Haeschen.tif

5

Ich hoffe, Lucy hat genauso viel Spaß wie ich, dachte Olivia. Als Lucy sie mit Jackson allein gelassen hatte, überkam sie zuerst Panik, aber er sorgte dafür, dass sie sich wohlfühlte.

»Und das hier ist die Futterstelle«, sagte Jackson, als sie vor der Tür eines riesigen Sattelzugs mit achtzehn Rädern standen. Das Innere war von Flutlichtern hell erleuchtet und es roch köstlich. »Übersetzung: die Cafeteria.«

Im Lastwagen war es viel wärmer als draußen. Darin befanden sich lange Theken, auf denen genug Essen stand, um vier hungrige High Schools satt zu bekommen. Leute standen mit dampfenden Tellern an und Köche arbeiteten an mehreren tragbaren Herden. Es sah aus wie in einem mobilen Feinschmeckerrestaurant.

»Ich dachte, wir essen hier mal etwas Kleines«, sagte Jackson. »Ich werde bald aufgerufen, und es könnte die Stimmung drücken, wenn mir beim Filmen der Magen knurrt.«

»Du leitest die Besichtigungstour«, sagte Olivia, »wohin du auch gehst, ich werde dir folgen.« Dann wurde sie rot, weil sie merkte, dass sie schon wieder wie ein Stalker klang. Doch Jackson schien das nicht aufzufallen, er führte sie zu einer Schlange und sie stellten sich hinter ein paar Crew-Mitgliedern an.

Die Köche servierten alles von Entensalat über Pasta mit Trüffeln bis hin zu raffiniert aussehenden Minipizzen. Es gab sogar zwei Reihen Sushi auf Eis.

»Du kannst dir aussuchen, was immer du willst«, bot Jackson an, aber Olivia war vom Abend zuvor noch ziemlich satt.

»Vielleicht nehme ich einfach nur Obst«, sagte sie zu dem grauhaarigen Koch mit dem faltigen, aber freundlichen Gesicht. Auf seinem Namensschild stand »Curtis«. »Ich habe reichlich gefrühstückt.«

»Wie du willst.« Curtis zuckte mit den Schultern und reichte ihr ein Plastikschälchen mit frischen, farbenfrohen Fruchtstücken.

Als Jackson an der Reihe war, zog er seine Sonnenbrille nach unten, damit Curtis ihn erkennen konnte. Curtis lachte. »Genau zur richtigen Zeit, wie immer.«

Curtis stellte die Zeit an einem kleinen Mikrowellenherd ein. »Weißt du«, sagte er mit seiner rauen Stimme, »die Leute werden irgendwann spitzkriegen, dass du immer verschwindest. Deine Managerin ist auf der Suche nach dir schon zweimal hier hereingestürmt.«

»Sie würden mein Geheimnis doch nicht verraten, oder?«, erwiderte Jackson.

»Natürlich nicht«, sagte Curtis. »Wie sollte ich sonst meine Tochter mit Jackson-Caulfield-Fanartikeln versorgen?«

Die Mikrowelle machte »pling« und Curtis zog einen Burger in einer kleinen Pappschale heraus. Er beugte sich vor und flüsterte vernehmlich: »Ein ordentliches Stück Kuh, in Käse gebettet, das nur auf dich gewartet hat.«

Olivia rümpfte die Nase. Jacksons Geschmack entsprach wohl eher Lucys als ihrem eigenen. Unwillkürlich wurde er dadurch in ihren Augen ein bisschen weniger … perfekt.

Sie setzten sich zwischen ein paar Crew-Mitglieder und eine Gruppe jüngerer Mädchen an einen Tisch und Jackson machte sich über seinen Burger her. Olivia wollte ihn nicht beim Essen beobachten, deshalb sah sie sich all die Leuten an, die in diesem riesigen Sattelschlepper saßen und vor sich hin mampften: ganz in schwarz Gekleidete, Leute mit komplettem Make-up, und müde aussehende Menschen, die über Papierstapeln brüteten.

»Erzähl mir von dir«, sagte Jackson zwischen zwei Bissen.

»Was möchtest du wissen?«, fragte Olivia. Sie pickte sich ein saftiges Stück Orange aus ihrem Obstschälchen.

»Was ist dein Lieblingsfilm?«

Olivia blickte wieder auf das Schälchen hinunter, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie wollte nicht zugeben, dass es einer von seinen war. »Ich, ähm, mir gefallen so viele. Ich könnte mich nicht für nur einen entscheiden.«

»Wie steht es mit Büchern?«, fragte er und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Das war einfach. »Ich bin ein ganz großer Graf-Vira-Fan«, erwiderte sie.

»Ich auch!« Er ahmte einen starken transsilvanischen Akzent nach. »Komm her, mein Liebling, ich werde dir den Atem rauben.«

Olivia erkannte das Zitat aus Dreimal gebissen. Sie wusste auch, wie es weiterging. »Aber was ist mit meinen Auftraggebern?«, sagte sie atemlos.

Jackson lächelte und spielte mit. »Sie werden dich nicht vermissen, Kleines. Ich bin dein Schicksal!«

Olivia kicherte. »Ich liebe diese Geschichte.«

»Ich auch«, sagte Jackson.

Olivia biss sich auf die Lippen. Wir mögen dieselben Bücher!, dachte sie.

Die Mädchen neben ihnen fingen an zu kreischen.

»Ich kann nicht glauben, dass wir am selben Filmset wie Jackson Caulfield Komparsen sind«, sagte eine von ihnen; sie hatte braune Zöpfe. »Er ist soooo toll!«

»Was, wenn wir eine Szene mit ihm drehen?«, erwiderte ein Mädchen, das eine blaue Strähne im Haar hatte.

»Ich weiß, wie wir ihm ganz sicher begegnen können«, sagte ein Mädchen mit einem niedlichen Freizeithut. »Wir lungern einfach vor diesem Lastwagen herum, und wenn er kommt, tun wir so, als hätten wir uns verlaufen.«

Olivia musste sich ein Stück Wassermelone in den Mund stecken, um das Lachen zu unterdrücken. Jackson sah sie über die Gläser seiner Sonnenbrille hinweg an und zwinkerte.

Sie verbrachte so eine schöne Zeit mit ihm. Wären die Fans nicht gewesen, hätte man denken können, Jackson sei ein ganz gewöhnlicher Junge – kein berühmter Filmstar. Olivia fragte sich einen Augenblick lang, was passieren würde, wenn er ein ganz normaler Mensch wäre. Hätten sie eine Chance?

»Aber wir müssten darauf achten, dass wir nicht ihr begegnen«, sagte Braune-Zöpfe.

»Iiih, allerdings«, sagte die mit dem Freizeithut. »Sie ist so eine Diva!«

»Ich habe gehört, dass sie schon drei Friseure und zwei Caterer gefeuert und darauf bestanden hat, ihre eigenen mitzubringen«, sagte Blaue-Strähne.

»Von wem reden sie?«, flüsterte Olivia Jackson zu, der jetzt Gott sei Dank dazu übergegangen war, seine Pommes zu essen.

»Bestimmt über den anderen Star des Films.« Jackson zuckte mit den Schultern. »Jessica Phelbs. Aber ich wette mit dir – wenn sie danach gefragt wird, dann behauptet sie, es gäbe in dem Film außer ihr keinen anderen Star.«

Jessica Phelbs war über Nacht berühmt geworden, als sie die weibliche Hauptrolle in einem New Yorker Modefilm bekam. Sie war auf den Titelblättern aller Zeitschriften abgebildet gewesen, einschließlich der neuen Ausgabe von Promis der Woche. Olivia wurde klar, wie wichtig diese Produktion sein musste, wenn zwei so große Stars mitspielten. »Worum geht es eigentlich in dem Film?«

Jacksons Gesicht hellte sich auf. »Er hat ein großartiges Konzept! Als ich die Zusammenfassung gehört hatte, wollte ich sofort den Vertrag unterschreiben. Der Film heißt The Groves. Ein Typ namens Chase macht Urlaub und verliebt sich in eine andere Touristin namens Mia. Nach einem wundervollen Date am Strand reisen ihre Eltern schnell mit ihr ab, bevor er sie nach ihrer Telefonnummer fragen kann. Er kann nicht aufhören, an sie zu denken, und alles, was er weiß, ist, dass sie in Franklin Grove lebt. Das Problem ist, dass es fünf Franklin Groves gibt, die überall in Amerika verstreut sind. Er macht sich mit drei Freunden auf den Weg, um jedes einzelne davon abzuklappern, bis er sie gefunden hat. In jedem Franklin Grove stellt er sich vor, wie es sein würde, wenn er sie endlich findet. Heute filmen wir das erste Treffen, das in seiner Vorstellung stattfindet.«

Olivia war völlig gefesselt von der Geschichte. »Das klingt so romantisch.« Seine Begeisterung darüber ließ ihn noch viel bezaubernder erscheinen. »Ich kann es kaum abwarten, den Film zu sehen.«

»Es wird nicht lange dauern«, erwiderte er. »Der Film kommt noch vor Ende des Schuljahrs heraus. Man spricht sogar darüber, im Herbst eine Fortsetzung zu drehen.«

Olivia machte ein finsteres Gesicht. »Heißt das, dass Chase und Mia am Ende gar nicht zusammenkommen?«

»Nun, dann müsste ich ja erzählen …«

In einem Lautsprecher in der Ecke knackte es und dann ertönte Amys verärgerte Stimme : »J. C. fängt in einer halben Stunde mit dem Dreh an. Falls ihn irgendjemand sieht, soll er ihn sofort zu seinem Wohnwagen bringen!«

»Oooops, das ist mein Stichwort.« Jackson schob sich die letzten zwei Pommes in den Mund. »Ich gehe jetzt besser und lasse mich von jemandem ausliefern.« Olivias Herz wurde schwer. Ihre persönliche Besichtigungstour war hiermit beendet. »Beim Make-up brauche ich immer zusätzlich Zeit, um meine Bräune aufzufrischen.«

»Verbringt ihr Hollywood-Jungs nicht den ganzen Tag in der Sonne?«, neckte ihn Olivia.

»Ich bin kein großer Freund von Sonne und Strand«, gestand Jackson. »Ich habe mir überlegt, mir ein Haus fernab der brütenden Hitze Beverly Hills’ zu kaufen.«

Olivia hatte gerade einen der besten Vormittage ihres Lebens verbracht und wollte nicht, dass er zu Ende ging. Als sie Luft holen und sich verabschieden wollte, griff Jackson in seine Tasche und zog einen laminierten Ausweis heraus, auf dem »VIP-Gast« stand.

Er setzte seine Sonnenbrille und seine Mütze ab und wandte sich so gut es ging von allen anderen ab. Seine blauen Augen waren faszinierend. »Bitte geh noch nicht. Mit diesem Pass kommst du überall rein. Bleib hier und schau beim Dreh zu.«

Ein Ausweis, mit dem sie überall Zugang hatte! »Klar«, sagte Olivia und bemühte sich, nicht vor Begeisterung herumzuhüpfen.

Dann setzte Jackson die Sonnenbrille wieder auf und schlenderte davon. Bevor er vom Lastwagen sprang, winkte er ihr kurz zu. Niemand würdigte ihn eines zweiten Blickes. Olivia blieb noch einen Moment sitzen und starrte auf ihren glänzenden Ausweis.

Sie hatte gerade mit einem der größten Hollywood-Stars zu Mittag gegessen, aber es hatte Momente gegeben, in denen ihr das ganz selbstverständlich vorgekommen war. War er womöglich der Eine, auf den sie gewartet hatte?

Sei nicht albern, ermahnte sie sich selbst. Jackson war super berühmt und hatte nie und nimmer echtes Interesse an ihr. Er war einfach nur nett.

Zeit, Lucy zu finden, dachte Olivia. Sie eilte in die Kälte hinaus und versuchte, ihre Zwillingsschwester anzurufen, doch Lucys Handy war ausgeschaltet. Sie würde sie suchen müssen. Sie umklammerte ihren neuen Ausweis und machte sich auf den Weg, in der Hoffnung, dass Lucy nicht bereits entdeckt und vom Set geworfen worden war.

Als sie an einer Reihe Wohnwagen vorbeikam, packte ein Mann mit Glatze sie bei der Hand und wirbelte sie herum.

»Oh, ja, Süße!«, rief er. »Ich bin so was von gut. In diesem Licht wirkt deine Haut makellos. Wundervoll!« Er schnipste dreimal zackig mit den Fingern und tänzelte davon.

Olivia hatte keine Ahnung, wer das war oder wovon er geredet hatte. Aber von einem vollkommen Fremden als wundervoll bezeichnet zu werden, reichte aus, um diesen ganz besonderen Tag … na ja … perfekt zu machen.

»Komparsen bitte«, rief ein Mann mit Kopfhörer, dessen Ohrstücke größer waren als ein Burger im Meat & Greet. Er flitzte zurück in das Restaurant, und Lillian scheuchte die Gruppe modisch angezogener Teenies die Stufen hinauf nach drinnen. Eines der Mädchen trug ein weißes gewickeltes Wolloberteil mit regenbogenfarbenen Knöpfen, ein anderes hatte einen dunkelvioletten Pullover mit Schlitzausschnitt an. Sie sahen aus, als wären sie einer Jeanswerbung entsprungen.

»Es ist ja nicht so, dass sie vor dem Mittagessen noch heiraten werden«, sagte Sophia gerade. »Du kannst später, wenn wir sie sehen, von deiner Theorie erzählen. Außerdem ist das ja nur eine Theorie.«

»Aber wenn sich Olivia wirklich in ihn verliebt …«, fing Lucy an.

»Komm schon, Lucy, nichts weist bisher darauf hin.« Sophia drängte Lucy zusammen mit der Menge weiter. Sie sah echt grottig aus mit ihrer chaotischen Hochfrisur und dem langärmligen schwarzen Schlauchkleid. Es war das erste Mal, dass Lucy ihre älteste Freundin mit einer Halskette anstatt einer Kamera um den Hals sah.

Lucy hatte jede einzelne Minute genossen, in der sie im Kostümwohnwagen die Kleiderständer für die Komparsen durchwühlt hatten. Für sich selbst hatte sie ein weites dreilagiges Strickoberteil in Grau, Malve und Schwarz ausgesucht, dazu eine schwarze Jeans. Sie hatte sich mit der Schmuck-Assistentin angefreundet, die ihr ein paar schwere Silberarmreifen geliehen hatte, die klirrten, wenn sie sich bewegte. Fantastisch!

Doch etwas drohte ihr den Spaß zu verderben, als würde eine dunkle Wolke über ihr schweben. Olivia hatte mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich nie mit einem Vampirjungen abgeben würde.

Wenn ich Olivia jetzt mit einem Vampir verkuppelt habe, könnte es ihr das Herz brechen, dachte Lucy. Und alles wäre meine Schuld.

Lucy folgte der Gruppe durch das Restaurant, während sie darüber nachgrübelte.

»Hey, pass doch auf!« Sophia packte Lucy am Arm, und diese erschrak. »Sieh mal!« Sophia zeigte auf den Boden.

Lucy wäre fast in ein Kabelgewirr getreten.

Lillian kam zu ihnen geeilt. »Katastrophe verhindert. Danke«, sagte sie zu Sophia. »Wenn ihr an diesen Kabeln gezogen hättet …« Lillian deutete auf die Lichter über ihren Köpfen … dann wäre das alles heruntergekracht.«

»Ach, du liebes bisschen«, erwiderte Lucy. »Das tut mir so leid!« Lucy wollte keinen Anlass zu Problemen am Set geben. Oder alles ruinieren.

Sophia zog Lucy sicher um die Ausrüstung herum.

Das Produktionsteam hatte im Meat & Great alle normalen Restaurantnischen entfernt, außer die letzte Reihe und einen Platz im Vordergrund, auf dem offenbar die Stars sitzen würden.

»Du mit dem violetten Pullover, setz dich hier hin«, sagte Lillian, als sie die etwa zwanzig Komparsen um die Tische herum gruppierte. »Und du, T-Shirt-Junge, du bist dort.«

Lucy und Sophia wurden zusammen in eine Nische ganz rechts gesetzt. Als Lillian künstliches Essen vor ihnen auf den Tisch knallte, zog sich Lucys Magen zusammen – sie hatte noch immer nichts Vernünftiges gegessen. Der Plastik-Burger sah allmählich richtig verlockend aus.

»Denkt daran«, sagte Lillian. »Ihr tut so, als würdet ihr euch unterhalten, wenn die Kameras laufen.« Sie öffnete und schloss den Mund geräuschlos. »So tun, verstanden?«

Lillian trat zurück und runzelte die Stirn. »Moment mal! Da fehlt doch eine. Wohin ist diese Blonde gegangen?«

Die Tür des Meat & Greet wurde aufgerissen und alle drehten sich um. Lucy und Sophia schnappten nach Luft, aber niemand sonst schenkte dem Neuankömmling Beachtung. Es war Charlotte Brown in einem unfassbar blauen Kleid mit Federn, und sie stöckelte auf superhohen Absätzen auf Lillian zu. Sie sah aus, als würde sie auf einen Abschlussball gehen.

»Sie erfriert bestimmt fast«, bemerkte Sophia.

»Tut mir leid, ich bin spät dran. Die Kostümabteilung konnte nichts Passendes finden, deshalb musste ich ein paar Notkäufe tätigen.« Sie wirbelte im Kreis, ohne den Unmut auf Lillians Gesicht zu bemerken.

Lillian verschränkte die Arme. »Glaubst du nicht, dass das für ein Abendessen ein wenig zu dick aufgetragen ist?«

»Oh, ich trage so etwas andauernd.« Charlotte fuchtelte herum und wäre beinahe aus ihren Riemchensandalen gekippt.

Lucy merkte, wie sich Ärger zusammenbraute. Charlotte hatte offenbar herausgefunden, dass das Meat & Greet nicht aufgrund eines Rohrbruchs geschlossen war, und wenn sie Lucy erst mal entdeckte, würde sie es ihr bestimmt heimzahlen. Wie hat sie es geschafft, so schnell ans Set zu kommen?, fragte sich Lucy, während sie sich auf ihrem Sitz zusammenkauerte und die Haare über ihr Gesicht fallen ließ.

Lillian setzte Charlotte neben einen Typen mit Beanie-Mütze und Cargo-Hose, ungefähr so weit von der Kamera entfernt, wie es nur irgend ging. Lucy richtete sich wieder ein wenig auf; Charlotte konnte sie von dort, wo sie saß, nicht sehen.

»Non, non, non!«, schrie ein kleiner Mann mit einem Ziegenbart und einem starken französischen Akzent. »Die Farben, die Farben!«

»Tut mir leid, Philippe«, sagte Lillian. »Ich könnte …«

Aber er fuchtelte ihr vor dem Gesicht herum. Er kam herüber und fing an, Leute von ihren Tischen zu zerren und neu zu arrangieren. Lucy wurde klar, dass das der Regisseur war, wahrscheinlich bräuchte er gut sechs Monate in einem Yoga-Seminarhaus, um inneren Frieden zu finden. Philippe war wie eine gereizte Hornisse, die alle anbrummte.

Er marschierte zu Charlottes Tisch. »Du, in diesem Blau!«

»Moi?« Charlotte hörte sich an, als würde sie denken, er würde ihr gleich eine Hauptrolle anbieten.

»Zieh das aus!«

»W-was?«, stotterte Charlotte.

Lucy, Sophia und ein paar andere beugten sich vor, um zu sehen, was passierte.

»Non, non. Du wirst die Blicke ablenken.« Er schnippte mit den Fingern und zeigte auf eine graue Jacke, die an der Lehne des Regisseurstuhls hing. Der Mann mit den Kopfhörern eilte mit der Jacke herbei und Philippe schleuderte sie Charlotte hin. »Zieh das an und komm mit mir.«

Kläglich tat Charlotte, was man ihr sagte, und schälte sich eilig aus der Nische. Er packte sie an der Hand und zog sie zu einem anderen Tisch. Charlotte stolperte ihm hinterher und versuchte, Schritt zu halten.

Lucy schaute weg, aber nicht schnell genug. Charlotte entdeckte sie und warf ihr einen so tödlichen Blick zu, dass Lucy stolz auf sie gewesen wäre … wenn nicht sie diejenige gewesen wäre, der er gegolten hatte.

»O je«, sagte Sophia. »Erwischt.«

»Im Moment kann sie nichts unternehmen«, flüsterte Lucy zurück. »Das würde sie nicht riskieren.«

Nachdem Charlotte – grau und glanzlos – einen Tisch weiter platziert worden war, klatschte der Regisseur in die Hände. »Wo sind meine Schauspieler? Wo? Wo?« Er warf sich auf seinen Stuhl und bedeckte die Augen mit seinen Händen.

Die Tür der Restaurants öffnete sich erneut und wie aufs Stichwort kam Jackson mit dem Skript in der Hand herein. Keine Spur von Olivia; Lucy fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht war die private Besichtigungstour ja schrecklich gewesen, und Olivia hatte beschlossen, dass sie doch kein Interesse hatte. Damit hätte Lucys Verkupplungskatastrophe ein rasches Ende gefunden. Ich hoffe, es geht ihr gut, dachte Lucy.

Philippe sprang gestikulierend von seinem Stuhl auf. »Das kann ich nicht glauben. Kennst du deinen Text noch nicht?«

Jackson drückte Philippe den Papierstapel in die fuchtelnden Hände. »Wie ein Zauberer seine Formeln. Ich brauche das Skript gar nicht.«

»Das ist Vamp-Slang«, zischte Lucy.

»Ich würde eher sagen, es ist Zauberer-Slang«, flüsterte Sophia zurück.

»Aber er war so ruhig«, widersprach Lucy. Er blieb cool, genau wie ein Vampir.

»Er ist bestimmt an alle möglichen verrückten Regisseure gewöhnt«, hielt Sophia dagegen.

Jackson merkte, dass sie ihn anstarrten, und winkte ihr und Sophia kurz zu. Was, wenn er mit seinem super Vamp-Gehör mitbekommen hat, dass wir über ihn reden?, dachte Lucy. Hmm. Ich könnte ihn prüfen.

»Sophia«, flüsterte Lucy so leise sie konnte, wobei sie Jackson nicht aus den Augen ließ. »Ich habe gehört, dass Jackson Maniküre bekommt.« Das hatte sie erfunden, aber sie dachte, er könnte reagieren, wenn er es mitbekam.

»Wovon redest du?«, fragte Sophia, aber Lucy beobachtete Jackson.

Ist er zusammengezuckt? Lucy war sich nicht sicher. Aber er bewahrte die Fassung. Vielleicht benutzte er seine schauspielerischen Fähigkeiten, damit er keine Miene verzog?

Er ging mit einem Double ein paar Zeilen durch. Lucy verwünschte die Tatsache, dass sich Vampire so gut einfügten – vom bloßen Anschauen konnte sie nicht feststellen, ob er einer war oder nicht. Und sie konnte ihn ja wohl kaum verfolgen, bis er in den BloodMart ging – bei seinen Heerscharen von Fans tat er das sicher eh nicht.

Sophia schob ihr eine Serviette hin, auf die sie eine kleine Comicszene gezeichnet hatte. Darauf war ein wütend aussehender Mann mit einem Ziegenbart zu sehen, der eine Gruppe von verängstigten Strichmännchen anschrie. Lucy prustete, als sie ein eifrig wirkendes Strichmännchen in einem gefiederten Kleid entdeckte.

Zum dritten Mal ging die Tür auf und Schweigen legte sich über das gesamte Set. Ein Mädchen, das ein wenig älter war als Lucy, stand im Türrahmen; es sah von oben bis unten wie ein Filmstar aus in seiner dunklen Jeans, dem schulterfreien Oberteil und der langen Kette mit dem mondförmigen Anhänger. Eine Eskorte aus Leuten, die mit Make-up, Erfrischungen und Handys bewaffnet waren, wartete nervös, bis sie damit fertig war, den ganzen Raum zu mustern, und eintrat. Lucy bemerkte, dass zwei ihrer Begleiter erleichtert ausatmeten, fast so, als hätten sie damit gerechnet, dass etwas Schlimmes passiert.

»So weit, so gut«, flüsterte einer von ihnen, als sie an Lucys und Sophias Tisch vorbeikamen.

»Jessica Phelbs!«, flüsterte Sophia.

Berühmter als Jessica und Jackson konnte man gar nicht werden, sie standen ganz an der Spitze der Liste der prominentesten Schauspieler.

»Weißt du, was das bedeutet?«, flüsterte Sophia. »Wir sind nicht nur Komparsen … wir sind Komparsen im größten Film des Jahres!«

Jessica trat ein, als würde sie den Raum besitzen – was sie vermutlich könnte, wenn sie das wollte. Sie ignorierte alle außer Philippe und Jackson; ihnen hauchte sie einen angedeuteten Kuss auf beide Wangen.

»Deine Haare sehen hübsch aus«, sagte Jackson höflich.

Jessica lächelte. »Danke!« Sie schmiegte sich an ihn, als wäre er ein Teddybär. Lucy dachte zuerst, sie würde versuchen, schon mal für die richtige Stimmung zu sorgen, bevor die Kameras auf sie gerichtet wurden, doch Jackson nickte einfach nur und trat ein wenig beiseite.

Wenigstens reagiert er nicht auf jedes Filmsternchen, das sich ihm an den Hals wirft, dachte Lucy anerkennend.

»Bitte, ich möchte, dass ihr beide einen Durchlauf macht, bevor die Kameras laufen«, ordnete Philippe an.

»Das wollte ich auch gerade vorschlagen«, erwiderte Jessica.

Jackson und Jessica setzten sich in die Nische im Vordergrund und fingen an, ihren Text zu sprechen.

Sophia zeigte Lucy noch eine Serviette. Auf dieser waren ein Strichmännchen mit Ziegenbart und ein weibliches Strichmännchen mit welligem Haar abgebildet, die mit einer Kamera kämpften, während ein drittes Strichmännchen in einem Sessel lümmelte und ihnen zusah. Die Figur mit dem langen Haar hatte Jessicas Halskette um und das Männchen im Sessel hatte ein »I Love Olivia«-Tattoo auf dem Oberarm. Lucy konnte nicht anders – mitten in der Probe brach sie in schallendes Gelächter aus.

Alle hielten inne und starrten sie an.

Jessica schnappte nach Luft.

Philippe wurde hellrosa. »Was soll das?«, fragte er und zeigte auf sie. »Lillian! Was ist mit meinen stummen Statisten los? Sie sind nicht stumm!«

Lillian kam herüber, entdeckte Sophias Comicbildchen, unterdrückte ein Lächeln und zerknüllte das Bildchen hinter ihrem Rücken. »Tut mir leid, Philippe. Ich hatte ihnen nicht das Stichwort gegeben, dass ihr jetzt probt.« Lucy fühlte sich schrecklich, weil sie Lillian in Schwierigkeiten gebracht hatte.

»Das darf nicht mehr vorkommen, merci!«, sagte Philippe. »Wir arbeiten hier!«

Lillian nickte ernst, aber dann wandte sie sich ab und verdrehte die Augen. Sie zwinkerte Sophia zu, um ihr zu bedeuten, dass sie nicht böse war.

Jessica warf Lucy einen verärgerten Blick zu. »Nein, wir arbeiten nicht.«

»Pardon?«, sagte Philippe. Hinter ihm wechselten zwei Mitglieder des Filmteams einen Blick, als wollten sie Nicht schon wieder! sagen.

Jessica schniefte. »Ich kann unter diesen Bedingungen nicht arbeiten. Man hat mich in dieses Kaff geschleppt, wo es kalt ist und ich keine vernünftige Tasse Kaffee bekommen kann. Dann muss ich drei grässliche Friseure über mich ergehen lassen. Und dann können Sie sich nicht mal gute Komparsen leisten. Na, das können Sie jetzt – ich gehe nämlich!«

Alle schnappten nach Luft und Jackson sah erschrocken aus.

»Das k-kannst du nicht machen«, stotterte Philippe, und seine Wangen färbten sich noch dunkler. »Ich gehe vor Gericht!«

Jessica drehte sich auf dem Absatz ihrer schimmernden Heather-Carter-Schuhe um. »Ich kann mir bessere Anwälte leisten als Sie.«

Ihre Eskorte wieselte hinter ihr her und Todesstille senkte sich über das Restaurant.

In der Nische nebenan fauchte Charlotte: »Na großartig, jetzt hast du alles ruiniert.«

Lucy spürte, wie ihr Mund trocken wurde.

Hatten sie und Sophia jetzt den ganzen Film zunichtegemacht?