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»Jackson Caulfield!«, kreischte ein junges Mädchen hinter Lucy, der fast das Trommelfell platzte.
Nicht schlecht für ein Häschen, dachte Lucy. Die fransigen blonden Haare und die blauen Augen waren absolut nicht Lucys Ding, aber sie konnte nachvollziehen, warum Millionen von Häschen – einschließlich Olivia – so ausflippten. Jackson lächelte, und als er der Menge zuwinkte, klappte seine grüne Armeejacke auf und das T-Shirt einer Rockband kam darunter zum Vorschein.
»In echt ist er noch viel süßer«, flüsterte Olivia, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
»Jackson!«, kreischte erneut eine Stimme hinter Lucy. »Kann ich ein Autogramm haben?« Das Mädchen, das eine rosa-blau gepunktete Jacke trug, beugte sich über Lucys Schulter und fuchtelte mit einer zerknitterten Zeitschrift herum, auf deren Titelblatt er abgebildet war.
Jackson kam herübergeschlendert, wobei Jerome und ein anderer Sicherheitsmann alles genau im Auge behielten. »Klar bekommst du eins«, sagte er mit einem leichten Südstaatenakzent.
Das aufgeregte Kreischen des Mädchens wurde mit jedem Schritt, den Jackson auf sie zu machte, lauter. Lucy sah, dass Olivia zur Seite gerückt war, um sie an die Absperrung zu lassen.
»Wie heißt du?«, fragte Jackson ganz entspannt, während er dem Mädchen das Autogramm gab. Sie kreischte noch lauter und fing an zu weinen.
Lucy stieß ihre Schwester an. »Warum sagst du nicht Hallo?«, flüsterte sie.
»Ich kann nicht!«, hauchte Olivia.
Was ist denn los?, dachte Lucy. Olivia hat doch sonst nie Schwierigkeiten, Leute anzuquatschen!
Lucy pikste Olivia in die Seite, sodass sie aufjaulte.
Jackson blickte sie direkt an und lächelte.
»Hi, Jackson«, sagte Camilla direkt hinter Olivia.
»Hallo«, sagte er. »Wie heißt du?«
»Ich bin Camilla«, sagte sie. »Du warst absolut toll in The Right One.«
»Danke«, antwortete er mit einem lässigen Grinsen. »Das war bisher mein Lieblings-Dreh.«
»Und ich heiße Sophia.« Sophia hielt ihre Kamera hoch. »Darf ich ein Bild machen?«
»Klar«, sagte er und lächelte, als er für das Foto posierte. Dies rief eine Mischung aus Seufzern und Schreien in der Menge hinter ihnen hervor, während Sophia knipste.
»Und wer bist du?«, fragte er.
Olivia ist ihm aufgefallen!, dachte Lucy aufgeregt.
»Ähm, hi«, sagte Olivia und starrte auf ihre mit Kunstpelz gesäumten Stiefel hinunter.
»Das ist Olivia«, half Lucy ihr aus.
Jackson beugte sich ein wenig vor und sagte leise: »Es war wirklich nett von dir, dass du das Mädchen vorgelassen hast.«
Noch immer sagte Olivia kein Wort. Sie schaffte es lediglich, auf seine Cowboystiefel zu starren. »Das liegt daran, dass Olivia echt nett ist«, erwiderte Lucy.
Warum ist sie denn stumm wie ein Fisch?, dachte Lucy. Wenn sie jetzt nichts sagt, wird sie das bis in alle Ewigkeit bereuen! Vielleicht sogar noch länger.
»Iihaa«, platzte Olivia heraus.
Ach du große Finsternis, jetzt ist sie verrückt geworden!, dachte Lucy. Olivias rosafarbenem Gesicht nach zu urteilen, wusste sie wohl selber nicht, warum im Namen der Fledermaus sie das hervorgestoßen hatte.
»Ich meine, ähm … hübsche Stiefel«, murmelte Olivia. Ihre Wangen wurden knallrot.
»Danke«, erwiderte Jackson kichernd.
Hinter ihm stieg eine Frau in einem Business-Anzug aus dem Geländewagen und quasselte in ein Handy.
»Ich bin für sein Image verantwortlich«, sagte sie gerade, »deshalb wird es kein Clownskostüm geben.«
Sie winkte Jackson zurück zum Wagen.
Eine der Friseurinnen lehnte sich über die Absperrung und versuchte, Jacksons Aufmerksamkeit zu erregen. »Hey, Jackson!«
Aber er wandte den Blick nicht von Olivia ab. »Das ist meine Managerin. Ich muss jetzt arbeiten. Freut mich, dass dir meine Stiefel gefallen.« Er lächelte. »Ich mag deine flauschigen Ohrenschützer.«
Dann winkte Jackson der Menge zu und verschwand zwischen den Wagen auf dem Parkplatz.
»Jackson, ich liebe dich!«, rief ihm das Mädchen mit der getupften Jacke nach.
Lucy dachte immer noch darüber nach, wie viel Aufmerksamkeit Jackson Olivia geschenkt hatte.
»Er ist so nett!«, verkündete Sophia.
»Und echt süß«, fügte Camilla hinzu. »Nicht wahr, Olivia?«
Olivia schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe gerade einen kompletten Vollidioten aus mir gemacht! Iihaa, hübsche Stiefel? Schlimmer geht’s ja nicht!«
Brendan gluckste. »Du hast ausgesehen wie eine Tomate mit flauschigen rosa Ohrenschützern.«
»Stimmt doch gar nicht!«, sagte Lucy. »Sie hat ihn mit ihrer Schönheit verzaubert.«
»So viel zum Thema cool bleiben, wenn man auf Promis trifft«, murmelte Olivia.
»Aber er ist nicht nur irgendein Promi«, sagte Camilla. »Er ist Jackson Caulfield!«
»Das macht es nur noch schlimmer!«, stöhnte Olivia.
Doch Lucy glaubte nicht, dass es so peinlich gewesen war. Jackson hatte gar nicht mehr den Blick von Olivia abwenden können – so viel war klar. Lucy spürte, wie langsam eine Idee in ihr reifte. Vielleicht war das neueste Häschen in Franklin Grove genau der Richtige für ihre Schwester? Sie selbst war so glücklich mit Brendan und wünschte Olivia das gleiche Glück.
»Können wir jetzt bitte etwas essen gehen?«, flehte Brendan und unterbrach damit ihre Gedanken.
»Hauptsache, mir bleiben weitere Peinlichkeiten erspart«, sagte Olivia.
»Wie wäre es, wenn wir zurück zu Mister Smoothie’s gingen?«, schlug Camilla vor.
»Lieber würde ich mir mein eigenes Grab schaufeln«, entgegnete Lucy. »Ich muss jedenfalls nach Hause, bevor Vater wegfährt.«
»Kein Burger?«, schmollte Brendan und blickte sehnsüchtig zurück zum Meat & Greet.
»Kein Burger heute. Es sei denn, du gibst dich mit einer Filmversion aus Stärke und Klebstoff zufrieden.« Lucy ergriff Brendans Hand, als sie weggingen.
Sie schlängelten sich durch die Menschenmenge, die noch immer nach vorne drängte, um einen Blick auf Jackson zu erhaschen.
»Entschuldigung«, sagte Olivia, als sie sich an drei kleinen Mädchen vorbeidrückte, die auf und ab hüpften.
»Sorry.« Camilla stieß mit einem dünnen Lieferanten zusammen, der noch warme Pizzaschachteln in der Hand hatte.
»Vorsicht!«, sagte Sophia, als eine Frau mit Pekinese gegen ihre Kamera stieß.
Dann nahm Lucy die Sache in die Hand. So laut sie konnte, sagte sie zu Olivia: »Wie meinst du das, du magst Jackson Caulfield nicht?«
Die Menge schnappte nach Luft und teilte sich – fast so, als hätte sie Angst davor, von Jackson-feindlichen Gefühlen angesteckt zu werden.
»Du hältst ihn für einen schlechten Schauspieler?«, rief Lucy, und die Gasse wurde noch breiter. Olivia verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Lucy!«, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»So kommen wir aber doch durch, oder?«, flüsterte Lucy.
»Puh«, sagte Brendan, als sie es schließlich geschafft hatten.
Sobald sie um die Ecke bogen, stießen Sie mit Charlotte und ihrer Eskorte zusammen, die gerade mit Smoothies in der Hand zurückkamen. Alle drei Cheerleader hatten leicht blau verfärbte Lippen. Lucy ging auf, dass sie sich wohl für Beauty-Boosting Blueberry entschieden hatten. Charlotte hatte inzwischen ihre Tasche umgedreht, damit niemand das Logo lesen konnte.
»Wir haben gehört, dass im Meat & Greet irgendetwas los sein soll.« Charlotte wollte Informationen aus Olivia herauskitzeln, doch Lucy ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen.
»Oh ja.« Lucy zwang sich, besorgt auszusehen. »Da waren Dutzende von Männern – und der Gestank war entsetzlich!«
Charlotte rümpfte die Nase. »Gestank?«
Brendan kapierte schnell. »Vielleicht ein Rohrbruch oder irgendetwas mit der Kanalisation?«
»Wenn ich du wäre, würde ich das ganze Gebiet meiden«, sagte Lucy. Unsere kleine Miss Hochnäsig wird sich gedulden müssen, bis sie den heißesten Hollywood-Schauspieler zu Gesicht bekommt, dachte sie. Früher oder später würde Charlotte natürlich dahinterkommen, aber wohl eher später.
Charlotte dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Ich wollte ohnehin ins Einkaufszentrum.«
»Wir könnten uns Taschen anschauen«, schlug Katie vor und erntete dafür einen scharfen Blick von Charlotte.
Als die drei Mädchen weg waren, drohte Olivia Lucy mit dem Finger. »Das war aber nicht nett.«
»Ich weiß«, sagte Lucy, und ein angenehmes Prickeln überlief sie ob ihrer eigenen Bosheit.
Als Lucy und Olivia auf dem Undertaker Hill ankamen, rollte ihr Vater gerade einen kleinen Koffer über die Veranda. In seiner schicken Jacke und dem frischen weißen Hemd blickte er ein wenig finster drein, aber sobald er die Mädchen sah, verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Er zog den Koffer hinüber zum Auto. »Perfektes Timing! Ich wollte warten, bis ihr zurückkommt, aber da ihr jetzt hier seid, kann ich vielleicht den früheren Flug nehmen. Hattet ihr einen schönen Nachmittag?«
»Olivia hat die Liebe ihres Lebens getroffen«, sagte Lucy.
»Nein, hab ich nicht!« Olivia Stimme klang eine Oktave höher als sonst. Sie räusperte sich. »Er ist nur ein Schauspieler, den ich toll finde.« Sie versuchte, den peinlichen Auftritt aus ihren Gedanken zu verdrängen. »Und bestimmt hält er mich für eine Vollidiotin.«
Mr Vega zog eine Augenbraue nach oben. »Bestimmt nicht.«
Wie Lucy gesagt hat, dachte Olivia, er ist der beste Vater, den man sich wünschen kann.
»Ein Filmstar ist allerdings etwas völlig anderes als ein normaler Freund, wie du ihn wolltest«, sagte Mr Vega.
»Genau«, erwiderte Olivia. Es spielt sowieso keine Rolle, dachte sie. Tomate mit Ohrenschützer hin oder her – ich hätte niemals eine Chance bei ihm.
»Gut, Mädels«, sagte Mr Vega. »Audrey kommt in zwei Stunden und holt euch ab. Ich hoffe, dass wir noch viel mehr Zeit miteinander verbringen können, wenn ich wieder da bin. Wie eine richtige Familie.« Er drückte Lucy einen Kuss auf die Stirn, dann streckte er die Arme nach Olivia aus, damit sie sich alle zusammen umarmen konnten. Jede Umarmung von ihrem echten Vater fühlte sich an wie zehn Umarmungen, als würde er wiedergutmachen wollen, dass sie so lange voneinander getrennt gewesen waren.
»Aber nicht bei Mister Smoothie’s.« Grinsend stieg Mr Vega in den Wagen.
Olivia kicherte. Als ihr Vater wegfuhr, sagte Olivia zu Lucy: »Jetzt sind wir eine richtige Familie, nicht wahr?«
Lucy nickte. »Und ich kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Hilfst du, die Sachen zum Übernachten zu Ende zu packen?«, fragte sie.
Es brauchte nur einen einzigen Blick auf das unschuldige Lächeln ihrer Schwester. Olivia bedachte Lucy mit der besten Imitation von deren typischem Todesblick. »Du glaubst wohl, ich bin von gestern«, sagte sie und verschränkte die Arme.
Lucy brach in Gelächter aus. »Okay, okay. Hilfst du mir, mit Packen anzufangen?«