7
Als sich der Jubel gelegt hatte, fuhr Jackson fort: »Die Dreharbeiten müssen schon bald wieder aufgenommen werden, deshalb wird der Regisseur schnell jemanden aussuchen. Wer am Casting teilnehmen möchte, soll sich im Empfangswohnwagen am Eingang des Filmsets melden. Das werden wir auch über das Radio verbreiten. Außerdem zählen wir darauf, dass ihr es an eure Freunde weitersagt.«
Olivia klatschte wie alle anderen, als er von seinem Pfosten heruntersprang. Der Filmdreh war nicht geplatzt und Jackson würde nicht abreisen! Die Sicherheitsleute zogen die Absperrung auf, und ein anhaltender Strom von Mädchen und ein paar erwachsenen Frauen eilte auf den Wohnwagen zu, wobei sie immer wieder Blicke in Jacksons Richtung warfen.
»Ich hoffe, du wirst es auch versuchen, Olivia«, sagte Jackson, der jetzt wieder an ihrer Seite war. »Doch selbst wenn du es nicht tust – wenigstens kann ich jetzt noch ein bisschen länger hier bleiben.«
Olivia hoffte, dass er bleiben wollte, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können.
Amy Teller kam auf sie zu, ihr Handy schien mit Sekundenkleber an ihrem Ohr festgeklebt zu sein. »Genau«, sagte sie gerade. »Sein Name auf dem Poster muss größer sein – nein, noch größer.« Sie legte ihre Hand über das Telefon. »Das wird eine großartige Werbung für dich werden«, sagte sie zu Jackson. Ich habe schon Inside Hollywood angerufen, sie schicken sofort ein Kamerateam hierher.«
Sie bedeutete Jackson, ihr zu folgen.
»Wir sehen uns dann am Set«, sagte Jackson zu Olivia und winkte ihr zu.
Als er weg war, tat Camilla so, als würde sie ohnmächtig in Olivias Arme sinken. »Er bleibt hier! Und er will, dass du zum Casting kommst.«
»Er wollte nur nett sein.« Olivia zwang sich, vernünftig zu sein. »Er will, dass alle Mädchen hierherkommen, um die Chance zu erhöhen, die Richtige zu finden.«
Camilla schüttelte den Kopf. »Die Chemie zwischen euch ist so perfekt, dass man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte.«
Olivia verdrehte die Augen. »Jedenfalls wäre es genial, in einem Film mitzuspielen. Geht ihr zum Casting?«
Camilla schnaubte. »Keine Chance. Falls ich je in einem Film mitspielen sollte, dann in einem grünen Monsterkostüm mit Tentakeln.«
Sophia schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber hinter der Kamera stehen.«
»Ich bin nicht gerade das, was sie suchen«, sagte Lucy trocken.
Sieht Lucy ein wenig … besorgt aus?, fragte sich Olivia. Sie hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht war sie noch immer bedrückt wegen dem, was gestern am Set geschehen war.
Olivia hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. »Ich werde hingehen.«
Die kleine Gruppe jubelte, als sie zweimal in die Hände klatschte, wie beim Beginn eines Cheers. Dann machte sie sich auf den Weg zum Empfangswohnwagen. Hollywood, ich komme.
Da spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, und sie drehte sich um. Es war Lucy.
»Was ist los?«, fragte Olivia, während ihr die Vorfreude aus dem Gesicht wich.
Lucy schluckte. Sie wollte ihre Schwester nicht verletzen. Ohne Beweise kann ich nicht einfach damit herausplatzen, dass Jackson ein Vampir ist, dachte Lucy. Aber wenn sie gemeinsam in einem Film spielten, würde sich Olivia womöglich total in ihn verlieben. Was soll ich tun?
»Lucy?« Olivia runzelte die Stirn.
Gleichzeitig konnte Lucy nicht bestreiten, dass das vielleicht Olivias großer Durchbruch werden könnte. Der Regisseur müsste schon ein Zombie sein, wenn er ihr Potenzial nicht sähe.
Lucy seufzte. »Ich wollte dir nur viel Glück wünschen«, sagte sie und hoffte, dass sie Beweise finden würde, bevor über die Rolle entschieden wurde.
Olivia umarmte sie innig und eilte mit Camilla davon, um sich anzumelden.
»Das Entscheidende ist jetzt, dass wir die Wahrheit über Jackson Caulfield herausfinden«, sagte Lucy zu Sophia, während sie den beiden anderen nachsahen.
»Dass er total in deine Schwester verknallt ist?«, erwiderte Sophia.
Lucy tätschelte ihr den Arm. »Das weiß ich schon – genau deshalb müssen wir ja erfahren, ob er ein Vampir ist oder nicht. Hör zu, ich habe einen Plan.«
Lucy hatte vor, am anderen Ende des Filmsets ein Ablenkungsmanöver zu starten. Auf diese Weise konnten sie in den Cafeteria-Wagen eindringen, eine Schürze stehlen und so tun, als würden sie zum Küchenteam gehören. So konnten sie herausfinden, welche Nahrungsmittel in Jacksons Vertrag vorgesehen waren.
»Alles, was du zu tun brauchst«, sagte Lucy, »ist, ein wenig Verwirrung zu stiften.« Auf der Suche nach Inspiration sah sie sich um, dabei fiel ihr Blick auf einen Lautsprecher. »Du könntest zum Beispiel ins Megafon singen. Oder nackt übers Set rennen.«
»Ähm, super Idee«, sagte Sophia. »Nein und noch mal nein.«
»Da seid ihr ja!«, rief eine Stimme hinter ihnen. »Ich hatte gehofft, euch irgendwo am Set zu finden.«
Die Mädchen drehten sich um und sahen Lillian, die zweite Regieassistentin, die sie beide gestern als Komparsen aufgenommen hatte. Lucy hoffte, dass sie ihnen wegen gestern keine Gardinenpredigt halten würde.
»Hi«, sagte Sophia vorsichtig.
»Dein Cartoon war irrsinnig witzig«, sagte Lillian.
»Echt?« Sophias Stimme war so hoch, dass sie mit einer Fledermaus hätte quatschen können. Ziemlich cool, dass einer Regieassistentin aus Hollywood ihr Cartoon gefiel.
»Wir dachten schon, Sie würden uns jetzt für den Jessica-Zwischenfall grillen«, sagte Lucy.
»Nein, aber jetzt, wo ihr das erwähnt – ihr könntet es wiedergutmachen. Ich brauche Hilfe im Kostüm-Wohnwagen.«
»Gerne«, willigte Sophia ein.
Als sie zusammen über den Parkplatz gingen, erklärte Lillian: »Das gestern war ganz und gar nicht eure Schuld. Zuerst hat Jessica versucht, Übelkeit im Auto als medizinischen Befund vorzuschützen, um nicht an den Dreharbeiten teilnehmen zu müssen.«
»Aber es gab doch gestern gar keine Szene im Auto«, merkte Sophia an.
»Eben. Das war einfach nur eine weitere faule Ausrede, aus den Dreharbeiten rauszukommen.«
Lillian nahm die beiden mit in einen riesigen Kostüm-Anhänger und führte sie zu einem Kleiderhaufen. »Okay, ihr beiden, das hier muss aufgeräumt und aufgehängt werden.«
Lucy war überglücklich, an den Kleiderständern mithelfen zu können – hier gab es alle Arten von Oberteilen, Designer-Jeans und Hunderte verschiedener Gürtel und Sonnenbrillen.
Lucy fing an, Sophia mit den Hüten zu helfen.
»Jessicas nächste Ausrede war eine extreme Schneeallergie«, sagte Lillian. »Wir reagierten verständnisvoll und sagten, dass sie dann in den nächsten drei Monaten das Haus wohl nicht würde verlassen können.«
Lucy tat, als würde sie nach Luft schnappen. »Aber wie sollte sie denn dann auf die Titelseite von Paparazzi Press kommen?«
Lillian lächelte. »Letztlich bin ich mir sicher, es liegt daran, dass es im Drehbuch einfach zu viel um Jackson geht. Man sollte annehmen, dass sie es liest, bevor sie den Vertrag unterschreibt. Na ja, jetzt, wo sie weg ist, ist dieser Film jedenfalls ein Paradies für die Klatschpresse – eine unbekannte Schauspielerin, die irgendwo aus dem Nichts auftaucht, im gleichen Filmteam mit dem größten Teenie-Schwarm … Philippe hätte das nicht besser planen können.«
Lucy merkte, dass es vielleicht gar nicht notwendig war, dass Sophia ein Ablenkungsmanöver startete. Lillian hatte Zugang zum innersten Kreis des Filmteams und damit zu allen möglichen Informationen über die Leute, die hier arbeiteten.
Sie brauchte nur dafür zu sorgen, dass Lillian weiterhin über Jackson redete. Sie dachte an das Mädchen draußen, das mit der getupften Jacke, und an Bethany – lauter Jackson-Fans. Wenn Lucy tat, als wäre sie ein großer Fan von ihm, konnte sie eine ganze Menge Fragen stellen, ohne dass sich Lillian darüber wundern würde, warum sie das tat.
Denk an etwas Albernes. Denk an Mister Smoothie’s. Du schaffst das!, sagte sich Lucy.
Lucy versuchte, zu kichern wie Olivia. »Wen immer sie für die Hauptrolle auswählen – das Mädchen hat so ein Glück, sie kann sich die ganze Zeit mit Jackson unterhalten.«
Sophia blickte sie an, als sei ihr soeben ein zweiter Kopf gewachsen.
»Ich meine, er ist total einzigartig.« Lucy zuckte über ihrem eigenen idiotischen Gerede zusammen und hoffte, dass ihr Lillian das Theater abnehmen und ein wenig aus dem Vampirkästchen plaudern würde.
Lillian schmunzelte. »Er ist ganz anders, als man von seinen Filmen her erwartet.«
Weil er Blut trinkt, in einem Sarg schläft und seine Eckzähne abfeilt?
Lucy hatte das Gefühl, dass Lillian ihr endlich den durchschlagenden Beweis liefern würde, den sie brauchte. Sie umklammerte den Stetson, den sie gerade einräumte, mit beiden Händen.
»Auf eine ganz bescheidene, bodenständige Art und Weise«, beendete Lillian ihren Satz.
Lucy stieß den Atem aus. Dieser Typ war so was von blitzsauber! Er hatte alle getäuscht.
»Außer«, sagte Lillian, und Lucys Kopf fuhr wieder nach oben, »außer der Zusatzklausel bezüglich seiner Ernährung.«
Lucy schluckte. »Ja?«
»Die ist ungefähr einen Kilometer lang. Für einen Typen, der so entspannt ist, dass er tot sein könnte, ist er ganz schön eigen, was sein Essen anbelangt.«
Lucy stieß Sophia so kräftig an, dass sie einen Stapel Baseballmützen fallen ließ, die sich nun über den ganzen Boden des Wohnwagens verteilten.
»Lucy«, flüsterte Sophia, als sie sich bückten, um die Mützen aufzusammeln. »Können wir bitte aufhören, über Jackson zu reden?«
»Aber ich bin kurz davor …«, fing Lucy an.
»Kurz davor, wegen Belästigung in Handschellen vom Filmset geführt zu werden«, schloss Sophia den Satz. Sie hob die letzte Mütze auf und schenkte Lillian ein super breites Lächeln.
Lucy seufzte und hielt den Mund.
»Vielen Dank, dass ihr mir geholfen habt, ihr Lieben«, sagte Lillian. »Schauen wir mal … ich bin sicher, da war noch …« Sie verstummte, während sie in einer Kiste in der Ecke herumwühlte. »Yep! Da ist es.« Sie zog ein T-Shirt heraus, auf dem »Rettet die Wale« stand. »Das hat Jackson letzte Woche bei den Studioaufnahmen getragen.«
Sie reichte es Lucy und sah sie erwartungsvoll an, und Lucy rätselte, weshalb Lillian glaubte, sie wolle ein schmuddeliges, altes T-Shirt haben.
»Wow, Lillian!«, sagte Sophia. »Vielen, vielen Dank. Lucy ist so begeistert, dass es ihr die Sprache verschlagen hat.«
Sophia stieß sie grob an. »Und ich kenne ein kleines Mädchen, das sehr neidisch werden wird.«
Lucy wurde klar, dass es sich hier um einen erstklassigen Jackson-Fanartikel handelte. Bethany würde völlig aus dem Häuschen sein. »Ja, danke!«
Nach all dem, dachte Lucy, bin ich keinen Schritt dabei weitergekommen zu beweisen, dass Jackson ein Vampir ist. Mir läuft die Zeit davon.
»Ich weiß nicht, weshalb sich all diese Leute überhaupt die Mühe machen«, sagte Charlotte. »Ich bin wie gemacht für diese Rolle, immerhin habe ich schon mal mit Jackson gespielt.«
Olivia biss sich auf die Lippe. Das war total unhöflich, aber sie wollte keinen Streit in der Schlange anfangen. Das war wieder mal typisch für sie, dass sie direkt hinter Charlotte anstand. »Ich finde es toll, dass alle eine Chance bekommen«, sagte sie.
»Hmpfh.« Charlotte kramte in ihrer Tasche herum und zog einen Taschenspiegel hervor. Dann fing sie an, eine weitere Schicht Wimperntusche aufzulegen.
Katie und Allison standen daneben und sahen aus, als wären sie gerade Letzte in einem Wettkampf geworden.
»Wollt ihr beiden euch nicht anmelden?«, fragte Camilla sie.
»Natürlich nicht«, antwortete Charlotte. »Sie werden meine Cheerleader sein.«
Katie streckte lahm den Daumen nach oben, und Allison sagte »Charlotte vor!«, aber sie lächelte nicht dabei.
Olivia war froh, dass sie nicht zu Charlottes engsten Freundinnen gehörte – das war offensichtlich kein Spaß.
»Und ich bin dein Cheerleader«, sagte Camilla zu Olivia. »Aber Rückwärtssalto kann ich überhaupt nicht.«
Olivia kicherte und hakte sich bei Camilla unter.
»Nächste!«, rief die Dame an der Anmeldung. Charlotte zuckte zusammen und verschmierte sich Wimperntusche unter dem Auge.
»Argh!« Charlotte versuchte, sie abzuwischen, aber dabei machte sie es nur noch schlimmer.
»Nächste!«, sagte die Frau noch lauter. Ihr Haar war zu einem straffen Knoten zusammengefasst und sie blickte Charlotte über ihre Lesebrille hinweg prüfend an. »Du! Komm her.«
Charlotte ging zu ihr, wobei sie mit einer Hand ihr Auge verdeckte.
»Name?«, fragte die Frau an der Anmeldung, die Finger über der Tastatur.
Charlotte händigte ihr den Komparsen-Ausweis aus, als wäre er eine goldene Eintrittskarte.
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Chartreuse Blown?«
Camilla kicherte.
»Was? Nein!« Charlotte riss ihr den Ausweis aus der Hand, sah ihn sich genau an und wurde knallrot. »Es muss Charlotte heißen. Charlotte Brown.«
Die Frau zog eine Augenbraue hoch. »Bist du sicher, Kleines?«
Charlotte blinzelte zornig. »Seien Sie nicht albern. Ich werde ja wohl noch meinen eigenen Namen kennen!«
Die Frau an der Anmeldung grinste und deutete auf einen Stapel Mappen. »Nimm dir eine davon und geh weiter.« Charlotte nahm die oberste, presste sie sich an die Brust und stürmte an Katie und Allison vorbei, die ihr nacheilten.
»Nächste!«, rief die Frau.
Damit war Olivia gemeint.
Lucy wollte Lillian nicht zu sehr drängen, aber sie musste die Wahrheit über den berühmten Schwarm ihrer Schwester herausfinden. Sie hatte einen Plan.
Als sie mit den Kostümen fertig waren, ergriff Lucy das Wort: »Meine Güte, ich bin am Verhungern.«
»Jetzt sind wir hier auch fertig.« Lillian nahm drei übergroße Access-Sonnenbrillen aus ihren Fächern, gab Lucy und Sophia je eine davon und sagte: »Kommt, wir gehen rüber in die Cafeteria.«
Sie brauchte nur eine von Jacksons Mahlzeiten zu kosten, dann hätte Lucy den Beweis, den sie brauchte. Wenn auch nur ein Hauch von Blut darin zu schmecken wäre, würde sie es merken.
Außerhalb des Kostüm-Wohnwagens war es noch immer kalt, aber auch sonnig, deshalb war Lucy froh über die abgefahrene Sonnenbrille.
»Lillian! Lillian! Was sollen wir bloß tun? Hast du diese Schauspielerinnen mal gesehen? Oh, non, non, non!« Irgendwann würde sich Philippe noch in ein traumatisiertes Häufchen Elend auflösen, da war sich Lucy sicher.
»Mach dir keine Sorgen.« Lillian versuchte, ihn zu beruhigen, aber er flatterte wie ein schwarzer Umhang im Wind. »Wir werden jemanden finden.« Zu Lucy und Sophia sagte sie tonlos »bis später«, dann führte sie Philippe davon.
»Was hast du eigentlich vor?«, wollte Sophia wissen, sobald sie außer Hörweite waren.
»Ich weiß, was uns verraten wird, ob Jackson zur Vampirzahnliga gehört«, sagte Lucy und zog Sophia auf den großen Cafeteria-Laster zu. »Sein Mund!«
»Willst du etwa seinen Zahnarzt anrufen?«
»Nein, aber wo auch immer sein Essen aufbewahrt wird, will ich mich einschleichen«, sagte Lucy. »Ich weiß zwar nicht genau, wo das ist, aber wenn es sein muss, setze ich mich einfach in die Cafeteria, bis er auftaucht, damit ich sehen kann, was er isst.«
Sophia seufzte. »Toll, das ist ja noch schlimmer, als wenn ich nackt übers Set rennen müsste.«
Lucy zog sie in den Cafeteria-Laster und ihr Mut sank. Es war ein großer Lkw und überall drängten sich Menschen. Wenn das Filmteam nicht gerade bei den Dreharbeiten war, dann wurde es wohl dafür bezahlt zu essen. Alle Tische waren voll und die Schlange vor der Essensausgabe war echt lang.
So viel zum Thema Herumschleichen, ohne dass es jemand merkt.
Während sich die Schlange langsam nach vorne bewegte, hatte Lucy die Gelegenheit, ihre Umgebung zu beobachten. Jeder der zahlreichen Köche war für einen anderen Abschnitt der Theke zuständig und teilte auf Bestellung Essen aus. Hinter den Köchen stand ein Mann in einem schicken Anzug, der Dinge in seinem Notizblock ankreuzte, mit einigen Leuten aus der Schlange redete und alles beobachtete. Lucy kam zu dem Schluss, dass er der Chef des Küchenteams war.
Ein adrettes Mädchen mit braunem Haar und einer mehrreihigen Perlenkette über einem langen, weiten grauen Pullover und Jeans erregte seine Aufmerksamkeit. Lucy hielt sie für eine der weiblichen Nebenrollen des Films. Der Chef blätterte durch seine Papiere, wandte sich dann einem Kühlschrank aus rostfreiem Stahl zu und nahm ein Tablett heraus, das mit etwas gefüllt war, was wie rohe Karotten und Sellerie aussah – sonst nichts. Er reichte es ihr.
»Bingo«, sagte Lucy. »Das ist unser Mann, und das ist unser Kühlschrank.« Der Chef ging an der Theke ein Stück weiter und unterhielt sich mit jemandem vom Personal. »Dort müssen Jacksons Spezialmahlzeiten aufbewahrt werden.«
Lucy und Sophia schoben sich nach vorne, vorbei am ersten Tisch, auf dem eine üppige Salatbar untergebracht war. Die Leute vor ihnen versuchten gerade, sich zwischen Hummer und Austern zu entscheiden, deshalb warteten sie gezwungenermaßen, einen Tisch vom Kühlschrank entfernt, vor einer Auswahl an Sandwichs.
»Sollen wir das da etwa essen?«, fragte sich Sophia laut.
Ein grauhaariger Mann hinter der Theke meldete sich zu Wort. »Mit den Statisten-Ausweisen bekommt ihr all diese kulinarischen Köstlichkeiten. Wir haben für jeden etwas. Verratet dem guten alten Curtis einfach, worauf ihr Lust habt.«
»Ooh«, erwiderte Sophia. »Wenn ich es mir aussuchen kann, dann hätte ich gern ein Käsesteaksandwich.«
»Zwei bitte«, warf Lucy ein.
Curtis rieb sich die Hände und strahlte. »Ausgezeichnete Wahl, meine Damen!« Er schnitt zwei weiße Baguettebrötchen auf, legte sie auf den Grill hinter sich und schaufelte geschnittenes Rindfleisch in eine Pfanne.
Das Frühstück bei Olivia zu Hause war die übliche Häschen-Mahlzeit gewesen, und Lucy merkte, dass sie gleich anfing zu sabbern.
»Wie willst du es anstellen, einen Blick in diesen Kühlschrank zu werfen?«, flüsterte Sophia, was Lucy blitzschnell wieder zu ihrem eigentlichen Problem zurückholte.
Lucy bemerkte, dass die Serviertische alle mit frischen weißen Tischtüchern bedeckt waren. Wenn sie unter diesen Tisch gelangen würde, könnte sie bis zum nächsten kriechen, einen kurzen Blick in den Kühlschrank werfen und, ohne gesehen zu werden, zurückkriechen.
»Oh, sieh mal«, sagte Lucy nachdrücklich. »Mein Schnürsenkel hat sich gelöst.« Sie kniete sich hin und tat so, als würde sie sich die Stiefel zubinden, während sie das Tischtuch nach oben schob. Unter dem Tisch wurde nichts aufbewahrt, und niemand beachtete sie, deshalb hob sie das Tischtuch noch weiter hoch und duckte sich darunter durch.
»Autsch!« Lucy stieß mit dem Kopf gegen eine Metallstrebe, dass die Teller und Schüsseln mit Essen über ihr nur so klirrten. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand eine Bratpfanne gegen die Stirn geschlagen.
Das braunhaarige Mädchen und eine Gruppe von Kameraleuten drehten sich um und starrten sie an. Lucy rappelte sich auf und versuchte, Würde zu bewahren.
»Es geht ihr gut!«, verkündete Sophia und die Leute wandten sich wieder ihrem Essen zu.
»Autsch.« Lucy rieb sich die Stirn. »Ziemlich niedriges Regal.«
Curtis kam mit zwei dampfenden Steaksandwichs zurück, die vor Käse und Zwiebeln nur so trieften. Dank des Essendufts fühlte sich ihre Kopfverletzung gleich nicht mehr ganz so schlimm an.
In der Hoffnung, dass sich ihnen eine Gelegenheit böte, lungerten Lucy und Sophia noch Ewigkeiten vor jedem einzelnen Tisch herum.
Die Leute hinter ihnen fingen schon an, sie zu überholen. Doch schließlich waren sie am Ende der Theke angelangt und hatten keine weiteren Möglichkeiten mehr, es aufzuschieben. Lucy schluckte.
»Ich halte dir den Rücken frei«, flüsterte Sophia. Sie stellte ihr Tablett ab, hielt ihre Kamera hoch und sagte zum Chef: »Hi! Ich lege so etwas wie ein Album über die Entstehung dieses Filmes an. Darf ich ein Foto von Ihnen machen?«
Der Chef strahlte. »Klar!« Er legte seinen Arm um den Koch, mit dem er sich gerade unterhalten hatte; der Koch grinste vertrottelt, während Sophia knipste.
Lucy wusste, dass das ihre letzte Chance war. Sie umklammerte ihr Tablett, flitzte hinter Sophia vorbei und ging um das Foto-Shooting herum, doch genau da machte der Chef einen Schritt nach hinten, um einen anderen Koch zu rufen, damit er mit aufs Foto kommen konnte.
Dabei prallte der Chef gegen Lucy, sodass ihr Tablett mit dem Essen und sein Notizblock in hohem Bogen zu Boden fielen. Er schaffte es gerade noch, ihr Sandwich aufzufangen, aber alles andere landete auf dem Fußboden. Das Notizbuch landete aufgeschlagen mitten in einem Chaos aus Sushi, Satsumas und Shrimps. Lucy hörte, dass Sophias Kamera noch immer klickte.
Ach du liebe Nacht, dachte Lucy. Am liebsten wäre ich jetzt unsichtbar.
Doch da erhaschte Lucy einen Blick auf eine der Seiten. Darauf stand: »Ernährungsbesonderheiten«. Auf der linken Hälfte der Seite stand eine lange Liste mit Abkürzungen, auf der rechten Hälfte waren Lebensmittelallergien verzeichnet.
Sie konnte sich das nicht genauer anschauen, denn der Chef hob seinen Notizblock wieder auf, doch lange genug, um zu sehen, dass ganz oben – fettgedruckt und unterstrichen – »J-02: AUF KEINEN FALL KNOBLAUCH« stand.
Bingo.