Kapitel 14

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Peter blieb danach acht Tage am Stück bei uns. Ich hätte mich in dieser Zeit gern davongestohlen, um den Tunnel auszuprobieren, hätte er nicht plötzlich so ein beunruhigendes Interesse an Charlie gezeigt.

Plötzlich wollte er nichts mehr ohne Charlie unternehmen, wo immer er hinging, was immer er machte, Charlie musste dabei sein. Früher hätte Charlie dem Frieden sicher nicht getraut, aber das Spielzeug, das er geschenkt bekommen hatte, hatte ihn für Peter eingenommen. Der Kleine war jetzt davon überzeugt, dass Peter ihn am liebsten auf der ganzen Welt hatte.

Charlie begann, Peters großspurigen Gang zu kopieren, und hörte auf, seine Schuhe von Andernorts zu tragen, weil Peter ebenfalls barfuß ging. Wenn Peter fand, dass die Sonne wunderbar schien, fand Charlie das auch. Wenn Peter es für eine gute Idee hielt, auf die Jagd zu gehen, fand Charlie das auch. Und er wollte nicht mehr bei den Arbeiten rund um das Lager mithelfen, weil Peter das auch nie tat. Mehr als einmal ertappte ich die beiden, wie sie miteinander flüsterten und über uns andere lachten.

Peter arbeitete daran, Charlie zu einer Miniaturausgabe von sich selbst zu machen, voller Spaß und ohne Herz.

Ich wusste, dass Peter etwas im Schilde führte, dass er sich nicht wirklich für Charlie interessierte. Deshalb hatte ich Angst, ihn auch nur ein paar Minuten mit Peter allein zu lassen, geschweige denn, das Camp zu verlassen.

Also folgte ich ihnen, wenn Peter Charlie zum Schwimmen mitnahm oder zum Klettern oder was weiß ich. Ich folgte ihnen, und die anderen kamen mit.

Peter war glücklich und zufrieden, weil er dadurch alle seine Jungen (und ein Mädchen) ständig um sich haben konnte und alle genau das taten, was er wollte, ohne Widerworte.

Manchmal sah mich Sally an, und ich erwiderte ihren Blick, und dieser Blick besagte, dass ich losgehen und den Tunnel auskundschaften musste, damit wir fliehen konnten. Ich wusste es, und sie wusste es: Flucht war die einzige Möglichkeit, wie wir Charlie retten könnten.

Aber ich hatte Angst davor, dass Peter in dem Moment, in dem ich ihn allein ließ, seine Gelegenheit gekommen sah. Wenn ich nur einen Atemzug lang wegsah, würde Peter Charlie ein Messer ins Herz stoßen, und das wäre genauso schlimm, als würde er es mir ins Herz stoßen.

Also verharrte ich in diesem Zwischenreich, zwischen der Zukunft mit Sally und der Vergangenheit mit Peter, weil ich nicht wusste, wie ich uns alle befreien sollte, ohne Charlies Leben aufs Spiel zu setzen.

Schließlich zog mich Sally eines Abends beiseite, während die anderen Peter zusahen, der über die Lichtung alberte, Räder schlug, Handstand-Überschlag-Kunststücke vollführte und Salti sprang. Charlie lachte, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Lustiges gesehen. Peter lief auf den Händen, sprang auf die Füße, zog Grimassen und gab lächerliche Geräusche von sich, bis Charlie heulte vor Vergnügen. Krähe lachte auch, und sogar Nick lächelte, auch wenn es aussah, als hätte er dem bunten Treiben lieber finster zugesehen, aber er konnte nicht anders.

»Morgen musst du gehen«, flüsterte sie.

Ich sah von ihr zu Charlie, der unter Peters Bann gefallen war.

»Wir müssen hier weg, bevor Charlie sich noch mehr in ihn verliebt«, drängte Sally. »Er sieht dich ja kaum noch an.«

Es stimmte. Charlie war inzwischen weit entfernt von dem kleinen Küken, das getreulich hinter mir herwackelte. Er verachtete mich als langweilig, genau wie Peter es häufig tat.

»Wenn du nicht morgen gehst, mach ich es«, sagte Sally.

Das fand ich extrem unfair. Sie verlangte die unmögliche Entscheidung von mir, entweder Charlie zu beschützen oder ihr zu erlauben, etwas möglicherweise Gefährliches zu tun.

»Ich passe für dich auf Charlie auf«, sagte sie. »Du musst mir vertrauen.«

Peter hob Charlie hoch, packte ihn an den Füßen und drehte ihn herum, woraufhin Charlie noch heftiger lachte. Charlie war so glücklich, Peter hingegen – ich konnte seine Augen sehen, und er war nicht glücklich.

Er plante etwas.

In der Nacht blieb ich wach, während die anderen einschliefen. Sogar Peter schloss die Augen und schlief ein, einen Arm über Charlie gelegt, als wäre der kleinere Junge sein Besitz, den er nicht zu teilen gedachte.

Ich wusste, dass ich keine bessere Chance bekommen würde.

Zitternd in der kühlen Nacht ging ich in die Dunkelheit hinaus.

Der ewig unveränderte Mond war hinter Wolken verborgen. Mir war, als röche ich Regen in der Luft. Um mich herum raschelte es im Unterholz, während kleine Tiere vor meinen Schritten davonhuschten. Ich rannte los, schnell und lautlos, weil ich so schnell wie möglich am Tunnel sein wollte. Sobald ich hineinging, würde ich wissen, ob es überhaupt möglich war, ohne Peter nach Andernorts zu kommen.

Wenn es möglich war, dann würde ich nicht weiter gehen als bis zu dem Baum am anderen Ende. Von da konnte man die Lichter der Stadt sehen – der Stadt, die Peter mir vor all den Jahren genommen hatte, die Stadt, die immer weiter zu wachsen und sich auszudehnen schien und ihre Finger längst nach dem Baum ausgestreckt hatte, der damals meilenweit vom Stadtzentrum entfernt gestanden hatte.

Wenn ich die Stadt sah, wüsste ich genug und könnte genauso schnell zu unserem Baum zurückkehren. Ich hoffte inständig, dass Peter nicht aufwachte und nach mir suchte. Manchmal schien es, als könnte er einen aufspüren wie ein Tier. Ich wusste nicht, welche Lüge ich ihm erzählen sollte, wenn er mich fand. Niemals würde er mir glauben, dass ich nach Andernorts wollte, um neue Spielkameraden für ihn zu besorgen.

Ich verließ den Hauptweg, fand mich aber trotz des fehlenden Mondlichts zurecht. Ich war den Weg schon so oft gegangen, dass ich ihn auch im Schlaf gefunden hätte.

Und doch dachte ich, ich hätte mich geirrt, als ich an dem Platz ankam, wo der Baum stehen sollte. Weil da kein Baum mehr stand.

Es war dunkel, aber selbst in der Dunkelheit hätte ich die Umrisse des Baums gegen den Himmel erkennen können müssen. Der Bach, der daneben entlangplätschern sollte, war still, und der Boden unter meinen Füßen fühlte sich seltsam schwammig an wie das Land in der Nähe der Sümpfe.

Ich musste im Dunkeln doch den falschen Weg genommen haben und stellte mir vor, wie Sal mich auslachen würde, nachdem ich so darauf bestanden hatte, dass sie sich den Weg merkte. Ich kam mir ziemlich dumm vor und fing an, auf demselben Weg zurückzugehen, auf dem ich hergekommen war, als die Wolken sich teilten und das Mondlicht enthüllte, was bis eben verborgen gewesen war.

Der Baum war gefällt worden.

Um ehrlich zu sein, sah es aus, als hätte ihn jemand irgendwie auseinandergerissen. Die Bruchstelle sah nicht glatt aus, wie von Axthieben, sondern eher, als hätte ein zorniger Riese den Baum auseinandergerissen.

Nur ein paar Schritte weiter, und ich wäre mitten hineingelaufen, denn er versperrte den Weg vollständig. Er hatte auch den Bach ein Stück aufgestaut, weshalb der Boden rundherum mit Wasser getränkt war.

Mit wild klopfendem Herzen näherte ich mich dem gebrochenen Stamm. Nur weil der Baum kaputt war, musste das ja noch nicht heißen, dass es auch den Tunnel nicht mehr gab. Warum sollte der gefallene Baum etwas an dem Tunnel verändert haben? Die Wurzeln waren ja noch da, wo sie immer gewesen waren …

Die Wurzeln waren da, aber sie waren definitiv von etwas durchtrennt, das scharf war und sehr tief einschnitt. Und überall da, wo die Wurzeln zerhackt waren, füllte eine dunkle, klebrige Substanz die Schnitte, und sie sah aus wie Blut.

Als ich sie berührte, blieb sie an meinen Fingern kleben, und als ich daran roch, roch es auch nach Blut.

Das Loch zwischen den Wurzeln war verschwunden.

Es war nicht einfach nur mit Erde gefüllt. Es war vollständig verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Gras wuchs an der Stelle, wo sich der Eingang zum Tunnel befunden hatte.

»Peter«, keuchte ich und fiel auf die Knie.

Irgendwie musste er unseren Plan entdeckt haben, meinen und Sals. War er an jenem Tag im Wald gewesen? Hatte er gesehen, wie Sal mich geküsst hatte, hatte er uns darüber reden gehört, dass wir die Insel verlassen wollten?

Es würde das Aufblitzen erklären, das Sal gesehen hatte, und warum keine Spur von irgendjemanden zu finden gewesen war. Peter verstand es, sich zu tarnen und seine Spuren zu verwischen.

Wahrscheinlich hatte er sich nachts, als wir alle schliefen, vom Baum fortgeschlichen und das Tor nach Andernorts zerstört, damit wir ihn niemals, niemals verlassen konnten.

Es war Peters Insel, und jetzt waren wir seine Gefangenen.

»Nein«, sagte ich und stand wieder auf.

Ich würde nicht hierbleiben. Die Insel war von Wasser umgeben. Wir könnten ein Boot bauen und davonsegeln. Wir könnten ein Boot von den Piraten stehlen . Sie hatten diese Ruderboote, die sie benutzten, um ans Ufer zu gelangen. Es würde schwierig werden, mit so einem kleinen Boot aufs Meer hinauszukommen, aber vielleicht würden wir später ein Schiff mit freundlichen Menschen treffen, die uns an Bord nahmen.

Und wenn nicht – nun, es war immer noch besser, auf See zu sterben, als auch nur einen Moment länger in der Gesellschaft eines irren Kinds zu bleiben, das uns auf seinem Inselparadies einsperren wollte.

Wenn Peter versuchte, uns aufzuhalten, versuchte, einen von den anderen zu verletzen, würde ich ihn töten.

Da wurde mir klar, dass ich es tun könnte. Lange Zeit hatte mich die Erinnerung an die glücklichen Zeiten, die wir früher miteinander hatten, davon abgehalten, aber jetzt nicht mehr.

Peter war nicht mein Bruder. Er war mein Feind.

Ich wusste, was ich mit einem Feind zu tun hatte.

Ich hatte mein Messer in der Hand und rannte los.

Ich war nicht lange weg gewesen, aber es hatte gereicht.

Als ich auf die Lichtung zurückkam, wusste ich nicht, was ich vorhatte – Peter wecken und ihn zum Kampf herausfordern oder ihm im Schlaf die Kehle durchschneiden. Ich wusste nur, dass ich sein Blut wollte, sehen wollte, wie seine grünen Augen stumpf wurden, seine Macht über mich ein für alle Mal ein Ende hatte.

Ich wusste kaum noch, warum sein Lächeln mir einst so viel bedeutet hatte. Jetzt gab es nur ein Lächeln, das ich von ihm wollte, ein langes, dünnes, rotes an einer Stelle, wo kein Lächeln hingehörte.

(ein silbernes Aufblitzen in der Dunkelheit)

(was hast du getan?)

(kleine Hände, blutüberströmt)

Die Traum-Erinnerungen gerieten mir in den Weg. Ich schüttelte sie ab, ging in den Baum hinein, bereit, Peter zur Rede zu stellen und alles für immer zu Ende zu bringen.

Er war weg, und mit ihm Charlie.

»O nein«, sagte ich und trat gegen die Felle, auf denen sie geschlafen hatten. »Nein, nein, nein!«

Sal und Krähe und Nick setzten sich auf, benommen vom Schlaf.

»Wo sind Charlie und Peter?«, brüllte ich.

Krähe und Nick starrten mich an, als verstünden sie nicht, aber Sal war mit einem Satz auf den Beinen.

»Sie müssen fortgegangen sein, als wir geschlafen haben«, sagte sie, und ihr Gesicht war ganz weiß vor Angst.

Sie griff nach meinem Arm, und ich schüttelte sie ab. »Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.«

»Jamie, es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid.«

»Warum brüllst du so herum, nur weil Peter und Charlie mal weg sind?«, fragte Krähe.

»Weil Peter Charlie hasst«, sagte Nick. Also verstand er ebenfalls, was Peter im Schilde führte. Bevor Nebel gestorben war, hätte er so etwas nicht mal bemerkt. »Wir könnten ihren Spuren folgen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist schon schwierig genug, Peter bei Tage zu folgen. Nachts ist es unmöglich.«

»Wo würde er ihn hinbringen?«, fragte Sal.

Ich dachte sofort an den Krokodilteich, aber dann wurde mir klar, dass Peter Charlie niemals an einen so offensichtlichen Ort bringen würde. Er wusste, dass mir sofort seine Geschichte einfallen und dass ich dorthin kommen würde, um Charlie zu retten.

Es gab nur einen Ort, von dem er annehmen konnte, dass wir nie darauf kämen.

»Die Vieläugigen«, sagte ich. »Er bringt Charlie zum Nest.«

»Würde Charlie ihm dorthin folgen?«, fragte Nick skeptisch, und jetzt war auch sein Gesicht ganz weiß vor Angst. Nick ging nicht mal an den Rand der Ebene, nicht mal in die Nähe, wenn er es vermeiden konnte. »Er hat doch Angst vor den Vieläugigen.«

Während wir redeten, sammelte ich alles ein, was sich als nützlich erweisen könnte – Bögen und Pfeile, Messer, Steine, Steinschleudern, angespitzte Stöcke, die speziellen Steine, mit denen wir Feuer machten. Ich warf alles in meinen Umhängebeutel.

»Peter hat Charlie jetzt für sich gewonnen«, sagte ich. »Er wird alles glauben, was Peter ihm erzählt, alles tun, was Peter sagt. Wenn Peter ihm sagt, es wäre ein Heidenspaß, nachts die Ebene zu durchqueren, dann macht Charlie das.«

Ich verließ den Baum, und die anderen folgten mir, auch wenn Krähe immer noch aussah, als verstünde er nicht wirklich, was gerade geschah.

Anstatt den Weg zu nehmen, der zur Bärenhöhle führte, ging ich in die entgegengesetzte Richtung. Quer durch den Wald könnten wir zur Ebene gelangen, wo die Vieläugigen ihr Nest hatten.

Bevor wir unter die Bäume traten, blieb ich stehen. Ich durfte mir keinen Irrtum erlauben.

Wenn ich mich irrte, würde ich Charlie für immer verlieren. Diese Geschichte – immer diese verdammte Geschichte, die Charlie und mich verfolgte.

»Lauft zum Krokodilteich und seht nach, ob sie da sind«, sagte ich zu Nick und Krähe.

Nicks Miene verhärtete sich. »Du musst mich nicht woanders hinschicken, nur weil ich Angst vor den Vieläugigen habe.«

»Tu ich nicht«, sagte ich. »Ich will nur verhindern, dass Charlie stirbt, weil ich mich irre.«

Er sah mir tief in die Augen und glaubte mir. Nick schnappte sich Krähe, und sie rannten in die andere Richtung los.

Dann rannte ich ebenfalls, zur Ebene der Vieläugigen.

Sal rannte mit mir. Sie stolperte nie, sie wurde nie langsamer, sie zögerte kein einziges Mal. Sie blieb einfach an meiner Seite, getrieben von derselben Angst, die mich jagte.

Mein kleines Entenküken, eingewickelt in den seidenen Kokon der Vieläugigen, nichts als Futter für ihre Brut.

Äste klatschten mir ins Gesicht, aber ich spürte sie nicht. Bären und Wölfe und Katzen ergriffen vor uns die Flucht, denn wir wurden keinen Schritt langsamer, wenn wir sie erblickten, und das bedeutete, wir waren etwas, das zu fürchten war.

Der Mond ging unter. Der Himmel wurde lilaorange, als wir aus dem Saum des Walds hervorbrachen und auf die Ebene kamen.

Charlie und Peter waren direkt vor uns. Peter flüsterte etwas in seine gewölbte Hand, und Charlies Hand war darum gelegt.

Dann erblickte Charlie uns, mit wild blitzenden Augen und schweißüberströmt, und sein Gesicht leuchtete auf.

»Jamie! Jamie! Peter zeigt mir, wie man fliegt

»Nein!«, rief ich, aber ich war nicht schnell genug.

Peter grinste von oben auf mich herunter, während die beiden in die Luft hinaufstiegen, und zog Charlie über das lange, gelbliche Gras hinweg, immer höher hinauf. Charlie lachte voller Begeisterung, und Peter lachte auch – weil er gewonnen hatte. Schwer atmend stand ich am Boden und beobachtete verzweifelt, wie sie über die Ebene in Richtung Zentrum flogen.

Ich konnte Peter nicht einholen, wenn er flog. Er würde Charlie zum Nest der Vieläugigen schleppen und ihn dort fallen lassen, und das würde für mein vertrauensseliges Entenküken das Ende bedeuten.

Nein. Irgendwas musste ich doch dagegen unternehmen können. Ich konnte es nicht einfach geschehen lassen. Ich konnte Peter nicht gewinnen lassen.

Frustriert schleuderte ich die Umhängetasche zu Boden. Alle meine Waffen, alle meine Pläne – sie waren nutzlos gegen einen Jungen, der fliegen konnte.

Die Feuersteine rollten aus der Tasche. Der Wind fuhr durch mein Haar. Er kam von Süden, beinahe direkt von Süden.

»Brenn sie nieder«, sagte ich und nahm einen Stein. »Brenn sie alle nieder.«

Sally verstand sofort. Sie wusste immer genau, was ich dachte. Sie lief los, um Holz zu sammeln, das wir als Fackel benutzen konnten.

Wenn wir das Grasland auf der Ebene abfackelten, bliebe den Vieläugigen nur der Weg ins Meer – falls sie die Flammen überlebten. Der Wind würde das Feuer genau dorthin treiben, wo ich es haben wollte – auf das Nest zu und weg von unserem Wald.

Peter konnte dann immer noch versuchen, Charlie irgendwo mitten über der Ebene fallen zu lassen und darauf zu hoffen, dass er in den Flammen erstickte. Ich würde vor dem Feuer entlangrennen, um das zu verhindern.

Nick und Krähe kamen aus dem Wald geschossen, gerade als ich die erste Fackel anzündete.

»Gut, das ist besser«, sagte ich, als ich sie erblickte. »Nick, du nimmst diese Fackel und gehst nach Westen. Zünde das gesamte Gras zwischen hier und dem Meer an.«

Ich hielt die Spitze der Fackel an ein anderes Stück Holz, und als es Feuer fing, gab ich es Krähe.

»Du machst dasselbe Richtung Osten, den ganzen Weg bis zu den Bergen.«

Sie fragten nicht einmal nach dem Grund. Sie nahmen die Fackeln und rannten los und zündeten auf ihrem Weg das Gras an.

Ich zog ein Stück Stoff aus meinem Beutel, das ich mir ums Gesicht binden konnte. Sal riss sich ein Stück davon ab, damit sie dasselbe tun konnte.

»Ich bleibe nicht hier stehen und warte«, sagte sie. »Fang gar nicht erst davon an. Ich bin schuld, dass Peter ihn sich schnappen konnte.«

Es war keine Zeit zum Streiten, keine Zeit, darüber zu reden, was sie hätte tun müssen oder wer schuld war. Vielleicht war es Sal, weil sie geschlafen hatte, wenn sie hätte aufpassen müssen. Vielleicht war ich es, weil ich Peter unterschätzt hatte.

Oder vielleicht war es Peter, weil er ein Ungeheuer war.

Wir rannten los und steckten alles in Brand.

Schon bald wolkte überall um uns herum Rauch auf. Er hüllte uns ein, und die Flammen leckten an unseren Fersen, versuchten uns zu fangen, uns zu erjagen und uns bei lebendigem Leib zu verschlingen. Schweiß strömte mir über Gesicht und Körper und tränkte meine Kleidung. Meine Kehle war wund vom Rauch und brannte, trotz des Tuchs, das ich mir über Mund und Nase gebunden hatte.

Das Feuer brüllte um uns herum, hungrig und wild verschlang es alles, was ihm in den Weg geriet, und mir wurde klar, dass wir auch um unser Leben rennen mussten, nicht nur um Charlies.

Dann hörte ich es, über das Heulen der Feuer, die Entsetzensschreie der Vieläugigen, und ich roch, wie sie verbrannten.

Wir rannten direkt ins Nest. Die Eiersäcke standen bereits in Flammen, und alle Erwachsenen, die ebenfalls in Seidenkokons lagen, hatten schon Feuer gefangen. Die meisten rannten vor uns – ich hörte ihr irres Summen, während sie versuchten, dem Feuer zu entkommen.

Überall war Rauch, überall war Hitze, so viel Hitze.

Ich hatte nicht gewusst, dass es sich so anfühlen würde.

Ich hatte nicht gewusst, was für ein Ungeheuer das Feuer sein konnte.

Wir rannten weiter. Das Nest war riesig, eine unendliche Reihe gesponnener Seidenhöhlen, verbunden durch längere Fäden, eine an der anderen. Wenn Peter Charlie irgendwo fallen lassen wollte, dann hier.

Aber wenn er hier war, wie sollten wir ihn finden? Ich hatte nicht an den Rauch gedacht, diese schwarze, wogende Wolke, die alles erstickte.

Und dann der Lärm. Das Feuer war so laut, es brüllte und heulte so ohrenbetäubend, dass es sinnlos gewesen wäre, nach Charlie zu rufen.

Dann packte mich Sal an der Schulter. Ihre Augen tränten vom Rauch, genau wie meine, aber sie zeigte auf den Boden vor uns.

Da lag mein Charlie, halb in die Seide der Vieläugigen gehüllt, nur die Arme und sein Kopf schauten noch heraus.

»Nicht tot«, stöhnte ich. »Bitte, bitte sei nicht tot.«

Ich stürzte zu ihm, riss ihn hoch und drückte seinen kleinen Körper an mich.

Und spürte sein Herz schlagen.

Sal zog mich hoch. Das Feuer war uns dicht auf den Fersen, jagte uns unerbittlich.

Wir rannten und rannten in Richtung Küste. Ich hielt Charlie im Arm und versprach ihm, ihn in Sicherheit zu bringen. Immer wieder und wieder versicherte ich ihm das, wenn er nur am Leben bliebe.

Und dann waren wir irgendwie raus aus dem Grasland und ließen uns auf den Sand des Strands fallen. Vor uns waren die Vieläugigen, die dem Feuer entkommen waren.

Sie waren so viele. So viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Ich hatte nie wirklich verstanden, wie viele sie waren.

Sie füllten den gesamten Raum zwischen der Ebene und dem Wasser und schienen uns überhaupt nicht zu bemerken. Diejenigen, die dem Wasser am nächsten waren, kreischten genauso panisch wie diejenigen, die von den Flammen eingeholt wurden. Die ganze Masse summte und brummte und wogte hin und her auf der Suche nach einem Ausweg, den es nicht gab.

Erschöpft stolperte ich auf die Felsen am westlichen Ende des Strands zu, und Sal folgte mir. Wir huschten geduckt über den Strand. Manchmal krochen wir nur und wichen dabei den Stacheln und Zähnen und Beinen der Vieläugigen aus. Mit einem Arm umklammerte ich Charlie, mit dem anderen zog ich mich vorwärts.

Als wir die Felsen erreichten, ließ ich Sal zuerst hinaufklettern, damit ich ihr Charlie hochreichen konnte. Dann folgte ich ihr, nahm Charlie wieder auf den Arm, und wir kletterten weiter, bis wir hoch über dem Sand waren. Oben angekommen ließ sich Sal einfach auf die Steine fallen, riss sich das Tuch vom Gesicht und hustete. Es gab keinen flachen Abschnitt, wo man sich hätte hinlegen können – die Felsbrocken lagen wild übereinandergetürmt und waren häufig scharfkantig – doch die Luft, die vom Meer heranwehte, war frisch, und wir waren weit weg vom Wahnsinn der Vieläugigen.

Ich nahm das Tuch vom Gesicht und schnitt mit meinem Messer die Seide von Charlies Körper. Ich drückte mein Ohr an seine Brust und lauschte. Sein Herz schlug noch, aber langsam, und sein Atem ging schwer.

Sal beobachtete mich mit angsterfüllten Augen. »Ist er …?«

»Er lebt noch«, sagte ich.

Meine Stimme klang seltsam krächzend, und meine Lunge brannte. Ich fühlte mich, als steckte ich immer noch mitten im Rauch, auch wenn die Rauchwolken von uns weg über die Insel quollen. Ich fragte mich, was die Piraten wohl darüber dachten.

Ich fragte mich, wo Peter jetzt war.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen einen der Felsen und zog Charlie auf meinen Schoß, legte seinen Kopf an meine Schulter.

Unter uns brach Raserei aus. Anfangs war ich zu erschöpft, um zu begreifen, warum. Dann sah ich, wie ungefähr ein Dutzend Vieläugiger von den Füßen geholt und ins Meer hinausgeschwemmt wurde.

Die Flut kam.

Die Flut kam, und in der Ebene loderten wild die Brände, die Flammen schlugen inzwischen doppelt so hoch wie das brennende Gras. Und während die Vieläugigen vorne am Wasser vor dem gierigen Meer zurückwichen, fingen die Vieläugigen hinten am Rand der Ebene Feuer. Die in der Mitte wurden zertrampelt, als ihre Gefährten von beiden Seiten in Panik gerieten und davonzulaufen versuchten.

Sie fanden keinen Ausweg.

Wir blieben lange auf den Felsen sitzen und beobachteten die Zerstörung der Vieläugigen. Es hätte mir mehr Befriedigung verschaffen sollen. Schließlich hatte ich schon immer die Insel von diesem Geziefer befreien wollen. Und jetzt hatte ich es endlich erreicht.

Schon bald war der Strand übersät mit den aufgeblasenen, übereinanderliegenden Kadavern der Vieläugigen. Die dem Feuer am nächsten lagen, verbrannten, und die Luft füllte sich mit dem beißenden Gestank ihres Fleischs.

Charlie schlug die Augen nicht auf. Und ich wusste nicht, wie ich Sally von dem Baum erzählen sollte.

Wir hatten Peters Pläne durchkreuzt. Er hatte Charlie nicht töten können, und er würde keine weitere Gelegenheit dazu bekommen. Der Kleine würde ihm kein zweites Mal Glauben schenken.

Aber wir waren immer noch auf der Insel gefangen. Den Tunnel nach Andernorts gab es nicht mehr.

Sally sagte sehr lange nichts. Stumpf starrte sie auf das langsame Gemetzel an den Vieläugigen. Dann sagte sie: »Wusstest du, dass er fliegen kann?«

»Ich habe es einmal gesehen«, antwortete ich, und die Worte lagen dick und schwer in meinem Mund. Ich war so müde. »Aber dann habe ich ihn nie wieder dabei erwischt.«

»Wie?«, fragte sie.

»Wenn ich das wüsste, wäre ich ihm nachgeflogen«, sagte ich.

»Vielleicht kann Charlie es uns verraten«, sagte Sally und strich ihm über sein gelbes Haar.

Es kam mir alles so überwältigend vor, so unmöglich. Wie sollte ich einen Jungen besiegen, der fliegen konnte, einen Jungen, der unseren besten Fluchtweg zerstört hatte?

Ich wollte Sally davon erzählen – damit sie verstand, damit sie mir helfen konnte. Sie würde sauer auf mich sein, wenn ich versuchte, alles auf eigene Faust hinzubekommen, wenn ich nicht zuließ, dass sie an meiner Seite stand, wie sie es versprochen hatte.

Aber ich war müde. So müde.

Ich schloss die Augen und erinnerte mich.