen Frau hingezogen, mit der sie gemeinsam die Kontrolle verlieren konnten. Sie war kein sexualisiertes Püppchen, das passiv war und nur dazu diente, Männern zu gefallen. Sie war nicht unterdrückt und sie war authentisch, was bei Männern den Wunsch auslöste, ebenfalls loszulassen und ihre eigenen eingeschränkten Rollen zu überwinden.
Machen Sie sich Folgendes klar: Sie denken vielleicht, dass sich in Sachen Geschlechterrollen viel geändert habe, dass die Welt der Caterina Sforza von unserer eigenen Welt viel zu entfernt sei, um relevant zu sein. Doch Sie irren sich gewaltig! Die spezifischen Details der Geschlechterrollen fluktuieren womöglich je nach Kultur und historischer Epoche, aber das Muster ist im Grunde dasselbe und sieht folgendermaßen aus: Wir alle kommen als vollkommene menschliche Wesen auf die Welt und sind sehr vielschichtig. Wir haben Eigenschaften des anderen Geschlechts, sowohl als genetische Anlage wie auch durch den Einfluss des gegengeschlechtlichen Elternteils. Unser Charakter ist vielschichtig und tiefgründig.
Studien haben gezeigt, dass Jungen in der frühen Kindheit emotional reaktiver sind als Mädchen. Sie haben ein hohes Maß an Empathie und Sensibilität. Mädchen haben einen angeborenen Abenteuer- und Erkundungstrieb. Sie haben einen starken Willen, den sie gerne ausüben, indem sie ihre Umgebung verändern. Mit zunehmendem Alter müssen wir der Welt jedoch eine konsistente Identität präsentieren. Wir müssen bestimmte Rollen spielen und bestimmte Erwartungen erfüllen. Wir müssen daher unsere natürlichen Eigenschaften zurückstutzen und unterbinden. Jungen verlieren ihr breites Spektrum an Emotionen und unterdrücken ihre natürliche Empathie, um im Leben voranzukommen. Mädchen müssen ihre Durchsetzungsfähigkeit und verwandte Eigenschaften opfern. Sie sollen nett sein, lächeln, nachgeben und immer die Gefühle der anderen vor ihre eigenen stellen. Eine Frau kann eine Vorgesetzte sein, aber sie muss sanft und nachgiebig sein, niemals zu aggressiv.
In der Folge werden wir immer flacher und eindimensionaler, wir fügen uns den erwarteten Rollen unserer Kultur und Zeit. Wir verlieren wertvolle und vielfältige Aspekte unseres Charakters. Oft erkennen wir das nur, wenn wir Leuten begegnen, die weniger unterdrückt sind, und sie faszinieren uns. Caterina Sforza hatte sicherlich eine solche Wirkung auf andere. Es gibt viele männliche Pendants zu ihr in der Geschichte, wie etwa Benjamin Disraeli, der im 19. Jahrhundert britischer Premierminister war, Duke Ellington, John F. Kennedy oder David Bowie – Männer, die einen prägnanten weiblichen Unterton hatten und auf andere Menschen deswegen einen besonderen Reiz ausübten.
Ihre Aufgabe ist es, die Starrheit aufzugeben, die Sie übermannt, wenn Sie sich mit der erwarteten Geschlechterrolle allzu sehr identifizieren. Die Macht liegt in der Erkundung des Bereichs zwischen den extremen Polen der Männlichkeit und Weiblichkeit, im Spiel mit den Erwartungen. Kehren Sie zu den härteren und weicheren Seiten Ihres Charakters zurück, die Sie verloren oder unterdrückt haben. Erweitern Sie Ihr Repertoire an Gefühlsregungen, indem Sie im Umgang mit anderen Menschen mehr Empathie entwickeln oder lernen, nicht immer nachzugeben. Wenn Sie sich mit einem Problem konfrontiert sehen oder bei anderen auf Widerstand stoßen, sollten Sie sich darin üben, auf unterschiedliche Arten zu reagieren, und angreifen, wenn Sie normalerweise verteidigen, oder umgekehrt. In Ihrer Denkweise sollten Sie lernen, das Analytische mit dem Intuitiven zu vermischen, um kreativer zu werden (siehe hierzu den letzten Abschnitt dieses Kapitels).
Haben Sie keine Angst davor, die sensibleren oder ehrgeizigeren Seiten Ihres Charakters zum Vorschein zu bringen. Diese unterdrückten Teile Ihrer Selbst sehnen sich danach, ans Licht zu kommen. Erweitern Sie Ihr Rollenrepertoire auf der Bühne Ihres Lebens. Machen Sie sich keine Gedanken über die Reaktionen der Menschen, die die Veränderungen in Ihnen bemerken. Sie lassen sich eben nicht leicht in Schubladen stecken, was die anderen faszinieren wird und Ihnen die Macht gibt, mit der Wahrnehmung Ihrer Person zu spielen, die Sie bei Bedarf verändern können.
Es ist die schreckliche Täuschung der Liebe, dass sie damit beginnt, dass wir nicht mit einer Frau der äußeren Welt spielen, sondern mit einer Puppe, die wir in unserem Geist geschaffen haben – die einzige Frau, die uns immer zur Verfügung steht, die einzige, die wir jemals besitzen werden.
Marcel Proust
Schlüssel zur menschlichen Natur
Wir Menschen glauben gerne, dass wir konsistent und reif sind und unser Leben weitgehend unter Kontrolle haben. Wir treffen Entscheidungen auf der Grundlage rationaler Überlegungen und wählen das, wovon wir am meisten profitieren. Wir haben einen freien Willen. Wir wissen mehr oder weniger, wer wir sind. Aber bei einem bestimmten Aspekt des Lebens gehen diese Selbstmeinungen leicht in die Brüche: wenn wir uns verlieben.
Wenn wir verliebt sind, fallen wir Emotionen zum Opfer, die wir nicht kontrollieren können. Wir entscheiden uns für einen Partner und können unsere Wahl nicht rational erklären – und oft genug erweist sich diese Entscheidung als ungünstig. Viele von uns haben mindestens eine erfolgreiche Beziehung im Leben, aber wir haben tendenziell viele Beziehungen, die sehr erfolglos waren und unglücklich endeten. Zu allem Überfluss wiederholen wir dieselbe schlechte Partnerwahl, als würde uns ein innerer Dämon dazu treiben.
Wir reden uns gerne rückblickend ein, dass wir, als wir verliebt waren, von einem kurzfristigen Wahnsinn befallen waren. Wir nehmen an, dass solche Augenblicke eine Ausnahme darstellen, nicht die Norm, die keine Aussage über unseren Charakter zulässt. Aber gehen wir einmal vom genauen Gegenteil aus: dass wir in unserem bewussten Alltag schlafwandeln und uns nicht bewusst sind, wer wir wirklich sind. Wir zeigen der Welt eine Fassade der Vernunft und halten diese Maske irrtümlicherweise für die Realität. Wenn wir uns verlieben, sind wir eigentlich viel mehr wir selbst. Die Maske fällt ab. Wir erkennen dann, dass tiefe unbewusste Kräfte viele unserer Handlungen bestimmen. Wir sind viel stärker mit der Realität der essenziellen Irrationalität unserer Natur verbunden.
Werfen wir einmal einen Blick darauf, was passiert, wenn wir verliebt sind. Normalerweise sind wir gedanklich abgelenkt. Je verliebter wir sind, umso mehr richten wir unsere Aufmerksamkeit jedoch auf die geliebte Person. Wir steigern uns regelrecht hinein. Normalerweise wollen wir der Welt ein bestimmtes Bild von uns präsentieren, eines, das unsere Stärken hervorhebt. Doch wenn wir verliebt sind, treten oft gegenteilige Eigenschaften an die Oberfläche. Jemand, der in der Regel stark und unabhängig ist, kann plötzlich eher hilflos, abhängig und hysterisch sein. Eine fürsorgliche, empathische Person kann plötzlich tyrannisch, fordernd und egoistisch sein. Als Erwachsene fühlen wir uns relativ reif und praktisch veranlagt, aber wenn wir verliebt sind, zeigen wir plötzlich Verhaltensweisen, die man nur als kindisch bezeichnen kann. Wir erleben übertriebene Ängste und Unsicherheiten. Wir spüren Entsetzen bei dem Gedanken, verlassen zu werden, wie ein Baby, das einige Minuten sich selbst überlassen wird. Wir durchleben wilde Stimmungsschwankungen – von Liebe zu Hass, von Vertrauen zu Paranoia. In der Regel glauben wir, dass wir über eine gute Menschenkenntnis verfügen. Wenn wir jedoch blind vor Liebe sind, halten wir den Narzissten für ein Genie, den klammernden Egomanen für einen fürsorglichen Ernährer, den Faulpelz für einen Rebellen, den Kontrollfreak für einen Beschützer. Andere sehen die Wahrheit oft und versuchen uns auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, aber wir hören nicht hin. Schlimmer noch: Wir treffen dieselben Fehlurteile immer und immer wieder.
Diese veränderten Bewusstseinszustände könnte man fast als Formen der Besessenheit beschreiben. Wir sind normalerweise die rationale Person A, aber unter dem Einfluss des Verliebtseins tritt die irrationale Person B in Erscheinung. Zuerst können A und B fluktuieren und sich sogar miteinander vermischen, aber je stärker wir uns verlieben, umso mehr dominiert Person B. Sie sieht bei anderen Menschen Eigenschaften, die gar nicht vorhanden sind, handelt auf kontraproduktive Weise und ist sogar selbstzerstörerisch, unreif, hat unrealistische Erwartungen und trifft Entscheidungen, die Person A im Nachhinein oftmals überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Wenn es um unser Verhalten in diesen Situationen geht, verstehen wir nie vollständig, was passiert. Unser Unterbewusstsein bricht sich Bahn und wir haben keinen rationalen Zugang zu diesen Vorgängen. Der berühmte Psychologe C. G. Jung, der im Laufe seiner langen Karriere Tausende von Männern und Frauen mit schmerzhaften Liebesbeziehungen analysiert hat, bot die vielleicht profundeste Erklärung dafür an, was mit uns passiert, wenn wir uns verlieben. Laut Jung sind wir in solchen Augenblicken nämlich tatsächlich besessen. Er gab der Entität (Person B), die über uns kommt, den Namen Anima (für den Mann) und Animus (für die Frau). Diese Entität existiert in unserem Unterbewusstsein, tritt aber an die Oberfläche, wenn eine Person des anderen Geschlechts uns fasziniert. Das Folgende behandelt den Ursprung von Anima und Animus und wie sie arbeiten.
Wir alle besitzen Hormone und Gene des anderen Geschlechts. Diese kontrasexuellen Eigenschaften sind in der Unterzahl (mehr oder weniger stark ausgeprägt, individuell verschieden), aber wir alle haben sie und sie bilden einen Teil unseres Charakters. Genauso signifikant ist der Einfluss des andersgeschlechtlichen Elternteils auf unsere Psyche, von dem wir die weiblichen oder männlichen Eigenschaften absorbieren.
In unseren frühesten Jahren sind wir dem Einfluss anderer gegenüber völlig offen und aufnahmefähig. Das andersgeschlechtliche Elternteil ist unsere erste Begegnung mit jemandem, der völlig verschieden von uns ist. Wenn wir uns mit seiner beziehungsweise ihrer fremden Natur vertraut machen, wird als Reaktion darauf ein Großteil unserer Persönlichkeit ausgebildet, die dadurch dreidimensionaler und vielschichtiger wird. (Mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gibt es oft ein Ausmaß an Behagen und sofortiger Identifikation, die nicht dieselbe adaptive Energie erfordert.)
Kleinen Jungen zum Beispiel fällt es oft leicht, Gefühle und Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen, die sie von ihrer Mutter gelernt haben, wie offene Zuneigung, Empathie und Sensibilität. Genauso fühlen sich kleine Mädchen wohl dabei, Eigenschaften auszudrücken, die sie von ihrem Vater gelernt haben, wie Aggressivität, Mut, Scharfsinn und körperliche Stärke. Jedes Kind besitzt von Natur aus diese andersgeschlechtlichen Eigenschaften. Außerdem wird jedes Elternteil eine Schattenseite haben, die das Kind assimilieren oder mit der es umzugehen lernen muss. Eine Mutter kann zum Beispiel narzisstisch statt empathisch sein, und ein Vater kann dominant oder schwach statt beschützend und stark sein. Kinder müssen sich daran anpassen. In jedem Fall wird der Junge oder das Mädchen die positiven und negativen Eigenschaften des andersgeschlechtlichen Elternteils auf eine Weise verinnerlichen, die unbewusst und tiefgreifend ist. Und die Assoziation mit dem andersgeschlechtlichen Elternteil wird mit allerlei Emotionen behaftet sein – körperlichen und sinnlichen Verbindungen, gewaltigen Gefühlen der Freude, Faszination oder Enttäuschung darüber, was man nicht erhalten hat.
Schon bald erreichen wir eine kritische Phase in unserem jungen Leben, in der wir uns von unseren Eltern trennen und unsere eigene Identität ausbilden müssen. Die einfachste und stärkste Weise, wie wir diese Identität schaffen, ist es, uns an Geschlechterrollen auszurichten, den männlichen und weiblichen. Der Junge wird dazu neigen, eine ambivalente Beziehung zu seiner Mutter zu haben, die ihn ein Leben lang prägen wird. Auf der einen Seite sehnt er sich nach der Sicherheit und der bewundernden Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkt. Auf der anderen Seite fühlt er sich von ihr bedroht, als würde sie ihn mit ihrer Weiblichkeit ersticken und er seine Orientierung verlieren. Er fürchtet ihre Autorität und Macht über sein Leben. Ab einem gewissen Alter hat er den Drang, sich von ihr abzunabeln. Er muss seinen eigenen Sinn der männlichen Identität etablieren. Die körperlichen Veränderungen, die eintreten, wenn er älter wird, nähren diese Identität mit dem Männlichen, aber er wird dabei dazu neigen, sich mit der Rolle zu überidentifizieren (falls er sich nicht stattdessen mit der weiblichen Rolle identifiziert), und Härte und Unabhängigkeit stärker hervorheben, um seine Trennung von der Mutter zu betonen. Die anderen Seiten seines Charakters – die Empathie, die Sanftheit, der Wunsch nach Verbundenheit, die er von seiner Mutter aufgenommen hat oder bereits ein natürlicher Teil von ihm waren – werden unterdrückt und sinken ins Unterbewusstsein.
Das Mädchen ist vielleicht abenteuerlustig und baut die Willensstärke und Entschlossenheit ihres Vaters in die eigene Persönlichkeit ein. Doch mit zunehmendem Alter wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit den Druck verspüren, sich an bestimmte kulturelle Normen zu halten und ihre Identität um das herum zu entwickeln, was als »weiblich« gilt. Mädchen sollen nett, lieb und zurückhaltend sein. Man erwartet von ihnen, die Interessen anderer vor ihre eigenen zu stellen. Sie sollen jede wilde Ader unterdrücken, hübsch aussehen und das Objekt der Begierde sein. Bei dem Mädchen werden aus diesen Erwartungen Stimmen, die sie in ihrem Kopf hört, die sie ständig beurteilen und sie dazu bringen, ihren Selbstwert anzuzweifeln. Dieser Druck ist heutzutage vielleicht subtiler, übt aber nach wie vor enormen Einfluss aus. Die abenteuerlustigeren, aggressiveren und dunkleren Seiten ihres Charakters – die ganz natürlich bei ihrem Vater auftraten und die sie von ihm übernommen hat –, werden tendenziell unterdrückt und sinken ins Unterbewusstsein, wenn sie eine traditionellere weibliche Rolle übernimmt.
Der unbewusste weibliche Teil des Jungen und des Mannes ist das, was Jung als Anima bezeichnet. Der unbewusste männliche Teil des Mädchens und der Frau ist der Animus . Weil sie Teile unserer Selbst sind, die tief in uns begraben sind, sind wir uns ihrer im Alltag nie wirklich bewusst. Doch sobald uns eine Person des anderen Geschlechts fasziniert, regen sich der Animus beziehungsweise die Anima. Die Anziehung, die wir für den oder die andere spüren, ist vielleicht rein körperlich, aber in der Regel hat die Person, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, eine gewisse Ähnlichkeit – physisch oder psychisch – mit unserer Mutter oder unserem Vater. Denken Sie daran, dass diese erste Beziehung voll aufgeladener Energie, Freude und Fixierungen war, die unterdrückt wurden, aber an die Oberfläche drängen wollen. Jemand, der diese Assoziationen in uns auslöst, wird daher unsere Aufmerksamkeit magisch anziehen, auch wenn wir uns der Quelle dieser Anziehungskraft nicht bewusst sind.
Wenn die Beziehung zu unserer Mutter oder zu unserem Vater überwiegend positiv war, werden wir dazu neigen, die wünschenswerten Eigenschaften, die unser Elternteil hatte, auf die andere Person zu projizieren, in der Hoffnung, dieses frühere Paradies erneut zu erleben. Nehmen wir als Beispiel einen jungen Mann, dessen Mutter ihn umsorgt und über alles geliebt hat. Er war vielleicht ein süßer, liebevoller kleiner Junge, der seiner Mutter ergeben war und ihre nährende Energie widerspiegelte, aber er unterdrückte diese Eigenschaften in sich, als er zu einem unabhängigen jungen Mann heranwuchs, der ein Männlichkeitsbild aufrechtzuerhalten hatte. In der Frau, die seine Assoziation mit seiner Mutter auslöst, wird er die Fähigkeit sehen, ihn über alles zu lieben – etwas, wonach er sich insgeheim sehnt. Dieses Gefühl, das zu bekommen, was er will, wird seine Freude und körperliche Anziehung verstärken. Diese Frau wird für ihn die Eigenschaften verkörpern, die er selbst nie vollständig entwickeln konnte. Er verliebt sich sozusagen in seine eigene Anima, in Form seiner Angebeteten.
Wenn die Gefühle für unsere Mutter oder unseren Vater überwiegend ambivalent waren (etwa weil ihre Aufmerksamkeit inkonsistent war), werden wir oft versuchen, die ursprüngliche Beziehung zu reparieren, indem wir uns in jemanden verlieben, der uns an unsere unvollkommene Vater- oder Mutterfigur erinnert, in der Hoffnung, dass wir ihre negativen Eigenschaften schmälern können und das bekommen, was uns in den frühesten Jahren verwehrt geblieben ist. Wenn die Beziehung überwiegend negativ war, suchen wir uns vielleicht jemanden mit den entgegengesetzten Eigenschaften des Elternteils, oft eine dunkle, schattenhafte Figur. Ein Mädchen, das einen Vater hatte, der zu streng, distanziert und kritisch war, trug vielleicht den geheimen Wunsch nach Auflehnung in sich, traute sich aber nicht. Als junge Frau fühlt sie sich zu einem rebellischen jungen Mann hingezogen, der diese wilde Seite repräsentiert, die sie niemals ausleben konnte, und der das genaue Gegenteil ihres Vaters ist. Der Rebell ist ihr Animus, der jetzt in Form des jungen Mannes externalisiert wird.
In jedem Fall gilt: Egal ob die Assoziation positiv, negativ oder ambivalent ist, es werden starke Emotionen ausgelöst, und weil wir uns in die ursprüngliche, erste Beziehung unserer Kindheit zurückversetzt fühlen, handeln wir auf eine Weise, die oft dem Gegenteil der Persona entspricht, die wir darstellen: Wir werden hysterisch, launisch, bedürftig, fixiert, kontrollierend und so weiter. Die Anima und der Animus haben ihre eigenen Persönlichkeiten, und wenn sie zum Leben erweckt werden, handeln wir wie Person B. Weil wir die Frauen und Männer nicht so wahrnehmen, wie sie wirklich sind, werden wir womöglich von ihnen enttäuscht sein, als wäre es ihre Schuld, dass sie nicht so sind, wie wir sie uns vorgestellt haben. Beziehungen zerbrechen oft aufgrund der Fehldeutungen und Missverständnisse auf beiden Seiten, und weil wir uns der wahren Ursache nicht bewusst sind, werden wir bei der nächsten Person genau denselben Zyklus durchlaufen.
Es gibt endlose Varianten dieses Musters, weil bei jedem von uns ganz besondere Umstände und Mischungen aus dem Männlichen und Weiblichen vorherrschen. Es gibt zum Beispiel Männer, die psychologisch weiblicher sind als Frauen, und Frauen, die psychologisch männlicher als Männer sind. Wenn der Mann heterosexuell ist, wird er sich zu maskulineren Frauen hingezogen fühlen, die jene Eigenschaften haben, die er niemals selbst entwickelt hat; er hat mehr Animus als Anima. Die Frau wird sich zu eher weiblichen Männern hingezogen fühlen. Es gibt solche kontrasexuellen Paare, manche sind offensichtlicher als andere, und sie können erfolgreich sein, wenn beide Seiten das bekommen, was sie wollen. Ein berühmtes historisches Beispiel dafür sind der Komponist Frédéric Chopin und die Schriftstellerin George Sand, wobei Sand eher der Mann war und Chopin eher die Frau. Wenn jemand homosexuell ist, wird er oder sie trotzdem auf der Suche nach den kontrasexuellen Qualitäten sein, die bei ihm oder ihr unterentwickelt sind. Im Allgemeinen sind wir nicht im Gleichgewicht und überidentifizieren uns mit dem Männlichen oder Weiblichen und fühlen uns zum genau Entgegengesetzten hingezogen.
Als Schüler der menschlichen Natur haben Sie drei Aufgaben: Erstens müssen Sie versuchen, die Anima und den Animus zu beobachten, wenn sie oder er sich bei anderen manifestiert, vor allem in deren intimen Beziehungen. Achten Sie auf ihr Verhalten und die Muster in diesen Situationen; Sie werden Zugang zu ihrem Unterbewussten erhalten, das Ihnen normalerweise verwehrt bleibt. Sie werden Teile dieser Person sehen, die sie unterdrückt hat, und Sie können dieses Wissen effektiv nutzen. Achten Sie vor allem auf Leute, die hypermaskulin oder hyperfeminin sind. In dem Fall können Sie sicher sein, dass unter der Oberfläche eine sehr feminine Anima beim Mann und ein sehr maskuliner Animus bei der Frau lauert. Wenn Leute sich sehr große Mühe geben, ihre weiblichen oder maskulinen Eigenschaften zu unterdrücken, brechen diese sich oftmals in beinahe karikaturierter Form Bahn.
Der hypermaskuline Mann hat beispielsweise insgeheim Gefallen an Kleidung und an seinem eigenen Aussehen. Er zeigt zudem ein außergewöhnliches Interesse am Aussehen anderer – auch anderer Männer – und äußert sich eher schnippisch darüber: Richard Nixon versuchte zwar verzweifelt, ein Macho-Image auf jene zu projizieren, die für ihn als Präsidenten arbeiteten, aber er äußerte sich fortwährend über die Farbe der Anzüge, die sie trugen, und die Farbe der Vorhänge in seinem Büro. Ein hypermaskuliner Mann hat darüber hinaus eine ausdrückliche Meinung über Autos, Technik oder Politik, die nicht auf echtem Wissen beruht, und wenn man ihn darauf hinweist, reagiert er bei seiner Verteidigung aggressiv, wird jähzornig oder schmollt. Er versucht immer, seine Emotionen für sich zu behalten, aber sie können ein Eigenleben entwickeln. Ohne es zu wollen, kann er zum Beispiel ziemlich sentimental werden.
Die hyperfeminine Frau verbirgt oft eine Menge unterdrückte Wut und Groll über die Rolle, die sie zu spielen gezwungen ist. Ihr verführerisches, mädchenhaftes Verhalten bei Männern ist eigentlich ein Trick, um Macht zu erlangen, mit dem Mann zu spielen, ihn in eine Falle zu locken und zu verletzen. Ihre maskuline Seite macht sich als passiv-aggressives Verhalten bemerkbar, über den Versuch, Menschen in Beziehungen auf hinterhältige Weise zu dominieren. Hinter der netten, ehr­erbietigen Fassade kann sie ziemlich boshaft und anderen gegenüber sehr vorurteilsbehaftet sein. Ihre Boshaftigkeit, die immer unter der Oberfläche schwelt, manifestiert sich in unwichtigen Angelegenheiten als ziemlich irrationale Sturheit.
Ihre zweite Aufgabe ist es, sich Ihres eigenen Projektionsmechanismus bewusst zu werden (siehe den nächsten Abschnitt für gängige Typen von Projektionen). Projektionen spielen in Ihrem Leben eine positive Rolle, und Sie können sie nicht anhalten, auch wenn Sie das wollten, weil sie so automatisch und unbewusst ablaufen. Ohne sie würden Sie keiner anderen Person besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, von ihr fasziniert werden und sich verlieben. Sobald sich eine Beziehung entwickelt, müssen Sie die Stärke und das Bewusstsein haben, um diese Projektionen zurückzuziehen, damit Sie anfangen können, die Männer und Frauen in Ihrem Leben so zu sehen, wie sie wirklich sind. Im Zuge dessen werden Sie vielleicht feststellen, wie inkompatibel Sie sind, oder das Gegenteil. Sobald Sie sich mit der echten Person verbunden haben, können Sie damit fortfahren, sie zu idealisieren, aber dies wird auf den tatsächlich vorhandenen positiven Eigenschaften beruhen, die sie besitzt. Womöglich finden Sie ihre Fehler sogar charmant. Sie können das alles erreichen, indem Sie sich Ihrer eigenen Muster und der Qualitäten bewusst werden, die Sie tendenziell auf andere projizieren.
Dies ist auch für Beziehungen mit dem anderen Geschlecht relevant, die nicht intim sind. Stellen Sie sich eine Situation im Büro vor, in der ein Kollege Ihre Arbeit kritisiert oder eine Besprechung vertagt, um die Sie gebeten haben. Wenn diese Person zufälligerweise andersgeschlechtlich ist, werden alle möglichen Emotionen in Ihnen hochkommen – Ablehnung, Angst, Enttäuschung, Feindseligkeit – wie auch verschiedene Projektionen, während Sie bei einem gleichgeschlechtlichen Kollegen vermutlich eine wesentlich weniger intensive Reaktion hätten. Wenn Sie diese Dynamik im Alltag erkennen, sind Sie besser in der Lage, sie zu kontrollieren und reibungslosere Beziehungen mit andersgeschlechtlichen Personen zu haben.
Ihre dritte Aufgabe ist es, nach innen zu schauen und die weiblichen oder männlichen Eigenschaften zu erkennen, die in Ihnen unterdrückt und unterentwickelt sind. Sie werden einen Blick auf Ihre Anima oder Ihren Animus in Ihren Beziehungen mit dem anderen Geschlecht haben. Die Durchsetzungsfähigkeit, die Sie bei einem Mann sehen, oder die Empathie bei einer Frau, das ist etwas, das Sie in sich selbst entwickeln müssen, indem Sie diesen weiblichen oder männlichen Unterton stärker zum Vorschein bringen. Letztlich integrieren Sie die Eigenschaften in Ihre Alltagspersönlichkeit, die in Ihnen zwar angelegt sind, aber unterdrückt werden. In der Folge werden diese nicht mehr unabhängig und automatisch operieren, als wären Sie besessen, sondern sie werden ein Teil Ihres alltäglichen Selbst, und andere Menschen werden sich zu der Authentizität hingezogen fühlen, die sie in Ihnen wahrnehmen (mehr dazu im letzten Abschnitt dieses Kapitels).
Wenn es um Geschlechterrollen geht, stellen wir uns gerne einen kontinuierlichen Fortschritt vor, der zu perfekter Gleichheit führt, und wir wollen glauben, dass wir nicht weit davon entfernt sind, dieses Ideal zu erreichen. Aber das stimmt nicht. Obwohl wir auf einer Ebene eindeutige Fortschritte sehen können, sehen wir auf einer anderen, tiefer liegenden Ebene die wachsende Spannung und Polarisation zwischen den Geschlechtern, als ob die alten Muster der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen einen unbewussten Einfluss auf uns ausüben.
Diese Spannung kann sich manchmal wie ein Krieg anfühlen, und sie stammt aus einer wachsenden psychologischen Distanz zwischen den Geschlechtern, in der Menschen des anderen Geschlechts wie fremde Geschöpfe wirken, mit Verhaltensweisen und -mustern, die wir nicht nachvollziehen können. Diese Distanz kann sich bei so manchem in Feindseligkeit verwandeln. Obwohl dies bei Männern und Frauen beobachtet werden kann, ist die Feindseligkeit bei Männern stärker ausgeprägt. Vielleicht hat das etwas mit der latenten Feindseligkeit zu tun, die manche Männer der Mutterfigur gegenüber empfinden, und dem Gefühl der Abhängigkeit und Schwäche, die sie unbewusst auslöst. Das männliche Gefühl der Maskulinität hat oft eine defensive Tendenz, die eine tiefer liegende Unsicherheit offenbart. Eine solche Unsicherheit wird durch das Wechseln von Geschlechterrollen nur schärfer und erhöht den Argwohn und die Feindseligkeit zwischen Männern und Frauen.
Dieser äußere Konflikt zwischen den Geschlechterrollen ist jedoch lediglich die Reflexion eines ungelösten inneren Konflikts. Solange das innere Weibliche oder Männliche verweigert wird, wird der äußere Widerstand wachsen. Indem wir diese Distanz von innen heraus überbrücken, verändert sich auch unsere Einstellung gegenüber dem anderen Geschlecht. Wir nehmen eine tiefere Verbindung wahr. Wir können mit dem anderen Geschlecht reden und uns mit ihm identifizieren, als ob wir uns mit Teilen unseres Selbst identifizieren. Die Polarität zwischen den Geschlechtern existiert nach wie vor, und sie sorgt dafür, dass wir uns zu einer anderen Person hingezogen fühlen und uns in sie verlieben – doch jetzt schließt sie den Wunsch ein, dem Weiblichen oder Männlichen näher zu kommen. Das ist ganz anders als die Polarisation zwischen den Geschlechtern, in der Distanz und Feindseligkeit in der Beziehung in den Vordergrund rücken und die Menschen weiter auseinandertreiben. Die innere Verbindung wird die äußere Verbindung deutlich verbessern, und sollte das Ideal sein, nach dem wir streben.
Typen von Geschlechterprojektionen
Obwohl es endlose Varianten gibt, lernen Sie nachfolgend die sechs gängigeren Typen von Geschlechterprojektionen kennen. Sie sollten dieses Wissen auf drei Arten nutzen: Erstens müssen Sie in sich selbst Ihre Tendenz zu einer dieser Formen von Projektion anerkennen. Dies wird Ihnen helfen, etwas Grundlegendes über Ihre frühen Jahre zu verstehen, das es Ihnen erleichtern wird, Ihre Projektionen auf andere Personen zu revidieren. Zweitens müssen Sie dies als wertvolles Hilfsmittel benutzen, um Zugang zum Unterbewusstsein anderer Menschen zu bekommen, also um ihre Anima oder ihren Animus in Aktion zu sehen. Und schließlich müssen Sie lernen, darauf zu achten, wie andere ihre Bedürfnisse und Fantasien auf Sie projizieren.
Denken Sie daran: Wenn Sie das Ziel der Projektionen anderer sind, ist die Versuchung groß, dieser Idealisierung Ihrer selbst gerecht zu werden, also die Fantasie der anderen Person zu erfüllen. Sie lassen sich dann von ihrer Begeisterung einnehmen und wollen glauben, dass Sie so großartig, stark oder mitfühlend sind, wie andere sich das vorstellen. Ohne es zu bemerken, fangen Sie an, die Rolle zu spielen, die man Ihnen überstülpt. Sie werden die Mutter- oder Vaterfigur, die sich andere ersehnen. Sie werden der anderen Person das früher oder später aber übel nehmen, denn Sie können nicht Sie selbst sein, Sie werden nicht für Ihre wahren Eigenschaften geschätzt. Es ist besser, sich dieser Dynamik bewusst zu sein, bevor Sie sich darin verstricken.
Der teuflische Romantiker
Für die Frau in diesem Szenario sieht der Mann, der sie fasziniert – oft älter und erfolgreich – wie ein Lebemann aus; der Typ, der nicht anders kann, als jungen Frauen nachzustellen. Aber er ist auch ein Romantiker. Wenn er verliebt ist, überschüttet er die Frau mit Aufmerksamkeit. Sie beschließt, dass sie ihn verführen und das Ziel seiner Aufmerksamkeit werden will. Sie wird seine Fantasien aufgreifen und mit ihnen spielen. Wie könnte er sich nicht für sie entscheiden und sich selbst verändern wollen? Sie wird sich in seiner Liebe sonnen. Aber irgendwie ist er doch nicht so stark, maskulin oder romantisch, wie sie ihn sich vorgestellt hat. Er ist doch etwas zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie bekommt nicht die erwünschte Aufmerksamkeit, oder sie hält nicht lange an. Er kann sich nicht verändern und verlässt sie.
Dies ist oft die Projektion von Frauen, die eine relativ intensive, vielleicht sogar kokette Beziehung zu ihrem Vater hatten. Solche Väter finden ihre Ehefrauen oft langweilig, die junge Tochter ist viel charmanter und verspielter. Sie lassen sich von der Tochter inspirieren und die Tochter wird im Gegenzug von der Aufmerksamkeit des Vaters abhängig und lernt schnell, die Rolle des Mädchens zu spielen, das er sich wünscht. Das gibt ihr ein Gefühl von Macht. Es wird ihr lebenslanges Ziel, diese Aufmerksamkeit und die Macht, die damit einhergeht, wiederzuerlangen. Jede Assoziation mit der Vaterfigur wird diesen Projektionsmechanismus auslösen, und sie wird die romantische Ader des Mannes erfinden oder übertreiben.
Ein mustergültiges Beispiel hierfür ist Jacqueline Kennedy Onassis. Jack Bouvier, ihr Vater, verehrte seine beiden Töchter, aber Jacqueline war sein Liebling. Jack war teuflisch gutaussehend und schneidig. Er war ein Narzisst, der von seinem Körper und der feinen Kleidung, die er trug, besessen war. Er betrachtete sich selbst als Macho, als jemanden, der gerne Risiken einging, aber hinter dieser Fassade war er hinsichtlich seines Geschmacks ziemlich weiblich und sehr unreif. Er war zudem ein berüchtigter Frauenheld. Er behandelte Jackie eher wie eine Gefährtin und Freundin denn als Tochter. In ihren Augen konnte er nichts falsch machen. Sie war auf perverse Weise stolz auf seinen Erfolg bei Frauen. In den häufigen Streitigkeiten zwischen ihren Eltern ergriff sie immer Partei für ihren Vater. Im Vergleich zu ihrem Vater, der für jeden Spaß zu haben war, wirkte ihre Mutter prüde und streng.
Jackie verbrachte viel Zeit in seiner Gesellschaft, auch nach der Scheidung ihrer Eltern, und sie dachte ständig an ihn, sodass sie seine Energie und seinen Geist verinnerlichte. Als junge Frau richtete sie daher ihre volle Aufmerksamkeit auf ältere, einflussreiche und unkonventionelle Männer, mit denen sie die Rolle wiedererschaffen konnte, die sie bei ihrem Vater gespielt hatte – immer das kleine Mädchen, das seine Liebe brauchte, aber auch ziemlich kokett. Und sie war immer wieder von den Männern enttäuscht, für die sie sich entschied.
John F. Kennedy kam ihrem Ideal noch am nächsten, deshalb war er in vielerlei Hinsicht optisch wie auch geistig wie ihr Vater. Kennedy schenkte ihr jedoch niemals die Aufmerksamkeit, nach der sie sich sehnte; er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er war auch zu beschäftigt damit, Affären mit anderen Frauen zu haben. Er war nicht wirklich ein Romantiker. Jackie war in dieser Beziehung ständig frustriert, blieb aber in diesem Muster gefangen, auch später, als sie Aristoteles Onassis heiratete – einen älteren, unkonventionellen Mann, der viel Macht innehatte und schneidig und romantisch wirkte, sie aber schrecklich behandelte und ständig betrog.
Frauen in diesem Szenario sind durch die frühe Aufmerksamkeit, die ihnen der Vater geschenkt hat, gefangen. Sie müssen später ständig charmant, anregend und kokett sein, um diese Aufmerksamkeit auszulösen. Ihr Animus ist verführerisch, hat aber eine aggressive, maskuline Note, weil er viel Energie vom Vater aufgenommen hat. Sie sind ständig auf der Suche nach einem Mann, den es gar nicht gibt. Wenn der Mann in jeder Hinsicht aufmerksam und stets romantisch wäre, würden sie sich langweilen. Er würde als zu schwach erscheinen. Sie fühlen sich insgeheim zur teuflischen Seite ihres Traummannes und dem Narzissmus hingezogen, der damit einhergeht. Frauen, die in dieser Projektion gefangen sind, werden im Laufe der Jahre verbittert, weil sie so viel Energie verbraucht haben, um Männerfantasien zu schüren, obwohl sie nur wenig im Gegenzug erhalten. Der einzige Weg aus dieser Falle ist es, dass die Frau dieses Muster erkennt, aufhört, ihren Vater als Mythos zu inszenieren, und sich stattdessen auf den Schaden konzentriert, den er durch die unangemessene Aufmerksamkeit verursacht hat, die er ihr geschenkt hat.
Die nicht greifbare, vollkommene Frau
Er denkt, dass er die ideale Frau gefunden hat. Sie gibt ihm das, was ihm in seinen vorigen Beziehungen gefehlt hat, ob es nun Wildheit, Trost, Mitgefühl oder ein kreativer Funke ist. Obwohl er mit dieser Frau nicht allzu oft in Berührung gekommen ist, kann er sich alle möglichen positiven Erfahrungen mit ihr vorstellen. Je mehr er an sie denkt, umso sicherer ist er, dass er ohne sie nicht leben kann. Wenn er über diese vollkommene Frau redet, fällt aber auf, dass er nur wenige konkrete Details nennen kann, was genau sie eigentlich so perfekt macht. Falls er es schafft, eine Beziehung mit ihr zu haben, folgt bald die Ernüchterung: Sie ist nicht die Person, für die er sie gehalten hat; sie hat ihn getäuscht. Dann geht er zur nächsten Frau, der er diese Fantasie überstülpt.
Das ist eine gängige Form der männlichen Projektion. Sie enthält alle Elemente, die er seiner Meinung nach niemals von seiner Mutter erhalten hat und auch nicht von den anderen Frauen in seinem Leben. Diese ideale Partnerin verfolgt ihn in seinen Träumen. Sie erscheint ihm nicht in Form einer Person, die er kennt; sie ist eine Frau, die seine Vorstellungskraft ersonnen hat – oft jung, schwer greifbar, aber etwas Großartiges versprechend. Im echten Leben werden bestimmte Frauentypen diese Projektion auslösen. Sie ist normalerweise schwer festzumachen und entspricht dem, was Freud als narzisstische Frau bezeichnete – eigenständig, nicht wirklich einen Mann oder jemanden brauchend, der sie ergänzt. Sie kann ein wenig kaltherzig sein und eine leere Leinwand, auf die Männer alles projizieren können, was sie wollen. Alternativ kann sie ein Freigeist sein, voll kreativer Energie, aber ohne einen klaren Sinn für eine eigene Identität. Männern dient sie als Muse, als großer Funken für ihre Vorstellungskraft, als Lockmittel, um ihren rigiden Geist zu lockern.
Die Männer, die für diese Projektion anfällig sind, hatten oft Mütter, die für sie nicht uneingeschränkt da waren. Vielleicht erwartete eine solche Mutter, dass der Sohn ihr die Aufmerksamkeit und Bestätigung gab, die sie von ihrem Mann nicht erhielt. Wenn dieser Junge zum Mann heranreift, fühlt er wegen dieser Umkehrung eine große Leere, die er ständig füllen muss. Er kann nicht genau in Worte fassen, was er will oder was ihm gefehlt hat, deshalb ist seine Fantasie so ungenau. Er verbringt sein Leben damit, nach dieser schwer fassbaren Person zu suchen, und wird sich niemals mit einer realen Frau aus Fleisch und Blut zufriedengeben. Es ist immer die nächste Frau, die vollkommen sein wird. Wenn er sich zu Narzisstinnen hingezogen fühlt, wird er das Problem wiederholen, das er mit seiner Mutter erfahren hat, und sich in eine Frau verlieben, die ihm nicht das geben kann, was er will. Seine eigene Anima ist ein wenig verträumt, introspektiv und launisch – was genau das Verhalten ist, das er zeigt, wenn er verliebt ist.
Männer dieses Typs müssen die Natur ihres Musters erkennen. Sie müssten eine echte Frau finden und mit ihr interagieren, ihre unvermeidlichen Schwächen akzeptieren und mehr von sich geben. Doch sie ziehen es oft vor, ihrer Fantasie nachzujagen, weil sie in einem solchen Szenario die Kontrolle behalten und die Freiheit haben zu gehen, sobald die Realität sie einholt. Um das Muster zu durchbrechen, müssen solche Männer diese Kontrolle teilweise aufgeben. Wenn es um ihr Bedürfnis nach einer Muse geht, müssen sie lernen, diese Inspiration in sich selbst zu finden und die Anima in sich stärker zum Vorschein zu bringen. Sie haben sich von ihrer weiblichen Seite zu sehr entfremdet und müssen ihren Denkprozess auflockern. Wenn sie die Wildheit ihrer Traumfrau nicht mehr brauchen, werden sie zu den echten Frauen in ihrem Leben bessere Beziehungen aufbauen können.
Der liebenswürdige Rebell
Für die Frau, die sich zu diesem Typus hingezogen fühlt, zeichnet sich der Mann durch eine ausgeprägte Ablehnung jeder Form von Autorität aus. Er ist ein Nonkonformist. Im Gegensatz zum teuflischen Romantiker ist dieser Mann oft jung und nicht so erfolgreich. Er wird sich in der Regel auch nicht in ihrem normalen Bekanntenkreis bewegen. Einer Beziehung mit ihm haftet etwas Tabuisiertes an – ihr Vater würde dies nicht gutheißen, vielleicht auch ihre Freunde und Kollegen nicht. Sollte sich die Beziehung entwickeln, wird sie jedoch eine völlig andere Seite an ihm entdecken. Er kann einen guten Job nicht behalten, aber nicht weil er rebellisch ist, sondern weil er faul ist und nichts auf die Reihe bekommt. Trotz seiner Tätowierungen und seinem kahl rasierten Kopf ist er ziemlich spießig, kontrollierend und will sie beherrschen. Die Beziehung wird zerbrechen – doch die Fantasie bleibt.
Eine Frau mit dieser Projektion hatte oft einen starken, patriarchalischen Vater, der abwesend und streng war. Der Vater verkörpert Ordnung, Regeln und Konventionen. Er war oft ziemlich kritisch seiner Tochter gegenüber; sie war niemals gut oder hübsch oder klug genug. Sie hat diese kritische Stimme verinnerlicht und hört sie nach wie vor in ihrem Kopf. Als Mädchen träumte sie davon, zu rebellieren und sich gegen die Kontrolle des Vaters aufzulehnen, aber sie wurde zu oft darauf reduziert, zu gehorchen und die fügsame Tochter zu spielen. Ihr Wunsch nach Rebellion wurde unterdrückt und ging in ihren Animus über, der ziemlich wütend und nachtragend ist. Statt selbst aufsässig zu sein, versucht sie, die Aufsässigkeit in Form eines rebellischen Mannes zu externalisieren. Wenn sie aufgrund seines Erscheinungsbilds den Eindruck hat, dass ein Mann ihrem Wunschbild entspricht, wird sie Fantasien auf ihn projizieren, die aufgeladen und sexuell sind. Oft wählt sie einen Mann, der relativ jung ist, weil er dadurch weniger bedrohlich wirkt, weniger wie ein Patriarch. Aber seine Jugend und fehlende Reife machen es fast unmöglich, eine stabile Beziehung zu führen, und ihre wütende Seite wird zum Vorschein kommen, wenn bei ihr die Ernüchterung einsetzt.
Sobald eine Frau erkennt, dass sie für diese Projektion anfällig ist, muss sie eine simple Tatsache akzeptieren: Was sie wirklich will, ist die Entwicklung ihrer eigenen Unabhängigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Aufsässigkeit. Dafür ist es nie zu spät, aber diese Qualitäten müssen in kleinen Schritten aufgebaut und entwickelt werden, durch tägliche Herausforderungen, in denen sie lernt, Nein zu sagen, einige Regeln zu brechen und so weiter. Indem sie durchsetzungsfähiger wird, kann sie anfangen, Beziehungen zu führen, die ausgeglichener und befriedigender sind.
Die gefallene Frau
Für ihn scheint die Frau, die ihn fasziniert, sich von allen anderen Frauen zu unterscheiden, die er kennt. Vielleicht kommt sie aus einer anderen Kultur oder sozialen Schicht. Vielleicht ist sie nicht so gebildet wie er. Ihrem Charakter oder ihrer Vergangenheit haftet etwas Dubioses an; sie ist auf jeden Fall körperlich weniger gehemmt als die meisten Frauen. Er denkt, dass sie derb ist. Sie scheint einen Beschützer zu brauchen, Bildung, Geld. Er wird derjenige sein, der sie rettet und auf ein höheres Niveau hebt. Doch je näher er ihr kommt, umso mehr erkennt er, dass sie nicht die Person ist, für die er sie gehalten hat.
In Swanns Welt , dem ersten Band des Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, ist der Protagonist Charles Swann, der auf einer realen Person beruht, ein Ästhet und Kunstkenner. Er ist auch ein Don Juan, der extreme Angst vor jeder Form von Beziehung oder Verpflichtung hat. Er hat viele Frauen seiner Schicht verführt. Doch dann trifft er eine Frau namens Odette, die aus einem völlig anderen sozialen Milieu kommt. Sie ist ungebildet, ein wenig vulgär, und manche würden sagen, dass sie eine Kurtisane ist. Sie macht ihn neugierig. Eines Tages, als er eine Reproduktion einer Bibelszene auf einem Fresko von Botticelli anstarrt, kommt er zu dem Schluss, dass Odette einer Frau in dem Bild ähnelt. Jetzt ist er fasziniert und beginnt, sie zu idealisieren: Odette muss ein schweres Leben gehabt haben und sie hat Besseres verdient. Trotz seiner Angst vor Verpflichtungen heiratet er sie und bringt ihr die feineren Dinge des Lebens bei. Was er nicht erkennt, ist, dass sie der Frau in seiner Fantasie überhaupt nicht ähnelt. Odette ist extrem klug und willensstark – viel stärker als er selbst. Sie macht ihn später zu ihrem passiven Sklaven und hat Affären mit anderen Männern, aber auch mit Frauen.
Männer von diesem Schlag hatten in ihrer Kindheit starke Mutterfiguren. Sie wurden brave, folgsame Jungen und gute Schüler. Auf einer bewussten Ebene fühlen sie sich zu gebildeten Frauen hingezogen, die gut und vollkommen scheinen. Unbewusst fühlen sie sich jedoch zu Frauen hingezogen, die unvollkommen, schlecht und von fragwürdigem Charakter sind. Insgeheim sehnen sie sich nach dem Gegenteil von sich selbst. Es ist die klassische Aufteilung von Heiliger und Hure – sie wollen die Heilige oder Mutterfigur als Ehefrau, fühlen sich körperlich aber viel stärker zur Hure hingezogen, der gefallenen Frau, die ihren Körper zur Schau stellt. Sie haben die verspielten, sinnlichen und derben Seiten ihres Charakters unterdrückt, den sie noch als Jungen hatten. Sie sind zu rigide und zivilisiert. Um diese Eigenschaften in irgendeiner Weise ausleben zu können, zieht es sie zu Frauen hin, die sich von ihnen völlig zu unterscheiden scheinen. Wie Swann finden sie einen Weg, sie durch einen intellektuellen Bezug zu idealisieren, der völlig realitätsfern ist. Sie projizieren Schwäche und Verletzlichkeit auf diese Frauen. Sie reden sich ein, dass sie ihnen helfen und sie beschützen wollen. Doch was sie wirklich anzieht, ist die Gefahr, und es sind die sinnlichen Vergnügen, die diese Frauen in Aussicht stellen. Weil sie die Kraft solcher Frauen unterschätzen, lassen sie sich oft zum Spielball machen. Ihre Anima ist passiv und masochistisch.
Männer, die eine solche Projektion haben, müssen die unkonventionelleren Seiten ihrer Persönlichkeit stärker ausleben. Sie müssen ihre Komfortzone verlassen und auf eigene Faust neue Erfahrungen machen. Sie brauchen mehr Herausforderungen, vielleicht sogar ein wenig Nervenkitzel, der sie auflockert. Vielleicht müssen sie in der Arbeitswelt mehr Risiken eingehen. Sie müssen zudem die körperliche und sinnlichere Seite ihres Charakters stärker ausleben. Wenn sie nicht mehr auf die gefallene Frau angewiesen sind, um das zu bekommen, was sie brauchen, fangen sie an, ihre Bedürfnisse mit jeder Art von Frau zu befriedigen. Statt passiv darauf zu warten, von ihr verführt zu werden, suchen sie aktiv sinnliche Genüsse und leben sie aus.
Der überlegene Mann
Er scheint brillant, erfahren, stark und verlässlich zu sein. Er strahlt Selbstbewusstsein und Macht aus. Er könnte ein einflussreicher Geschäftsmann sein, ein Professor, Künstler oder Guru. Obwohl er vielleicht älter und nicht so attraktiv ist, verleiht ihm seine Selbstsicherheit eine anziehende Aura. Eine Frau, die sich zu diesem Typus hingezogen fühlt, erhofft sich durch eine Beziehung zu einem solchen Mann ein indirektes Gefühl der Stärke und Überlegenheit.
In dem Roman Middlemarch (1872) von George Elliot ist die Hauptfigur Dorothea Brooke eine neunzehnjährige Waise, die von ihrem wohlhabenden Onkel erzogen wird. Dorothea ist ziemlich hübsch und wäre ein guter Fang für eine Ehe. Ein junger Mann im Ort, Sir James Chettam, macht ihr aktiv den Hof. Aber eines Abends begegnet sie dem wesentlich älteren Edward Causabon, einem wohlhabenden Großgrundbesitzer, der sein Leben der Wissenschaft gewidmet hat. Er fasziniert sie. Sie fängt an, ihm Aufmerksamkeit zu schenken, und er macht ihr den Hof, zum großen Entsetzen ihrer Schwester und ihres Onkels. Die beiden finden ihn hässlich, er hat Muttermale im Gesicht und einen fahlen Teint. Er schmatzt beim Essen und ist wortkarg. Doch für Dorothea ist sein Gesicht voller geistiger Tiefe. Er steht so über den Dingen, dass die Etikette für ihn nebensächlich ist. Er redet nur deshalb so wenig, weil die anderen ihn sowieso nicht verstehen würden. Mit ihm verheiratet zu sein wäre wie mit Pascal oder Kant verheiratet zu sein. Dorothea würde Griechisch und Latein lernen und ihm bei seinem großen Opus helfen, dem Schlüssel zu allen Mythologien . Und er würde ihr helfen, sich weiterzubilden und kultivierter zu sein. Er würde der Vater werden, den sie unbewusst immer vermisst hat. Erst nach der Eheschließung erkennt sie die Wahrheit, nämlich dass er innerlich tot und kontrollsüchtig ist. Er sieht sie nur als seine bessere Sekretärin. Dorothea ist in einer lieblosen Ehe gefangen.
Auch wenn Beziehungen heutzutage hinsichtlich der Details ganz anders sein mögen, ist diese Art der Projektion bei Frauen sehr geläufig. Sie rührt von Minderwertigkeitskomplexen her. Die Frau hat in diesem Fall die Stimmen des Vaters und anderer Personen verinnerlicht, die sie sehr kritisch betrachtet und ihr Selbstwertgefühl herabgesetzt haben, indem sie ihr vorgeschrieben haben, wer sie zu sein und wie sie sich zu verhalten hat. Weil sie niemals Stärke oder ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt hat, neigt sie dazu, diese Eigenschaften bei Männern zu suchen und eventuelle Anzeichen dafür verstärkt wahrzunehmen. Viele Männer, die auf sie reagieren, spüren ihr geringes Selbstwertgefühl und finden es anziehend. Ihnen gefällt die Bewunderung dieser oftmals jüngeren Frau, über die sie herrschen und die sie kontrollieren können. Das wäre der klassische Professor, der seine Studentin verführt. Weil solche Männer selten so brillant, klug und selbstbewusst sind, wie sie es sich vorstellt, ist die Frau aber entweder enttäuscht und geht, oder sie ist in ihrem geringen Selbstwertgefühl gefangen, beugt sich seinen Manipulationen und gibt sich selbst die Schuld für alle Probleme.
Eine solche Frau muss zuerst erkennen, dass die Quelle ihrer Unsicherheit die kritischen Meinungen anderer sind, die sie akzeptiert und verinnerlicht hat. Sie stammt also nicht aus einem inhärenten Mangel an Intelligenz oder Wert. Sie muss daher aktiv darauf hinarbeiten, durch eigene Handlungen ihre Durchsetzungsfähigkeit und ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln, indem sie Projekte übernimmt, ein Unternehmen gründet oder eine neue Fähigkeit beherrschen lernt. Was Männer angeht, muss sie sich als ihnen ebenbürtig ansehen, als potenziell so stark und kreativ wie sie – oder sogar mehr als das. Mit einem authentischen Selbstbewusstsein kann sie dann den wahren Wert und Charakter der Männer, die sie kennenlernt, besser beurteilen.
Die Frau, die ihn verehrt
Er ist motiviert und ehrgeizig, aber sein Leben ist hart. Die Welt da draußen ist hart und unerbittlich, und es ist nicht leicht, irgendwo Zuflucht zu finden. Er hat das Gefühl, dass etwas in seinem Leben fehlt. Dann kommt eine Frau des Weges, die auf ihn eingeht, mitfühlend und gebend ist. Sie scheint ihn zu bewundern. Er fühlt sich stark zu ihr und ihrer Energie hingezogen. Das ist die Frau, die ihn vervollständigt, die ihm Trost spendet. Aber wenn sich die Beziehung dann entwickelt, scheint sie plötzlich nicht mehr so nett und aufmerksam zu sein. Sie hat auf jeden Fall aufgehört, ihn zu bewundern. Er kommt zu dem Schluss, dass sie ihn getäuscht oder sich verändert hat, und dieser Betrug macht ihn wütend.
Diese männliche Projektion ist normalerweise auf eine bestimmte Art von Beziehung zur Mutter zurückzuführen: Sie verehrt ihren Sohn und überschüttet ihn mit Aufmerksamkeit. Möglicherweise aus dem Grund, weil sie von ihrem Mann nicht das bekommt, was sie braucht. Sie impft dem Jungen Selbstbewusstsein ein, und er wird süchtig nach ihrer Aufmerksamkeit und sehnt sich nach ihrer warmen, allumfassenden Präsenz – was sie ebenfalls will.
Als Erwachsener ist er ziemlich ehrgeizig, er versucht immer, die Erwartungen der Mutter zu erfüllen. Er treibt sich sehr an. Er entscheidet sich für einen gewissen Typus von Frau und bringt sie dann auf subtile Weise dazu, in die Mutterrolle zu schlüpfen – um ihn zu trösten, zu bewundern und sein Ego aufzupumpen. In vielen Fällen erkennt die Frau, dass er sie in diese Rolle manipuliert hat, und wird ihm das nachtragen. Sie wird aufhören, so nett und bewundernd zu sein. Er wird ihr vorwerfen, sich verändert zu haben, aber in Wirklichkeit ist er es, der Eigenschaften auf sie projiziert hat, die in dieser Form nie da waren, und der versucht, sie dazu zu bringen, seine Erwartungen dennoch zu erfüllen. Die folgende Trennung wird für den Mann sehr schmerzhaft sein, weil er Energie aus seinen frühen Jahren investiert hat und dies als Verlassenwerden von der Mutterfigur wahrnimmt. Selbst wenn er Erfolg damit hat, die Frau dazu zu bringen, die Mutterrolle einzunehmen, wird er auf sich selbst wütend sein, weil er von ihr abhängig ist – dieselbe Abhängigkeit und Ambivalenz, die er gegenüber seiner Mutter spürt. Er sabotiert die Beziehung dann vielleicht oder zieht sich zurück. Seine Anima hat eine scharfe, anklagende Art, die stets zu Beschwerden und Schuldzuweisungen bereit ist.
Der Mann muss das Muster dieser Beziehungen in seinem Leben erkennen. Dies sollte ihm signalisieren, dass er in sich selbst die mütterlichen Eigenschaften entwickeln muss, die er auf Frauen projiziert. Er muss erkennen, dass sein Ehrgeiz daher rührt, seiner Mutter zu gefallen und ihre Erwartungen zu erfüllen. Er neigt dazu, sich zu sehr anzutreiben. Er muss lernen, sich selbst zu trösten und zu beruhigen, sich gelegentlich zurückzuziehen und auf seine Leistungen stolz zu sein. Er muss in der Lage sein, auf sich selbst aufzupassen. All das wird seine Beziehungen drastisch verbessern. Er sollte mehr geben, statt darauf zu warten, bewundert und umsorgt zu werden. Er sollte Frauen so sehen, wie sie sind, sodass sie sich letztlich vielleicht unbewusst dazu veranlasst fühlen, ihm den Trost zu spenden, den er braucht, ohne dazu gedrängt zu werden.
Der ursprüngliche Mann/die ursprüngliche Frau
Eine gängige Erfahrung für uns Menschen ist es, dass wir an einem gewissen Punkt im Leben – oft um das vierzigste Lebensjahr herum – die sogenannte Midlife-Crisis durchleben. Wir spulen unsere Arbeit nur noch ab und haben keine Freude mehr daran. Unsere intimen Beziehungen haben ihre Spannung und Lebhaftigkeit verloren. Wir sehnen uns nach einem Wandel, und wir versuchen diesen durch einen neuen Job oder eine neue Beziehung zu realisieren, durch neue Erlebnisse, vielleicht auch Gefahren. Solche Veränderungen geben uns vielleicht einen kurzfristigen therapeutischen Schub, aber die eigentliche Ursache des Problems bleibt unverändert – und dieses Problem kehrt wieder.
Betrachten wir dieses Phänomen einmal aus einer anderen Perspektive: als Identitätskrise. Als Kinder haben wir eine relativ formbare Vorstellung unseres Selbst. Wir nehmen die Energie der Personen und Dinge um uns auf. Wir empfinden viele verschiedene Gefühle und sind offen für neue Erfahrungen. Aber in unserer Jugend müssen wir ein soziales Selbst bilden, eines, das kohärent ist und uns die Möglichkeit gibt, uns in eine Gruppe einzufügen. Hierfür müssen wir unseren frei fließenden Geist zurechtstutzen und auf Linie bringen. Vieles davon hat etwas mit Geschlechterrollen zu tun. Wir müssen unsere männlichen oder weiblichen Aspekte unterdrücken, um uns als konsistentes Selbst zu fühlen und darzustellen.
In den späten Teenagerjahren und als Twen passen wir diese Identität ständig an, um uns einzufügen – wir sind noch im Entstehen begriffen und haben Freude daran, diese Identität zu schmieden. Wir haben das Gefühl, dass unser Leben in viele Richtungen gehen kann, und die vielfältigen Möglichkeiten faszinieren uns. Mit zunehmendem Alter wird die Geschlechterrolle, die wir spielen, aber immer fixierter, und wir haben allmählich das Gefühl, etwas Essenzielles verloren zu haben, dass wir mit der Person, die wir in unserer Jugend waren, kaum mehr etwas gemeinsam haben. Unsere kreativen Energien sind erschöpft. Wie von selbst schauen wir nach außen, um die Quelle dieser Krise zu identifizieren, aber sie kommt eigentlich von innen. Wir sind im Ungleichgewicht, zu fest mit unserer Rolle und der Maske verbunden, die wir anderen gegenüber zeigen. Unsere ursprüngliche Natur umfasst mehr Qualitäten, die wir von der Mutter oder vom Vater aufgenommen haben, und von den Merkmalen des anderen Geschlechts, die biologisch ein Teil von uns sind. Ab einem gewissen Punkt rebellieren wir innerlich angesichts dieses Verlusts, der ein so essenzieller Teil von uns ist.
In primitiven Kulturen weltweit war der weiseste Mann oder die weiseste Frau der Schamane – ein Heiler, der mit der Geisterwelt in Verbindung treten konnte. Der Schamane hatte eine innere Frau, auf die er genau hörte und die ihn leitete; die Schamanin hatte einen inneren Mann. Die Macht der Schamanen kam aus den Tiefen ihrer Kommunikation mit dieser inneren Figur, die als echte Frau oder echter Mann von innen erfahren wurde. Die Figur des Schamanen spiegelt eine profunde psychologische Wahrheit wider, auf die unsere Urahnen Zugriff hatten. In den Mythen vieler alter Kulturen – persisch, hebräisch, griechisch, ägyptisch – glaubte man, dass die ursprünglichen Menschen männlich und weiblich waren. Das machte sie so stark, dass die Götter sie fürchteten und daher in zwei Hälften teilten.
Ihnen muss Folgendes klar sein: Die Rückkehr zu Ihrer ursprünglichen Natur birgt elementare Macht. Indem Sie einen besseren Bezug zu den natürlich weiblichen oder männlichen Teilen in sich herstellen, setzen Sie die Energie frei, die so lange unterdrückt war. Ihr Geist wird seine natürliche Wandelbarkeit wiederentdecken, Sie werden andersgeschlechtliche Menschen besser verstehen und einen besseren Bezug zu ihnen herstellen können. Indem Sie sich der abwehrenden Haltung entledigen, die Sie in Bezug auf Ihre Geschlechterrolle haben, entwickeln Sie ein Gefühl der Selbstsicherheit. Diese Rückbesinnung erfordert jedoch, dass Sie mit Denk- und Verhaltensweisen spielen, die männlicher oder weiblicher sind – abhängig von Ihrem persönlichen Ungleichgewicht. Doch vor der Erläuterung dieses Prozesses müssen wir zuerst mit einem tiefen menschlichen Vorurteil über das Männliche und Weibliche aufräumen.
Seit Jahrtausenden waren es weitgehend Männer, die männliche und weibliche Rollen definierten und diese mit einem gewissen Urteil belegten: Weibliche Denkweisen wurden mit Irrationalität assoziiert, weibliche Handlungsweisen galten als schwach und minderwertig. Wir haben vielleicht äußerlich die Geschlechterungleichheit überwunden, aber innerlich haben diese Urteile immer noch eine profunde Wirkung auf uns. Die männliche Denkweise wird nach wie vor für überlegen gehalten, Weiblichkeit hingegen für weich und schwach. Viele Frauen haben diese Urteile verinnerlicht. Sie haben das Gefühl, dass Gleichheit bedeutet, genauso hart und aggressiv wie ein Mann sein zu müssen. Was in der modernen Welt wirklich gebraucht wird, ist jedoch vielmehr die Einsicht, das Männliche und Weibliche im Hinblick auf Argumentationskraft und entschlossenes Handeln als vollständig gleich und zugleich andersartig zu sehen.
Sagen wir einmal, dass es eine weibliche und eine männliche Art gibt, wenn es ums Denken, Handeln, Lernen aus Erfahrungen und Kommunizieren mit anderen geht. Diese Arten wurden seit Jahrtausenden im Verhalten von Männern und Frauen reflektiert. Manche haben etwas mit den physiologischen Unterschieden zu tun, andere sind überwiegend kulturell bedingt. Es gibt gewiss Männer, die eine weiblichere Art haben, und Frauen, die maskuliner sind, aber fast alle von uns haben eine Seite, die stärker ausgeprägt ist. Unsere Aufgabe ist es, uns der schwächeren Seite zu öffnen. Alles, was wir dabei zu verlieren haben, ist unsere Starrheit.
Männliche und weibliche Denkweisen
Männliches Denken neigt dazu, sich darauf zu konzentrieren, Phänomene voneinander zu unterscheiden und sie zu kategorisieren. Es sucht nach Kontrasten zwischen den Dingen, um sie besser benennen zu können. Es will die Dinge auseinandernehmen wie eine Maschine und die Einzelteile analysieren, die das große Ganze bilden. Der Denkprozess ist linear, versucht die Sequenz von Schritten zu verstehen, die in ein Ereignis eingehen. Es betrachtet die Dinge gerne von außen, mit emotionaler Distanz. Das männliche Denken neigt dazu, Spezialisierung zu bevorzugen, sich in eine konkrete Sache tief einzuarbeiten. Es hat Freude daran, die Logik von Phänomenen aufzudecken, und baut gerne aufwendige Strukturen, ob in einem Buch oder einem Unternehmen.
Das weibliche Denken orientiert sich völlig anders. Es konzentriert sich gerne auf das große Ganze, wie die Teile miteinander verbunden sind, die allgemeine Form. Wenn es eine Gruppe von Personen betrachtet, will es sehen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Statt die Phänomene in einem bestimmten Augenblick einzufrieren und zu untersuchen, konzentriert es sich auf den organischen Prozess, wie ein Ding aus einem anderen entsteht. Wenn es ein Rätsel lösen will, sinniert es lieber über verschiedene Aspekte, lässt Muster auf sich wirken und die Antworten und Lösungen eine Weile ruhen, als ob sie erst gären müssten. Diese Form des Denkens führt zu Einsichten, wenn die verborgenen Verbindungen zwischen den Dingen plötzlich in Geistesblitzen sichtbar werden. Im Gegensatz zur Spezialisierung ist es mehr daran interessiert herauszufinden, wie verschiedene Felder oder Formen des Wissens miteinander verbunden werden können. Wenn es beispielsweise eine andere Kultur studiert, wird es ihr näherkommen und verstehen wollen, wie sie von innen heraus wahrgenommen wird. Es nimmt Informationen mehr über die Sinne auf und nicht so sehr durch abstrakte Überlegungen.
Der maskuline Stil wurde lange Zeit als rationaler und wissenschaftlicher betrachtet, doch dies spiegelt die Realität nicht wider. Die größten Wissenschaftler der Menschheitsgeschichte haben eine starke Mischung aus männlichen und weiblichen Stilen zum Ausdruck gebracht. Die größten Entdeckungen des Biologen Louis Pasteur stammten aus seiner Fähigkeit, seinen Geist zu öffnen und möglichst viele Erklärungen in Betracht zu ziehen und sie im Geist gären zu lassen, um dann die Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Phänomenen zu erkennen. Einstein schrieb seine größten Entdeckungen der Intuition zu, wobei viele Stunden des Nachdenkens plötzlichen Einsichten über den Zusammenhang bestimmter Fakten wichen. Die Anthropologin Margaret Mead benutzte abstrakte Modelle aus ihrer Zeit, um indigene Völker eingehend zu analysieren, aber sie kombinierte dies damit, monatelang in solchen Kulturen zu leben und ein Gefühl aus der inneren Position heraus zu entwickeln. In der heutigen Geschäftswelt ist Warren Buffett ein Beispiel für jemanden, der die beiden Stile miteinander vermischt: Wenn er sich überlegt, ein Unternehmen zu kaufen, nimmt er es gedanklich Stück für Stück auseinander und analysiert seine Statistiken detailliert, aber er versucht auch, ein Gefühl für das Gesamtbild der Firma zu bekommen, etwa wie die Mitarbeiter miteinander umgehen, die Atmosphäre in der Gruppe, wie sie durch den Mann oder Frau an der Spitze vermittelt wird – viele der nicht greifbaren Dinge, die die meisten Geschäftsleute ignorieren. Er betrachtet das Unternehmen sowohl von außen als auch von innen.
Fast alle Menschen neigen eher zu der einen oder anderen Denkweise. Sie sollten daher versuchen, ein Gleichgewicht herzustellen, indem Sie sich mehr in die andere Richtung neigen. Wenn Sie eher männlich veranlagt sind, sollten Sie die Fachbereiche erweitern, die Sie betrachten, indem Sie Verbindungen zwischen verschiedenen Wissensformen herstellen. Bei der Suche nach Lösungen sollten Sie mehr Möglichkeiten in Betracht ziehen, mehr Zeit für die gedankliche Verarbeitung einplanen und freiere Assoziationen zulassen. Sie müssen Ihre Geistesblitze ernst nehmen, die Ihnen nach langem Nachdenken kommen, und dürfen den Wert von Emotionen beim Denken nicht herabwürdigen. Ohne ein Gefühl für Freude und Inspiration kann Ihr Denken fad und leblos werden.
Wenn Sie eher in die weibliche Richtung tendieren, müssen Sie darauf achten, sich mehr auf spezifische Probleme zu konzentrieren, sich tief einzuarbeiten, und dabei den Impuls unterdrücken, Ihre Suche auszuweiten und Multitasking zu betreiben. Entwickeln Sie Freude daran, sich intensiv mit einem einzigen Aspekt oder Problem auseinanderzusetzen. Eine kausale Kette zu rekonstruieren und sie kontinuierlich zu verfeinern, wird Ihrem Denken mehr Tiefe verleihen. Sie neigen dazu, Struktur und Ordnung als langweilige Angelegenheiten zu betrachten, und richten daher größere Aufmerksamkeit darauf, eine dadurch inspirierte Idee oder ein Gefühl auszudrücken. Sie sollten aber vielmehr Freude daraus ziehen, Ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Struktur eines Buchs, auf ein Argument oder Projekt zu richten. Eine klare und kreative Struktur wird Ihrem Material die Macht geben, andere Leute zu beeinflussen. Manchmal müssen Sie eine größere emotionale Distanz schaffen, um ein Problem zu verstehen. Zwingen Sie sich notfalls dazu!
Männliche und weibliche Handlungsweisen
Wenn es darum geht, ins Handeln zu kommen, ist es die männliche Tendenz, vorwärtszuschreiten, die Situation zu erkunden, anzugreifen und das Problem zu »bezwingen«. Wenn Hindernisse im Weg stehen, wird der männliche Stil versuchen, sie zu überwinden; ein Wunsch, der durch den antiken Feldherrn Hannibal treffend zum Ausdruck gebracht wurde: »Entweder finde ich einen Weg oder ich mache ihn.« Er zieht Freude daraus, im Angriffsmodus zu bleiben und Risiken einzugehen. Er zieht es vor, seine Unabhängigkeit zu bewahren und manövrierfähig zu bleiben.
Wenn der weibliche Stil mit einem Problem konfrontiert wird oder zur Tat schreiten muss, zieht er es oft vor, sich aus der unmittelbaren Situation zunächst zurückzuziehen, um eingehender über die verfügbaren Optionen nachzudenken. Er sucht oft nach Wegen, Konflikte zu vermeiden, Beziehungen zu glätten und den Sieg zu erzielen, ohne in die Schlacht ziehen zu müssen. Manchmal ist es am besten, nichts zu tun und den Dingen ihren Lauf zu lassen, um sie besser zu verstehen. Soll sich der Feind durch seine Aggressivität doch selbst zu Fall bringen! Das war der Stil von Königin Elisabeth I., deren wichtigste Strategie es war, abzuwarten und zu beobachten: Als sie sich mit der drohenden Invasionen der berühmten spanischen Armada konfrontiert sah, beschloss sie, sich erst dann auf eine Strategie festzulegen, wenn sie genau wusste, wann die Armada startete und wie die augenblicklichen Wetterverhältnisse waren. Sie arbeitete daraufhin, die Fahrt der Armada zu verlangsamen und das schlechte Wetter den Rest erledigen zu lassen, damit möglichst wenig englische Matrosen zu Schaden kamen. Statt vorzupreschen stellt der weibliche Stil dem Feind Fallen. Unabhängigkeit ist kein essenzieller Wert für das Handeln; tatsächlich ist es besser, sich auf gegenseitig abhängige Beziehungen zu konzentrieren und darauf, ob sich ein Schachzug möglicherweise negativ auf einen Verbündeten auswirkt und welche Effekte dies auf die Allianz hat.
Im Westen wird dieser weibliche Stil des Taktierens und Handelns instinktiv als schwach und ängstlich verurteilt, aber in anderen Kulturen wird er ganz anders bewertet. Für chinesische Strategen ist wu-wei oder das »Nichthandeln« oft die höchste Weisheit und aggressives Tun ein Zeichen von Dummheit, weil es die eigenen Optionen einschränkt. Der weibliche Stil birgt eine enorme Kraft – Geduld, Resilienz und Flexibilität. Für den berühmten Samurai Miyamoto Musashi war die Fähigkeit, sich zu gedulden und abzuwarten, damit sich der Gegner geistig erschöpft, bevor man selbst zum Gegenschlag ausholt, für den Erfolg entscheidend.
Menschen, die zum aggressiven männlichen Stil neigen, könnten ein größeres Gleichgewicht erreichen, indem sie sich angewöhnen, vor einer Aktion erst einmal einen Schritt zurückzugehen. Sie sollten in Betracht ziehen, dass es besser sein könnte abzuwarten und zu beobachten, wie sich die Dinge entfalten, oder vielleicht gar nicht zu handeln. Zu handeln, ohne sich vorher ausreichend Gedanken gemacht zu haben, ist ein Zeichen von Schwäche und mangelnder Selbstbeherrschung. Um ein ausgewogenes Verhältnis beider Seiten zu erreichen, sollten sie über die vorhandenen wechselseitig abhängigen Beziehungen nachdenken und wie sich eine Handlung auf jede Gruppe oder Einzelperson auswirkt. Wenn Sie in Ihren späteren Lebensjahren feststellen, dass Sie beruflich nicht mehr weiterkommen, müssen Sie lernen, sich zurückzuziehen und darüber zu reflektieren, wer Sie sind, und Ihre Bedürfnisse, Ihre Stärken und Schwächen und Ihre wahren Interessen identifizieren, bevor Sie wichtige Entscheidungen treffen. Dies kann Wochen oder Monate der Introspektion erfordern. Manche der größten Anführer in der Geschichte entwickelten ihre besten Gedanken, als sie inhaftiert waren. Wie die Franzosen sagen würden: reculer pour mieux sauter  – »einen Schritt zurückgehen, um besser springen zu können«.
Für Menschen, die einen weiblichen Stil pflegen, ist es am besten, sich an verschiedene Formen von Konflikt und Konfrontation zu gewöhnen, damit jede Vermeidung von Aggression strategisch bedingt ist und nicht durch Angst motiviert. Hierfür sollten sie mit kleinen Schritten anfangen und Menschen in alltäglichen Situationen auf kleine Weise konfrontieren, bevor sie sich größere Konflikte vornehmen. Verzichten Sie beispielsweise darauf, immer Rücksicht auf die Gefühle der anderen Partei zu nehmen. Manchmal gibt es eben schlechte Menschen, denen man das Handwerk legen muss, und wenn man Mitleid mit ihnen hat, gibt ihnen das nur mehr Macht. Sie müssen sich wohlfühlen, auch einmal Nein zu sagen und den anderen nicht immer alles recht zu machen. Wenn Sie versuchen, Dinge wieder in Ordnung zu bringen, tun Sie das manchmal gar nicht aus Empathie oder Strategie, sondern weil Sie andere Leute nicht vor den Kopf stoßen wollen. Sie wurden dazu erzogen, immer nachzugeben, und müssen diesen Impuls loswerden. Verbinden Sie sich wieder mit dem wagemutigen und abenteuerlustigen Geist, den Sie einst hatten, und erweitern Sie Ihre strategischen Optionen, indem Sie zur Verteidigung auch den Angriff dazunehmen. Manchmal grübeln Sie auch zu viel über die Dinge und malen sich zu viele Optionen aus. Handeln um Ihrer selbst willen kann therapeutisch sein, und aggressives Vorgehen kann Ihre Gegner vernichtend schlagen.
Männliche und weibliche Stile der Selbstbeurteilung und des Lernens
Wie Studien gezeigt haben, neigen Männer dazu, ihren Blick nach außen zu richten und anderen Menschen oder Umständen die Schuld zu geben, wenn sie Fehler machen. Das Selbstbild des Mannes ist eng mit seinem Erfolg verknüpft, und er sieht nicht gerne nach innen, wenn er scheitert. Das macht es ihm schwer, aus Fehlern zu lernen. Bei einem Erfolg neigen Männer aber dazu, sich allein dafür verantwortlich zu sehen. Das wiederum macht sie blind für das Element des Glücks und der Hilfe anderer, was ihre eventuelle Neigung zum Größenwahn nährt (mehr dazu in Kapitel 11). Wenn es ein Problem gibt, versucht der männliche Stil, selbst eine Lösung zu finden – um Unterstützung zu bitten wäre ein Eingeständnis von Schwäche. Im Allgemeinen überschätzen Männer ihre Fähigkeiten und zeigen Selbstbewusstsein in ihre Fähigkeiten, selbst wenn dies durch die Umstände gar nicht gerechtfertigt ist.
Bei Frauen verhält es sich genau umgekehrt: Wenn etwas schiefläuft, neigen sie dazu, sich selbst dafür verantwortlich zu machen. Wenn sie Erfolg haben, neigen sie eher dazu, dies als Gemeinschaftsleistung anzusehen, die ohne die Hilfe anderer nicht möglich gewesen wäre. Es fällt ihnen leicht, um Hilfe zu bitten, sie sehen dies nicht als Zeichen persönlichen Unvermögens. Sie neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen, und sind weniger anfällig für das übertriebene Selbstbewusstsein, das Männer oft an den Tag legen.
Wenn Sie zum männlichen Stil neigen, ist es am besten, die Reihenfolge umzukehren, wenn es darum geht, zu lernen und sich zu verbessern: Schauen Sie nach innen, wenn Sie Fehler machen, und nach außen, wenn Sie Erfolg haben. Sie werden in der Lage sein, von Erfahrungen zu profitieren, wenn Sie das Gefühl loswerden, dass Ihr Ego an den Erfolg jeder Handlung und Entscheidung gebunden ist, die Sie treffen. Machen Sie aus dieser Umkehrung eine Gewohnheit. Scheuen Sie sich nicht davor, um Hilfe oder Feedback zu bitten; machen Sie auch das zu einer Gewohnheit. Schwäche rührt aus der Unfähigkeit her, Fragen zu stellen und lernfähig zu sein. Stutzen Sie Ihre hohe Selbstmeinung zurecht – Sie sind nicht so großartig oder fachkundig, wie Sie vielleicht denken. Diese Einsicht wird dazu beitragen, dass Sie sich weiterentwickeln.
Wenn Sie zum weiblichen Stil neigen, versinken Sie nach einer Niederlage oder einem Fehler häufig in Selbstkritik – man kann Introspektion aber auch zu weit treiben. Gleiches gilt dafür, immer anderen den Erfolg zuzuschreiben. Frauen tendieren mehr als Männer dazu, ein geringes Selbstwertgefühl zu haben, was nicht natürlich, sondern anerzogen ist. Sie haben in der Regel die kritischen Stimmen der anderen verinnerlicht. Jung nannte sie »Animus-Stimmen«: alle Männer, die im Laufe der Jahre Frauen nach ihrem Aussehen und ihrer Intelligenz beurteilt haben. Sie sollten diese Stimmen als solche erkennen, wenn sie sich zu Wort melden, und sie bewusst ignorieren. Weil Scheitern oder Kritik Sie schwer treffen kann, haben Sie vielleicht Angst davor, wieder etwas auszuprobieren, was aber Ihre Lernmöglichkeiten einschränkt. Sie müssen daher ein eher männlich ausgerichtetes Selbstbewusstsein entwickeln, nur ohne die damit verbundene Einfältigkeit. Bei Ihren täglichen Begegnungen sollten Sie versuchen, Ihre emotionalen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse auszuschalten oder zu verringern und selbige aus einer größeren Distanz betrachten. Sie trainieren sich gewissermaßen darauf hin, die Dinge nicht so persönlich zu nehmen.
Männliche und weibliche Stile in Bezug auf Menschenführung
Ähnlich wie bei Schimpansen gilt auch bei Menschen, dass in einer Gruppe der männliche Stil einen Anführer erfordert und dass ein Mann entweder danach strebt, diese Rolle zu übernehmen oder Macht zu erlangen, indem er der treueste Anhänger wird. Anführer designieren verschiedene Stellvertreter, die in ihrem Sinne agieren. Männer bilden Hierarchien und bestrafen jene, die sich nicht in die Ordnung einfügen. Sie sind sehr statusbewusst und sich ihrer Position in der Gruppe sehr bewusst. Anführer neigen dazu, das Element der Angst zu benutzen, um die Gruppe zusammenzuhalten. Der männliche Führungsstil identifiziert klare Ziele und geht ihnen nach. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf Ergebnisse, ganz gleich wie sie erzielt wurden. Beim weiblichen Stil geht es mehr darum, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und für harmonische Beziehungen zu sorgen, mit weniger Differenzen unter den einzelnen Gruppenmitgliedern. Er ist empathischer, geht auf die Gefühle jedes Gruppenmitglieds ein und versucht, sie stärker in den Entscheidungsprozess einzubinden. Die Ergebnisse sind wichtig, aber der Prozess ist genauso wichtig, also der Weg zum Ziel.
Wenn Sie einen eher männlichen Führungsstil haben, ist es wichtig, Ihr Verständnis von Führung zu erweitern. Wenn Sie genauer über die einzelnen Teammitglieder nachdenken und Strategien entwickeln, wie Sie sie stärker einbeziehen können, werden Sie bessere Ergebnisse erzielen, weil Sie die Energie und Kreativität der Gruppe nutzen. Studien haben gezeigt, dass Jungen genauso empathisch sind wie Mädchen und beispielsweise sehr sensibel auf die Emotionen der Mutter reagieren. Doch die Empathie wird Männern langsam ausgetrieben, wenn sie anfangen, ihren bestimmenden Stil zu entwickeln. Manche der größten männlichen Anführer in der Geschichte schafften es aber, ihre Empathie zu bewahren und sogar zu entwickeln. Ein Anführer wie Sir Ernest Henry Shackleton (siehe Kapitel 2) war wegen seiner ständigen Rücksichtnahme auf die Emotionen der Männer, für die er verantwortlich war, nicht unmännlich – er war schlichtweg ein stärkerer und wirksamerer Anführer. Dasselbe kann man von Abraham Lincoln sagen.
Wenn Sie einen eher weiblichen Führungsstil haben, dürfen Sie keine Angst haben, eine starke Führungsrolle zu übernehmen, vor allem in Krisenzeiten. Denn wenn Sie die Gefühle und Ideen jedes einzelnen Mitglieds berücksichtigen, schwächen Sie sich und Ihre Pläne. Obwohl Frauen sicherlich bessere Zuhörer sind, ist es manchmal am besten zu wissen, wann man aufhört zuzuhören und den Plan durchzieht, für den man sich entschieden hat. Sobald Sie die Narren, Unfähigen und Egoisten in der Gruppe identifiziert haben, ist es am besten, sie zu feuern und sogar Vergnügen daran zu finden, jene loszuwerden, die die ganze Gruppe ausbremsen. Es ist nicht immer schlecht, unter seinen Adjutanten einen Hauch von Angst zu schüren.
Betrachten Sie es einmal so: Wir sind von Natur aus dazu gezwungen, uns näher auf das zuzubewegen, was männlich oder weiblich ist, weil wir uns zu einer anderen Person hingezogen fühlen. Aber wenn wir klug sind, erkennen wir, dass wir genauso auch nach innen schauen müssen. Jahrhundertelang haben Männer Frauen als Musen und Inspirationsquellen betrachtet. Die Wahrheit ist, dass die Muse für beide Geschlechter in uns selbst liegt. Wenn wir uns auf unsere Anima oder unseren Animus zubewegen, kommen wir unserem Unterbewusstsein näher, das viele ungenutzte kreative Ressourcen birgt. Die Faszination, die Sie in Bezug zum weiblichen oder männlichen Aspekt bei anderen spüren, spüren Sie dann auch in Bezug auf Ihre Arbeit, Ihren eigenen Denkprozess und das Leben im Allgemeinen. So wie bei den Schamanen wird die innere Frau oder der innere Mann eine Quelle ungeahnter Kraft werden.
Das Schönste an männlichen Männern ist etwas Feminines; das Schönste an weiblichen Frauen ist etwas Maskulines.
Susan Sontag